Rezension | Eine Archäologie der NS-Ästhetik

Evelyn Annuß untersucht Formen des Massenspiels im Nationalsozialismus

Wie lässt sich das Theater des Nationalsozialismus nicht nur politisch, sondern auch ästhetisch aufarbeiten? Diese Frage verfolgt Evelyn Annuß in ihrer Monographie Volksschule des Theaters. Nationalsozialistische Massenspiele und erweitert damit die methodologisch vorrangig theaterhistoriographische Auseinandersetzung mit den Theatern des Dritten Reiches innerhalb des Fachs der Theaterwissenschaft. Volksschule des Theaters offeriert somit eine bisher fehlende Form- und Mediengeschichte der nationalsozialistischen Massenspiele, die aufzeigt, wie die Mittel von Theater und Politik ineinandergreifen und wie Massenkultur sich gleichzeitig performativ formiert. Annuß‘ Studie setzt an einem blinden Fleck in der bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung an. Statt sich lediglich mit dem Hinweis auf die Gleichschaltung von Ästhetik und politischer Propaganda des Dritten Reiches zu begnügen, zeigt sie durch die dezidierte Analyse einer Fülle verschiedener Arten von Massenspielen im Detail, wie die einzelnen Versuche einer Ästhetisierung von Politik vor sich gegangen sind. Der Titel des Bandes, Volksschule des Theaters, greift dabei zurück auf ein Zitat von Otto Laubinger, Mitglied der Theaterabteilung des Propagandaministeriums, dessen Ideen zur Rolle der Freilichtbühnen und vor allem zu einem chorisch geprägten Festspiel einen Ausgangspunkt für die verschiedenen Experimente mit dem Massenspiel darstellten. Der Titel spielt aber auch auf die Doppelbedeutung an, die diesem Massentheater „als Instrument nationalsozialistischer Volksbildung“ zukam. Es ging dabei um „Erziehen und Vergemeinschaften“ (15). Doch gerade dieses „und“ zwischen Erziehung und Vergemeinschaftung erweist sich als komplexes Spannungsfeld innerhalb der Propagandastrategien der NS-Diktatur. Denn einerseits ist das Gemeinschaftsprimat Teil der revolutionären Rhetorik innerhalb der Machtübernahme, andererseits benötigt die Machtkonsolidierung der folgenden Jahre eine Erziehung, die jegliche Art der Vergemeinschaftung kontrolliert. Aus der Erziehung zur Gemeinschaft wird immer mehr eine Disziplinierung der Gemeinschaft.

Über acht Kapitel hinweg entwirft Annuß das Bild eines komplexen Netzwerkes des nationalsozialistischen Massenspiels, das sich als zunächst offener und widersprüchlicher Findungsprozess gestaltet und in dem sich liturgische, avantgardistische, wie sportliche Formate verbinden: christliches Laienspiel, Bauern- bzw. antikes Chortheater und Turnerbewegung. Zentral ist hier, wie Annuß etablierte Deutungsansätze – etwa Rainer Stommers Verbindung der Thingspielästhetik mit den militärischen Aufmarsch- und Kundgebungspraktiken des Nationalsozialismus (25) – umkehrt. Sie geht nicht davon aus, dass die politische Ästhetik des Nationalsozialismus sich in den theatralen Formen widerspiegelt, sondern dass die verschiedenen Formen, wie etwa Thingspiel oder Landschaftstheater, als offene ästhetische Versuchslabore zu begreifen sind, aus denen Goebbels und das Propagandaministerium zu schöpfen wussten. Indem Annuß skizziert, wie „die nationalsozialistische Kulturpolitik…vielen als El Dorado [erscheint]“ (59), hebt sie die Verantwortung der oft auch eingeschränkt politisch motivierten Kunstschaffenden und Theaterwissenschaftler hervor, deren Expertise zur Schaffung des Propaganda-Apparates beitrug. Dabei kommen gerade auch den ästhetischen Sackgassen, wie dem 1935 ausgesprochenen Thingspielverbot, eine besondere Bedeutung zu, lässt sich an ihnen doch herausstellen, dass das von der NS-Ideologie postulierte Abhängigkeitsverhältnis von Volkskörper und Führerfigur repräsentationstechnisch eine Herausforderung darstellt. Gerade das Thingspiel zeigt eher die ästhetische Leerstelle als die unbedingte Notwendigkeit einer Verbindung zwischen Chören und Führerfigur auf. Verbunden mit dieser Lesart des Verhältnisses von Ästhetik und Politik ist eine intensive intermediale und medientheoretische Analyse, die sich durch das Buch zieht und die Formen des Massentheaters in direkte Beziehung zu den anderen aufkommenden Massenmedien, d.h. zu Radio und Film, setzt.

Jedes Kapitel zirkuliert dabei um mehrere Inszenierungsbeispiele der verschiedenen Massenspielformen. An diesem induktiven Ansatz lässt sich eine der wichtigsten wissenschaftlichen Stärken dieser Monographie festmachen: die detaillierte und umfassende Recherche- und Archivarbeit. Der Anhang allein umfasst 140 Seiten des fast 600-seitigen Buches und berücksichtigt Materialien aus fünfzig verschiedenen Archiven sowie einer Vielzahl von Nachlässen, die in einer Fülle von Zitaten zugänglich gemacht werden. Ähnlich umfangreich gestaltet sich das Bildmaterial mit fast 150 Inszenierungsfotografien, architektonischen Skizzen, Plakaten und gemalten Impressionen der Massenspiele. Inhaltlich fokussiert Annuß Wahrnehmungsdispositive und bewegt sich hierbei über die Analyse der Akustik zu Raumkonstellationen und schließlich dem zunehmenden Primat von Visualisierungsstrategien, die sich mit dem Aufstieg des Filmmediums verbinden lassen. Das zweite Kapitel „Medien“ beginnt Annuß mit Goebbels‘ notorischer Evokation eines „Theater[s] der Hunderttausend“ (73) und identifiziert die Akustik als das zunächst dominante Mittel für eine Zusammenführung der Massen. In der Untersuchung von Hitlers Ansprachen im Radio und auf Kundgebungen und insbesondere des Hörstücks Symphonie der Arbeit (1934) von Hans-Jürgen Nierentz zeigt Annuß das Spannungsverhältnis zwischen dem Sprechchor als Ausgangspunkt einer theatralen Vorstellung des Volkes einerseits und der entkörperten, akusmatischen Stimme des Führers andererseits. Gerade das chorische Element in Symphonie der Arbeit zeigt die Fortschreibung und auch Abhängigkeit von den ästhetischen Mitteln der Avantgarde und deren Experimenten mit dem Chor (120). Dabei führt das akustische Dispositiv letzten Endes nicht zu einer Gleichsetzung der verschiedenen Stimmen auf chorisch horizontaler Ebene. Stattdessen wird durch die technologisch verstärkte, akusmatische Führerstimme „der Sound des Kollektiven…gebändigt“ und formal die Vertikale akzentuiert, die sich insgesamt als Ausdruck einer „medienübergreifende[n] Mobilisierung der Vogelperspektive“ verstehen lässt (124). Es ist das Nachzeichnen dieser Vertikalisierung im Massenspiel, das Annuß sowohl auf architektonischer, akustischer wie visueller Ebene anhand verschiedener Inszenierungen immer wieder unternimmt, wobei sie hervorhebt, wie ambivalent die Verbindung zwischen den verschiedenen Spielebenen und dadurch auch zwischen „Führerpersona und Volksfigur“ bleibt (247).

Desweiteren hervorheben lässt sich das Kapitel „Landschaftsbühne“ mit dem Beispiel des plattdeutschen Bauernstückes De Stedinge, das 1935 auf einer vom ideologischen Beauftragten Alfred Rosenberg entwickelten Landschaftsbühne mit Spieldorf zur Inszenierung kam. Die Panorama- und Immersionsästhetik von De Stedinge bildet bei Annuß einen wichtigen Kontrast zu den zuvor behandelten auditiv und chorisch geprägten Festspielarten und läutet eine verstärkte Nutzung visueller Strategien im Massenspiel ein, die 1936 in den Olympischen Spiele einen Höhepunkt finden (344). Auch stellt dieses Kapitel anschaulich den beeindruckenden Horizont von Annuß‘ Überlegungen dar, wenn sie mit der Analyse von De Stedinge auch eine kleine Kunstgeschichte des Panoramabildes aufrollt und so die medienexperimentelle Seite des NS-Massentheaters ins Zentrum der Argumentation stellt. Das Buch endet mit einer Kulmination der Vogelperspektive, ausformuliert in den lebenden Ornamenten aus Menschen, die als Masse auf dem Olympischen Spielfeld in Berlin zusammenkommen, um den Reichsadler mit Hakenkreuz im Kollektiv darzustellen. Hier entsteht eine Volksfigur, die ihre Stimme und damit auch ihre Kritikfähigkeit verloren hat, um ausschließlich als Einheitsbild für das Auge des Führers zu existieren.

Volkschule des Theaters arbeitet die Ästhetisierung des Politischen anhand von Wahrnehmungsprozessen im Theater heraus und unterstreicht die ästhetischen Kontinuitäten, die sich von der Avantgarde bis in die Gegenwart ziehen lassen. Was diesen Band dabei von anderen theatergeschichtlichen Arbeiten zum Nationalsozialismus unterscheidet (beispielsweise Stommer 1982; Berghaus 1996; Eicher, Panse u. Rischbieter 2000; Fischer-Lichte 2004) ist der umfassende interdisziplinäre Blick auf diese Inszenierungsprozesse, die in einem Netzwerk von oft rivalisierenden Kulturtechniken intermedial verortet werden und so eine alternative Entwicklungsgeschichte erhalten. Damit untersucht Annuß in diesem Band nicht nur kontroverses und unterbelichtetes Theatermaterial, sie stellt auch die Frage, auf welche Art und Weise ästhetische Form politisch wird bzw. wie diese Form auch immer wieder kontextgebunden umfunktioniert werden kann. Ihr Buch ist nicht so sehr ein Geschichtsabriss zur Kunst des Nationalsozialismus als vielmehr eine Archäologie des NS-Theaters und seiner ästhetischen Mittel. In diesem Prozess der Ausgrabung theatraler Formen, die sich weit ins politische Abseits bewegt haben, zeigt sie auf, dass der Weg von der Kunst zur Propaganda bis heute ein keineswegs klar ausgeloteter ist und stattdessen weiterer Untersuchung bedarf.

Evelyn Annuß: Volksschule des Theaters. Nationalsozialistische Massenspiele. Paderborn: Wilhelm Fink 2019.

Literatur:

Berghaus, Günter (Hg.), Fascism and Theatre. Comparative Studies on the Aesthetics and Politics of Performance in Europe, Oxford u. New York 1996.

Eicher, Thomas, Barbara Panse, u. Henning Rischbieter, Theater im „Dritten Reich“: Theaterpolitik, Spielplanstruktur, NS-Dramatik, Seelze 2000.

Fischer-Lichte, Erika, Theatre, Sacrifice, Ritual, London u. New York 2004.

Stommer, Rainer, Die inszenierte Volksgemeinschaft. Die ‘Thing-Bewegung’ im Dritten Reich, Marburg 1982.

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