Rezension I Ein Theater der Grenzüberschreitung

Günther Heeg formuliert eine Theorie des Transkulturellen Theaters.

An den Grenzen Europas sterben beinahe täglich Geflüchtete, in Europa erstarken rechtspopulistische Gruppierungen und Parteien und in der öffentlichen Diskussion kehrt das Gespenst der Nationalkultur wieder. Wie kann die Theaterwissenschaft auf diese Situation reagieren? Günther Heeg antwortet in seinem Buch Das Transkulturelle Theater, indem er die Perspektive einer ästhetischen Praxis und eines Nachdenkens über ein anderes Theater, ein Theater der Grenzüberschreitung, eröffnet. Ausgangspunkt und Beispiel für den Leipziger Theaterwissenschaftler ist die rechtspopulistische Organisation Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes), die mit theatralen Mitteln fundamentalistische Phantasmen heraufbeschwört. Das Erstarken von Denkweisen der Tradition, der kulturellen Einheit und der Abgeschlossenheit beschreibt er als Reaktion auf die Erfahrung der Globalisierung mit ihrer beständigen Forderung nach Flexibilität der Einzelnen und der Erfahrung des Fremdseins und Sich-Selbst-Fremd-Werdens in der Welt. An dieser Verschränkung von Globalisierung und Nationalismus setzt das Transkulturelle Theater an, als Kritik des Phantasmas des Fundamentalismus, als Kampf dagegen und als Eröffnung anderer Möglichkeiten.
Als „Überschreitung der Eigenräume hin zu einer transkulturellen Gemeinschaft“ unterscheidet sich das Transkulturelle Theater trotz der begrifflichen Nähe, maßgeblich von der Theorie des Interkulturellen Theaters. (9) Während es im letzteren laut Heeg um die koloniale Einverleibung des Fremden in die eigene Theaterpraxis gehe, die nicht selten mit einer Exotisierung des Fremden einhergehe und die Annahme gegeneinander abgeschlossener, distinkter Kulturen voraussetze, eröffne das Transkulturelle Theater die Forderung, sich dem Fremden im Eigenen auszusetzen. Heeg versteht die Fremdheitserfahrung hierbei als Ausdruck des Gestischen Schreibens nach Brecht. „Gestisches Schreiben [nach Brecht] ist ein Versuch, sich schreibend der Erfahrung des Fremden auszusetzen. Die Gewalt der Unterbrechung, der die Geste entspringt, verleiht ihr eine affektive Energie, die dem Schreibenden widerfährt und ihn trifft.“ (21)
Diese affektive Energie, die Erfahrung des sich selbst radikal fremd Werdens, soll hierbei einen Schock auslösen, im Sinne der Widerfahrnis bei Waldenfels, und zur Ent-Setzung des Subjekts führen. Sprich: zu einem Abstand des Subjekts zu sich selbst, der einerseits die Reflexion der eigenen Erfahrung, anderseits Möglichkeiten einer neuen Welt- und Selbstgestaltung eröffnet. Heeg versteht das Transkulturelle Theater sowohl historisch als auch als gegenwärtig und zukünftig. Zeit ist hierbei nicht linear gedacht, sondern vielmehr in Bewegung. Als gleichzeitige Überschneidung von Vergangenheit und Gegenwart werden ungleichzeitig-gleichzeitige Zeitschichten in den künstlerischen Arbeiten präsent.
Durch die Praxis der Wiederholung, wie Heeg sie nennt, werden Bruchstücke aus der Vergangenheit, Überreste einer kulturellen Tradition, in die Gegenwart übertragen, jedoch nicht eingefügt. Vielmehr brechen sie als Zitat in diese ein und stören auf diese Weise das Immergleiche und das So und nicht anders der Gegenwart. Durch die Deplazierung der Bilder aus der Vergangenheit in eine fremde Umgebung der Gegenwart wird sowohl ihr Totalitätsanspruch, als auch die behauptete Ganzheit der Gegenwart und eine notwendig daraus folgende Zukunft durchbrochen. „Dekonstruktion und Rettung sind daher die beiden Aufgaben der Wiederholung. In ihrem Zusammenspiel machen sie die Wiederholung zu einer Bewegung der Überschreitung.“ (113)
Als ein Theaterbeispiel beschreibt Heeg eine Situation in der Performance Antigone der japanisches Gruppe Marebitono-Kai und des Regisseurs und Dramatikers Masataka Matsuda: Im Bus auf dem Weg nach Minamisōma sitzt Heeg einer jungen Frau in einem weißen Kleid gegenüber. Der Bus passiert Iitate, eine Stadt, die besonders stark von den radioaktiven Niederschlägen durch Fukushima betroffen war, und hält in der Stadt Minamisōma, die noch durch die Verwüstungen des Tsunamis im Jahr 2011 gekennzeichnet ist. Die Frau im weißen Kleid durchbreche in ihrer Gestik und Haltung, in ihrem Schweigen, den Alltag der Busfahrt, schreibt Heeg. Auch später, wenn er ihr in ein altes Kino und ein ehemaliges, nun verlassenes Café folgt, scheint sie eine Fremde, ein Fremdkörper, im Bild der Stadt zu bleiben. Teil der Stadt, sich in dieser bewegend, verweist sie dennoch in ihrer Körperlichkeit auf etwas Abwesendes, bereits Vergangenes. Durch sie, aber auch durch die Dinge in den vormals belebten und im Rahmen der Performance aufgesuchten Orten wird laut Heeg eine zitierende Wiederholung, eine Art Nachleben, ermöglicht. Auf diese Weise wird ein Raum eröffnet, der rückwärts in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft weist und die Gegenwart spaltet, jedoch keine Repräsentation des Vergangenen behauptet.
Die Praxis der Versetzung, Entsetzung und Aussetzung macht das Transkulturelle Theater zu einem Ort der zeitlichen und örtlichen Dys-Position. Heeg bedient sich hier einer Metaphorik der Flucht und des Lebens im Transits sowie des Floßes und des sich auf dem offenen Meer Befindens: Kein Land in Sicht. Mit einem Hinweis auf Schiller schreibt er: „Das Theater kann das Schiff selbst sein.“ (86)
Wie jedoch diesen Ort der Nichtverortung und der Zeitlosigkeit sowie die Geste, die Heeg in Anlehnung an Arendt als den „Migrant(en) par excellence“ bezeichnet, als Aktionsform der Unterbrechung und Wiederholung, innerhalb dieses Hiatus formulieren? (150) Wie eine Praxis des Denkens und Handelns eines Theaters denken, dass sich bewegt, ohne Halt und in freier Fahrt?Durch die Schaffung des Begriffs Das Transkulturelle Theater, der nicht nur durch die Singularform, sondern auch durch seinen Artikel markiert ist, schreibt Heeg eben das begrifflich fest, wogegen er in seiner Theorie anzuschreiben versucht. Auch die Aufteilung der Kapitel scheint das Schiff in seiner freien Fahrt verankern zu wollen, um die Theorie fassbar zu machen. Gleichzeitig wehrt sich der Text selbst gegen diese Einordnung. Heeg kommt immer wieder auf bereits formulierte Motive zurück, unterbricht sich in seiner Theorie und hält in der Beschreibung von Beispielen aus dem Theater-Bereich, aber auch aus der bildenden Kunst und der Literatur inne. Insbesondere durch die Interdisziplinarität der Beispiele zeigt er, dass sich das Transkulturelle Theater weder auf eine bestimmte Epoche, noch auf eine Disziplin oder eine spezifische Ästhetik festschreiben lässt. Das Transkulturelle Theater ist somit keine Praxis, sondern in erster Linie eine Forschungsperspektive, entsprungen als kritische Position in Anbetracht einer gesellschaftlich unerträglichen Situation. Die Metaphorik des Schiffes ohne Halt auf freier Fahrt und des Floßes, der Rückgriff auf die Realität von Leben im Transit und der Versuch, diese zu verwandeln in „die Erfahrung einer möglichen anderen Transit-Existenz als künftiger Lebensform“, arbeiten gegen das Denken eines Ursprungs und der Linearität von Geschichte, aber sie machen auch stutzig. (59)
Wie lässt sich eine Metaphorik des Floßes, des Schiffes ohne Land in Sicht und die Vorstellung einer migrantischen Transit-Existenz als künftige, erstrebenswerte Lebensform denken, wenn zugleich das Bild von auf dem Mittelmeer ertrinkenden Geflüchteter die tägliche Berichterstattung prägt. Lässt sich der Ruf „Endlich leben!“, der sich auf dem Floß der Medusa Befindenden, im Sinne Heegs, als ein Ausruf der Befreiung vom Pathos des Unterganges und als eine Gegenantwort auf Denkweisen der kulturellen Einheit, der Tradition und des Ursprung deuten? (59)
Heeg ist diese Problematik seiner Setzung nicht verborgen geblieben. Er reagiert auf sie, indem er deutlich macht, dass nur ein Konzept von Theater, das sinnstiftend wäre, Gefahr liefe, Leid zu ästhetisieren oder zu repräsentieren. Das Transkulturelle Theater hingegen zielt nicht darauf ab, Informationen der täglichen Nachrichten zu vermitteln, sondern verweigert sich jeglicher Form von Realismus. Vielmehr wiederholt es nur, was anderswo schon vonstatten ging, und stellt so neben dem Zitieren des Vergangenen immer seine prinzipielle Abwesenheit heraus.
Auch wenn das Transkulturelle Theater seiner Theorie nach einer Instrumentalisierung des Leids entgegen läuft, bleibt die Frage nach den Darstellungsweisen des Transkulturellen Theaters und nach den Möglichkeiten des Erscheinens seiner migrantischen Transit-Existenz bestehen. Wer ist Teil dieser transkulturellen Gemeinschaft und wie zeigt sie sich? Wer hat die Möglichkeit den Ruf „Endlich leben“, der sich von allen Ursprungsgewalten wie Nation, Religion, Kultur und Identität lossagt, zu rufen? (59) Eine Antwort auf diese Fragen gibt Heeg nicht. Vielleicht kann er sie, seiner Theorie der Abwesenheit folgend, nicht geben. So hat er Recht, wenn er die Dringlichkeit seiner Theorie betont. Das Transkulturelle Theater ist an der Zeit. Ja. Aber es ist an der Zeit in einer Zeit, in der der Ruf nicht hoffnungsvoll „Endlich leben“ heißen kann, sondern vorerst „Wie überhaupt leben?“ heißen müsste.

Günther Heeg: Das Transkulturelle Theater. Berlin: Theater der Zeit 2017.

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