Ein Traum vom Theater in Deutschland

Heiner Müllers produktive Rezeption von Lessings Wie die Alten den Tod gebildet

Dass dem abschließenden Lessing-Triptychon in Heiner Müllers Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei[1] eine eminent biographische bzw. autobiographische Dimension eigen ist, wurde von Müller betont. Die Forschung hat das gerne wiederholt.[2] Wesentlich für diese Deutung sind die biographischen Parallelen zwischen Lessing und Müller:

  • Beide wurden im Januar ’29 in Sachsen geboren: 1729 bzw. 1929.
  • Beide sind schon früh erfolgreiche Dramatiker, müssen sich freilich als Kritiker durchschlagen und werden Dramaturgen.
  • Beide leben als Sachsen in Preußen (bzw. seinem Nachfolge-Rest), in einem autoritären Staat, der sich jeweils die Kunst dienstbar aneignet.
  • Beide sind Beispiele für das Ideal des freien Schriftstellers, das von Lessing entwickelt wurde,[3] weswegen ihn Müller eine „Vorbildfigur“[4] genannt hat.

Schaut man allerdings genauer hin, zeigt sich schnell, dass es jenseits dieser Eckdaten kaum Parallelen zwischen Lessing und Müller im Alter von 47 Jahren gibt (Müller schrieb den Text 1976).[5] Ja man muss sagen, dass Müller die Parallelität gezielt konstruiert hat. Das zeigt sich besonders, wenn man bedenkt, was Müllers Text von Lessings Zeit seit der Hamburgischen Dramaturgie unterschlägt.

In der Lessing-Forschung gilt eben diese Zeit als problematisch: „Das Wolfenbütteler Jahrzehnt steht innerhalb der Lessingrezeption bis heute unter eigentümlich ambivalenten Vorzeichen.“[6] Der 47jährige Lessing lebte nicht mehr im preußischen Berlin, sondern im welfischen Wolfenbüttel. Seit dem Scheitern des Hamburger Theaterprojekts, das in der Hamburgischen Dramaturgie seinen literatur- und theaterkritischen Niederschlag gefunden hatte, war Lessing privat wie beruflich viel geglückt. Noch 1767 lernte er in Hamburg Eva König kennen, deren Ehemann zwei Jahre später starb, so dass einer Verlobung 1771 nichts mehr entgegenstand. Voraussetzung dafür war, dass Lessing 1769 in Wolfenbüttel die Stelle eines Bibliothekars angeboten wurde – ein Amt, das ihn finanziell unabhängig machte. Lessing hatte sich also im Alter von 47 vom Ideal des freien Autors verabschiedet und statt dessen eine Stelle im öffentlichen Dienst angenommen. Nichtsdestotrotz war Lessing als Dramatiker in dieser Zeit erfolgreich. Minna von Barnhelm wurde 1768 in Berlin uraufgeführt, Emilia Galotti nahm im Hochzeitsjahr 1771 Form an und hatte am 13.3.1772 in Braunschweig Premiere.

Vor allem aber hatte Lessing im Alter von 47 noch nicht seinen Traum vom Theater ausgeträumt anders als es Müller eingangs des Lessing-Triptychons LESSINGS SCHLAF TRAUM SCHREI schreibt: „Ich habe […] einen Traum vom Theater in Deutschland geträumt […]. Das ist nun vorbei.“ (S. 533) Müller zitiert damit den berühmten Satz Lessings aus dem letzten Stück der Hamburgischen Dramaturgie, dass der „süße Traum, ein Nationaltheater […] zu gründen, […] schon wieder verschwunden“[7] sei. Er unterschlägt damit Lessings eigene Einschränkung „hier in Hamburg“, was nicht unerheblich ist. Denn das Hamburger Projekt war zwar gescheitert. Erst im auf die Hochzeit folgenden Jahr 1777 lehnte Lessing die Leitung des Mannheimer Theaters definitiv ab. Und das geschah vielleicht auch, aber nicht nur, weil er einen Traum ausgeträumt hatte. Lessing fühlte sich für seine Frau verantwortlich und wollte eine Familie gründen.

Schon diese Hinweise dürften verdeutlichen, wie wenig die Engführung zwischen Lessing und Müller im Detail zu überzeugen vermag. Man darf davon ausgehen, dass Lessing die Vorteile, die sich ihm in Wolfenbüttel boten, zu schätzen wusste. Andererseits war Wolfenbüttel selbstverständlich der Ort, der die erhoffte Meinungsfreiheit nicht brachte, das sollte der Fragmentenstreit zeigen. Auch verschlechterte sich dort sein Gesundheitszustand zunehmend. Der gesellige Lessing vereinsamte und sollte hier auch Frau und Kind verlieren.

Gerade dieser letzte Punkt hat in der Müller-Forschung wiederholt für Aufmerksamkeit gesorgt. Der Tod von Lessings einzigem Kind und seiner Frau Eva König im Wochenbett wird gerne mit dem Selbstmord von Inge Müller in Verbindung gebracht. Emmerich schreibt im Müller-Handbuch: „Zugleich spielt dieser Monolog auf Lessings Verlust seiner geliebten Frau Eva König im Januar 1778 an (also zwei Jahre nach dem fiktiven Zeitpunkt der Lessing-Szene Müllers) […].“[8] So reizvoll solche Vergleiche sind, man sollte vorsichtig damit sein. Zum einen, weil Inge Müller Selbstmord beging und Eva König eines im 18. Jahrhundert gewöhnlichen Todes starb. Zum anderen, weil es Lessings wie Müllers Auseinandersetzung mit dem Thema Tod auf ein individuelles, psychologisches Moment reduziert. Das hat Müller, wie erwähnt, durch zahlreiche Äußerungen selbst provoziert, etwa im zitierten Interview mit Frank Feitler oder, wie wir noch sehen werden, in Krieg ohne Schlacht.

Wie intensiv Müller die biographischen Parallelen bei der Entwicklung von Leben Gundlings bedacht hat, belegen zudem die Nachlass-Manuskripte zu Leben Gundlings in der Akademie der Künste, Berlin. Dort findet sich beispielsweise der Hinweis auf die „own story“,[9] die die Beschäftigung mit Lessings Biographie berühre. Aber Müller markiert ebenda auch die Differenz zwischen sich und Lessing: „Frau – Kind – gestorben“. Zu Inge Müllers Selbstmord notiert er ebenda den sachlichen und unmetaphorischen ersten Satz aus Todesanzeige:[10] „sie war tot || als ich nach Hause kam“.

Ich betone all diese Details, weil der Biographismus der Forschung den Blick auf Müllers Auseinandersetzung mit Lessings Texten versperrt hat – also auf den Leser Müller, der in der Lektüre wie in der eigenen literarischen Produktion zugleich den Dialog mit den Toten gepflegt hat. Durs Grünbein hat diese Form der produktiven Rezeption präzise auf den Punkt gebracht: „Vielleicht war er ja wirklich der letzte, der noch täglich Verbindung hielt zu den verlorenen Seelen dieser Nationalliteratur, ein Vertrauter der Lessing, Büchner und Kleist, mit denen er die Prozesse des zwanzigsten Jahrhunderts beriet.“[11] Was Grünbein hier andeutet, hat seinen Kern in der für Müller wesentlichen Rezeption der Geschichtsphilosophie Benjamins, die eben nicht auf Vergegenwärtigung der Tradition zielt, sondern auf das Freilegen ihres subversiven, revolutionären Potentials, das von den Herrschenden tot geschwiegen wird. Wie wir sehen werden, ist dieser Gedanke für Müllers Dialog mit Lessing wesentlich.

Wichtiges künstlerisches Kompositionsprinzip von Leben Gundlings ist, und das betonen zumal die Szenen und Notizen im Nachlass, die Collage.[12] Wir haben es mit Lessing-Szenen zu tun, die über dessen Biographie deutlich hinausweisen, vielmehr auf den Autor Müller hinweisen und zugleich immer auch ihre eigene Literarizität reklamieren. Ein Beispiel dafür ist der in Hamletmaschine wieder zitierte Satz[13] „Die Frau am Strick Die Frau mit den aufgeschnittenen Pulsadern Die Frau mit der Überdosis AUF DEN LIPPEN SCHNEE Die Frau mit dem Kopf im Gasherd.“ (S. 533f.)

Der auf Hamletmaschine vorverweisende Lessing-Monolog wird im Müller-Handbuch mit einer Maske verglichen, durch die hindurch der Autor Müller spricht.[14] Das leuchtet vordergründig ein. Es stellt sich allerdings die Frage, ob der Autor Müller nicht eine weitere Maske ist, durch die hindurch dann ein Drittes spricht. Doch was wäre das dann? Der Text? Sein Sinn? Wie im Folgenden gezeigt werden soll, ist es für die Beantwortung dieser Fragen hilfreich, sich zu verdeutlichen, was Grünbeins Metapher vom Gespräch mit den Toten genauer meint. Dafür reicht es nicht aus, lediglich Müllers Benjamin-Rezeption zu berücksichtigen. Es muss auch seine Auseinandersetzung mit Lessings Wie die Alten den Tod gebildet[15] in den Blick genommen werden. Denn auch wenn eine solche Querverbindung von der Forschung bisher nicht gezogen wurde, kommt man nach Sichtung des Archivmaterials nicht daran vorbei, dass Müller diesen Text produktiv rezipiert hat.[16] Abschließend werden einige, sich daraus ergebende Querverbindungen zur auf Leben Gundlings folgenden Hamletmaschine gezogen.

Lessing hat sich wiederholt mit dem Thema Tod auseinandergesetzt – in Briefen, in seinen literarischen Texten und eben auch philologisch in Wie die Alten den Tod gebildet. Diese 1769 in Berlin bei Voß publizierte Studie ist gewissermaßen ein Nachtrag zu seiner umfangreichsten und wirkungsmächtigsten kunsttheoretischen Schrift, dem Laokoon, der drei Jahre zuvor erschienen war.[17] Dort hatte Lessing am Rande die These aufgestellt, dass in der Antike der Tod nicht als Skelett, gar mit Schrecken verbreitender Sense, sondern als Bruder des Schlafes dargestellt wurde. Diese These aus dem Laokoon wurde in der Folgezeit wiederholt angegriffen, insbesondere vom Hallenser Philologen Christian Adolf Klotz. Lessing, der zeitlebens keinem Streit aus dem Weg gegangen ist, legte sich mit Klotz gerne an. Wie die Alten den Tod gebildet ist also zugleich auch eine gelehrte Streitschrift. Die beiden wesentlichen Thesen Lessings präzisieren und erweitern das im Laokoon Ausgeführte:

    • In der Antike war der Tod ein Zwillingsbruder des Schlafes, häufig dargestellt als Genius mit einer gesenkten Fackel.
    • Skelettdarstellungen stehen für die so genannten Larvae, die Seelen bösartiger Toter.

Diese zweite These ist von der Altertumskunde widerlegt worden, während die erste These bis heute gültig ist. [18] Die präzise, betont akademische und wegen der ad-personam-Polemik gegen Klotz immer unterhaltsame Schrift braucht hier nicht weiter zu interessieren, auch ihre teilweise begeisterte Rezeption etwa durch Herder und Goethe kann vernachlässigt werden. Entscheidend sind für Müllers Umgang mit Lessing lediglich die letzten drei Absätze von Wie die Alten den Tod gebildet. Lessing abstrahiert dort von seinem Gegenstand und geht grundlegend auf das Verhältnis von Tod und Schrecken in den Künsten ein:

Gleichwohl ist es gewiß, daß diejenige Religion, welche dem Menschen zuerst entdeckte, dass auch der natürliche Tod die Frucht und der Sold der Sünde sei, die Schrecken des Todes unendlich vermehren mußte. Es hat Weltweise gegeben, welche das Leben für eine Strafe hielten; aber den Tod für eine Strafe zu halten, das konnte, ohne Offenbarung, schlechterdings in keines Menschen Gedanken kommen, der nur seine Vernunft brauchte.[19]

Die Pointe von Wie die Alten den Tod gebildet ist, dass nach Meinung Lessings erst mit der Offenbarung, also mit der Verkündigung der Gesetze an Moses und dann durch die Erneuerung des Bundes zwischen Gott und Menschheit durch Christus, der Tod ein Ereignis des Schreckens geworden sei. Ohne Offenbarung sei dem Tod nichts Schreckliches eigen. Lessing folgert dementsprechend: „Von dieser Seite wäre es also zwar vermutlich unsere Religion, welche das alte heitere Bild des Todes aus den Grenzen der Kunst verdrungen hätte.“ Lessing fordert sodann „unsere Künstler“ auf, „das scheußliche Gerippe wiederum aufzugeben, und sich wiederum in den Besitz jenes bessern Bildes zu setzen.“[20] Was Lessing mit dieser Forderung aus seiner antiquarischen Forschung ableitet, ist nicht weniger als eine Befreiung des Todes von seiner Schreckensgestalt.

Dass Lessings Studie für Müllers Stück wesentlich ist, legt zunächst der Aufbau des ersten Teils des Lessing-Triptychons nahe (S. 533f.). Die beiden zentralen Begriffe der Szene sind „Schlaf“ und „Tod“. Um sie herum ist ein Isotopiengeflecht angelegt: Für das Wort „Schlaf“ sind das Wendungen und Worte wie „Augen schließen“, „Nacht“, „Schlafen ist gut“; für „Tod“ sind das unter anderem „Blut“, „vorbei“, „toter Fleck“, „Wüste“, „Sterben“, „tote Gäule“, „Hölle der Frauen“, „Der Tod ist eine Frau“ oder „Autofriedhof“. Und dass es hier um das Verhältnis von Schlaf und Tod geht, wird zudem durch die Thematisierung des Traums bei Lessing deutlich.

Müller konstruiert dabei einen paradoxen Chiasmus, der Lessings Theaterutopie betont: Wenn Lessing schlief, träumte er nicht. Nur wenn er wach war, träumte er, nämlich vom Theater in Deutschland. Das hat sich in der Gegenwart der Szene grundlegend verändert. Lessings Sterben hat begonnen, er nähert sich dem Tod an, was metaphorisch durch die Vergessensassoziationen versinnbildlicht wird: „Vergessen ist Weisheit. Am schnellsten vergessen die Götter.“ Damit rekurriert Müller implizit auf den Fluss Lethe, aus dem die Verstorbenen trinken, damit sie vergessen und erst dadurch zu Toten werden. Den Abschluss der Szene bildet dann das Bruderpaar Schlaf und Tod: „Schlafen ist gut. Der Tod ist eine Frau“.

Auch wenn Müller das Schlafen hier nicht personifiziert – dass es trotzdem in Analogie zu Lessings Studie durchaus angemessen ist, vom Bruderpaar zu sprechen, unterstützt das Archivmaterial: Müller schreibt: „Schlafen ist eine gute Sache. Bruder Tod.“[21] Doch wird „Bruder Tod“ durchgestrichen. Müller tilgt einen expliziten Hinweis auf Lessing zu Gunsten eines Aussagesatzes, der seine Auseinandersetzung mit dem Verhältnis von Tod und Geschlecht in Hamletmaschine und Medeamaterial pointiert vorwegnimmt: „Der Tod ist eine Frau.“[22]

Das sind die konkreten Spuren, die auf Lessings kritische Studie aus dem Jahr 1769 verweisen. Wie die Alten den Tod gebildet ist zudem die wichtigste Schrift, die zwischen der Hamburgischen Dramaturgie und Emilia Galotti erscheint. Dass sich Müller mit dieser Zeit intensiv auseinandergesetzt hat, belegt das Archivmaterial,[23] wo u.a. die Stichworte „Hamburg[ische] Dram[aturgie]“, „Laokoon“ und „7jährige[r] Krieg“ fallen und wo er knapp den Bezug zum eigenen Leben herstellt: „own story“, aber, wie gesagt, nicht in Form einer Parallelisierung, sondern durch Markierung von Differenz.

Müller zielt mit dem Lessing-Triptychon auf Ähnliches wie Lessing, auf eine Befreiung. Gänzlich gleich ist diese Befreiung aber nicht. Im Archiv findet sich eine Vorstufe zum zitierten Schluss der ersten Lessing-Szene: „Schlafen ist eine gute Sache | Ob Gott existiert oder nicht | Der Tod ist eine Frau.“[24] Diese Notiz formuliert den wesentlichen Unterschied zu Lessings Überlegungen: Müller denkt die Nähe zwischen Schlaf und Tod unabhängig von der Existenz Gottes. Das ist bei Lessing anders. Bei ihm ist die Existenz zumindest einer göttlichen Instanz Voraussetzung. Er denkt über Schlaf und Tod als Zustand nach. Müller dagegen geht es nicht um eine philosophische oder kunsttheoretische Auseinandersetzung mit dem Tod, sondern um die Toten selbst: „liberation of the dead“.[25]

Beide Formen der Befreiung, die der Toten wie die des Todes, sind die beiden miteinander verwandten künstlerischen Utopien der beiden Dramatiker. Der Unterschied ist der, dass Lessings Befreiung primär ein ästhetisches, diejenige Müllers ein politisches Anliegen verfolgt. Nachdem dieser mit Philoktet Lessings Schmerzästhetik widerrufen hat,[26] wendet er sich am Ende des Lessing-Triptychons grundlegend der Todesästhetik Lessings zu und führt ihr Scheitern vor Augen, das in einem Schrei – dem Laokoons? – seinen Schlusspunkt findet: „Die Kellner […] verpassen Lessing eine Lessingbüste, die Kopf und Schultern bedeckt. Lessing, auf den Knien, macht vergebliche Versuche, sich von der Büste zu befreien. Man hört aus der Bronze seinen dumpfen Schrei.“ (S. 535f.) Lessings Befreiung von der Büste scheitert und damit zugleich seine aufgeklärt-ästhetische ‚liberation of death’. Doch was meint das konkret? Auf was zielt Müllers „liberation of the dead“ im Unterschied zu der Lessings?

Wenn dieser in Wie die Alten den Tod gebildet dem Tod seinen Schrecken nehmen will, so ist das programmatisch zu verstehen. Lessing arbeitete Ende der 1760er Jahre an einer ‚Bändigung des Schreckens’. Zuvor, in der Hamburgischen Dramaturgie, hatte er den Schrecken systematisch aus der Dramenpoetik auszugrenzen versucht und statt dessen die Furcht als wesentliche Kategorie der Tragödie neben dem Mitleid etabliert:[27]

Man hat ihn [Aristoteles] falsch verstanden, falsch übersetzt. Er spricht von Mitleid und Furcht, nicht von Mitleid und Schrecken; und seine Furcht ist […] die Furcht, welche aus unserer Ähnlichkeit mit der leidenden Person für uns selbst entspringt; es ist die Furcht, dass die Unglücksfälle, die wir über diese verhänget sehen, uns selbst treffen können […]. Mit einem Worte: diese Furcht ist das auf uns selbst bezogene Mitleid.[28]

Eben ein auf sich selbst bezogenes Mitleid betont Müller in Krieg ohne Schlacht, da er auf sein Lessing-Stück eingeht: „Wenn ich aus Gundling zitiere, werde ich traurig, in dem Stück ist Mitleid. Mitleid mit allem, was da beschrieben wird.“[29] Bemerkenswert an diesem vielfach zitierten Satz ist Müllers Perspektive auf das Stück. Er spricht nicht als Autor, sondern schlüpft in die Rolle des Rezipienten seines eigenen Dramas. Aus dieser Rezipientenposition heraus erklärt er Mitleid zu einer faktischen Wirkungskategorie von Leben Gundlings.

Dramentheoretisch kann das Stück als Kommentar zur durch Lessing kritisch vermittelten, aristotelischen Poetik verstanden werden. Dem Lessing-Triptychon ist nämlich eine wirkungsästhetische Dimension eigen, die auf eine Veränderung von Erfahrung zielt und die sich dabei eines Mitleids bemächtigt, dem die kathartische Wirkung fehlt. In Leben Gundlings bricht die Erfahrung zusammen, dass es nicht die eine Geschichte gibt, sondern immer die Geschichten und dass neben der Heldengeschichte oftmals auch eine Mitleidsgeschichte existiert.[30] Müller schreibt also – ganz in der Tradition Benjamins – gezielt gegen die normierende, materialistische Klassikerverehrung, die Lessing umfangreich zuteil wurde.[31] Er verfasst damit einen dramatischen Kommentar[32] gegen die herrschende Tradition der Auslegung und bietet so einen anderen Blick auf die Geschichte. Leben Gundlings zeigt die andere Seite des Klassikers Lessing – aber nicht im Sinne eines Gegenbilds oder einer Negativfolie, sondern in Form einer Mitleid erweckenden Figur, die sich jedem Versuch der zum steinernen Standbild tendierenden Klassikerverehrung widersetzt, indem sie den Blick frei gibt auf den Menschen.

Das macht auch nach Lessings Meinung die Großen für das Trauerspiel geeignet. Aber Lessing äußert seine Überlegungen zum Trauerspiel nicht nur angesichts eines gänzlich anderen Erfahrungshorizonts. Sein Trauerspielbegriff im Briefwechsel mit Mendelssohn und Nicolai und im Tränenerfolg Miss Sara Sampson ist selbstverständlich ein anderer als der Müllers, wie schon deren verwandter, aber eben keinesfalls gleicher Mitleidsbegriff zeigt.

Mit Leben Gundlings kreist auch Müller um die Möglichkeiten der Tragödie.[33] Anders als Lessing hat er sich jedoch nie der Mühe unterzogen, den Begriff ‚Tragödie’ bzw. ‚Trauerspiel’ zu definieren. Er lässt sich nur aus seiner schriftstellerischen Praxis erschließen. Müllers schreibt für das Andere der Geschichte und für die Widersprüche und gegen ein Geschichtsbild und ein Tragödienkonzept der idealisierenden, stiftenden Heldenverehrung. In Leben Gundlings exerziert er das beispielhaft an Friedrich II., Kleist und Lessing durch – als „Befreiung der Toten“, die Müller selbst als „Benjamins Traum vom Kommunismus“ bezeichnet hat.[34] Müllers Tragödienbegriff orientiert sich am Trauerspielbegriff Benjamins im Ursprung des deutschen Trauerspiels (1925).[35] Er legt mit Leben Gundlings eine Spielart tragischer Dramatik vor, die über ihr allegorisches Personal funktioniert und die frei von empfindsamer Katharsis ist.

Der Umgang mit Lessing ist dabei besonders bemerkenswert, weil er über die bloße Darstellung des Anderen, des Gegenbilds hinausgeht. Müller gibt dem in der DDR durch die Erbepflege mundtot gemachten Aufklärer seine Stimme als Schrei zurück. Was als eine direkt an das Mitleid des Theaterzuschauers adressierte Regieanweisung gedeutet werden kann, ist zugleich ein Verweis auf Lessings Ästhetik. Dadurch gelingt es Müller, in doppelter Hinsicht die Möglichkeit des Tragischen zu reflektieren: Auf der Handlungsebene als tragische Groteske über das Mundtotmachen der klassischen Literatur und auf der Metaebene als Kommentar zum klassischen Tragödienkonzept.

Indem Müller das Mitleid als zentrale Kategorie des Dramatischen betont, revitalisiert er das Tragische insgesamt. Dem ist ein Strukturmoment eigen, das Peter Szondi – im Anschluss an Benjamin – als ‚dialektische Identität von Steigen und Fallen’ gefasst hat.[36] Erst sie macht die Lessingfigur in ihrer Tragik für Müller interessant. Er entwirft, wie schon gesagt wurde, nicht einfach ein Gegenbild, den anderen Lessing, wie das in der Folge der Lessing-Legende des Sozialdemokraten und Mitbegründers des Spartakusbundes Franz Mehring in der materialistischen Lessing-Biographik üblich war.[37] Deswegen geht auch Emmerichs Maskenmetaphorik nicht auf, weil es in Leben Gundlings nicht die eine Wahrheit bzw. das ‚echte’ Lessing-Antlitz gibt. Lessing ist bei Müller Begründer neuer tragischer Ausdrucksformen, einer neuen Schmerz- und Totenästhetik und der Verkünder aufklärerischer Ideale. All das ist richtig, aber nicht entscheidend, weil all das Lessing zugleich zum Standbild erstarren lässt. Es verschleiert den Blick auf Lessing als Mitleid empfindenden Menschen und als Objekt des Mitleids. Lessing verkörpert für Müller die Position, die das ‚Ich’ sich in dann in Hamletmaschine zuschreiben wird:[38]

Mein Platz, wenn mein Drama noch stattfinden würde, wäre auf beiden Seiten der Front, zwischen den Fronten, darüber. Ich stehe im Schweißgeruch der Menge […]. Ich blicke durch die Flügeltüren aus Panzerglas […]. Ich schüttle, von Brechreiz gewürgt, meine Faust gegen mich, der hinter dem Panzerglas steht. Ich sehe, geschüttelt von Furcht und Verachtung, in der andrängenden Menge mich […].[39]

Im Moment des Ausnahmezustands offenbart sich für die tragische Gestalt die Janusköpfigkeit der eigenen Geschichte wie des eigenen Schicksals – als Wissen um die Dialektik des eigenen Steigens und Fallens. Eben in diesem Wissen zeigt sich eine Differenz zwischen Müller und Lessing, die viel wesentlicher ist als alle biographischen Parallelen. Nachdem Lessing dem Tod den Schrecken genommen hatte, legte er mit Emilia Galotti zugleich das Musterstück des bürgerlichen Trauerspiels und das Musterstück gegen das bürgerliche Trauerspiel vor. Emilia Galotti greift auf Elemente des heroischen Trauerspiels zurück und ist, wie Herder treffend gesagt hat, außerdem „Prinzensatire“. Damit initiierte Lessing den Abgesang auf die Rührung und vom empfindsamen Tränenerfolg, dem er selbst mit Miss Sara Sampson zum Durchbruch verholfen hatte. In dieser Hinsicht kann Emilia Galotti als tragiktheoretischer Kommentar auf den eigenen Tränenerfolg gedeutet werden – in dem Sinne, dass Lessing selbst zum ersten Überwinder des lessingschen Mitleids wurde. Dass Müller eben im Moment des Ausnahmezustands in Hamletmaschine das ‚Ich’ ein Bekenntnis zur Furcht ablegen lässt, revitalisiert auf eigentümliche Weise das Mitleid – aber ausschließlich in seiner egozentrischen Dimension, so dass unvermittelt der Furcht die ‚Verachtung’ zur Seite steht. Nicht mehr die kathartische Wirkung des Mitleids mit seinem Fluchtpunkt der Verbesserung der Mitmenschen steht im Mittelpunkt, sondern das Mitleid, das im Angesicht des Ausnahmezustands die eigene Ausweglosigkeit erkennt. Doch auch wenn der Fluchtpunkt von Lessings und Müllers Bemühen um das Tragische ein anderer ist, überwiegt doch die Gemeinsamkeit, die mit Blick auf Philoktet auf die prägnante Formel von der „Arbeit am Gattungsbewußtsein“[40] gebracht wurde – einer Formel, die in ihrer Doppeldeutigkeit in Erinnerung ruft, dass die Tragödie durch ihre auf Wirkung zielende Struktur immer schon den Zuschauer gefordert hat.

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Heiner Müller: Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei, in: ders.: Die Stücke 2 (Werke 4), hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt/Main 2001, S. 509–537; Zitate daraus werden im Folgenden im Text unter Angabe der Seitenzahl in runden Klammern ausgewiesen.
  2. Zur ersten Orientierung vgl. Wolfgang Emmerich: Gotthold Ephraim Lessing; Thomas Eckhardt: Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei, beide in: Heiner Müller Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, hrsg. von Hans-Thies Lehmann, Patrick Primavesi, Stuttgart 2003, S. 129–131 bzw. S. 239–243.
  3. Wilfried Barner, Gunter E. Grimm, Helmuth Kiesel, Martin Kramer: Lessing. Epoche – Werk – Wirkung, München 1998, S. 103–106.
  4. Vgl. Heiner Müller/Frank Feitler: Wer wirklich lebt, braucht weder Hoffnung noch Verzweiflung, in: Sire, das war ich. Schlaf Traum Schrei Heiner Müller Werkbuch, hrsg. von Wolfgang Storch, Klaudia Ruschkowski Berlin 2007, S. 288.
  5. Zum historischen Hintergrund vgl. Jean Jourdheuil: Bertolt Brecht, de 1947 à 1995, une chronique allemande, in: Études Germaniques 63 (2008), S. 353–374.
  6. Barner et al.: Lessing (wie Anm. 3), S. 113.
  7. Otthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, in: ders.: Werke 1767–1769 (Werke und Briefe 6), hrsg. von Klaus Bohnen, Frankfurt/Main 1985, S. 181–706, hier S. 690.
  8. Emmerich (wie Anm. 2), S. 131.
  9. Vgl. Akademie der Künste/Heiner Müller Archiv (im Folgenden AdK/HMA) 3394 Schau –   während ihm Lessingmaske.
  10. Heiner Müller: Todesanzeige, in: ders.: Die Prosa (Werke 2), hrsg. von Frank Hörnigk, Frankfurt/Main 1999, S. 99–103.
  11. Durs Grünbein: Das Lächeln des Glücksgotts, in: ders.: Antike Dispositionen. Aufsätze, Frankfurt/Main 2005, S. 81–101, hier S. 96; vgl. dazu Kai Bremer: Vom Monolog der Toten zum Drama des Bewußtseins. Grünbein und das zeitgenössische Theater, in: Schreiben am Schnittpunkt. Poesie und Wissen bei Durs Grünbein, hrsg. von dems., Fabian Lampart, Jörg Wesche, Freiburg/Br. 2007, S. 103–120.
  12. Müller selbst hat das Stück von „der Methode her“ mit den Collageromanen von Max Ernst verglichen: Heiner Müller: Krieg ohne Schlacht. Leben in zwei Diktaturen. Eine Autobiographie. Erw. Neuausgabe Köln 1994, S. 268f. Vgl auch Norbert Otto Eke: Heiner Müller. Stuttgart 1999, S. 186f.
  13. Heiner Müller: Hamletmaschine, in: ders.: Die Stücke 2 (wie Anm. 1), S. 543–554, das Zitat S. 547.
  14. Emmerich (wie Anm. 2), S. 131.
  15. Gotthold Ephraim Lessing: Wie die Alten den Tod gebildet, in: ders.: Werke 1767–1769 (wie Anm. 7), S. 715–778. Zur Rezeption dieses Textes auch in der jüngeren deutschen Literatur vgl. Wilfried Barner: Der Tod als Bruder des Schlafs. Literarisches zu einem Bewältigungsmodell, in: Tod und Sterben, hrsg. von Rolf Winau, Hans Peter Rosemeyer, Berlin, New York 1984, S. 144–166.
  16. Diese Vorgehensweise hat ihre methodische Entsprechung in der Lessing-Forschung, vgl. Wilfried Barner: Produktive Rezeption. Lessing und die Tragödien Senecas. München 1973.
  17. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. Erster Teil, in: ders.: Werke 1766–1769, hrsg. von Wilfried Barner (Werke und Briefe, Bd. 5/2). Frankfurt/Main 1990, S. 11–206; vgl. zu Müllers Schmerzästhetik Manfred Schneider: Kunst in der Postnarkose. Laokoon Philoktet Prometheus Marsyas Schrei, in: Der Text ist der Coyote. Heiner Müller Bestandsaufnahme, hrsg. von Christian Schulte, Brigitte Maria Mayer, Frankfurt/Main 2004, S. 120–142.
  18. Vgl. den Hinweis von Klaus Bohnen in: Lessing: Werke 1767–1769 (wie Anm. 7), S. 1105f.
  19. Lessing: Wie die Alten den Tod gebildet (wie Anm. 15), S. 778.
  20. Ebd.
  21. AdK/HMA3394               Schauspieler wird geschminkt
  22. Vgl. Ulrike Hass: Die Frau, das Böse und Europa. Die Zerreißung des Bildes der Frau im Theater von Heiner Müller, in: Text + Kritik 73 (1997), S. 103–118
  23. AdK/HMA 3394               Schau –        während ihm Lessingmaske.
  24. AdK/HMA 3394 Patriotism. Great King.
  25. AdK/HMA 3394 (=cry) [neue Zeile] (Lessgs) Apotheose bzw. 3394 Apotheose looks.
  26. Vgl. Schneider (wie Anm. 17).
  27. Dass Lessings Übersetzung ihrerseits problematisch ist, ist hinlänglich bekannt, kann hier aber unberücksichtigt bleiben; vgl. Wolfgang Schadewaldt: Furcht und Mitleid, in: Hermes 83 (1955), S. 129–171.
  28. Lessing: Hamburgische Dramaturgie (wie Anm. 7), S. 556f.
  29. Müller: Krieg ohne Schlacht (wie Anm. 12), S. 270.
  30. Zum geschichtsphilosophischen Hintergrund vgl. Norbert Otto Eke: Heiner Müller. Apokalypse und Utopie. Paderborn u.a. 1989, S. 67–70.
  31. Vgl. Barner et al.: Lessing (wie Anm. 3), S. 422–425.
  32. Vgl. Patrick Primavesi: Theater des Kommentars, in: Lehmann, Primavesi (wie Anm. 2), S. 45–52, bes. S. 46f.
  33. Vgl. Nikolaus Müller-Schöll: Tragik, Komik, Groteske, in: Lehmann, Primavesi (wie Anm. 2), S. 82-88.
  34. Müller: Krieg ohne Schlacht (wie Anm. 12), S. 364. Wichtig ist dabei zudem, dass Müller mit dem Triptychon ‚Schlaf – Traum – Schrei’ eine Dynamik aufnimmt, die Benjamin bereits im Passagen-Werk andeutet und geschichtsphilosophisch perspektiviert hat (auch wenn bei ihm das Moment des Schreis nicht verhandelt wird); vgl. Walter Benjamin: Das Passagen-Werk K [Traumstadt und Traumhaus, Zukunftsträume, anthropologischer Nihilismus, Jung], in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. V/1, hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt/Main 1982, S. 490–510.
  35. Vgl. Walter Benjamin: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: ders.: Gesammelte Schriften. Bd. I/1, hrsg. von Rolf Tiedemann, Hermann Schwepenhäuser, Frankfurt/Main 1974, S. 203–430.
  36. Peter Szondi: Versuch über das Tragische, in: ders.: Schriften I, hrsg. von Jean Bollack, Frankfurt/Main 1978, S. 149–259, das paraphrasierte Zitat S. 234.
  37. Vgl. Barner et al.: Lessing (wie Anm. 3), S. 410–412.
  38. Vgl. Eke: Müller (wie Anm. 30), S. 71–75.
  39. Müller: Hamletmaschine (wie Anm. 13), S. 550f.
  40. Wolfgang Storch: Die Rückkehr der Tragödie. Zwei Briefe an Sérgio de Carvalho, in: Die Lücke im System. Philoktet Heiner Müller Werkbuch, hrsg. von Wolfgang Storch, Klaudia Ruschkowski, Berlin 2005, S. 9–24, hier S. 11.
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