Darstellen ‚nach Auschwitz’

Was heißt es, ‚nach Auschwitz’ Theater zu machen, einen Film zu drehen, zu schreiben? Diese Frage, die im Mittelpunkt von zahlreichen Debatten der vergangenen Jahrzehnte stand, beschäftigte im Sommersemester 2008 ein von mir geleitetes Seminar am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen unter diesem Titel zunächst allgemein, dann ganz konkret mit Blick auf solche Arbeiten, die sich auf die eine oder andere Weise mit den Konzentrations- und Vernichtungslagern und ihrer Darstellbarkeit beschäftigen. Unter den Stichworten des Ausnahmezustands und der Erschütterung der Axiome lasen wir Texte von Walter Benjamin, Hannah Ahrendt, von Horkheimer/Adorno und Adorno selbst [1]: Texte, die nahelegen, dass wir es hier mit einer jede noch so weit entfernte Kulturäußerung betreffenden Zäsur im abendländischen Denken zu tun haben – um es in Anlehnung an die von Philippe Lacoue-Labarthes geprägte, Hölderlin zitierende Formulierung zu sagen.[2] Mit Blick auf Primo Levis Roman IST DAS EIN MENSCH und dessen Diskussion bei Giorgio Agamben beschäftigten wir uns mit der Frage, wie überhaupt zu sprechen sei und wer vom oft als Unsagbares oder Undarstellbares bezeichneten Zusammenhang Zeugnis abzulegen in der Lage sei.[3]

Doch Darstellen ‚nach Auschwitz’ umfasste auch und zunächst die Versuche kollektiven oder ein Kollektiv organisierenden Erinnerns, wie wir sie in Zusammenhang mit Eisenmanns Denkmal für die ermordeten Juden Europas und Libeskinds Jüdischem Museum, aber auch mit Blick auf die Dauerausstellung in der Gedenkstätte des KZ Buchenwald diskutierten. Nicht zuletzt war der Besuch des Konzentrationslagers ein wichtiger Teil unserer gemeinsamen Recherche – wobei es keine Vorgaben dafür gab, wie man sich dort je individuell mit dem auseinandersetzen sollte oder wollte, was das Lager an Spuren der Vergangenheit wie auch ihrer vielfältigen, je anders geprägten historischen Aufarbeitung enthält. Weitere Stationen der gemeinsamen Arbeit im Seminar waren dann die Filme TO BE OR NOT TO BE von Ernst Lubitsch, NUIT ET BROUILLARD von Alain Resnais und SHOAH von Claude Lanzmann sowie die Essays BILDER TROTZ ALLEM von Georges Didi-Huberman, DER NAZI-MYTHOS von Jean-Luc Nancy und Lacoue-Labarthe und DAS DARSTELLUNGSVERBOT von Nancy.[4]

Es wäre verfehlt, hier, zumal in einer kurzen Einführung, eine Synthese des Diskutierten und Gesehenen, des gemeinsam und in kleinen Gruppen oder Zwiegesprächen Erörterten und dabei vielleicht Gefundenen zu versuchen. Es scheint mir aber doch wichtig, zu betonen, dass die große Menge an Texten, Filmen und Diskussionspunkten ausdrücklich dem Drängen des Seminars folgte – eines Seminars, das auf eine Weise in vielerlei Hinsicht den Rahmen dessen sprengte, was ich bis dahin an Seminaren kannte. Ganz offensichtlich haben wir uns mit einem Gegenstand beschäftigt, der nicht einfach ein Thema unter anderen ist. Ich hatte bei der Vorstellung des Seminars erwähnt, dass es Themen im Rahmen eines Studiums der Angewandten Theaterwissenschaft oder einer anderen Disziplin im Rahmen der Theater-, Medien- oder Geisteswissenschaften gibt, mit denen man sich beschäftigen kann oder nicht, dass es daneben aber solche gibt, mit denen man sich – alleine oder im Zusammenhang eines Seminars – irgendwann einmal beschäftigt haben sollte, wenn man daran geht, auf die eine oder andere Weise die Öffentlichkeit mitzugestalten – und dass mir dieses Thema, zumindest wenn man im deutschsprachigen Kontext oder als Deutscher arbeitet, dazuzugehören scheint. Was ich zu diesem Zeitpunkt aber nicht gewusst hatte, war, dass dieses Thema, wie unsere Diskussionen gezeigt haben, bewusst oder unbewusst jede und jeden der SeminarteilnehmerInnen schon lange beschäftigt hatte: Es ist in die Familien- und Generationengeschichten eingegangen, hat dort – individuellen Traumata vergleichbar – seine Spuren hinterlassen, über die Generationen weitergegebene, auf die eine oder andere Art verarbeitete oder nicht verarbeitete Reste von Entsetzen, Schuld, Angst und Scham. Es sind Spuren, mit denen sich letztlich jeder anders und jeder in erster Linie für sich allein auseinandersetzen muss, und dies, ob er oder sie es will oder nicht. Zugleich sind es, in der Pluralität, die sich im Verlauf des Semesters zeigte, Ausgangspunkte für eine Auseinandersetzung, die in jeder Generation von neuem stattfinden muss und in jeder anders verläuft und verlaufen wird. Es war dieser Grund, der mich vorschlagen ließ, dass am Ende dieses Seminars eine Diskussion von Arbeiten, die aus ihm hervorgegangen sind, stehen sollte und wenn möglich auch deren Publikation: Wie immer gelungen, verlangt und verdient die Suche neuer Generationen nach einer eigenen Positionierung zu den hier gegebenen Fragen Öffentlichkeit.

Die nachfolgenden Beiträge stellen einen Teil der im Kontext des Seminars erarbeiteten und in einem ihm folgenden studentischen Symposium vorgestellten Auseinandersetzungen dar. Es kamen auf Wunsch und Einladung der Studierenden Beiträge von Ronald Hirte und Susanne Winnacker sowie von weiteren Studierenden des Gießener Instituts hinzu. Für ihre Mitarbeit an diesem Projekt ist an dieser Stelle zu danken: Katharina Kellermann, Daniel Franz und Johanna Manzewski, die die Publikation vorbereitet und durch ihr Engagement auf den Weg gebracht haben; Mayte Zimmermann und Elise von Bernstorff, die zusammen mit mir das Lektorat der Beiträge übernommen haben; Anna Teuwen ist für ihre Korrektur der Beiträge zu danken, Daniel Franz für das Einrichten der Texte für die Veröffentlichung in THEWIS. Besonderer Dank geht schließlich an Helga Finter, Heiner Goebbels und Gerald Siegmund vom Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, das als herausgebendes Institut diese Publikation in THEWIS ermöglicht hat, sowie das ZMI – Zentrum für Medien und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität Giessen, welches dieses Projekt finanziell unterstützt hat.

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  1. Vgl. Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1997, Adorno: „Ist die Kunst heiter?“, in: ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 1981, S. 599 – 606; ders.: „Kulturkritik und Gesellschaft“, in: Kiedaisch,Petra (Hg.) Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, Stuttgart 1995, S. 27 – 49; ders.: „Versuch, das Endspiel zu verstehen“, in: ders.: Noten zur Literatur, S. 281 – 321; Arendt, Hannah: „Die vollendete Sinnlosigkeit“, in: dies.: Israel, Palästina und der Antisemitismus, Berlin 1991, S. 77 – 94; dies.: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1998; dies.: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 1997; Benjamin, Walter: „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M. 1980, Bd. I, 2, S. 693 – 703.
  2. Lacoue-Labarthe, Philippe: Die Fiktion des Politischen, Stuttgart 1990, S. 53 – 86.
  3. Levi, Primo: Ist das ein Mensch?, München 1998; Agamben, Giorgio: Homo sacer, Frankfurt 2006; ders.: „Lebens-Form“, in: Vogl, Joseph: Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, S. 251 – 257; ders.: Was von Auschwitz bleibt: das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a. M. 2005.
  4. Didi-Huberman, Georges: Bilder trotz allem, a. d. Frz. V. Peter Geimer, München 2007; ders./Nancy, Jean-Luc: „Der Nazi-Mythos“, in: Weber, Elisabeth/Tholen, Georg Christoph (Hg.): Das Vergessen(e): Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997, S. 158 – 190. Nancy: „Das Darstellungsverbot“, in: ders.: Am Grund der Bilder, Zürich/Berlin 2006, S. 51 – 90; ders.: „Ein Hauch/Un souffle“, in: Berg, Nicolas/Jochimsen, Jess/ Stiegler, Bernd (Hg.): Shoah. Formen der Erinnerung. Geschichte – Philosophie – Literatur – Kunst, München 1996, S. 122 – 129; ders. (Hg.): L’Art et la mémoire des camps. Représenter exterminer, Paris 2001.
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