Schwerpunkt | Die Differenz von Äußerem und Geäußertem – Zum gescheiterten Handeln in Susanne Kennedys Fegefeuer in Ingolstadt

„Fegefeuer in Ingolstadtist ein Stück über das Rudelgesetz und über die Ausgestoßenen“, so Marieluise Fleißer über ihr 1923 verfasstes Stück, das am 25. April 1926 in Berlin uraufgeführt wurde.[1]

Die Protagonisten Roelle und Olga sehen sich aufgrund ihrer Andersartigkeit – der eine aufgrund seines deformierten Äußeren, die andere aufgrund einer ungewollten Schwangerschaft – mit ihrem Ausschluss aus einer radikal religiösen Gemeinschaft in Ingolstadt konfrontiert.

Wie tiefgreifend gesellschaftliche Strukturen Macht auf die in ihnen lebenden Individuen ausüben, zeigt sich in Susanne Kennedys Inszenierung von Fegefeuer in Ingolstadt an den Münchner Kammerspielen aus dem Jahr 2012. Hier wird die Ingolstädter Gemeinde als Tableau von Individuen dargestellt, deren „Gemeinschaft“ in der bloßen Anwesenheit von Körpern besteht. Auf der Bühne lässt sich eine Differenz zwischen Körper und Sprache, zwischen Äußerem und Geäußertem ausmachen. Dadurch wird den Figuren innerdiegetisch und im theatralen Raum ihr In-Erscheinung-Treten und schließlich ihr (politisches) Handeln verweigert.

Die Stimmen aus dem Off

Liest sich Fleißers Text quasi als Konversationsstück[2], in dem die Charaktere „aneinander vorbeireden“, so geht Kennedys Inszenierung einen Schritt weiter, indem sie den Dialog von den erscheinenden Körpern spaltet. Die Spielenden sind einander selten zugewandt, sondern meist frontal zu den Zuschauenden auf der Bühne positioniert. Unterstützt wird dieser statische, fast mannequinhafte Effekt durch das Abspielen des gesamten gesprochenen Textes über Playback. Die Schauspielenden auf der Bühne mimen den Dialog lediglich. Während in Fleißers Stück keine Einheit des Ortes besteht, versetzt Kennedy die gesamte Handlung in ein Interieur, einen geschlossenen, meist hell erleuchteten Raum, der sich nach hinten verengt, mit bloß einer sichtbaren Tür versehen. Diese aber bleibt, zumindest soweit für die Zuschauenden sichtbar, geschlossen. Jene panoptisch anmutende Bühnenstruktur begünstigt ein Gefühl der Aussichtslosigkeit und spiegelt die Situation der beiden Hauptcharaktere Roelle und Olga wider, denen es jeweils nicht gelingt, aus ihrer misslichen und beklemmenden Lage auszubrechen.

Sowohl der Text Fleißers als auch Kennedys Inszenierung sind in Bilder unterteilt. Fleißer folgt dabei einer linearen Erzählstruktur, einer Unterteilung in sechs Bilder, die zeitlich aufeinander folgen. Kennedy jedoch unterbricht diese Erzählstruktur, indem sie kurze, zum Teil absurde Zwischenbilder einfügt. Durch diese Einschübe erhält das Stück einen neuen, sprunghaften Rhythmus. Auf- und Abtritte passieren im Black, akustisch begleitet von industriellem White Noise. Die szenischen Versatzstücke erscheinen durch diese audio-visuelle Unterstützung fragmentarisch. Aufgrund des verwendeten Playbacks, dem Gesprochenem aus dem Off, stellt sich die Frage nach der Beziehung zwischen eben jenem und dem „Vor-Ort“ auf der Bühne, dem „On“. Bettine Menke schlägt in ihrem Text „On/Off“ vor, die Relation der beiden durch einen Schrägstrich zu markieren, der die Schwelle zwischen On und Off beschreibt, die gleichzeitig „scheidet, markiert und […] sich auf die Abscheidung [bezieht].“[3] Schauräume, so Menke, benötigen immer auch andere Räume, bzw. sind durch diese bestimmt. Im Theater gibt es sowohl das reale Off des Backstage, das nicht der Diegesis zugehörig ist, darüber hinaus aber auch ein „innerdiegetische[s] Off, aus dem bereits ‚von innen‘ angeeignetem Außenraum“,[4] z.B. in Form von Botenberichten.[5] Auf- und Abtritte sind hierbei als „Praktiken und Figurationen“ zu denken, die durch Abscheidung „im Passieren“[6] der Schwelle in Form eines „physische[n] und symbolische[n] Akt[s]“[7] eine dramatis persona konstituieren. Aus dieser Bewegung ergibt sich ein doppelter Bezug: Zum einen auf die „Scene, die das Zeigen und Zu-Sehen-Geben ermöglicht“ und zum anderen auf das „obscenae, das konstitutiv Nichtsichtbare“.[8] Der Auftritt sei dabei zugleich raumschaffend und „als Ereignis, als Riss“ zu denken, den Menke in Bezug zur Gründungssituation des Theaters, dem Hervortreten eines Sprechers aus dem Chor, setzt. Diese „theatrale Situation von Sehen und Gesehenwerden“ etabliert sich als „ein Vorkommnis, das […] einen […] Sprecher hervorgebracht haben muss, eine Person, die auftritt, sich als sprechende zeigt.“[9] Das On, „im Innern bestimmt durch den suspendierten Bezug aufs Off“[10], da dieses „akustisch (zuweilen) im von Zuschauern und Akteuren geteilten theatralen Zeitraum ‚Vor-Ort‘ vernehmbar werden darf“,[11] bleibt so immer „an eine Exteriorität“ gebunden. Sie „spaltet, was theatral nie zur ‚Präsenz‘ sich mit sich zusammenschließt“.[12] Der Schrägstrich sei deshalb mitzudenken als die (Re-)Markierung eines „Zwischen“, „das das On selbst durchzieht, es […] auf das Off, das [.] anderswo, zurückbezogen und in sich gespalten sein lässt.“[13] Deshalb sind die dramatis personae „never just on the stage but always somewhere else as well”.[14]

Bei Menke ist die Beziehung On/Off stark an die Zusammenkunft der sichtbar auftretenden und gleichzeitig ‚sich sprechend zeigenden‘ Personen gebunden. Gerade die Bewegung, der nicht abgeschlossene Prozess des Auf- und Abtretens, birgt zudem Grund für die unauflösbare Beziehung zwischen dem Vor-Ort der Bühne und dem Nichtsichtbaren und Gestaltlosen des Off. In der Inszenierung Kennedys erscheinen Körper und Sprache jedoch als strikt getrennte Elemente; die Prozesshaftigkeit der Auf- und Abtritte wird indes verschleiert. Trotzdem lässt sich hier das On/Off ausmachen, wird sogar durch Verwendung des Playbacks, der ständigen Anwesenheit eines „anderswo“ und die Nichtsichtbarkeit der Wege auf die Bühne noch verstärkt. Der Moment des Hervortretens ist so nicht gegeben, eher kommt es zu einem abrupten Anwesend-Sein. Die dramatis personae erscheinen zudem nicht als aktiv Sprechende, sondern sind tatsächlich gespalten in das körperliche „Vor-Ort“ der Bühne und das unkörperliche Gesprochene einer digitalen Tonspur.

Die innerliche Spaltung der Hauptcharaktere findet bereits in der Beziehung des On und des Off einen Ausdruck, der noch radikaler erscheint, sobald man den Ausgangspunkt des Theatertextes als Konversationsstück näher beleuchtet. Peter Szondi schreibt in der Theorie des modernen Dramas kritisch über die Dialoge in Konversationsstücken:

Ist der Dialog im echten Drama der gemeinsame Raum, in dem die Innerlichkeit der dramatis personae [Hervorhebung L.M.] sich objektiviert, so wird er hier den Subjekten entfremdet und tritt als ein Selbstständiger auf. [15]

In der Münchner Inszenierung von Fegefeuer wird durch die Trennung von Körper und Sprache dem Dialog in der Tat eine gewisse Selbstständigkeit eingeräumt. Den Subjekten, den auftretenden Figuren, wird so ein Teil ihres Subjektcharakters entzogen. Es bewegen sich Körper auf der Bühne, während der Dialog gestaltlos im Raum verhallt. „Indem die Konversation zwischen den Menschen schwebt, statt sie zu verbinden, wird sie unverbindlich“,[16] so Szondi weiter. Ohne einen – bei Kennedy wörtlich zu nehmenden – „subjektiven Ursprung […] führt [sie] nicht weiter, geht in keine Tat über […], kann sie keine Menschen definieren.“[17] Dies zeigt sich bereits in der ersten Szene: Nach einer vorgeschobenen kurzen Sequenz , in der Roelle aus dem Black heraus auf der Bühne erscheint und sich mit den Worten „Sie haben gesagt, ich stinke!“ vorzustellen versucht, sind die Zuschauenden dem Black und ohrenbetäubendem Lärm ausgesetzt. Das grelle Licht erhellt den Spielraum von Neuem und in ihm befinden sich nun Olga, ihre Schwester Clementine sowie deren Vater Berotter, jeweils einige Meter voneinander entfernt.

Zur Illustration:

Olga: Du nimmst mich auch in kein Lokal mit.
Berotter: Du kannst nicht reden.
Olga: Du hast mich nicht aufwachsen lassen, wie einen Menschen.[18]

Zum einen zeigt sich hier, was Szondi als „positive Möglichkeit“ des Konversationsstück erkennt, nämlich, dass das Sprechen selbst verhandelt wird, das Reden „aus dem rein Formalen ins Thematische gewendet wird.“[19] Schon implizit in Fleißers Dramentext angelegt, geschieht dies in der Inszenierung auf doppelte Weise, da durch Kennedys ästhetischen Eingriff Olga realiter ‚mundtot‘ gemacht wird.

Zum anderen wird durch das Verschleiern der Auf- und Abtritte, der Bewegung, die Menke als maßgeblich für die Konstitution der dramatis personae beschreibt, Sie Subjektwerdung der Figuren erschwert. Das Erscheinen auf der Bühne aus dem Black wird als „Riss“ sichtbar, allerdings geht sein Prozesscharakter in der Inszenierung verloren. Unterstützt durch die Trennung des „Dialogs“ von den erscheinenden Körpern, scheint es den Figuren innerdiegetisch nicht möglich, aufeinander zu reagieren. Theatral bleibt es ihnen verwehrt, sich als Personen definieren zu können.

Das letzte Bild der Inszenierung, in dem alle Charaktere gemeinsam auf der Bühne versammelt eine Abwandlung des Gebets „Anima Christi“[20] immer aufs Neue aufsagen, in stetig ansteigender Tonhöhe, beschreibt dies zusammenfassend: begleitet von einem immer greller werdenden Licht, bis die Betenden in quietschender Stimme sprechen, das Licht in gleißendem weiß den Bühnenraum erfüllt und schließlich mit einem Blitz und akustischer Unterstützung des White Noise ins Black fällt – dem letzten Aufbegehren einer überhitzenden Maschine ähnlich.

In Trümmern liegt alles: der Dialog, das Formganze, die menschliche Existenz. Aussage eignet nur noch […] dem Sinnlos-Automatischen der Rede […]. Es spricht daraus das Negative eines wartenden Daseins, das der Transzendenz zwar bedürftig, aber nicht fähig ist.[21]

Erscheinen und Handeln

Wie aber verhält es sich mit dem Äußeren, dem In-Erscheinung-Tretender Figuren?

„Was sehen kann möchte gesehen werden; was berühren kann, möchte sich berühren lassen“[22], so Hannah Arendt in Vom Leben des Geistes. Arendt sieht die Welt, in der wir als Menschen existieren, als eine Welt der Erscheinungen und setzt in der erscheinungshaften Welt das Erscheinen dem Sein gleich.[23] Den Lebewesen ist zudem das Bewusstsein eigen‚ dass sie sich selbst gewahr sind und sich selbst erscheinen können. Jeder ist für sich selbst schon Wahrnehmende*r und Wahrgenommene*r und somit „für eine welthafte Existenz gerüstet“.[24] Des Weiteren unterscheidet Arendt zwischen dem Erscheinen und dem So-Scheinen. Letzteres bezeichnet die individuelle Wahrnehmung eines Lebewesens: „Das Scheinen gehört zu der Tatsache, daß jede Erscheinung unbeschadet ihrer Identität von vielen Schauenden wahrgenommen wird.“[25] Jedes Lebewesen ist daher auf eine Umwelt angewiesen, die „seine Existenz anerkenn[t] und erkenn[t].“[26] Der Drang zu erscheinen, das Drängen also, als Wahrnehmende*r auch wahrgenommen zu werden, von dem alle Lebewesen bestimmt sind, findet im Selbstdarstellungsdrang des Menschen, so Arendt, seinen „Höhepunkt“.[27]

Das körperliche Erscheinen reicht aber für ein vollwertiges In-Erscheinung-Treten nicht aus, da es lediglich „einer der Grundbedingungen entspricht, unter denen dem Geschlecht der Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist“[28] – der Arbeit. In Vita Activa hebt Arendt neben der Arbeit das Herstellen und das Handeln hervor, wobei sie das Letztere für die menschliche Bedingtheit als Höchstes gewichtet. Jene Grundbedingung des Handelns ist es, die nur aufgrund der menschlichen Pluralität existiert und gleichzeitig ihr Fundament bildet. Handeln findet im „Zwischen“ statt und verweist zum einen auf die Gleichheit und zum anderen auf die Verschiedenheit des menschlichen Seins. Es besteht zudem eine besondere Verwandtschaft des Handelns zur Sprache, da der Mensch nicht nur bloße Bedürfnisse in ihr mitteilt, sondern „immer zugleich sich selbst“.[29] „Sprechen und Handeln“, sagt Arendt, „sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart.“[30]

Jenes Menschsein ist ferner von der Tatsache bedingt, geboren worden zu sein. Geboren werden – das heißt für Arendt, ein initium zu sein, also wortwörtlich ein Anfang, der, in die Welt geworfen, nicht anders kann, als im menschlichen Zwischenraum Neues zu beginnen, sich vermittels seines Körpers und seiner Sprache in die Welt einzuschreiben und sie gleichsam umzuschreiben, also zum Handeln. Erst dieses Handeln macht das Subjekt aus. Im Fegefeuer jedoch ist den Figuren diese Möglichkeit strukturell verwehrt – sie können gar nicht als handelnde Subjekte in Erscheinung treten, was in der Inszenierung durch die maskenhafte Schminke der Figuren verdeutlich wird: sie sind pure Charaktermasken, die sich innerhalb der gegebenen Strukturen zwar bewegen, sie aber nicht verändern können, und noch radikaler, die sich noch nicht einmal emotional zu ihnen verhalten, auf sie, und sei es nur durch eine Gesichtsregung, reagieren zu können.

Ohne die Möglichkeit zu Handeln geht für Arendt auch das Subjekt selbst, oder eher der Subjektcharakter verloren, die ergo auch nicht mehr aktiv erscheinen kann. Kennedy positioniert die Figuren als sprachlose Individuen im Raum. Als Erscheinende ist ihr Äußeres vom Geäußerten getrennt.

Betrachtet man den Auftritt als „figurative Operation“[31] nach Juliane Vogel und Christopher Wild, wird der auftretenden Person im Moment des Erscheinens auf der Bühne, durch ihr äußeres Erscheinungsbild eine ‚vorläufige Identität‘ zugeschrieben. Alles was ihr Anschaulichkeit verschafft, Kleidung, Haut- und Haarfarbe oder Haltung, fügen sich zu einer „persona ficta“[32] zusammen. In der Inszenierung der Münchner Kammerspiele erscheinen die Figuren plötzlich und meist in größerer Anzahl auf der Bühne. Der Moment des Erkennens, bzw. des Zuordnens wird daher für mich als Zuschauende erschwert. Als Hilfsmittel der Zuordnung sollen hier beispielsweise Kleider dienen. Die Vertreter der streng religiösen Gesellschaft sind in schwarz gekleidet, die Ausgesonderten, Olga und Roelle, erscheinen in weißer Kleidung. Die autoritären gesellschaftlichen Strukturen, die den Subtext in Fleißers Werk bestimmen, spiegeln sich folglich auch im äußeren Erscheinungsbild. Fungiert die Kleidung jedoch als erstes Zeichensystem, mit dessen Hilfe Mitglieder einer Gesellschaft auf basaler Ebene miteinander kommunizieren? Jene Konzepte scheinen bei Kennedys Inszenierung nicht zu greifen.

Äußeres versus Geäußertes?

Zwischen dem Erscheinen der Rollenfiguren in jedem Bild wird dem Zuschauer zwar genügend Zeit gelassen, um die äußere Erscheinung aufzunehmen, um das bloße ‚Wer ist da?‘ zu erfassen; jedoch wird dies im nächsten Schritt durch die Trennung von Gesprochenem und erscheinendem Körper gestört. Die Trennung von Sprache und Körper in Kennedys Inszenierung verweist also auf eine tiefergehende Problematik der Erscheinung sowohl im innerdiegetischen als auch im theatralen Kontext. Im Innerdiegetischen verdeutlicht dieses technische Mittel das Grundsatzproblem aller Charaktere. Ein jeder ringt darum, außerhalb seiner Selbstwahrnehmung zu erscheinen, sich den Mitgliedern der anderen gesellschaftlichen Gruppen als Person erkennbar zu machen, oder um mit Arendt zu sprechen, den Selbstdarstellungsdrang zu befriedigen. Dies bleibt ihnen – und den Zuschauenden – in letzter Konsequenz verwehrt. Man kann schließlich in der Inszenierung hinsichtlich Vogels und Wilds Auftrittstheorie nur von einer fragilen figurativen Operation sprechen.

„Eine Person ist erst dann erfolgreich aufgetreten, wenn sie erkannt, gelesen und anerkannt ist“, so Vogel in ihrem Aufsatz „WHO’S THERE – Zur Krisenform des Auftritts in Drama und Theater.[33] Die Auftritte in Fegefeuer in Ingolstadt können mit dieser Theorie, weitet man den Aspekt des Lesens und des Anerkennens auf die Beziehungen im Stück selbst aus, als gescheiterte bezeichnet werden. Zwar werden Olga und Roelle von den sie umgebenden Personen erkannt, gelingt es ihnen nicht, in ihrer Gänze gelesen und noch weniger anerkannt zu werden.

Ist aber das In-Erscheinung-Treten im theatralen Raum auch ohne Sprache möglich? Beziehungsweise: Warum trennt Kennedy die erscheinenden Körper von ihrer unmittelbaren Sprache? Die Körpersprache ist als das Gestische in der Inszenierung, durch die Anwesenheit der Schauspieler und ihre (wenn auch mechanisch anmutenden, oder choreographierten) Körper gegeben. Aber ist die aus dem eigenen Körper hervorkommende verbale Sprache notwendig, um auf der Bühne zu erscheinen? Das evaluierte Scheitern des aktiven In-Erscheinung-Tretens nach Hannah Arendt reflektiert das Scheitern, sich im gesellschaftlichen Kontext zu etablieren; Roelle und Olga können nicht als an-erkannte Personen bezeichnet werden. Die Zugehörigkeit zur Ingolstädter Gemeinschaft wird ihnen verweigert. Auf der Bühne selbst wird ihr Erscheinen möglich, jedoch nur, indem die Stimmlosigkeit der Figuren die Unmöglichkeit eines stimmlosen Auftretens im öffentlichen Raum und in der Welt selbst verdeutlicht und somit ver-handelt. Als theatrale Situation erhält dies durch die von Menke beschriebene und von Kennedy vertiefte unauflösbare Beziehung des On/Off als ein beständiges Changieren zwischen dem ‚Vor-Ort‘ und dem ‚Anderswo‘ noch größere Gewichtung. Körper und Sprache sind in der Inszenierung gekennzeichnet durch Trennung, Unterbrechung und Spaltung. Und doch existieren sie nicht unabhängig voneinander. Das Interessante, die eigentliche „Handlung“ passiert sowohl im Arendtschen „Zwischen“ als auch im „Zwischen“ des On/Off.

Kennedy gelingt ein interessanter Brückenschlag, der – ob intendiert oder nicht – auch politische Implikationen in sich birgt. Zum einen beweist der Abend, dass auch im Privaten bereits gesellschaftliche Machtstrukturen in uns wirken, dass das im „Zwischen“ stattfindende Handeln also nicht notwendiger Weise private oder öffentliche Erscheinungsräume schafft, sondern dass bereits im Wohnzimmer der Berotters Politisches verhandelt werden kann. Zum anderen zeigt das Trennen von Äußerem und Geäußertem, wie Repräsentation im theatralen Raum behandelt werden kann. Zwar erscheinen die Darstellenden auf der Bühne und repräsentieren die zu spielenden Figuren in dieser Hinsicht; aufgrund der geringen Bewegungsfreiheit und Mimik kommen sie dabei allerdings kaum über das Ausstellen der Repräsentation hinaus.


  1. Fleißer, Marieluise: „Anmerkungen zu Fegefeuer in Ingolstadt“, in: Ingolstädter Stücke. Frankfurt 1977, S. 132.
  2. Vgl.: Szondi, Peter: „Konversationsstück“, in: Ders.: Theorie des modernen Dramas (1880-1959). Frankfurt 1973, S. 87-90.
  3. Menke, Bettine: „On/Off“, in: Vogel, Juliane/ Wild, Christopher (Hg.): Auftreten. Wege auf die Bühne. Berlin 2014, S. 180-188, hier S. 180.
  4. Ebd.
  5. Vgl. ebd., S. 183.
  6. Ebd., S. 180.
  7. Ebd., S. 181.
  8. Ebd.
  9. Ebd., S. 182.
  10. Ebd., S. 185.
  11. Ebd., S. 183.
  12. Ebd., S. 185.
  13. Ebd.
  14. Weber, Samuel: The Incontinent Plot (Hamlet), S. 237, zit. n. Menke: „On/Off“, S. 185.
  15. Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 87.
  16. Ebd., S. 88.
  17. Ebd.
  18. Fegefeuer in Ingolstadt; Regie: Susanne Kennedy, Premiere: 8. Februar 2013, Münchner Kammerspiele, Aufzeichnung: 3sat 2014 (51. Theatertreffen Berlin), Min. 08:15 bis 12:00.
  19. Szondi: Theorie des modernen Dramas,S. 89.
  20. Vgl. https://www.vaticannews.va/de/gebete/seele-christi.html (Zugriff am 24. Februar 2021).
  21. Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 90.
  22. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes, Bd. 1. München 1979, S. 39.
  23. Ebd., S. 29.
  24. Ebd., S.30.
  25. Ebd., S. 31.
  26. Ebd., S. 31 f.
  27. Ebd., S 30.
  28. Arendt, Hannah: Vita Activa. München 1981, S. 14.
  29. Ebd., S. 165.
  30. Ebd.
  31. Vogel, Juliane/ Wild, Christopher: „Auftreten: Wege auf die Bühne“, in: Dies.: Auftreten, S. 6-20, hier S. 9.
  32. Ebd.
  33. Vogel, Juliane: „ ‚WHO’S THERE?‘ – Zur Krisenform des Auftritts im Drama und Theater“, in: Dies./Wild, Christopher (Hg.): Auftreten, S. 22-37, hier S. 28.
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