Miszelle | Heines Welttheater in Zeiten der Corona

AUTOR Der Krieg der Viren. Wie beschreibt man das?
REGISSEUR Das ist dein Job. Dafür wirst du bezahlt.
[…]
REGISSEUR Und wie soll ich das auf die / meine Bühne bringen.
AUTOR Was weiss ich. Was bedeutet mir die / deine Bühne.[1]

Heiner Müller

I

Dieses Jahr brachte der Hoffmann und Campe-Verlag unter dem Titel „Ich rede von der Cholera. Ein Bericht aus Paris von 1832“ den sechsten Artikel aus der Reihe Französische Zustände von Heinrich Heine erneut auf den Büchermarkt. Mit einem kurzen Vorwort versehen, soll diese Neuerscheinung auf die Parallelen und Aktualitäten von Heines Text aufmerksam machen. Albrecht Betz erklärt in seinem Buch Ästhetik und Politik die Besonderheit von Heines Artikel über die Zustände in Paris während der Cholera-Pandemie von 1832 damit, dass er sich „angesichts der großen Epidemie, die, zum letzten Mal, einem Naturereignis gleich, alle europäischen Länder heimsucht und als düsterer Nachklang des Mittelalters überall Entsetzen verbreitet“[2], nüchtern mit dieser auseinandersetzt. Die Aktualität von Heines Texten, die immer wieder von den Widersprüchen der modernen Gesellschaft handeln, an denen der Autor sich zeit seines Lebens reibt, wird in Zeiten von Covid-19 nur umso deutlicher. Zeigen doch die Auswirkungen der Pandemie, dass auch wir nicht vor diesem nicht bloß europäischen, sondern globalen Ereignis gefeit sind. So flammt die Aktualität von Heines Text erneut auf und animiert dazu, einen Blick auf unsere gegenwärtigen Verhältnisse zu werfen. Heine bedient sich für seinen Text einer theatralen Metaphorik, mit der er versucht, den Zuständen seiner Zeit zu entsprechen. Diese Sprache und der dichterische Umgang Heines können auch ergiebig für den Umgang von Theater in all seinen Facetten mit der Corona-Krise sein, die gerade für den Kulturbetrieb in vielerlei Hinsicht „eine explizite Version des Normalzustands“[3] ist.

Heine verwendet für seinen Artikel „faktische[…], fiktionale[…] und reflexive[…] Elemente[…]“[4] und ordnet sie bewusst zu einer eigenen Komposition an. Die literarische Tradition der Auseinandersetzung mit einer Seuche erwähnt er selbst mit einem Verweis auf Thukydides und Boccaccio.[5] Stilistisch bewegt sein Artikel sich zwischen Nähe und Distanz zu dessen Gegenstand. Ein Pathos, das sich durch die Schwere der Situation aufdrängt, wird von Heine durch diese ambivalente Spannung bewusst vermieden.[6] Wie räumliche Nähe und emotionaler Abstand sich verbinden und eine – teils zynische – Liaison eingehen, sehen wir zum Beispiel, wenn Heine schreibt: „Ich wurde in dieser Arbeit viel gestört, zumeist durch das grauenhafte Schreyen meines Nachbars, welcher an der Cholera starb.“[7] Diese Regulierung von Nähe und Distanz ist auch heute nicht nur für Journalismus, sondern gleichermaßen für das Theater eine konstante Herausforderung, wenn es sich mit aktuellen Gegebenheiten auseinandersetzen möchte.

Das Spiel mit dem Abstand wird freilich zurzeit auch ganz wörtlich genommen, wenn zwischen den Darstellenden ein Mindestabstand von anderthalb Metern explizit eingefordert oder verletzt wird, wie in Antú Romero Nunes’ „Maria Stuart“-Verfilmung für das Hamburger Thalia Theater[8] oder Roberto Ciullis Inszenierung „Der kleine Prinz – in Coronazeiten“ am Theater an der Ruhr, in welcher dem Mindestabstand auch schon einmal mit Maßband und Zollstock Nachdruck verliehen wird.

II

Heinrich Heine ist seit 1831 Paris-Korrespondent für die Allgemeine Zeitung aus Augsburg, als 1832 die Cholera aus Asien nach Paris kommt und allein dort 20.000 Tote fordert, wobei Heine noch von 35.000 Toten ausgeht.[9] Dabei bricht die Seuche über Heines Schaffen so unvermittelt herein wie über Paris. Geplant war die Arbeit an einem Buch über „französische Revoluzionsgeschichte“[10], welche durch die Berichterstattung über die Epidemie verdrängt wird: „Die Gegenwart ist in diesem Augenblicke das Wichtigere, und das Thema, das sie mir zur Besprechung darbietet, ist von der Art, daß überhaupt jedes Weiterschreiben davon abhängt.“[11]

Wir erleben in heutigen Coronazeiten, dass die gegenwärtigen Zustände scheinbar die Möglichkeiten und Notwendigkeiten von politischen Auseinandersetzungen nicht zulassen. Zu sehr sei der Alltag von der Krankheit bestimmt. Man denke an die unzähligen Diskussionen über (Arbeits-)Streiks in Deutschland.[12] Doch Heine reduziert die Krise nicht auf bloße Fallzahlen und gesundheitspolitische Elemente, er setzt sie in den Zusammenhang der politischen und historischen Hintergründe, in die sie eingedrungen ist. Die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Widersprüche verschärfen sich in der Krise, und Heine benutzt die Bühne des gesellschaftlichen Lebens, um die Figur Cholera selbst auftreten zu lassen: „Ich rede von der Cholera, die seitdem hier herrscht, und zwar unumschränkt, und die, ohne Rücksicht auf Stand und Gesinnung, tausendweise ihre Opfer niederwirft.“[13] Diese Formulierung, die durch die Personifizierung der Seuche nicht zufällig die absolutistische Staatslehre angelehnt ist[14], unterstreicht das Ausmaß der Epidemie, die Paris wie weite Teile der Welt in einen Ausnahmezustand versetzt.

Sie bildet das Zentrum der theatralen Beschreibungen in Heines Artikel. Der Theater-Metapher bedient sich Heine in seinen Schriften immer wieder, um gesellschaftliche Verhältnisse zu schildern, bzw. um die Schwierigkeit eines solchen Unternehmens zu verdeutlichen. Die auftretenden Personen sind letztendlich nur Repräsentantinnen von Interessen[15] und so ist es kein Zufall, dass Heine für seine Schilderung der Pandemie einen Maskenball als Ausgangsort wählt. Wenn der Harlekin die Maske abnimmt, tritt unvermittelt der Schrecken der Cholera in die Mitte der (Abend-)Gesellschaft, und alle gehen auseinander: „… als plötzlich der lustigste der Arlequine eine allzu große Kühle in den Beinen verspürte, und die Maske abnahm, und zu aller Welt Verwunderung ein veilchenblaues Gesicht zum Vorscheine kam.“[16]

III

Die Opfer einer solchen Krise kommen zwar aus allen Klassen der Gesellschaft, „ohne Rücksicht auf Stand und Gesinnung“, aber genauso gilt, dass es damals wie heute den Wohlhabenderen leichter fällt, Schutzmaßnahmen zu ergreifen oder sich auf die Krise besser einzustellen. In Manchester, das ebenfalls von der Epidemie heimgesucht wurde, findet die Cholera ideale Verbreitungsbedingungen in den elenden Wohnbedingungen der Armen:

Als nämlich diese Epidemie herannahte, befiel ein allgemeiner Schrecken die Bourgeoisie dieser Stadt; man erinnerte sich auf einmal der ungesunden Wohnungen der Armut und zitterte bei der Gewißheit, daß jedes dieser schlechten Viertel ein Zentrum für die Seuche bilden würde, von wo aus sie ihre Verwüstungen nach allen Richtungen in die Wohnsitze der besitzenden Klasse ausbreite.[17]

In Paris sind es gleichermaßen schon die direkten Wohn- und Hygienebedingungen, die verdeutlichen, wer ein leichtes Opfer der Cholera werden kann:

Bey dem großen Elende, das hier herrscht, bey der kolossalen Unsauberkeit, die nicht bloß bey den ärmeren Klassen zu finden ist, bey der Reizbarkeit des Volks überhaupt, bey seinem grenzenlosen Leichtsinne, bey dem gänzlichen Mangel an Vorkehrungen und Vorsichtsmaßregeln, mußte die Cholera hier rascher und furchtbarer als anderswo um sich greifen.[18]

Doch selbst bei den Maßnahmen zur Stadtreinigung treten die Widersprüche der Klassengesellschaft deutlich hervor. Die Maßnahmen zur Prävention der Krise prallen auf die ökonomischen Interessen derer, die nicht viel mehr als eben den Abfall auf den Straßen als ihre Existenzgrundlage haben. Bei dem Versuch, eine geregelte Straßenreinigung zu etablieren, „kollidirte man zuerst mit den Interessen einiger tausend Menschen, die den öffentlichen Schmutz als ihre Domaine betrachten.“[19]

Wer auf den öffentlichen Schmutz nicht angewiesen ist, kann sich, damals wie heute, den pandemischen Menschenmassen der Stadt entziehen:

Obgleich die Cholera sichtbar zunächst die ärmere Klasse angriff, so haben doch die Reichen gleich die Flucht ergriffen. […] Mit Unmuth sah der Arme, daß das Geld auch ein Schutzmittel gegen den Tod geworden. Der größte Theil des Justemilieu und der haute Finance ist seitdem ebenfalls davon gegangen und lebt auf seinen Schlössern. [Hervorhebung im Original][20]

Wie diese Verhältnisse heute verdeckt werden können, zeigen zwei unterschiedliche Ansätze von Personen des öffentlichen Lebens, mit der Krise umzugehen. So mangelt es auf der einen Seite nicht an ausgestellter Opferbereitschaft derjenigen, die nicht auf das Geld schauen müssen und sich auf ein Anwesen zurückziehen können, das wohl ein Vielfaches an Platz, Unterhaltungsmöglichkeiten und persönlichem Freiraum bietet, als der Majorität der Menschen im selben Staat zur Verfügung stehen. Und so erscheint es geradezu zynisch, nicht einfach still und heimlich aus der Stadt zu verschwinden wie zu Heines Zeiten: Dank der sozialen Medien kann ein Arnold Schwarzenegger, Terminator und ehemaliger Gouverneur Kaliforniens, noch den moralischen Zeigefinger im hauseigenen Whirlpool erheben und seine Mitmenschen ermahnen, sie mögen es doch wie er machen und zu Hause bleiben. Beim Zeigefingerheben muss man freilich darauf achten, dass einem die Zigarre nicht ins Wasser fällt.[21] Dem moralischen Typus eines Schwarzenegger stehen die Trumps gegenüber, die die Krise klein reden und deren offenes Bekenntnis zum Primat des Marktes auf Begeisterungs- und Entsetzensbekundungen stößt.[22] Heine erwähnt allerdings noch einen weiteren Typus der Reichen, nämlich denjenigen, der sich zur Stadt bekennt und vorbildlich in der Gefahrenzone verweilt. „Die eigentlichen Repräsentanten des Reichthums, die Herren v. Rothschild, sind jedoch ruhig in Paris geblieben, hierdurch beurkundend, daß sie nicht bloß in Geldgeschäften großartig und kühn sind.“[23]

Im Klima der Krise erleben Verschwörungstheorien wie gehabt Revivals oder neue Dimensionen. Bei Heine sind es vor allem Vergiftungsgerüchte, die durch die Stadt gehen. Einzelpersonen und politische Gruppen werden beschuldigt, ihre Mitmenschen zu vergiften. Die Cholera sei gar nicht die Ursache des um sich greifenden Elends. Dies führt zu wütenden Mobs, die auch vor Selbstjustiz nicht zurückschrecken und den Schlachtruf der Revolution „à la lanterne!“ [Herv. i. O.][24] auf pervertierte Weise wiederbeleben.[25] Zu Coronazeiten wird dem einen oder anderen ‚kritischen Geist‘ bestimmt auch einiges einfallen, was es denn nun wirklich mit Covid-19 auf sich hat. Bisheriger Höhepunkt der Demonstrationen gegen die Infektionsschutzmaßnahmen war dann auch der missglückte „Sturm auf den Reichstag“.[26] In diesem Zuge erleben auch antisemitische Denkmuster eine Erneuerung, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Dies wurde schon zu Beginn der Krise deutlich, und Michael Wuliger verwies bereits im März 2020 auf Möglich- und Wirklichkeiten der antisemitischen Gerüchteküche.[27]

Den gesellschaftlichen Konflikten, die Heine als Konflikte zwischen Dingen und Repräsentanten erscheinen, antwortet er mit einem Stil, der den Widersprüchen mit einer Mélange aus ästhetischer und persönlich-dokumentarischer Betrachtung begegnet. Für Heine ist die Zeit der Individuen und der Helden vorbei, und was früher nur die Chöre waren, die dem Helden zur Seite gestellt sind, erscheinen nun als handelnde Subjekte:

Überhaupt scheint die Weltperiode vorbei zu sein, wo die Taten der einzelnen hervorragen; die Völker, die Parteien, die Massen selber sind die Helden der neuern Zeit; die moderne Tragödie unterscheidet sich von der antiken dadurch, daß jetzt die Chöre agieren und die eigentlichen Hauptrollen spielen, während die Götter, Heroen und Tyrannen, die früherhin die handelnden Personen waren, jetzt zu mäßigen Repräsentanten des Parteiwillens und der Volkstat herabsinken und zur schwatzenden Betrachtung hingestellt sind, als Thronredner, als Gastmahlpräsidenten, Landtagsabgeordnete, Minister, Tribune usw.[28]

Wie man dieses darstellen soll, damit setzt sich Heine in seinem Œuvre immer wieder auseinander. In einer globalisierten Welt kann ein Virus zwar noch nicht wie Puck in „A Midsummer Night’s Dream“ von sich sagen kann: „I’ll put a girdle round about the earth / In forty minutes“[29], aber die Wegzeiten für Menschen und Viren um die Erde haben sich von Shakespeares bis Heines Zeit vervielfacht und heute eine überwältigende Dimension erreicht. Bereits die Cholera Heines kommt recht rasch voran und hat in verschiedenem Ausmaße überall eine Einschränkung des öffentlichen Lebens zufolge:

Eine Todtenstille herrscht in ganz Paris. Ein steinerner Ernst liegt auf allen Gesichtern. Mehrere Abende lang sah man sogar auf den Boulevards wenig Menschen, und diese eilten einander schnell vorüber, die Hand oder ein Tuch vor dem Munde. Die Theater sind wie ausgestorben.[30]

Das gesellschaftliche Leben stagniert angesichts der staatlichen Einschränkungen und wo diese ausbleiben, scheinen Menschenleben für die Regierenden aus Überforderung oder Gleichgültigkeit schlichtweg keine Priorität zu haben. Unter der Regierung Bolsonaro in Brasilien sind bis zur Arbeit an diesem Essay über 150.000 Menschen gestorben; eine Klage gegen den Präsidenten wurde von gewerkschaftlicher Seite eingereicht.[31] Und wo die prekäre Lage bisher weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit vonstatten gehen konnte wie in den Schlachtbetrieben Deutschlands, dort lässt Covid-19 Zustände, die nur Wenigen bekannt waren oder die nur wenige wahrhaben wollten, ans Licht kommen.[32] Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe lässt grüßen: „Die aber unten sind, werden unten gehalten / Damit die oben sind, oben bleiben.“[33]

Wo das Virus herrscht und die ehemaligen Machthaber in Bedrängnis geraten, werden die Toten mancherorts zu einem logistischen Problem für die Lebenden. In Heines Paris muss improvisiert werden, um die Leichen zu transportieren:

Da die vorhandenen Leichenwagen nicht zureichten, mußte man allerley andere Fuhrwerke gebrauchen, die, mit schwarzem Tuch überzogen, abentheuerlich genug aussahen. Auch daran fehlte es zuletzt, und ich sah Särge in Fiackern fortbringen; man legte sie in die Mitte, so daß aus den offenen Seitenthüren die beiden Enden herausstanden.[34]

Ehemalige Redewendungen werden angesichts der mangelnden Vorbereitung auf so eine Situation zur traurigen Realität: „Das Wort ‚in den Sack stecken‘ war gar keine Redefigur; es fehlte bald an Särgen, und der größte Theil der Todten wurde in Säcken beerdigt.“[35] Fast zwei Jahrhunderte später erlebt New York, eine Weltmetropole, eine ähnliche Situation und muss sich ebenfalls auf unorthodoxe Mittel berufen: „Vor den Krankenhäusern parkten Kühllaster, um die Leichen zu lagern.“[36] Eines der drastischsten Beispiele für den Umgang und die Überforderung mit den Leichen sehen wir in Bolivien, dem solche Möglichkeiten nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen. Den Toten werden die üblichen Bestattungsrituale aus Unvermögen verweigert, und so werden in Bolivien mobile Krematorien entwickelt, die, wie aus den düstersten Dystopien oder kafkaesken Geschichten entsprungen, sich der Masse der Toten annehmen.[37] Die geregelte Inszenierung des Theaters der Welt scheint endgültig aus den Fugen, und ihre Erschütterungen werden noch lange nachhallen in den Köpfen und im gesellschaftlichen Zusammenleben.

IV

War der Auftakt noch der fröhliche Maskenball, der so abrupt abbricht durch das Zeigen des kranken Gesichts, das sich bislang noch unter der Maske verbergen konnte, so endet der Bericht des dichtenden Reporters Heinrich Heine auf dem Kirchhof: „Hier nun, in der Nähe des Kirchhofs, hielt plötzlich mein Kutscher still, und als ich, aus meinen Träumen erwachend, mich umsah, erblickte ich nichts als Himmel und Särge.“[38] Zum Abschluss verdeutlicht sich Heines dichterischer Umgang mit der Situation und der Notwendigkeit, ein Bild der Krise zu zeichnen. Die poetische Bearbeitung nimmt Heines Artikel nichts von seiner journalistischen und historischen Bedeutsamkeit, wird dafür aber dem Schrecken der Pandemie zusätzlich künstlerisch gerecht. Heines spannungsreicher Tanz zwischen dokumentarischem Inhalt und künstlerischer Form, zwischen Fakten und Fiktion, wird auch im Theater unserer Zeit als Technik wiederholt angestrebt. Dies ist ein Theater, dem im Vergleich zu Heines 19. Jahrhundert ein Vielfaches an Möglichkeiten zur Verfügung steht, trotz geschlossener oder ausgestorbener Spielstätten ein Publikum zu erreichen. Doch wird dabei unter Theaterschaffenden immer wieder die Frage aufgeworfen, wie eng der Zusammenhang zwischen Onlineformaten und Theater noch ist:

Live-Performance-Künstler legten los, um online Monologe und Szenen, Lieder und Künstler-Gespräche zu kreieren – eine Flut von Inhalten, die meist diesen Namen nicht verdienen. Tapfere Bemühungen, und es ist schwierig, Künstlerkollegen für ihre Versuche, produktiv zu bleiben, zu kritisieren. Aber Theater unter anderer Überschrift ist doch eigentlich kein Theater, oder?[39]

Auch Helgard Haug von Rimini Protokoll stellt sich angesichts der Verlegung einer als Theaterstück angekündigten Daimler-Aktionärsversammlung ins Netz die Frage, was das Theater eigentlich auszeichnet: „Dies ist nichts von dem, was für mich Theater ausmacht: Präsenz! Dialog, Überraschungen, Tuchfühlung, Konfrontation, Risiko.“[40]

Marie Bues schlägt trotz einer klaren Sicht auf die gesellschaftlichen Probleme, die durch die Krise verstärkt werden, in Bezug auf die Möglichkeiten des Theaters etwas optimistischere Töne an:

Wichtig für ein Theater mit und nach Corona wird also dieser direkte Kontakt, der Austausch mit Künstler*innen. Das ist die Chance des intimen Formats, der persönlichen Perspektive und des kritisch-nuancierten Austauschs, der sich gegen einen verkürzten Populismus und eine Massenabfertigung stellt. Es ist auch eine Chance des digitalen Formats – an vielen Theatern bisher kein Thema gewesen.[41]

In Mülheim hat man sich zunächst in den „Stream der Verzweiflung“[42] begeben und mit dem Projekt Das Dekameron zehn Folgen „Digitales Livetheater“ von April bis Juni im Internet zur Verfügung gestellt.[43] Der Mühlheimer Zusammenschluss von Künstler*innen Vier.Ruhr betont in „Das Dekameron“ einerseits den Rückzug, ähnlich Boccaccios Figuren, aber andererseits eben auch den Versuch eines gemeinsamen Experiments, wenngleich auf digitalem Boden. Die deutschen Theaterschaffenden haben allerdings nicht die Möglichkeiten der wohlhabenden Bürger und feudalen Herrschaften zu Boccaccios und Heines Zeiten. Sie sind vielmehr weitestgehend auf Förderung und Sponsoring angewiesen. Auch erleben viele ihre bereits im Vorfeld deutliche Einbindung in eine kapitalistische Gesellschaft und ihre prekären Arbeitsbedingungen nun prägnanter als vor der Covid-19-Krise, die auf die Verhältnisse „wirkt wie ein Brennglas“[44].

Als der (erste) große Lockdown in Deutschland zu Ende ging, nahmen auch die Theater, wenn auch unter strengen Bedingungen, ihren Betrieb teilweise wieder auf. In Der kleine Prinz – in Coronazeiten behauptet sich die Melancholie des Stückes stolz und die beiden Clowns tragen ihre alten aufgeschminkten Masken, wenn es denn sein muss, auch unter medizinischen Gesichtsmasken. Ihr selbstbewusstes „Spiel vor Traurigen“[45] eröffnet Räume, in denen wir denken und fühlen können, was wir verloren haben, aber auch, was wir gewinnen können. Die Welt des kleinen Prinzen und des abgestürzten Piloten ist eine schöne und veränderbare Welt. Die Herrschenden, seien sie nun Cholera, Corona oder ein König auf seinem einsamen Planeten, müssen zurücktreten und Platz für unseren Chor machen.

Gute Nacht, und viel Glück!


  1. Müller, Heiner: Krieg der Viren, in: Ders.: Werke 5. Frankfurt a. M. 2002, S. 308.
  2. Betz, Albrecht: Ästhetik und Politik. Heinrich Heines Prosa. München 1971, S. 58.
  3. In seinem Artikel beschreibt Tim Wolff die teils prekären Verhältnisse im Kulturbereich und ihre Verschärfung in der Corona-Krise: „Dieser Ausnahmezustand ist vor allem eine explizite Version des Normalzustands und offenbart auch, dass im Kulturbetrieb – selbst dort, wo man nicht ohnehin schon verzweifelt ist – nicht die leiseste Ahnung besteht, wie man eine Gesellschaft ohne (Selbst-)Ausbeutung und Management des Elends schaffen könnte, so sehr man es sich auch wünscht.“ Wolff, Tim: „Stream der Verzweiflung“, in: konkret, Mai 2020, S. 41.
  4. Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. Stuttgart 2004, S. 293.
  5. Vgl. Höhn: Heine-Handbuch, S. 293.
  6. Vgl. Jung, Tim: „Vorwort“, in: Heine, Heinrich: Ich rede von der Cholera. Ein Bericht aus Paris von 1832. Hamburg 2020, S. 11.
  7. Heine, Heinrich: Französische Zustände. Artikel VI, in: Ders. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Band 12/1. Hamburg 1980, S. 132.
  8. Vgl. Schreiber, Falk: „Fragmentierte Intimität“, in: Theater heute, Juni 2020, S. 25.
  9. Vgl. Jung: Vorwort, S. 10 f.
  10. Höhn: Heine-Handbuch, S. 287.
  11. Heine: Französische Zustände, S. 131.
  12. Vgl. unter Anderem: https://betriebskampf.org/2020/10/06/in-krise-und-pandemie-streiken-na-was-denn-sonst/ vom 06.10.2020 (Zugriff am 16. Oktober 2020) und https://taz.de/Zukunft-der-Gewerkschaften/!171783/ (Zugriff am 22. Oktober 2020).
  13. Heine: Französische Zustände, S. 133.
  14. Vgl. Windfuhr, Manfred u.a.: Apparat, in: Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Band 12/2. Hamburg 1980, S. 846.
  15. Vgl. Höhn: Heine-Handbuch. S. 288.
  16. Heine: Französische Zustände, S.134.
  17. Engels, Friedrich: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigener Anschauung und authentischen Quellen, in: Marx-Engels-Werke, Band 2. Berlin 1962, S. 295.
  18. Heine: Französische Zustände, S. 133.
  19. Ebd., S. 134.
  20. Ebd., S. 138.
  21. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=4HtpM7XvUnQ_, 19.03.2020 (Zugriff am 16. Oktober 2020).
  22. Vgl. https://twitter.com/realDonaldTrump/status/1313267615083761665?s=20 vom 06.10.2020 (Zugriff am 16. Oktober 2020).
  23. Heine: Französische Zustände, S. 138.
  24. Ebd., S. 136.
  25. Vgl. Ebd., S. 135-137.
  26. Vgl. Gensing, Patrick: „Mit gezielten Falschmeldungen aufgehetzt.“, https://www.tagesschau.de/faktenfinder/reichstag-berlin-sturm-fakenews-101.html, 31.08.2020 (Zugriff am 25. Oktober 2020).
  27. Vgl. Wuliger, Michael: „Koscher durch die Klopapierkrise. Sind Juden immun gegen das Coronavirus?“, https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/koscher-durch-die-klopapierkrise/, 19.03.2020 (Zugriff am 16. Oktober 2020).
  28. Heine, Heinrich: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band. 4. Berlin 1961, S. 504 f.
  29. Shakespeare, William: A Midsummer Night’s Dream. Ein Sommernachtstraum. Englisch / Deutsch. Reclam. 1975. Stuttgart. S. 50.
  30. Heine: Französische Zustände, S. 138.
  31. Vgl. https://www.unsere-zeit.de/klage-gegen-bolsonaro-133132/, 31.07.2020 (Zugriff am 16. Oktober 2020).
  32. Vgl. https://www.unsere-zeit.de/unsichtbare-sklaven-129592/, 15.05.2020 (Zugriff am 25. Oktober 2020)
  33. Brecht, Bertolt: Die heilige Johanna der Schlachthöfe, in: Ders.: Werke. Stücke 3. Frankfurt a.M. 1988, S. 223.
  34. Heine: Französische Zustände, S. 141.
  35. Ebd., S. 132.
  36. Akhtar, Ayad: „Die Wahrheit des Marktes“, in: Theater heute, Juni 2020, S. 9.
  37. Vgl. Büring, Andrea/Oelsner, Natalia: „Corona-Tote am Wegesrand: Boliviens fahrbare Krematorien“, https://de.euronews.com/2020/08/12/corona-tote-am-wegesrand-boliviens-fahrbare-krematorien, 12.08.2020 (Zugriff am 16. Oktober 2020).
  38. Heine: Französische Zustände, S. 141.
  39. Akhtar: „Die Wahrheit des Marktes“, S. 10.
  40. Haug, Helgard: „Was Theater ausmacht. ‚Dies ist weder ein Schauspiel noch ein Theaterstück‘ – Hauptversammlung gestern und heute“, in: Theater heute. Die große Pause. Jahrbuch 2020, S. 65.
  41. Bues, Marie: „Tausende Alternativen. Theater mit und nach Corona. Eine Standortbestimmung.“, in: Theater heute. Die große Pause. Jahrbuch 2020, S. 66.
  42. Wolff, Tim: „Stream der Verzweiflung“, in: konkret, Mai 2020.
  43. Vgl. https://vier.ruhr/projekte/dekameron-info/ (Zugriff am 25. Oktober 2020)
  44. Bues: „Tausende Alternativen“, S. 66.
  45. Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Band I. Frankfurt a.M. 1974, S. 298.
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