Theater | „ich bin entsetzlich fürs gespielt werden“: Einige Notizen zum Theater von Jakob Lenz

Jakob Michael Reinhold Lenz ist vor allem für seine Dramen Der Hofmeister (1774) und Die Soldaten (1776) bekannt. In einschlägigen Handbüchern zum Drama oder Überblicksdarstellungen zur Literatur des 18. Jahrhunderts wird er als einer der wichtigsten Autoren des Sturm und Drangs geführt. Das ist sicherlich nicht falsch, will aber auch nicht viel besagen, denn neben dem Schlachtruf „Weg mit den Vätern!“ (Der Engländer – Eine dramatische Phantasey, 1777), der die Stürmer und Dränger verbindet, oder der Liebe zu Shakespeare und zur offenen Dramenform, gibt es viele Lenz’sche Eigenheiten, die unter kein Schlagwort zu subsumieren sind. Man müsste noch Einiges sagen beispielsweise über das Makabre, das Groteske, das Anarchische bei Lenz. Sowie auch über das Vorsichtige, das Leise, die Szenen des Zaghaften. Und über das Unverständliche, das Sperrige und Rätselhafte in manchen seiner Schauspiele, besonders in den Fragmenten. Vor allem aber müsste es um das Theater gehen, das Lenz in seinen Dramen entworfen hat, und das sich nur bei oberflächlichem Lesen allein als lärmendes, polterndes Protest-Theater der Jungen gegen die Alten oder der Bürger gegen den Adel oder der Töchter gegen die Väter missverstehen lässt. Aus Anlass der vorliegenden Thewis-Ausgabe seien deshalb einige Notizen zu Lenz’ Theater zusammengetragen, die vielleicht Anregung sein können für eine tiefere Forschung zu Lenz als Theaterautor.

Dass Lenz sich, obwohl erfolgreich, nie etabliert hat, erklärt sich nicht nur – wie so oft geschehen – über seine zweifelsohne komplexe Persönlichkeit. Es wird vor allem verständlich aus der Tatsache heraus, dass er als Dramatiker das Theater zwar immer mitdenkt – „ich bin entsetzlich fürs gespielt werden“, schreibt er an Friedrich Wilhelm Gotter[1] –, dass dies aber nicht bedeutet, dass er seine Stücke an zeitgenössischen Aufführungskonventionen wie festgelegten Auf- und Abtritten, Gattungskonventionen etc. ausrichten würde. Er denkt nicht erst an die Guckkastenbühne oder etablierte Bühnentechnik, sondern er schreibt eine konkrete szenische Phantasie, einen bestimmten Raum seiner Vorstellung nieder. Das tut er ungeachtet des Vorwurfes der ‚Unspielbarkeit‘ seiner Dramen – und dieses Etikett erhalten die meisten seiner Stücke ihrer Zeit und noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein tatsächlich. Im Bewusstsein nicht nur der aktuellen Bühnen- und Dramenkonventionen, sondern auch im selbstbewussten und ironischen Umgang mit ihnen lässt Lenz beispielsweise in den Anmerkungen übers Theater (1774) einige ‚Highlights‘ der jahrtausendealten europäischen Theatergeschichte in einem „ungeheuren Theater“ „seiner Einbildung“ vorüberziehen.[2] Dabei zitiert er die Masken des antiken Theaters, die barocke und zeitgenössische Theaterarchitektur mit ihren Bühnen, Parterren und Logen, die Kulissen, den Lichtputzer, den Vorhang und den Applaus als damaligen Theaterapparat.[3] Und erst danach, nach einem Bruch, beginnt Lenz Schritt für Schritt, in einer relativ komplizierten, andeutungsreichen, ständig abbrechenden Bewegung über das Theater zu sprechen, das er sich vorstellt: „ein Theater fürs ganze menschliche Geschlecht“, das „aufzuschlagen“ sei, das also unter freiem Himmel und flexibel ist, ein temporäres Theater, das seinen Ort wechseln, das wandern kann.[4]

Bis zu seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr schafft Lenz sein meistrezipiertes Werk: Insgesamt schreibt er etwa dreißig Dramen und Dramenfragmente,[5] dazu Nachdichtungen, Übersetzungen, Lyrik und erzählerische Prosa, außerdem ästhetische und gesellschaftspolitische Schriften. Alles in allem umfassen seine Texte in den beiden Werkausgaben von Sigrid Damm[6] und Heribert Tommek[7] etwa 2700 Druckseiten. Seinen Zeitgenossen gilt Lenz vor allem durch den Erfolg des Hofmeister zunächst als bedeutender Dramatiker. Für einige Jahre erfährt er öffentliche Anerkennung in den wichtigen literarischen Zirkeln, Zeitschriften und nicht zuletzt am zu dieser Zeit bedeutenden Weimarer Hof. Zugleich ist die Haltung gegenüber Lenz, der vor den gesellschaftlichen Zuständen weder Augen noch Mund verschließt, gegenüber seinen kritischen Schriften und ungewohnten Dramen, eine sehr ambivalente. Von „barocken Fratzen“ (Johann Wolfgang Goethe) ist die Rede, von „Nothzüchtigung der Sprache“ (Christoph Martin Wieland) und „poetischer Grausamkeit“ (Joseph Beyer). Mit seinem Verweis vom Weimarer Hof 1776, dessen genaue Umstände heute unklar sind, ist der merkwürdige bürgerliche Dichter Lenz für die Öffentlichkeit bald vergessen. Als er 1792 in Moskau stirbt, nimmt das in Deutschland kaum noch jemand zur Kenntnis. Darauf folgt, unterbrochen von Georg Büchners Lenz-Novelle (entstanden ca. 1835, postum erschienen 1839), eine bis in die 1990er Jahre andauernde Ignoranz gegenüber der eigenwilligen Dramatik und Ästhetik von Lenz. „Ich aber werde dunkel sein / Und gehe meinen Weg allein“[8], heißt es in einem seiner Gedichte. Diese vielzitierten Worte scheinen zunächst autobiographischer Natur zu sein, sie formulieren aber auch – intendiert oder nicht – eine über Jahrhunderte andauernde Rezeptionshaltung. „Dunkel“ im Sinne einer unfassbaren oder auch abschreckenden Gestalt, wird Lenz mindestens bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts von der universitären Forschung wie auch vom Theater, bis auf einige Ausnahmen, weitestgehend ignoriert oder zumindest marginalisiert.

Lenz lebt kein linear verlaufendes Leben. Wie viele seiner Texte prägt auch seine Biographie eine stete Bewegung. Statt hier einen Lebenslauf in gerader Linie nachzuzeichnen oder einer geordneten Werkliste zu folgen, seien daher einige prägnante Stellen aus Lenz’ Briefwechsel zitiert.

Der erste Brief ist von September 1775. Hier beschreibt seine Mutter Lenz als rastlos Suchenden. Er ist in Straßburg und 23 Jahre alt. Der Hofmeister, mit achtzehn Jahren konzipiert, mit zwanzig niedergeschrieben, hat ihn in der Zwischenzeit bekannt gemacht. Auch seine Lustspiele nach dem Plautus fürs deutsche Theater, Der neue Menoza und die Anmerkungen übers Theater sind zu jenem Zeitpunkt bereits erschienen, Die Soldaten sind soeben fertig geworden, als Lenz diese Zeilen erhält:

Dorothea Lenz an ihren Sohn, Dorpat, im September 1775:

Mein allerliebster Jakob Wie vergeblig habe ich nun so viele Jahre auf Deine zu Hause Kunft gewartet […] Wie manche Tränen und Seufzer, habe ich nicht zu Gott geschickt, daß er Dich führen und leiten möge […] Wie lange wiltu so herum irren, und Dich in solche nichtswürdige Dinge vertiefen, ach nimm es doch zu Herzen was Dein Vater Dir schreibt, es ist ja die Wahrheit, nimm es nur zu Herzen, und denke nach, was will aus Dir werden?[9]

Der Brief trifft etwas: Lenz „schweift“ tatsächlich „umher“ und die „nichtswürdigen Dinge“, in die er sich „vertieft“, sind nicht gesichert durch ein Amt. Vom Schreiben, das kein Beruf ist, kann er ohne Mäzene nicht leben. Aber er beharrt darauf. Keine feste Position, keine Heirat, kein Ort auf lange Zeit: Von Livland über verschiedene deutsche Städte verschlägt es ihn im Lauf der Jahre auch nach Frankreich, in die Schweiz und schließlich nach Russland, wo er die letzten zehn Lebensjahre bleibt.[10] Manchmal ist es einfach eine fixe Idee, die ihn an den nächsten Ort treibt, manchmal ein ernsthaftes Projekt. Und immer geht es darum, in Bewegung zu bleiben, nicht zur Ruhe zu kommen.

Lenz an Sophie von La Roche, Straßburg, Juli 1775:
Ich liebe alle seltsame Einfälle; sie sind das Zeichen nicht gemeiner Herzen. Wer in dem gebahnten Wege forttrabt, mit dem halte ich’s keine Viertelstunde aus.

Und im gleichen Brief heißt es:

Ach! das große Geheimnis, sich in viele Gesichtspunkte zu stellen, und jeden Menschen mit seinen eigenen Augen ansehen zu können![11]

Das sind keine rein biographischen Aussagen, die nur auf die Privatperson Lenz zuträfen, denn sie zielen auch ins Zentrum seiner Poetik. Das Verlassen gewohnter Wege, das „Seltsame“, vor allem das Sich-in-viele-Gesichtspunkte-Stellen, um immer wieder neue Standpunkte einnehmen zu können, all das ist charakteristisch auch für Lenz’ Schreiben, vor allem in den Dramen. Eine geradezu herrschende Hektik, ständige Perspektivwechsel und Unruhe sind eine Herausforderung für den Lesenden und für den potenziell Zuschauenden. Das wurde oft als das Unausgereifte bei Lenz bezeichnet, sollte aber als bewusste Entscheidung verstanden werden. Er ist sich im Klaren darüber, dass seine sprunghaften Stücke verwirren, dass seine Perspektiven befremdlich sind. Sie sind konzeptionell aus einer gewissermaßen ‚abseitigen‘ Perspektive entworfen, in die Lenz sich selbst immer wieder aktiv stellt. Diese Position ließe sich als ‚Winkel‘ (der Gesellschaft) bezeichnen. Tatsächlich verbergen sich einige der Dramenfiguren bei Lenz in einem Winkel,[12] und Lenz ließ auch seine Figur „Lenz“ sich zum Schreiben dorthin zurückziehen, um von hier aus „Menschen“ zu ‚schaffen‘.[13] Aus dieser gewissermaßen ‚verschobenen‘ Perspektive ergibt sich eine eigenwillige Figurenzeichnung, die er von idealbildlichen oder realistischen Darstellungsweisen bewusst absetzt. Seine verzerrte, karikatureske Spiegelung entspricht nach Lenz viel mehr den wirklichen Verhältnissen, denn:

– doch einen Seitenblick – nach meiner Empfindung schätz ich den charakteristischen, selbst den Karikaturmaler zehnmal höher als den idealischen, hyperbolisch gesprochen, denn es gehört zehnmal mehr dazu, eine Figur mit eben der Genauigkeit und Wahrheit darzustellen, mit der das Genie sie erkennt, als zehn Jahre an einem Ideal der Schönheit zu zirkeln, das endlich doch nur in dem Hirn des Künstlers, der es hervorgebracht, ein solches ist[.][14]

Dem Entwurf einer Karikatur geht also ein „Erkennen“ voraus: Nicht Augentäuschung führt zur Darstellung karikaturesker oder grotesker Figuren, sondern eine Wahrnehmung aus einer abseitigen Perspektive, die für Lenz Voraussetzung eines ungetäuschten Sehens ist.[15] Zugleich fühlt er sich nicht als abseitiger Beobachter, sondern als Teilnehmender, Mitfühlender, der genau hinsehen will: „Ich deklamiere nicht, ich protokolliere nur das, was ich überall hörte und sah, als ich mich unter die Leute mischte.“[16] Nahes, anteilnehmendes Beobachten und fragmentierendes, neu zusammensetzendes, die Perspektiven beständig wechselndes Gestalten, das sind die beiden Schritte, die es für die Kunst der Dichtung und des Dramas brauche.

Man kann das, fasst man es in postmodernen Begrifflichkeiten und als politisches Handeln – und als solches will Lenz sein Schreiben explizit verstanden wissen –, als Bewegung der Deterritorialisierung[17] interpretieren. Wo andere Dramatiker ‚idealisieren‘, also festen Boden, Rahmen (der Guckkastenbühne), fest umrissene Figuren, kurz: Reterritorialisierung suchen, geht es Lenz um eine unablässige Bewegung, ums Aufbrechen, ums Wankende unsicherer Perspektiven.[18] Darin, und nicht allein in den verhandelten Inhalten, liegt der politische und für die zeitgenössische Bühne problematische Gehalt seiner Dramen. Der Guckkasten kann mit dieser Unruhe nicht umgehen.

Lenz selbst betont, dass er seine Stücke auf der Bühne sehen will, dass er sie nicht allein fürs Lesen schreibt. An Friedrich Wilhelm Gotter schickt er aus Kehl im Januar 1776 sein Stück Die Algierer und betont: „[I]ch wäre sehr begierig […] die Wirkung zu erfahren, die das Stück auf dem Theater tut. […] [I]ch bin entsetzlich fürs gespielt werden“[19]. Das sei ein Grund dafür, warum er seine Dramen nie ‚bis zu Ende feile‘: „[E]in Stück wo alle Charaktere gleichsam nur angedeutet sind, dem Schauspieler nur Winke geben was er zu tun habe und ihm auf keine Weise zuvorgreifen.“[20] Und er betont: „Mein Theater ist […] unter freiem Himmel vor der ganzen deutschen Nation, in der mir die untern Stände mit den obern gleich gelten die pedites wie die equites ehrenwürdig sind.“[21]

Das von ihm gedachte Theater versteht Lenz als sozialkritisches und politisches Projekt. An Johann Gottfried Herder schreibt er im November 1775: „Ich freue mich himmlische Freude, daß Du mein Stück gerade von der Seite empfindest auf der ichs empfunden wünschte, von der politischen.“[22] Und gegenüber Sophie von La Roche betont er im Juli 1775:

Überhaupt wird meine Bemühung dahin gehen, die Stände darzustellen, wie sie sind; nicht, wie sie Personen aus einer höheren Sphäre sich vorstellen […] Dazu gehört aber Zeit, und viel Experimente. […] Auch sind dergleichen Sachen wirklich in der Natur; leider können sie nur in der Vorstellung nicht gefallen, und sollen’s auch nicht.[23]

Lenz experimentiert mit neuen Dramenformen[24], um die gesellschaftlichen Verhältnisse und Bedrängnisse seiner Zeit zur Darstellung zu bringen. Die im Umbruch der überkommenen Ordnungen zwischen Aufklärung, Revolution und Restauration wankende Gesellschaft des 18. Jahrhunderts nimmt er als zerfallend und repressiv wahr, sie lässt dem Einzelnen keine Möglichkeit zur individuellen Entfaltung. Dieser ist als „vorzüglichkünstliche kleine Maschine“ in das Räderwerk der „große[n] Maschine, die wir Welt, Weltbegebenheiten, Weltläufte nennen“[25], verschaltet. Das macht es ihm unmöglich, selbstbewusst zu handeln, sich selbst zu verorten und sich selbst eine Bestimmung zu geben. Lenz zeigt den Einzelnen als Spielball seiner Umstände,[26] die ihn zu zermalmen drohen. Betrachtet er die Gesellschaft seiner Gegenwart, die also alles andere als „lachend“[27] sei, ergibt sich für Lenz als Dramatiker die Notwendigkeit, eine neue Form des Dramas, genauer: der Komödie zu finden. Die soziale Kritik brauche eine ihr entsprechende Form, denn: „Komödie ist Gemälde der menschlichen Gesellschaft, und wenn die ernsthaft wird, kann das Gemälde nicht lachend werden.“[28] Das sieht auf der Inhaltsebene zunächst so aus, dass sich in Lenz’ „nicht lachend[en]“ Komödien folgenschwere Ereignisse aneinanderreihen. Intrigen, Selbstmord- und Mordanschläge, Selbstkastration, Inzestverdacht, unerwünschte Schwangerschaft, Gefangenschaft und Flucht, Leichenberge auf einem Schlachtfeld und der erhängte Diener in der Ecke des Zimmers auf einem rauschenden Fest: In solchen Szenen zeigt Lenz, wie verstrickt der/die Einzelne in Zwangslagen ist.

Die schonungslosen, auch grellen Verhandlungen dieser Themen stellen nach Bernhard Greine

am Ende des Aufklärungsjahrhunderts […] eine Provokation des bürgerlichen Theaters dar, denn sie behandeln dessen Grundlage und Perspektivpunkt, das sich selbst bestimmende Subjekt, als Leerstelle. Das Stück „Der Hofmeister“ zeigt diesen Fluchtpunkt noch, um ihn zugleich zu verweigern. So kann hier auch nur in der Negativform (als Groteske) entfaltet werden, was die Komödie […] gewinnt: einen neuen Zugang zur dionysisch-karnevalistischen Tradition der Komödie, von der sich das Theater mit Gottscheds Reformen abgeschnitten hatte.[29]

Auch in der Form versucht Lenz Neues. Äußerlich sind seine Dramen der damaligen Konvention angepasst: Sie haben meist 5 Akte mit entsprechender Szenengestaltung, sie scheinen im Personenverzeichnis Orte, Zeit und auftretende Personen präzise zu benennen und auch im Titel verlässliche Informationen zum Thema, zur Handlung oder zur Hauptfigur zu liefern. Aber man täuscht sich. Stattdessen stiftet Lenz Verwirrung. Manchmal geschieht dies subtil, sodass sich nur die Atmosphäre eines Unheimlichen oder der Eindruck einer nicht fassbaren Störung einstellt. Gern greift er aber auch zu rabiaten Mitteln, die in ihrer ausgestellten Effekthascherei geradezu abstoßend wirken können. Beispielsweise gibt es mitunter so viele Handlungsfäden, dass die Zuschauenden vermeintliche Hauptfiguren immer wieder aus dem Fokus verlieren, so im Hofmeister. Eine Haupthandlung, wie sie durch einen Stücktitel wie Der Neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi suggeriert wird, wird fragmentiert von nahezu unzähligen Nebenhandlungen. Die Handlungsfäden laufen oft nicht chronologisch, sondern parallel, was eine Übersicht erschwert. Überdies gehen Figuren nicht nur im Wirrwarr der gezeigten Ereignisse, im ständigen Ortswechsel und innerhalb der unsicheren Chronologie verloren; sie treten auch wie aus dem Nichts auf und verschwinden plötzlich und kommentarlos.
Auch die Sprache der Lenz’schen Figuren ist von Brüchen durchzogen. Stumme Gebärden, abbrechende oder grammatikalisch gestörte Sätze sowie viele Gedankenstriche und Auslassungspunkte durchlöchern die Sprache und spiegeln eine tiefe Verunsicherung der Figuren. Sprache gibt hier nur eingeschränkte, aus jedem sinnstiftenden Zusammenhang herausgelöste Perspektiven wieder; jede Figur spricht von ihrem Gesichtspunkt aus.[30] Eine wirkliche Verständigung zwischen ihnen erscheint unmöglich.
Diese kurzen Bemerkungen können nur ein Anfang sein, eine Einladung für eine theaterwissenschaftliche Forschung zum Theater von Jakob Lenz. Die anschließenden Beiträge wollen weitere, neue Perspektiven eröffnen.

  1. Jakob Michael Reinhold Lenz: Brief an Friedrich Wilhelm Gotter, Kehl, Januar 1776, in: Ders.: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Sigrid Damm. München, Wien 1987 [im Folgenden: WuBr 1-3], Bd. 3, S. 368.
  2. Lenz: „Anmerkungen übers Theater“, in: WuBr 2, S. 641-671, hier S. 642.
  3. Ebd., S. 642-644.
  4. Ebd. S. 670.
  5. Siehe Julia Freytag, „Dramen und Dramenfragmente“ [Art.], in: Dies./Stephan, Inge/Winter, Hans-Gerd. (Hg.): J.M.R. Lenz-Handbuch. Berlin/Boston, S. 47-128.
  6. Siehe Fn. 1.
  7. Jacob Michael Reinhold Lenz: Moskauer Schriften und Briefe. Textband [im Folgenden: MS] und Kommentarband [im Folgenden: Tommek, KB], herausgegeben von Heribert Tommek. Berlin 2007.
  8. Lenz: [„So soll ich dich verlassen, liebes Zimmer“], in: WuBr 3, S. 206.
  9. Dorothea Lenz an ihren Sohn, Dorpat, im September 1775, in: WuBr 3, S. 339.
  10. Zu Lenz’ Biographie siehe zuletzt Heribert Kraft: J.M.R. Lenz Biographie. Göttingen 2015. Einen handlichen Überblick bietet die „Chronik“ der (nicht mehr existierenden) Forschungsstelle Lenz unter http://www.jacoblenz.de/chronik/index.html (Aufruf am 31.05.2018).
  11. Lenz an Sophie von La Roche, Straßburg Juli 1775, in: WuBr 3, S. 327 und S. 325.
  12. Siehe Judith Schäfer: »… da aber die Welt keine Brücken hat …«: Dramaturgien des Fragmentarischen bei Jakob Michael Reinhold Lenz. Paderborn 2016, S. 80, Fn. 270.
  13. Jakob Michael Reinhold Lenz: Pandämonium Germanikum. Eine Skizze. Synoptische Ausgabe beider Handschriften. Mit einem Nachwort herausgegeben von Matthias Luserke und Christoph Weiß. St. Ingbert 1993, S. 54 ff.
  14. Lenz: „Anmerkungen übers Theater“, S. 653.
  15. Zum Problem der Perspektive und des Standpunktes bei Lenz siehe Schäfer: Dramaturgien des Fragmentarischen, S. 70 ff. (bes. S. 75 ff.), Rector, Martin: „Optische Metaphorik und theologischer Sinn in Lenz’ Poesie-Auffassung“, in: Hill, David (Hg.), J.M.R. Lenz: Studien zum Gesamtwerk, S. 11-26, Leidner, Alan C.: „The Dream of Identity: Lenz and the Problem of Standpunkt“, in: The German Quarterly, Cherry Hill, N.J. 59/1986 (Nr. 3), S. 387-400.
  16. Lenz: „Über die Soldatenehen“, in: WuBr 2, S. 787-827, hier S. 807. Allerdings ist wichtig, dass Lenz diese Positionierung nicht als Dramatiker, sondern innerhalb einer Reformschrift formuliert. Dichtung ist für ihn jedoch untrennbar mit einem sozialen Anliegen verbunden, was sich schon allein aus Titel und Inhalt der meisten seiner Dramen ablesen lässt.
  17. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: „1440 – Das Glatte und das Gekerbte“, in: Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2006, S. 434-446.
  18. „Im gekerbten Raum werden Linien oder Bahnen tendenziell Punkten untergeordnet: man geht von einem Punkt zum nächsten. Im glatten Raum ist es umgekehrt: die Punkte sind der Bahn untergeordnet. […] Im Glatten wie im Eingekerbten gibt es Punkte des Stillstands und Bahnen; aber im glatten Raum reißt die Bahn den Stillstand fort […]“, heißt es bei Deleuze/Guattari (ebd., S. 436 f.). Lenz trifft eine ebenfalls topologisch-poetologische Aussage über seine Dramen, die sich mit dieser zitierten vergleichen ließe: „Es gibt zweierlei Gärten, eine die man beim ersten Blick ganz übersieht, die andere da man nach und nach wie in der Natur von einer Abwechselung zur andern fortgeht. So gibt es auch zwei Dramata, meine Lieben, das eine stellt alles aufeinmal und aneinanderhangend vor und ist darum leichter zu übersehen, bei dem andern muß man auf- und abklettern wie in der Natur.“ (Lenz: „Für Wagnern“, in: Ders.: WuBr 2, S. 673) Das übersichtliche, mit einem Blick überschaubare Drama – aus anderen Schriften dieses Zusammenhangs wird ersichtlich, dass Lenz zeitgenössische klassische Dramen meint – mit seinen festen Akteinteilungen, ihren vorhersagbaren Höhepunkten und Peripetien sowie (tragischen) Auflösungen steht einem Drama gegenüber, für das nicht der (Über-)Blick, sondern die Bewegung, die Beweglichkeit der Rezipierenden ausschlaggebend ist. Auch hier gibt es ‚Punkte‘, aber sie laden nicht zum stillgestellten Sehen, sondern zur nächsten Bewegung ein. Zunächst scheint es, als ließe sich Lenz’ Bild vom zweitgenannten Drama exakt auf den gekerbten Raum übertragen, aber dieser Eindruck täuscht. Eben weil sich auch auf dem erreichten Punkt wieder keine Übersicht darstellt, diese vielmehr zum ‚Weiterklettern‘ auffordert, um so „von einer Abwechselung zur anderen fort[zugehen]“, geht es weniger um diese Punkte – z.B. Szenen, Akte, Haupthandlungen oder Hauptfiguren – als vielmehr um die alles umgreifende Bewegung: Das Ensemble der Handlungen, Figuren und Räume, aus deren gemeinsamer Bewegung sich erst das Drama und das dramatische Pozential bei Lenz ergibt. Es „ist ein Raum, der durch örtlich begrenzte Operationen mit Richtungsänderungen geschaffen wird. […] Er ist eher eine haptische als eine optische Wahrnehmung. […] Es ist eher intensiver als ein extensiver Raum, ein Raum der Entfernungen und nicht der Maßeinheiten. Intentives spatium anstatt extensio.“ (Deleuze/ Guattari, S. 437, Hervorh. i.O.)
  19. Lenz: An Friedrich Wilhelm Gotter, Kehl, Januar 1776, in: WuBr 3, S. 368.
  20. Lenz: An Friedrich Wilhelm Gotter, Straßburg, Ende November 1775, in: WuBr 3, S. 355.
  21. Lenz: An Friedrich Wilhelm Gotter, 10. Mai 1775, in: WuBr 3, S. 317.
  22. Lenz: An Herder, November 1775, in: WuBr 3, S. 353.
  23. Lenz: An Sophie von La Roche, Straßburg Juli 1775, in: WuBr 3, S. 325 f.
  24. Die folgenden Passagen sind teilweise übernommen aus: Judith Schäfer: „Fragment“, in: Freytag/Stephan/Winter (Hg.): Lenz Handbuch, hier S. 472-474.
  25. Lenz: „Über Götz von Berlichingen“, in: WuBr 2, S. 637-641, hier S. 637.
  26. Vgl. Lenz: „Über die Natur unseres Geistes“, in: WuBr 2, S. 619-624, hier S. 619.
  27. Lenz: „Rezension des Neuen Menoza“, in: WuBr 2, S. 699-704, hier S. 703.
  28. Ebd.
  29. Greiner, Bernhard: Die Komödie. München 1992, S. 185.
  30. Greiner, S. 189.
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