Begrüßung

Unser Thewis-Schwerpunkt widmet sich dem Theater, der Poetik und Poetologie des Sturm und Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz. Lenz, der von 1751-92 lebte und als einer der bedeutendsten Autoren des 18. Jahrhunderts gilt, ist besonders als Dramatiker bekannt. Dennoch rückt erst in den letzten Jahren in den Fokus, dass Lenz für ein Theater schrieb, das uns erst heute eigentlich vertraut ist: Ein Theater, das den Rahmen der Guckkastenbühne und alle Konventionen seiner Zeit sprengt, ein Theater, das auf den Ebenen der Sprache wie der Aufführungspraxis geradezu ‚postmodernen‘ Strategien folgt, ein Theater, das keine elitären Zugangsbeschränkungen, sondern ‚für alle‘ „unter freiem Himmel“[1] sein will. Die vorwiegend philologische Forschung sah in Lenz bisher vor allem einen Schreibenden, der auf Missstände aufmerksam machen und als einer der radikalsten Stürmer und Dränger gegen die Ordnung der Väter Politik machen wollte. Geht es um seine Dramen, stehen zumeist poetologische oder kulturwissenschaftliche Fragen im Fokus, sodass darin etwa Lenz’ Komödienbegriff oder von ihm sowohl aufgegriffene wie auch persiflierte Konventionen des bürgerlichen Trauerspiels diskutiert werden. Daneben gibt es natürlich nach wie vor jene Untersuchungen, die sich auf der inhaltlichen Ebene für die Charakterisierung der Figuren oder für soziale Fragen interessieren. Fragt man allerdings nach dem Theater, das Lenz in seinen Dramen mit(be)schrieb, so finden sich in der philologischen und theaterwissenschaftlichen Forschung nur sehr wenige Ansätze, die tatsächlich die in den Theaterstücken szenographierte Bühne (Bühnenraum, Aufführungspraxis) mitbedenken. Es handelt sich zumeist um Aufsätze oder Kapitel in Monographien, die sich auch mit anderen Autoren auseinandersetzen, innerhalb derer man auf Hinweise beispielsweise auf das von Lenz beschriebene Spiel der Darsteller oder auf eine (un)mögliche Umsetzung seiner vielfältigen Räume stößt.[2]

Im Rahmen eines Seminars am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum unter der Leitung von Judith Schäfer im Sommer 2016 und im Anschluss an die damals gerade erschienene Publikation zu Lenz’ „Dramaturgien des Fragmentarischen“[3] rückten andere Fragen in den Vordergrund, die sich aus theaterspezifischeren Interessen ergaben und sich in Themenkomplexen wie Entgrenzung der Guckkastenbühne, räumliche und zeitliche Desorientierungen, groteskes Spiel und karikatureske Figurenzeichnung bündeln ließen. Intensiviert und geöffnet wurde der Austausch zu Lenz’ Theater im gemeinsam vom Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum und dem Institut für Germanistik der Universität Hamburg unter der Leitung von Dr. Julia Freytag sowie dem Theater an der Ruhr ausgerichteten Symposium Lenz-Herbst am 8. und 9. Oktober 2016 im Theater an der Ruhr in Mülheim. Lenz-Forscherinnen und -forscher und vor allem Studierende der Bochumer Theaterwissenschaft und der Hamburger Germanistik stellten eigene Forschungsergebnisse sowie künstlerische Arbeiten zu Bühne, Aufführungspraxis, Poetologie und Dramaturgie bei Lenz vor. Die Aufführung des Hofmeister unter der Regie von Roberto Ciulli am ersten Abend gab für den zweiten Tag ebenso Anlass für weiterreichende Gespräche wie Installationen und szenische Arbeiten von Studierenden.

Für die vorliegende Thewis-Ausgabe haben einige der damaligen Teilnehmenden ihre Vorträge in Artikelform gebracht, manche Arbeiten wurden erst im Zuge der Weiterbeschäftigung entwickelt. Einige B.A.-Abschlussarbeiten zu Lenz’ Theater, die im Anschluss an das Seminar und Symposium entstanden, zeigen, dass dieses Thema offenbar ein interessantes und noch recht offenes Forschungsfeld ist. Aus dem Interesse der Studierenden an Lenz’ Theater heraus sind die folgenden Beiträge erwachsen.
Sie widmen sich unter anderem Fragen der Dramaturgie und der ästhetischen Erfahrung, den besonderen Bühnenräumen und Figurenkonzeptionen. Aber auch zum Visuellen bei Lenz, genauer dem Verhältnis von Bild und Sprache sowie von Figurenrede und sogenanntem Nebentext (Regieanweisungen, Bühnenanweisungen), finden sich Beiträge. Lenz wird ebenso als Zeichner sichtbar.

Judith Schäfer nimmt eine erste Betrachtung des Lenz’schen Theaters vor und stellt heraus, dass bislang gerade dem Theatralen in Lenz’ Werken zu Unrecht nur wenig Beachtung geschenkt wurde. Die verschiedenen von ihr eröffneten Zugänge zu seinen (Theater-)Texten bieten einen ersten Ausgangspunkt für die folgenden Beiträge, in denen eine spezifischere Betrachtung einzelner Fragen erfolgt, die Lenz beschäftigt haben mögen.
In ihrem Beitrag zu beweglichen Bühnenräumen im Werk von Lenz stellt Viviane Hoof fest: Lenz denkt und schreibt Räume als werdende, unabgeschlossene und unabschließbare Anordnungen, die die Rezipierenden vor Herausforderungen stellen. Einen besonderen Fokus legt sie dabei auf Blickverhältnisse und das Unterfangen der Standpunktnahme der Rezipierenden als Reaktion auf Lenz’ fragmentierte Weltsicht.
Lisa Schneider arbeitet heraus, dass Lenz in seinem Drama Die Soldaten die Konstituierung von gesellschaftlichen Kollektiven als Konstrukte vorführt und diese immer wieder zusammenbrechen lässt. Ausgehend von der These, dass das Kollektiv eine Vereinigung ‚aufgrund von‘ sei, zeigt sie, dass sich das (überwiegend männliche) Kollektiv über Zuschreibungen einer dritten (meist weiblichen) Person – hier Mariane Wesener – zu erhalten sucht.
Betrachtungen zur Poetologie einer Gegenwartsdramatik bei Lenz nimmt Johannes Lehmann vor. Bei ihm geht es um ein von Lenz gefordertes Theater als Medium der Sichtbarmachung von Gegenwartsstrukturen und sozialen Gegebenheiten. Dabei stellt er vor allem die Relevanz des Dichters heraus, der in seiner Standpunktnahme zur Welt als deren Folie und Spiegelung fungiert.
Philipp Hohmann bringt in seinem Aufsatz Lenz und Nietzsche miteinander ins Gespräch. In der Anwendung des Nietzsche-Begriffs des Unzeitgemäßen und unter der Betrachtung epistemischer und poetologischer Grundfragen, die Lenz in Dramen, Reden und Briefen stellt, stiftet er zu einem diachronen Verfahren an, das beide Autoren – durch die Folie des Gegenübers – einander erschließen lassen kann.
Philipp Blömeke verfolgt unter ähnlicher Methode ein anderes Ziel: Sein Aufsatz sucht Interferenzen, Interpoetologien und auch Interbiographismen zwischen Lenz und Paul Celan. Mit dem Fokus auf Celan, der sich in seiner Büchner-Preis-Rede in einer poetologischen Verwandtschaft zu Lenz positioniert, werden mögliche poetologische und epistemologische Verbindungslinien – das, was Celan einen „Meridian“ nennt – untersucht.
Der Künstler Jens Eike Krüger hat sich von Lenz inspirieren lassen und eine Zeichnung erstellt, die eine Komposition aus verschiedenen überlieferten Lenz-Skizzen und Zeichnungen ist. In dem gemeinsam mit Sina Langner verfassten Text geht es um die Verbindung von Zeichnung und Wort bei Lenz und um den Blick eines zeitgenössischen Künstlers auf die Skizzen von Lenz.
In dem Auszug eines Publikumsgespräches mit Roberto Ciulli und Helmut Schäfer (Theater an der Ruhr, Mülheim) über ihre Inszenierung von Lenzʼ Der Hofmeister geht es schließlich um geschlossene Räume, Klänge, Beobachterperspektiven, Distanzierungen und stumme Figuren. Außerdem wird Lenz hier als szenisch Denkender, als Regisseur in den Blick genommen.

  1. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Brief an Gotter, 10. Mai 1775, in: Ders., Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Sigrid Damm. München, Wien 1987, Bd. 3, S. 317.
  2. Ein solches Beispiel ist: Anke Detken, Im Nebenraum des Textes: Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2009, S. 226-268. Der für den vorliegenden Kontext so vielversprechende Titel Space to Act: The Theatre of Lenz (Hg. von Alan C. Leidner und Helga S. Madland, Columbia 1993) führt leider in die Irre, versammelt er doch durchweg philologisch interessierte Beiträge; hinzu kommt ein Text zu Friedrich Ludwig Schröders Hofmeister-Adaption. Auch das in vielen Aspekten so hilfreiche und fraglos verdienstvolle Lenz-Handbuch (hg. v. Freytag, Julia/Stephan, Inge/Winter, Hans-Gerd) hat dem Theater von Lenz (und auch der Geschichte seiner Inszenierungen) keinen eigenen Beitrag gewidmet. Die Forschung hierzu hat offenbar tatsächlich gerade erst begonnen.
  3. Judith Schäfer, »… da aber die Welt keine Brücken hat …«: Dramaturgien des Fragmentarischen bei Jakob Michael Reinhold Lenz. Paderborn 2016.
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