“Ich habe heute leider kein Foto für dich”- Gedanken zu GNTM, Jungen-Mädchen, Subjekten und Fotos

Der folgende Text ist als Vortrag entstanden. Ich habe mich dazu entschieden, den mündlichen Sprachgestus beizubehalten. Die Beschäftigung mit dem Themenkomplex Bilder, Fotografie und Subjektproduktion im 21. Jahrhundert wird die Basis für meine Abschlussarbeit. Für Rückmeldungen, Ergänzungen und Kritik bin ich dankbar. Schreiben Sie mir gerne: kathrin.ebmeier@gmail.com.

Einer der Impulse für diesen Vortrag war ein Satz/Sprechakt/Urteil aus der ProSieben-Produktion Germany’s Next Topmodel: „Ich habe heute leider kein Foto für dich“ und das Pendant „Hier ist dein Foto“ bezeichnen die Logik und Auswahlstruktur der Castingshow, sind die dramaturgischen Rituale jeder Episode. Ausgehend von dieser Metapher stelle ich Überlegungen dazu vor, was ein Mädchen sein könnte, was ein Foto sein könnte, was ein Subjekt sein könnte und wie diese Fragen in unserer zeitgenössischen Umgebung zusammenhängen könnten. Schützenhilfe hole ich mir von Tiqquns Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens in der überarbeiteten deutschen Fassung von 2009.

Germany’s Next Topmodel – „Mädchen“ und ihre Fotos
Alle Kandidatinnen* werden von Klum konsequent Mädchen genannt. Ob ein Mädchen eine Runde weiter ist oder nicht, entscheidet sich am Ende der Sendung. Hier wird den erfolgreichen Kandidatinnen* ein Foto des zuvor durchgeführten Shootings überreicht – oder nicht. Die zentralen Sätze dieser Prozedur sind „Hier ist dein Foto“ oder „Ich habe heute leider kein Foto für dich“. Das sind Codes für „Du bist eine Runde weiter“ oder „Du bist raus“. Die dreiköpfige Jury kann auch uneinige Mehrheitsentscheidungen treffen. Generell ist es schwierig einen Maßstab für alle Kandidatinnen* zu erkennen. Vor allem Fortschritt und Entwicklung sind Wörter, die in den Begründungen der Jury verwendet werden.

Was ist eigentlich ein Mädchen?
Was impliziert diese Benennung durch Klum? Zunächst das Offensichtliche: die Mädchen sind jung und weiblich. Die meisten deutlich unter 18 Jahre alt. Mit der Selbstinszenierung als Modelmama bezeugt Klum die Unmündigkeit und Abhängigkeit der Kandidatinnen*. Ihnen wird während der Show beigebracht, ein Model zu sein, ein Mädchen zu sein. Es gibt durchaus Einwände gegen spezielle Aufgaben und das Verfahren, allerdings werden diese als Manifestation von Schwäche und mangelnder Disziplin inszeniert. Wer weiterkommen möchte, der muss es richtig machen – und richtig ist, was sich bewährt hat. Der Spitzname Baby Beyoncé der Siegerin von 2013, Lovelyn Enebechi verweist auf dieses Unmündigkeits- und Nachahmungsverhältnis. Die Mädchen sind so wie oder als ob – aber was wird da eigentlich wie nachgeahmt?

Welches Ideal oder welche Vorstellung, welches Bild gilt es zu verkörpern? Die Mädchen müssen arbeiten, leisten, vor allem aber müssen sie permanent Spaß an ihrer Arbeit haben, locker und professionell sein; gekonnt zwischen Sexyness und Coolness, schüchternem Blick und Schrei sich darstellen. Sie entsprechen den Figuren wie etwa Zicke, Studentin, oder Exotin, die sie in der Sendungsdramaturgie verkörpern. Die Entscheidung, welche dieser stereotypen Charakterskizzen sie über die Staffel hinweg erfüllen, liegt bei der Regie. Das Potenzial für all diese Persönlichkeitsfacetten soll jedoch jede* von ihnen glaubhaft vermitteln können – schließlich ist das Yoguretten-Gesicht ein anderes als das Hugo-Boss-Red-Gesicht.

Mit jeder neuen Challenge, jedem Shooting, jedem Walk wird der Fortschritt der Mädchen gemessen: ihre Wandlungsfähigkeit, die bestmögliche Verkörperung des zu vermarktenden Bildes. Das sind die Tugenden der Mädchen: Anpassungsfähigkeit, Gute Laune, Profil, Arbeitseifer, Disziplin. Die Kandidatinnen* sind also (trotz gender und age!) keine Mädchen von sich aus, sondern erarbeiten sich ihren Mädchenstatus.

Die Anrufung (Althusser 1977) Mädchen meint nur diejenigen, die sich die zuvor genannten Tugenden aneignen und diese durch ihre Fotos Folge für Folge er-zeugen.

Das Foto als Er-Zeugnis
Der gute Fortschritt, die richtige Verkörperung des Bildes, die Anpassungsfähigkeit der Mädchen und ihr Spaß an der Arbeit wird belohnt. Mit einem Foto. „Hier ist dein Foto”, ist der Satz, den die strenge Heidi Klum beim Ritual der Fotoübergabe ausspricht. Es ist geschafft, eine weitere Schlacht geschlagen – denn: das ist ein Kampf! Mit der Überreichung des Fotos bleibt die eine große Chance bestehen: „Nur eine von euch kann Germany’s Next Topmodel werden!“

Was ist also dieses Foto? Es ist Symbol für den Verlauf der Show, es ist glammy (gute Retusche, professionelle Fotografen, interessantes Fotoset, hochwertiger Druck) und vor allem ist es echt. Es ist Material, das in die Hand genommen wird, in die Setcard (Modelbewerbungsmappe) gesteckt wird. Aber: es ist nicht das zentrale Produkt. Ich schlage vor: das Foto wird zum Er-Zeugnis. In diesem materialisiert sich die jeweilige Einzigartigkeit bei gleichzeitiger Erfüllung aller Regeln durch die Spielshow-Teilnehmerinnen*. In diesem wird bezeugt wie hervorragend die Leistung, die Arbeit der Mädchen an sich selbst war.

„Ich habe heute leider kein Foto für dich“ ist das andere Urteil das Klum im Namen der Show spricht. Zu wenig Fortschritt, Spaß, Disziplin, Anpassungsfähigkeit oder Körpergefühl führen zum Ende. Es gibt für die Teilnehmende kein Zeugnis. Beziehungsweise: das Fehlen des Fotos, die Leerstelle ist das Zeugnis für den Mangel an Leistungswillen. Indem das Foto verwehrt bleibt, ist man nicht mehr angesprochen, wenn Klum ihre Mädchen ruft. Man hat die eine Chance vertan. Denn: „Nur eine von euch kann Germany’s Next Topmodel werden!“

Wenn Heidi Klum kein Foto verteilt, dann sind die Mädchen raus und existieren in der Show nicht mehr. Überspannen wir diese Anordnung ein bisschen: das Foto ist nicht das Produkt, sondern Er-Zeugnis für die Arbeit des Mädchens. Die Konkurrentinnen* als an sich arbeitende, sich (gegenseitig) disziplinierende, gut gelaunte Charaktere sind das Produkt. Sie und vor allem ihr Körper sind der zu bearbeitende Rohstoff, sie sind die Bearbeiterinnen* und sie sind ihre eigenen Konsumentinnen*. Ich schlage vor: wenn das Er-Zeugnis der Produktion fehlt, dann gibt es das Produkt auch nicht. Dann gibt es die Arbeit auch nicht. Wenn das Mädchen sein eigenes Produkt ist, und es kein Foto gibt, dann stellt das die Existenz des Mädchens in Frage.

Aber: es gibt sie ja, die Ausgeschiedenen. Sie sitzen bei Stefan Raab auf der Couch, lassen sich bei Red, dem hauseigenen ProSieben-Starmagazin, interviewen und gehen dann zurück in ihre Schulklassen. Zuschauer*innen wissen das. Egal, wie geübt oder ungeübt sie im kritischen Umgang mit Medien sind. Das ist eine Show. Was sie aber auch sehen: die Selbstverwirklichung, das An-Sich-Arbeiten-Müssen, Einzigartigkeit, Werbeträger*innen als Arbeitgeber*innen, Siegerinnen* mit Migrationshintergrund in jugendlichem Alter, Fortschritt durch Mädchenstatus, die beste Zeit ihres Lebens. Sie sehen das Bild von Menschen, die ihr Produkt sind – und nicht unglücklich. Dass die Oberfläche Show ist mit ihren expliziten Schönheitsidealen, Promis und Modelvillen in Los Angeles ist einleuchtend. Aber die Subjektproduktion dieser Charaktere, die Arbeit an der eigenen Existenz, der Spaß am Fortschritt durch Selbstregulierung – all das wird nicht als Showelement wahrgenommen. Ich denke zurecht. Denn diese Form der Subjektproduktion begegnet uns diesseits der expliziten Show. Dieses Spektakel verschleiert seine Struktur dadurch, dass es sie so offensichtlich reproduziert.

Junge-Mädchen
1999 hat Tiqqun, ein Autor*innenkollektiv, zum ersten Mal Fragmente zur jeune-fille veröffentlicht. 2006 wurden diese ersten Fragmente überarbeitet und erneut herausgebracht – beide Versionen auf Französisch. Der philologische Arm der deutschen Sektion der Parti Imaginaire hat diese überarbeitete Fassung zur Grundlage der Übersetzung ins Deutsche gemacht. 2009 ist diese Übersetzung von Merve in Berlin veröffentlicht worden. In diesem fragmentarischen Text tragen die Autor*innen als „kollektives Äußerungsgefüge“ (Tiqqun 2009) Ideen und Beobachtungen zusammen, die die Figur der jeune-fille, der Jungen-Mädchen umreißen. Sie beobachten in diesem Text eine spezielle Form der zeitgenössischen Subjektproduktion und Selbstwahrnehmung.

Anstatt eine stringente, konsistente wissenschaftliche Form zu wählen, verschneiden sie Zitate aus Werbung, Filmen und Junge-Mädchen-Selbstbezeichnungen mit Textstellen von Kritiker*innen des 20 Jahrhunderts (von Kracauer, Adorno/Horkheimer, Benjamin, Debord und anderen) und Aphorismus-ähnlichen selbstformulierten Theorieteilen des Autor*innengefüges.

Das sieht dann so aus:

Abb. 1: Seite 45 aus Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens. Bildrechte: Merve-Verlag.

Abb. 1: Seite 45 aus Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens. Bildrechte: Merve-Verlag.

Das Vorhaben Tiqquns ist nicht, eine eindeutige Definition des Phänomens Junge-Mädchen zu geben. Ich versuche, ein paar zentrale Punkte aufzuzählen, an denen sich diese Denkfigur aufspannt:

  •  Das Junge-Mädchen ist weder in age noch race oder gender festgelegt. Hierbei kann es sich genauso um den konsumorientierten Proteinshake-Bodybuilder wie die geliftete Witwe handeln. Jeunitude und féminitude sind neue Qualitäten kapitalistischer Modellbürger*innen. Während die Frauen und die Jungen Anfang des 20. Jahrhunderts als dem kapitalistischen System feindlich gesonnen angesehen werden konnten, wurden ihre widerständigen Sphären komplett markt-kolonisiert. Nicht die herrschenden, weißen, alten Hetero-Männer, sondern Junge, Frauen, Schwule, Migrant*innen liefern die wachstumsfähigen Marktmöglichkeiten der Pseudoteilhabe, -Integration, und -Emanzipation durch Konsum. (Tiqqun 2009, 14-17)
  •  Das Junge-Mädchen arbeitet immer. Es arbeitet in erster Linie an sich. „Das Junge-Mädchen versteht seine eigene Existenz als ein Problem der Verwaltung, das von ihm seine Lösung erwartet.“ (52)
  •  „Das Junge-Mädchen ähnelt seinem Photo.“ (31) bedeutet auch, dass es zwischen Foto und Jungem-Mädchen keine Ursprungsbeziehung gibt. Sie sind gleichursprünglich, sozusagen Henne und zugleich Ei.
  •  „Für das Junge-Mädchen ist es beruhigend, genau zu wissen, was es wert ist.“ (76)

Was Tiqqun dabei ernst nehmen, ist die Textproduktion in Werbung, mündlichem Gespräch und medialer Produktion. Sie gehen darüber hinaus, diese Texte zum Gegenstand ihrer Analysen oder zu Belegen für ihre Forschungen zu machen. Sie bearbeiten Texte als Strategien, die in Reaktion mit der jeweiligen Umgebung entstanden sind. Diese Texte und Texturen (auch Fotos, Popsongs, virale Marketingvideos und Ähnliches) werden genau so platziert und verwendet wie Zitate von Siegfried Kracauer oder Guy Debord. Es gibt eine Ehrlichkeit in Sätzen wie „Weil ich es mir Wert bin“ (Werbeslogan von L’Oréal) die von Tiqqun als eigenständige Auseinandersetzung mit diesen kapitalistischen Gesellschaften ernst genommen werden.

Kommentierend möchte ich diesem Punkt eine Werbekampagne des Einkaufscenters City-Point/Drehscheibe in Bochum vorstellen, die mir 2012 aufgefallen ist.

Abb. 2: Werbekampagne des CityPoint/Drehscheibe-Einkaufszentrums in Bochum. Bildrechte: Zum Goldenen Hirschen / ECE.

Abb. 2: Werbekampagne des CityPoint/Drehscheibe-Einkaufszentrums in Bochum. Bildrechte: Zum Goldenen Hirschen / ECE.

Abb. 3: Werbekampagne des CityPoint/Drehscheibe-Einkaufszentrums in Bochum. Bildrechte: Zum Goldenen Hirschen / ECE.

Abb. 3: Werbekampagne des CityPoint/Drehscheibe-Einkaufszentrums in Bochum. Bildrechte: Zum Goldenen Hirschen / ECE.

Abb. 4: Werbekampagne des CityPoint/Drehscheibe-Einkaufszentrums in Bochum. Bildrechte: Zum Goldenen Hirschen / ECE.

Abb. 4: Werbekampagne des CityPoint/Drehscheibe-Einkaufszentrums in Bochum. Bildrechte: Zum Goldenen Hirschen / ECE.

Mama hat sich das verdient. Das Geschenk, die Gabe gibt es nicht mehr. Es wird als Selbstermächtigung, als wirkliche Wertschätzung wahrgenommen, jemandem seinen Lohn auszuzahlen, einen Tausch einzugehen. Die sozialen Beziehungen der Jungen-Mädchen sind Tausch-Beziehungen (Tiqqun 2009).

Tausch
Diese Tauschbeziehung kann nahezu alles. Ich kann einen Tisch gegen ein Schaf tauschen. Ich kann einen Tisch gegen Geld tauschen. Ich kann irgendetwas gegen Geld tauschen und Geld gegen irgendetwas tauschen. Ich kann Alles durch Alles austauschen, wenn ich den Geldweg nehme. Alles ist austauschbar.

Es scheint so als gäbe es kein Ganzes mehr, nur noch einzelne Organe, Elemente die sich zu etwas zusammensetzen lassen.. Und die kann ich jederzeit operieren, austauschen, reparieren. Das nennen Einige auch anpassungsfähig oder integrationswillig. Die Qualität von Klums Mädchen zum Beispiel ist die immer mögliche andere Komposition ihres Materials (Geste, Körper, Frisur, Blick, Bewegung, Mimik, Kleidung etc.). Sie sollen nicht Spezialistinnen* sein, sondern im besten Fall für die komplette Produktpalette einsatzfähig gemacht werden. Das soll ihre grundlegende Qualität sein: ihre Substanz ist der Tausch. Sie sind Ware.

Als weiteres Beispiel für systemstabilisierende Veränderung durch Tausch könnte man die Diskussion um die Ehe anführen: man ersetze hetero durch homo und aktualisiere damit eine patriarchale Struktur auf die Art und Weise, die das Bild an der Oberfläche unangreifbar macht. Man füge also der hegemonialen ökonomischen Komposition ein fortschrittliches Oberflächenelement hinzu. Fertig.

Abb. 5: Heterosexuelle Ehe (vereinfacht dargestellt)

Abb. 5: Heterosexuelle Ehe (vereinfacht dargestellt)

 

Abb. 6: Homosexuelle Ehe (vereinfacht dargestellt)

Abb. 6: Homosexuelle Ehe (vereinfacht dargestellt)

Dass dieses neue, fortschrittliche System immer noch Ausschlüsse produziert und Normen bestätigt, wird nicht mehr diskutiert. Eine Veränderung funktioniert auch hier nach dem Tauschprinzip: wenn ein System kritisiert, in Frage gestellt wird (in diesem Beispiel: Heteronormativität) dann erfolgt eine Reaktion nicht, indem die grundsätzliche Anordnung zur Diskussion gestellt wird. Einfacher und einfacher als Erfolg vermittelbar ist es, in der etablierten Anordnung lediglich ein Organ auszutauschen, zu verändern. Damit bleibt die Stabilität des altbewährten erhalten und trotzdem ist die Form, die Oberfläche eine fortschrittlichere, andere geworden. Das kritisierte Bild, das Ideal ist eigentlich das gleiche geblieben, aber man verwendet nun andere Farben dafür.

Abschließende Angebote

Was ist ein Bild?

Ein Bild von etwas zu haben, bedeutet, sich einen Idealzustand vorstellen zu können. Dieser Idealzustand ist imaginär: ich kann ihn mir vorstellen, aber als Ideal begegnet er mir so nicht, ich kann diesen Zustand auch nicht so produzieren (siehe dazu Lacan 1986). Dabei geht es um etwas mir Äußerliches, an dem ich mich orientieren kann, das aber etwas Anderes ist als mein Ich. Diese grundsätzliche Anordnung eines mir Äußerlichen impliziert auch, das etwas subjektiv Neues von Außen eine Veränderung hervorrufen kann.

Was ist ein Foto?

Das Foto ist der real-existierende Ästhetizismus. Noch das dokumentarischste, realistischste Kriegsfoto ist schön. Die einzelnen Elemente sind aufeinander abgestimmt durch Bildausschnitt, Farbe, Belichtung und seit einigen Jahren die digitale Bildbearbeitung. Aber nicht zum Er-Zeugnis einer Situation in der Welt. Sondern zu einem Er-Zeugnis des Bildes von der Welt. Umgekehrt gibt es keine Situation mehr, die nicht permanent von Smartphones bezeugt wird. Dabei sieht eine Katze aus wie die andere.

Was ist ein Subjekt in Bezug auf das Foto?

Wir sind Teil dieser Bild-Welt. Über den Zugriff an der Oberfläche, der Bildkomposition soll das Junge-Mädchen den eigenen Körper, das auf den ersten Blick sichtbare Benehmen disziplinieren. Es nimmt sich selbst als Objekt wahr. Auf der anderen Seite ermöglicht das Foto auch immer wieder die Gewissheit der eigenen Ganzheit. Als Spiegelstadium in Endlosschleife sozusagen. Mit Sicherheit sind die Erscheinungsformen unserer Realitäten komplexer geworden. Damit stellt sich auch unser Ich immer wieder auf die Probe. Wenn in der jüngeren digitalen Realität des Internets die sozialen Netzwerke vor Selbstporträts im Spiegel wimmeln, dann ist das eine Entwicklung des Selbst-Bildnisses, des Fotos, das es so noch nicht gab.

Interessant ist hierbei auch der Umstand, dass diese Bestätigung der eigenen Ganzheit sich auch auf Situationen übertragen lässt. Konzerte, Feiern, Alltäglichkeiten werden festgehalten, als würde man nicht die Situation erinnern wollen, sondern die Realität eines Moments festhalten wollen, eine Situation realer machen wollen.

Das Begehren des Jungen-Mädchen richtet sich auch hier auf sich Selbst. Es will und muss sich immer wieder als ein Ich dokumentieren. Diese festgehaltene, abgelichtete Realität ist dabei wirklicher als die eigene Selbstwahrnehmung. Vor allem für unsere Positionen in digitalen Realitäten. Es ist das Ziel des Jungen-Mädchen mit sich selbst identisch zu sein, und das bedeutet: mit seinem eigenen Foto identisch zu sein.

Das Er-Zeugnis dieses einzigartig-regelkonformen Ichs ist das Foto. An ihm können Oberflächenkompositionen durchgeführt werden. Tausche Lächeln, tausche Kleid, tausche Pose, tausche Partner*in, tausche Umgebung, tausche Licht, tausche Stimmung. Der Fortschritt von Klums Modelshow-Kandidatinnen* ist diese antrainierte Austauschbarkeit. Durch ihre genaue Kenntnis dieser austauschbaren Elemente sind sie immer wieder eine Andere. Nur wenn sie als Foto überzeugen, sind sie auch Model, werden sie weiter ausgebildet. Noch das Zufälligste, Lebendigste, Widerständigste wird im Foto zum Teil der Komposition und wird damit ein überprüfbarer Teil des Ichs.

Abschließende Thesen:

Das Foto er-zeugt von der / die Identität des Jungen-Mädchens.

Ob das Junge-Mädchen von anderen auf diesem Foto erkannt wird oder nicht, angerufen wird oder nicht, ist die Bestätigung oder Verweigerung seiner Existenz. „Ich habe heute leider kein Foto für dich“.

Die Tauschbeziehung des Jungen-Mädchens ist sein subjektives Handeln und die Show der Echoraum, aus dem das Junge-Mädchen seine Bildkomposition bezieht.

Quellen

  • Althusser, Louis. 1977. „Ideologie und ideologische Staatsapparate. Anmerkungen für eine Untersuchung.“ In ders. Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, hg. von Peter Schöttler, 108-153. Hamburg: VSA.
  • Lacan, Jaques. 1986. „Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion, wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint.“ In ders. Schriften I, 61-70. 2. Aufl. Olten: Walter.
  • Tiqqun. 2009. Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens. Berlin: Merve.

Abbildungen

  • Abb. 1: Tiqqun. 2009. Grundbausteine einer Theorie des Jungen-Mädchens. Berlin: Merve. 45. Bildrechte: Merve-Verlag. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Merve-Verlags.
  • Abb. 2-4: http://www.city-point-bochum.de, letzter Zugriff: 09.07.2013. Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung von ECE Projektmanagement G.m.b.H. & Co. KG, Drehscheibe / City-Point Bochum und Zum Goldenen Hirschen Hamburg GmbH. Bildrechte: Zum Goldenen Hirschen / ECE.
  • Abb. 5-6: Grafiken der Autorin.

Kathrin Ebmeier, geb. 1986, BA, studierte Theaterwissenschaft an der Ruhr-Universität Bochum und schließt derzeit ihr MA-Studium am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen ab. Arbeitsgebiete: Chortheater, Raumtheorie, Gender & Queer Studies und popkulturelle Forschung. Szenische Forschungen: Kollektive Produktionsweisen (Theaterkollektiv Anna Kpok seit 2009), Bilderpolitiken (iso 300, Film, Dortmund/Gießen 2013), performative Installationen ([citation needed], Bochum/ Gießen 2012; zwo*, Frankfurt a.M./Gießen 2013), Zwischenraumnutzungen/ Infrastrukturforschung (unter anderem exkurs.zwischenraum, Gießen, 2011/12; Ludwigstr. 6, Gießen, 2012/13; Schanzenstr. 1, Gießen, 2013/14).

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