Schwerpunkt | Die unmöglich-mögliche Logik der Vertretung. Zum Theater in Der Proceß

I. Einleitung

Kafkas Romanfragment Der Proceß[1] beginnt mit einem überaus rätselhaften Satz. „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ (9) Wenn es denn nichts Böses war, was hatte er getan? Warum wurde er verleumdet? Wollte ihm jemand etwas anhängen? Wie auch immer diese Fragen zu beantworten sind, die der Roman unberührt lässt – dies ist der Moment, in dem der Prozess mit einer Schuldvermutung einsetzt. Sein Anfang ist an die – wenn auch hypothetische – Ursache der Verleumdung und der sich daran anschließenden Annahme einer weitgehend unhinterfragten Schuld geknüpft. Dies mag nahelegen, dass es eine Zeit vor dem Prozess und der Verhaftung gegeben hat: eine Zeit, in der K. noch nicht schuldig geworden war. Zugleich verweist eine viel spätere Passage aus dem Roman jedoch explizit auf die Möglichkeit, dass es überhaupt kein Außerhalb des Prozesses gebe. K. trifft auf den Maler, der davon spricht, dass „alles zum Gericht gehöre“. (158) Welcher Art von Situation fällt K. zu Beginn zum Opfer oder – wenn alles zum Gericht gehört – in was für einer Lage befindet er sich schon immer? Wie kann der Prozess zugleich einen Anfang haben und damit auch eine Grenze oder ein Ende sowie sich selbst und zugleich alles andere beinhalten – insbesondere dasjenige, was ihm eigentlich vorausgehen müsste: sein Außerhalb? Kurzum, was hat es mit dem Raum des Prozesses von Der Proceß auf sich?

II. Vom Raum zum Theater

Die vorangegangene Passage macht deutlich: Der Raum im Proceß ist kein bloßer Container und kann nicht einfach als Reflexionsraum für bereits Gedachtes herhalten.[2] Vielmehr ist Walter Benjamin zu folgen, der schreibt, dass es in den Texten Kafkas keine Weisheit gebe, sondern vielmehr Zufallsprodukte, Experimente und Torheit der Figuren.[3] Mit dem Schwerpunkt auf Anordnung und Konstellation, in denen das Potential des Entstehens im Vordergrund steht und die Teleologie und Richtung der Erzählung tendenziell abgezogen ist, wird eine Verschiebung auf die Frage des Raumes vorgenommen. Kafkas Vokabular macht deutlich, dass der Raum als zu berücksichtigende und entscheidende Komponente des Geschehens und des Schreibens betrachtet werden muss. Er zeichnet sich darüber hinaus durch eine starke Affinität zum Theater aus. Dabei ist festzuhalten, dass Josef K. sich nicht als eine Figur auszeichnet, die, ähnlich wie der Mann vom Lande vor dem Gesetz vor einer metatheatralen Situation oder vor dem Theater steht, wie mit Blick auf die Strukturhomologien zwischen der Parabel Vor dem Gesetz im Dom-Kapitel und dem gesamten Text argumentiert werden könnte.[4] Vielmehr befindet sich K. von Beginn an in einer Art Theatersituation oder auf einer Bühne.

Theatertheoretische Überlegungen sowie solche zur Theatralität wurden anhand unterschiedlichster Texte Kafkas in der Vergangenheit bereits von verschiedenen Autoren und Autorinnen herausgearbeitet.[5] Während sie treffende Vorschläge machen, zielen sie zumeist – entweder mit Blick auf einen einzelnen Text oder sein gesamtes Schaffen im Verbund mit Theatertheorien und/oder Inszenierungen, den Tagebüchern und seinem Interesse am jüdischen Theater – auf eine Allgemeinheit beanspruchende Theoretisierung seines Werkes. Im vorliegenden Versuch soll es dagegen darum gehen, eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Theater zu unternehmen, das sich auf sprachlicher Ebene in Der Proceß entfaltet. Dabei ergibt sich nicht unmittelbar ein Begriff des Theaters. Vielmehr kommt ein Theater zum Tragen, welches als unzuverlässiges aber zugleich unhintergehbares Referenzsystem des Textes zwischen Spiel und Ernst aufgefasst werden kann.

III. Die Bühne der Verhaftung

Nicht nur die Zuordnung von Personen zueinander lässt Räumlichkeit entstehen[6], was besonders während des nächtlichen Aufeinandertreffens mit Fräulein Bürstner (32ff.) deutlich wird. Der Raum ist vom ersten Kapitel an, in welchem die Verhaftung geschildert wird, stark an eine Bühne angenähert. Er ist zum einen durch die Unterscheidung Innen/Außen geprägt: Im Zentrum des Geschehens befindet sich das Zimmer Josef K.s, welches von einem Nebenzimmer und den Fenstern umgeben ist. In ihm ereignen sich Auf- und Abgänge, verhinderte und tatsächliche. Anna, die Köchin der Vermieterin, tritt nach K. im Text als diejenige auf, die nicht kommt, um ihm das Frühstück zu bringen. Stattdessen tritt ein Unbekannter in das Zimmer und ein Zweiter bleibt im Vorzimmer – Ort des Gelächters über das Geschehen in K.s Zimmer – während der Hauptfigur untersagt wird, den Raum zu verlassen. Dieser wird des Weiteren umso prägnanter und expliziter zur Bühne, als die in den Fenstern sitzenden Nachbarn, die Vorkommnisse beobachtend, als Zuschauer bezeichnet werden. (21) Sie schauen zunächst ungewöhnlich neugierig und in der Folge immer aufdringlicher: „[…] drüben sah er die alte Frau die einen noch viel ältern Greis zum Fenster gezerrt hatte […]“ (15) Zu den beiden älteren Herrschaften tritt ein Mann, „der seinen rötlichen Spitzbart mit den Fingern drückte und drehte“ (19), als beobachtete er die Geschehnisse nachdenklich. Erst als K. zum Fenster tritt und seinem Unmut Luft macht, ist die Gesellschaft in der Ruhe ihres Zuschauens ein wenig gestört. Im Moment der Verhaftung ist K. den Blicken der Sehenden und Zusehenden von gegenüber ausgesetzt. Er will dieser „Schaustellung“ (15), die zugleich Quelle seiner Scham ist, gleich ein Ende machen. Hier ist das Motiv der Dichotomie von Innen und Außen fortgeführt: Der verhaftende Zugriff der Wächter und seine anfängliche Festsetzung innerhalb eines Raums vollzieht sich unter und in ihren Blicken. Diese sind präsent, selbst wenn sie ihn nicht unmittelbar treffen, weil sich die Wächter im Vorzimmer befinden. „Sie mochten jetzt, wenn sie wollten zusehn…“ (17). Ihre Blicke machen K. nicht nur sichtbar, sondern er ist ohne diese gar nicht mehr denkbar, das heißt schlichtweg niemals ohne sie – auch noch in der Selbstbeobachtung. (25) Genau diese Blicke sind es, die den Auftritt des Rechtssubjekts veranlassen und damit die Anklage und die Situation des Gerichts und den – allgemeiner gesprochen – Charakter des Rechts, einerseits als Theater sowie andererseits als einen Zug des Theaters markieren. Dabei bleibt unerheblich, ob vielleicht eher von Unrecht oder sogar von einem Unrechtsubjekt die Rede sein müsste. Und nicht zuletzt sind die Wächter solche, die wachen, also die Augen nicht schließen und begleitet werden von einem Aufseher. Während K. sichtbar bleibt, sieht er selbst schlecht, so als sei er geblendet. Er hatte die Wächter nicht einmal als die drei Angestellten der Bank erkennen können. Vielleicht blendet ihn das schlechte Licht, in das er durch die Verleumdung gerückt wurde?

Auch im späteren Verlauf des Romans gerät K. in Situationen, in denen er sich wie vor Zuschauern verhalten muss. So ist auch hin und wieder von Zuschauern die Rede oder auftauchende Figuren werden in eine Analogie zu Zuschauenden gebracht. (52, 79, 135, 164) Weil K. unter permanenter Beobachtung des großen in der Schwebe befindlichen Gerichtsorganismus steht, sieht er es für das Beste an, sich ruhig zu verhalten und nur keine Aufmerksamkeit zu erregen. (126) Er ist somit einerseits Teil des bereits erwähnten Experiments aus Benjamins Kafka-Lektüre, auch wenn er sich als Untersuchungsgegenstand zu entziehen versucht und wird andererseits im Dom-Kapitel selbst auch zu einem Beobachter. (220ff.) Noch vor der unmöglich zu treffenden Entscheidung allerdings, ob K. als Spieler oder Zuschauer einzustufen ist und jenseits seiner mit den erdrückenden Subjektivierungsprozessen zusammenhängenden psychologischen Entrückung ist er in Mechanismen und Strukturen verstrickt, derer er nicht Herr zu werden vermag. Woran es ihm letztendlich mangelt, ist ein Zugriff auf seinen Erfahrungs- und Handlungshorizont. Er scheint ihm immer zu entgleiten, sei es als Überstürzung oder Hemmnis. Er handelt immer entweder zu früh oder zu spät. Diese Verfehlungen ereignen sich in und als Relation zwischen ihm und den ihn umgebenden (In-)Konstanten des Raumes. Modo negativo wird dabei herausgestellt, worin dieses Individuum in seinem Fremdwerden über das hinausgeht, worin es eingelassen ist. K. scheitert fortlaufend an den ihn konfrontierenden Ansprüchen und wird dem Zugriff der Macht durch den schwebenden Gerichtsorganismus nie ganz gerecht, selbst dann nicht, wenn er bemüht ist, voreilig Folge zu leisten.

IV. Das Drama der Vertretung

Die Vertretung ist ein Motiv, das sich durch das Romanfragment hindurch zieht. Stetig vertritt jemand etwas oder jemand anderen. So stehen Advokaten für ihre Klienten sowie niedrige Beamte und Richter für ihre Vorgesetzten ein, wobei diese weder gesehen werden, noch überhaupt auftauchen. Sie sind Unbekannte, die nicht einmal ihren Vertretern bekannt sind. Die Wächter vertreten ein Gesetz, das für sie und alle Ausführenden nicht einsehbar ist. K.s Vorgesetzter ist der Stellvertreter des Direktors, während der Direktor selbst häufig nur auf vermittelt erzählte Weise auftaucht. K. wird zu seinem Stellvertreter, wenn dieser ihn mit der Begleitung eines Italieners betraut, der als Vertreter eines Geschäftes in Italien auftritt. Nachdem der Italiener nicht zur verabredeten Besichtigung des Doms erscheint, tritt seine Abwesenheit in den häufigen Rekursen auf ihn überaus deutlich hervor. Der ‚no-show‘ oder das Nichterscheinen erhält damit einen dermaßen eigenständigen Status, dass in der Rede der Erzählstimme der Italiener so gewissermaßen durch seine für K. unerwünschte Abwesenheit vertreten wird. Am selben Ort tritt K. schließlich dem Gefängniskaplan gegenüber. Als Kirchenvertreter ist dieser ein Vertreter der Vertretung Gottes auf Erden, während K. als Vertreter der Gemeinde der Gläubigen gefasst wird. Jene Möglichkeit der Vertretung der Gemeinde wird aber noch zur Debatte gestellt, ist sie doch als Frage formuliert und durch ein anderes Verb gefasst, welches das Problem der Vertretung wie kein anderes zu verhandeln vermag: „Konnte K. allein die Gemeinde darstellen?“ (220, Hervorhebung M.W.) Mit der Erzählung der Parabel und der anschließenden Diskussion über sie erscheint der Dom als eine Art Vertretungsort für das Theater. Und wenn K. seinem Advokaten die Vertretung entzieht, setzt er sich an dessen Stelle und vertritt sich selbst. Wo ist aber das Selbst geblieben? Die paradoxe Situation in der Vertretung, oder das Drama der Vertretung, welche anhand der genannten Beispiele schon angedeutet ist, kondensiert in der Rede und an K. während seiner ersten Anhörung. Dort verkündet er, nicht für sich selbst, sondern für die Vielen einzustehen, die sich in einem solchen Verfahren, wie es auch ihm widerfährt, befinden. Er trägt damit eine verschobene Version des Barbier-Paradoxons[7] vor: Er ist gleichzeitig Vertreter einer Gattung, so, wie er außerhalb derselben zu stehen behauptet, wenn er seinen eigenen Fall nicht zu den vielen anderen zugehörig begreift. Obschon er behauptet, nicht für sich einzustehen, kann er nicht anders als auch sich zu vertreten, weil sein Fall zu denen gehört, für die er einsteht – begreift er ihn doch als „Zeichen eines Verfahrens wie es gegen viele geübt wird“ (52).

Es entsteht eine paradoxe Situation, in der Vertretung zugleich möglich und unmöglich ist. Vertretung und die Unmöglichkeit derselben schließen einander nicht aus. Diese Gleichzeitigkeit von Einschluss und Ausschluss erstreckt sich über den gesamten Roman und könnte als seine raum-zeitliche Konstante bezeichnet werden. Es ist nie das Selbst einer Figur oder die Figur als ein Selbst, welche auf eine andere trifft, sondern in der Stellvertretung wird jedes Aufeinandertreffen in die Sphäre eines ‚Als-ob‘ verschoben. Nichts ist jemals vollständig an seinem Platz. Auch K. ist nie ganz bei der Sache und landet nie vollständig im Prozess – vielmehr schwankt er. Er vernimmt den fiktionalen Charakter des Prozesses, ordnet seine Zweifel an der Legitimität seiner Festnahme aber der anfänglichen Anerkennung unter.[8] Fällt er im zweiten Kapitel noch mit seiner Rolle in eins und übernimmt die Anklage seiner selbst in Vertretung des Gerichtes, als er den Schrei des Aufsehers in der Darstellung der Verhaftung für Fräulein Bürster nachahmt, (37) so vergisst er zwischenzeitlich den Prozess völlig. (196) Die sich daran anschließenden Bemühungen, aus ihm auszubrechen, (225) müssen scheitern, hat er ihn doch eben damit wieder anerkannt. Was genau aber hat K. anerkannt? Was hat er angefangen, ernst zu nehmen?

K. hat sich auf die den Roman einläutende Verleumdung eingelassen. Eine Verleumdung ist eine Herabsetzung durch üble Nachrede und somit die Tätigkeit, jemanden in ein schlechtes Licht zu rücken. Dieses schlechte Licht gehört einer Vorzeitigkeit ohne Roman-inhärente episch-empirisch Zeitlichkeit an: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben …” Die in der Verleumdung verheißene Schuldzuweisung ist aus der Sicht der nun erfolgenden Verhaftung absolut und unanfechtbar, von einem unbekannten, unantastbaren Außerhalb, dem Text selbst Unzugänglichen, in diesen hineingesprochen. Die Mutmaßung, dass es geschehen sein müsse, bleibt unterentwickelt und wird später nicht ausgeführt, bleiben die Fragen ‚Wer?‘ und ‚Wofür‘ doch ungeklärt. Das „Jemand“ enthält vermittelt über ein „Irgendjemand“ die Möglichkeit von „Niemand“. Die Vermutung einer Verleumdung – denn was könnte anderes geschehen sein? – kommt aus einer Erzählperspektive, die nicht allwissend ist. Möglicherweise operiert die Erzählung in diesem Moment gar auf dem Wissensstand K.s. Zu Beginn des Textes ist K. bereits angeklagt und dem Raum der Schuld übergeben. Das „Jemand“ und seine Verleumdung ist der Verweis auf eine Quelle, einen Ursprung, oder ein Außen, das zugleich unauffindbar ist. „Jemand“ ist die semantische Vertretung für eine Instanz, die zugleich Urheber sowie Teil des Ganzen ist, ohne aber auf irgendeine Weise verbürgt zu sein: ein untergehbares und zugleich völlig ungesichertes a priori. Das abwesend-anwesende Außen, welches den Prozess in Gang bringt, versetzt ihn zugleich in eine Schwebe der Fragwürdigkeit und ist somit Auslöser der Sicherung sowie der Verunsicherung des Rahmens.

Diese Bewegung des Textes stellt diejenigen ‚ernsten‘ Lesarten von Kafkas Arbeiten in Frage, die eine übertragene Bedeutung forcieren und damit eine geschlossene Theorie und Kafkas Texte auf einen Nenner zu bringen suchen.[9] Solche Analysen, die mit Begriffen, Themenkomplexen und Feldern wie Gericht, Gesetz, Schuld, Existenz und im Zusammenhang von Institution und Person, Subjektivierung und dem Problem der Stellvertretung operieren,[10] beruhen auf der Annahme einer im Narrativ etablierten Ordnung, innerhalb derer der Status von Gericht und Institution gesichert ist. Dies ist jedoch nicht gegeben. Begriffe wie accusation oder advocacy,[11] Für- oder Gegensprache[12] als Teil des kafkaschen Denkens zu begreifen, ohne die Dimension der Rahmung desselben mit zu reflektieren, bedeutet den konjunktivischen – und damit inhärent unsicheren – Charakter der Verleumdung bruchlos in eine Aktualität oder einem ‚Ernst‘ des Romans zu überführen. Wie aber könnte dasjenige, was nicht zu verorten ist, anerkannt werden? Dementgegen verläuft ein Riss durch den Roman, welcher mit der Verleumdung und der mit ihr angestoßenen unmöglich-möglichen Logik der Vertretung aufbricht und als das große, dem Roman vorgängig-äußerliche ‚Als-ob‘ angesehen werden muss. Sie – die unmöglich-mögliche Logik der Vertretung: der idiosynkratische Modus der Darstellung im Proceß – ist die abgründige Inszenierung, das Theater von Prozeß und des Prozesses, es durchdringt den Text und lässt ihn gleichermaßen ein- und aussetzen. Dieses ‚Als-ob‘ bedroht den ‚Ernst‘ der Geschehnisse, weil es nicht von ihm abzuziehen ist. Ausformuliert ist es auf der Ebene der permanenten Gleichzeitigkeit von Spiel und Ernst, mit dem sich K. konfrontiert sieht.

V. ‚Ernst‘ und ‚Als-ob‘

Bei Benjamin heißt es – mit allgemeinem Blick auf die Texte Kafkas –, dass in ihnen der Mensch von Haus aus auf der Bühne stehe.[13] Alles Menschliche und zum Menschen Gehörende spielt sich auf einer Bühne ab. Diese Hypothese fällt mit der dem Text äußerlichen oder vorgängigen Verleumdung und der daraus resultierenden Verhaftung und apriorischen Schuldvermutung im Prozess zusammen. Wie jedoch ist das genauer zu begreifen?

Der Roman wirft im Verlauf die Vermutung auf, dass alles Teil des Prozesses ist und sich nichts außerhalb seiner Grenzen abspielt. Wenn eine Zeit der Unschuld im ersten Satz noch denkbar ist, verfällt diese Möglichkeit nach und nach immer deutlicher und es wird klar, dass der Prozess der ganze Wirkungsraum ist, in dem sich K. befindet und in dem jede Verwicklung vor sich geht. Dies wird im Kapitel Advokat/Fabrikant/Maler explizit. Der Maler belehrt K. darüber, dass „ja alles zum Gericht gehöre“ (158). Die Beschreibung, dass er dies „halb im Scherz, halb zur Erklärung“ sagt, verweist auf die Verhaftung durch die Wächter am Anfang des Romanfragments. K. ist sich schon hier nicht sicher, ob er mit einem Spaß konfrontiert ist und überlegt sich diesen aufzulösen, indem er den Wächtern ins Gesicht lacht, kommt jedoch zu dem Entschluss, die Komödie vorerst mitzuspielen. (12/13) Auch ist ein Lachen aus dem Nebenzimmer zu hören, als einer der Wächter hinausruft, dass er nach seinem Frühstück verlange. (9) An beiden Stellen ist Spaß und Ernst gleichrangig nebeneinandergestellt und damit eine Unsicherheit, wie zu entscheiden sei, mitgegeben. Von Anfang an ist dem ernsten Geschehen etwas Scherzhaftes, Unglaubliches oder Lächerliches beigemengt. Der ganze Vorgang ist von der Möglichkeit begleitet, ein ungeheurer Spaß oder ein Streich der Kollegen zu sein. Ein ‚Als-ob‘ gesellt sich zum ‚Ernst‘.

Auch die Erklärung des Malers, dass „alles zum Gericht gehöre“, erweist sich als dieser Logik der Uneindeutigkeit zugehörig. Es bleibt unklar, ob sich die Aussage dem Register ‚Ernst‘ oder ‚Als-ob‘ zuordnen lässt. Zugleich hat die Verquickung von ‚Ernst‘ und ‚Als-ob‘ zur Folge, dass ein Außerhalb nur schwer überhaupt noch denkbar ist. Was bei Benjamin als ein unmögliches hors-scène des Welttheaters bei Kafka entworfen ist, konfiguriert sich im Proceß zunächst als unmögliches Außerhalb jenseits der aus der Verleumdung resultierenden Schuld, wobei diese, wie oben ausgeführt, ein gewaltiges ‚Als-ob‘ mit sich führt. Dies ist der Hintergrund vor dem das richtige Auffassen einer Sache und das Missverstehen der gleichen einander nicht ausschließen. (229)

K. tritt nie wirklich in den Proceß ein und kommt auch nicht aus ihm heraus. Die im Proceß angenommene Schuld ist Resultat der vorangegangenen Inszenierung, welche durch das Gericht verwaltet wird. Die Schuld ohne Vergehen beziehungsweise ohne den Vorgang eines Schuldigwerdens oder gar eine konkrete Tat ist das Kontinuum, vor dessen Hintergrund sich das Geschehen entfaltet. Die Verhaftung soll nicht an der gewöhnlichen Lebensweise hindern. (23) Die Verleumdung ist – gleichzeitig ‚Ernst‘ und als ‚Als-ob‘ – das Gesetz, das Theater oder die Bühne des Textes: seine Grenze und sein Auslöser. Der erste Satz setzt die abwesend-anwesende Kohärenz eines Verlaufs in Gang, welche, als Rahmung ohne Einheit in Zeit und Ort, Theater genannt werden könnte. Dieses findet in dubiosen Dachstuben, leeren Sitzungssälen, im Gespräch mit den verschiedensten Personen und am Krankenbett des Anwalts statt und ist damit nirgends und überall zugleich. Dass diesem grenzenlosen Theater der Ernst der Vorfälle zugleich immer eingeschrieben bleibt und das Theater weit mehr als nur ein konsequenzloses ‚Als-ob‘ oder ein harmloser Schein ist, wird mit aller Deutlichkeit anhand K.s Tod deutlich. Ob durchblickt oder nicht, das Als-ob hat potenziell tödlich-faktische Auswirkungen.

So müsste ein Fazit dieses kurzen Versuches lauten, dass das Theater die Triebfeder der kafkaschen Verfahrensweise des Erfahrungsberichtes ist. Das hypothetische Theater der Verleumdung eröffnet den Rahmen der Darstellung und der kafkaschen „Versuchsanordnung“[14]. In der Darstellung und als Darstellung – in dem Sinne als sie die Darstellung selbst verhandelt – vermisst Kafkas Theater den Horizont der Verstrickung. Denn es wirft keine Alternativen auf, selbst wenn es das Gedankenspiel erlaubt, dass K. dem Prozess möglicherweise entgehen könnte, indem er ihn ignoriert oder nicht anerkennt. Die Wirkmacht des Prozesses tritt immer dann umso gewaltsamer zurück auf den Plan, wenn K. bemerkt, dass er ihn vergessen hatte. Ob vergessen, oder nicht: Das Theater als unmöglich-mögliche Vertretung ist der unhintergehbare Ausgangspunkt allen Tuns. Nur aufgrund der unmöglich-möglichen Logik der Vertretung gibt es einen Anfang. Sie erlaubt Handlung, Gegenhandlung, Überlegungen und Gedankenspiele. Dieses Theater ist der Raum, in dem sich die, bei genauerem Hinsehen, wenig zusammenhängenden Geschehnisse ereignen. Die Vermessung dieser Verstrickung in ein Theater zwischen Spiel und Ernst fasst nicht nur einen bestimmten Modus der Darstellung als die unmöglich-mögliche Logik der Vertretung. Im Proceß ist Darstellung genau das: Sie zeigt, was sie ist, indem sie ist, was sie zeigt.[15]

  1. Kafka, Franz: Der Proceß in der Fassung der Handschrift. Frankfurt a. M. 2006. In der Folge sind Verweise und Zitate im Fließtext mit der Seitenzahl in Klammern kenntlich gemacht.
  2. Vgl. dazu die Kritik an einem „oriented understanding“, welche Samuel Weber mit Verweis auf Adornos „Aufzeichnungen zu Kafka“ beschreibt. Weber, Samuel: „The Box and the Butterfly: To Kafka’s ‚Hunter Gracchus’“, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Frankfurt a. M. 2014. Vgl. zudem Adorno, Theodor W.: „Aufzeichnungen zu Kafka“, in: Ders.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1963, S. 248-281, hier S. 251.
  3. Vgl. Benjamin, Walter/Schweppenhäuser, Herrmann (Hg.): Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen. Frankfurt a. M. 1981, S. 86 f.
  4. Vgl.: Derrida, Jacques: „Before the law“, übers. v. Ronell, Avital; Roulston, Christine, in: Ders./Attridge, Derek (Hg.): Acts of Literature. New York/London 1992, S. 209.
  5. Vgl. Weber, Samuel: Theatricality as Medium. New York 2004, bes. S. 70 ff.; Müller-Schöll, Nikolaus: „Theatralische Epik. Theater als Darstellung der Modernitätserfahrung in einer Straßenszene Franz Kafkas“, in: Balme Christopher/Fischer-Lichte, Erika/Grätzel, Stephan (Hg.): Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Bern 2003 S. 189-201; Peters, Sibylle: „Kafkas Schreiben lesen. Literarische Theatralität zwischen Text und Schrift“, in: de Mazza, Matala Ethel/Pornschlegel, Clemens (Hg.): Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literarischer Texte, Freiburg i. B. 2003, S. 297-324; Simons, Oliver: „Schuld Und Scham – Kafkas Episches Theater”, in: Simons, Oliver; Höcker, Arne (Hg.): Kafkas Institutionen. Bielefeld 2007, S. 269-293. Vgl. außerdem eine Ausgabe der Germanic Review zu Kafka und Theater: Puchner, Martin: „Kafka and the Theater: Introduction“, The Germanic Review: Literature, Culture, Theory, 78:3 (2003), S. 163-165; Mladek, Klaus: „Radical Play: Gesture, Performance, and the Theatrical Logic of the Law in Kafka“, The Germanic Review: Literature, Culture, Theory, 78:3 (2003), S. 223-249; Anderson, Mark M.: “[…] nicht mit großen Tönen gesagt”: On Theater and the Theatrical in Kafka, The Germanic Review: Literature, Culture, Theory, 78:3 (2003), S. 167-176
  6. Vgl. Binder, Hartmut: „B. Ästhetik 3. Bauformen“, in: Engels, Manfred/Auerochs, Bernd (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2010, S. 77.
  7. “You can define the barber as ‘one who shaves all those, and those only, who do not shave themselves’. The question is, does the barber shave himself?”, in: Russell, Betrand: The Philosophy of Logical Atomism. London Routledge 2010, S. 101.
  8. Mladek: „Radical Play“, S. 227.
  9. Sie knüpfen darin nolens volens an die Lesart Wilhelm Emrichs an, welcher insbesondere den Proceß als eine die menschliche Situation schlechthin darstellende Welt begreift, in der Schuld als mit einer Institution ein- und aussetzende Existenzschuld zu verstehen ist. Vgl. Elm, Theo: „2. Die Romane c) Der Prozeß“, in: Kafka Handbuch in zwei Bänden. Band 2: Das Werk und seine Wirkung. Stuttgart 1979, S. 422.
  10. Vgl. etwa: Derrida: „Before the law“, S. 181-220. Vgl. außerdem: Campe, Rüdiger: „Kafkas Institutionenroman: ‘Der Proceß’, ‘Das Schloß’“, in: Campe, Rüdiger/ Niehaus, Michael (Hg.): Gesetz. Ironie. Festschrift für Manfred Schneider. Heidelberg 2004, S. 197-208. Vgl. jüngst: Trüstedt, Kathrin: „Execution Without Verdict: Kafka’s (Non-)Person“, Law Critique 26 (2015), S. 135-154.
  11. Trüstedt: „Execution without Verdict“, S. 139 f.
  12. Campe, Rüdiger: „An outline for a critical history of Fürsprache: synegoria and advocacy“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur 82 (2008), S. 355-381.
  13. Benjamin: Benjamin über Kafka, S. 22.
  14. Vgl. Benjamin: Benjamin über Kafka, S. 18.
  15. Den hier vorgelegten Hinweisen auf die Verhandlung einer Inszenierung oder Theater des Ek-sistierens im Proceß soll an anderer Stelle und mit Bezug auf Texte Martin Heideggers – die hier aus Platzgründen ausgespart wurden – ausführlicher nachgegangen werden. Arbeitshypothese ist dabei, dass Kafka als literarisch-theatrales Verfahren erprobt, wofür Heidegger nur eine unzulängliche Sprache bleibt „So kommt es denn bei der Bestimmung der Menschlichkeit des Menschen als der Ek-sistenz darauf an, daß nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension des Ekstatischen der Ek-sistenz. Die Dimension jedoch ist nicht das bekannte Räumliche. Vielmehr west alles Räumliche und aller Zeit-Raum im Dimensionalen, als welches das Sein selbst ist.“ (Vgl. „Brief über den »Humanismus«“, S. 333/334)
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