Mimesis und Wiederholung. Zu Lacoue-Labarthes Lektüre von Diderots Paradox.

I Eine Frage der Probe

„Et savez-vous l’objet de ces répétitions si multipliées?“ (Diderot 1996, 1389) Kennen Sie den Zweck der vielen Proben? – das ist eine der vielen Fragen aus dem Paradoxe sur le comédien, das Denis Diderot zwischen 1770 und 1773 verfasst hat. Der Erste stellt sie seinem Gegenüber, dem Zweiten, und wie so oft in diesem Dialog der ungleichen Gesprächspartner wartet der Erste nicht auf eine Antwort des Zweiten, er hatte ohnehin keine Antwort mehr erwartet. Denn die Dynamik des Gesprächs ist an dieser Stelle, nach etwa fünfzehn Seiten im Text, bereits bestens etabliert:

das formal als Dialog ausgewiesene Sprechen ist von Anfang an mehr ein Monolog des Ersten mit sich selbst, der Zweite ist der argumentativ stets unterlegene Konterpart, oft nur Stichwortgeber oder Aufbereiter der Ausführungen des Ersten – auch wenn es einige wenige Stellen gibt, an denen die Anmerkungen des Zweiten den Ersten doch auf ungeahnte Weise herausfordern und auf das Ungelöste in dessen Rede hinweisen, ich werde darauf am Ende des Textes noch einmal zurückkommen.

Die Dominanz des Ersten hat Kommentatoren dazu bewegt, in ihm den Autor selbst, Diderot, zu sehen, der das Paradox spricht, und es gibt tatsächlich mehrere Textstellen, die diese Lektüre nahelegen. Dennoch muss man wohl darauf beharren, dass der Erste nichts anderes ist als der Erste, und auch der Zweite nichts anderes als der Zweite, das heißt Sprecher, die gerade durch die absolute Namenlosigkeit ihrer Namen, durch die Leere der Ziffern sprechen können. Das zumindest müsste man aus Philippe Lacoue-Labarthes Frage nach der Autorschaft des Paradoxes folgern, mit der er seine Lektüre beginnt: „Qui énonce le paradoxe?“ (1986b, 15) Lacoue-Labarthe wird seine Analyse beenden, ohne darauf eine Antwort zu geben, denn es kann, wie er sagt, darauf keine Antwort geben. Die Unmöglichkeit einer Antwort jedenfalls kann man in der Namenlosigkeit vom Ersten und vom Zweiten verorten. Es kann wohl niemand sein, es kann nur ein Niemand oder können nur zwei Niemande sein, nur zwei Figuren, die nichts sind außer die leere Hülle der theatralen Form des Dialogs, die vom Paradox sprechen können.

Und damit ist nur eine von einigen formalen wie inhaltlichen Vielschichtigkeiten angesprochen, die Diderots Text so rätselhaft, wenn nicht geheimnisvoll machen, dass er sich jeder eindeutig signifizierenden Lesart immerzu entzieht. Die Unabschließbarkeit des Textes bleibt damit der Horizont jeder Auseinandersetzung mit dem Paradox, will man es nicht seiner eigenen Verfasstheit berauben. Wie Marian Hobson es so lapidar wie unumgänglich festgehalten hat: „Le Paradoxe sur le comédien est un paradoxe.“ (Zit. n. Heeg 2000, 99) In diesem Sinn will ich mich der Frage des Ersten nähern, „Et savez-vous l’objet de ces répétitions si multipliées?“ – nicht um diese Frage zu beantworten, sondern um mit ihr eine weitere Facette des Paradoxes als Paradox erahnbar zu machen.

Die Frage nach dem Zweck der vielen Proben ist in einer spezifischen Passage eines längeren Monologs situiert, in dem der Erste von der Problematik des Zusammenspiels mehrerer Schauspieler spricht. Er sieht die Lösung des Problems in den Proben und wartet wie gesagt nicht auf eine Antwort des Zweiten, er gibt sie sich sogleich selbst. Die vielen Proben, sagt er, „[c]’est d’établir une balance entre les talents divers des acteurs, de manière qu’il en résulte une action générale qui soit une;“ (Diderot 1996, 1389) Dass da nämlich, einfach formuliert, nicht nur ein Schauspieler auf der Bühne steht, sondern oft mindestens zwei, und dass diese beiden in irgendeiner Weise sich zu einander verhalten müssen, ist sicherlich eine große Aufgabe für jede Theaterpraxis und bedürfte einer genauen Untersuchung. Ich glaube aber, dass die Frage nach dem Ziel der vielen Proben über die spezifische Stelle und Thematik hinausweist, in der sie auftaucht. Die Frage wird auch an mehreren anderen Stellen in Diderots Paradox implizit verhandelt und an diesen anderen Stellen wird ihre gesamte Tragweite offenbart, die zutiefst das Paradox berührt. Denn mit der Frage nach den Proben steht viel mehr auf dem Spiel als das Zusammenwirken der Akteure. Diderot hebt so stark wie wohl kein anderer die Schwierigkeit hervor, von der die Praxis und das Konzept der Probe bestimmt ist. In seinem Text ist ein unglaublich luzides Bewusstsein für das Problem vorhanden, auf das die Probe reagieren soll. Es lässt sich mit folgenden Fragen umkreisen: warum proben wir im Theater eigentlich so viel?, das heißt vor allem mit Blick auf das französische répétition zuallererst: warum wiederholen wir eigentlich so viel? Warum wiederholen wir vor der Aufführung, das heißt in den Proben so oft, was wir in der Aufführung zeigen wollen? Und, darüber hinaus, aber damit verbunden, warum wiederholen wir im Theater auch Aufführungen?

All diese Fragen betreffen nicht nur das schauspielerische Machen, sondern allgemeiner die Zeitlichkeit des Theaters und um die Subjektivität des Schauspielers als wesentlich durch die Zeit des Theaters bestimmte. Es sind darüber hinaus Fragen, die, und deshalb habe ich sie in der Wir-Form gestellt, relevant sind für das Theater der Gegenwart, trotz der historischen Unterschiede zwischen Diderots Probenbegriff und der Probenpaxis der Gegenwart. Mehr noch, nicht nur das gegenwärtige Theater, auch Tanz und Performance sind heute in ihrer Produktion von der Wiederholung bestimmt. Egal, ob Schauspieler, Tänzer oder Performer, sie alle proben heute Wochen oder Monate lang, sie alle spielen die Aufführungen ihrer Projekte mehrere Male. Auszunehmen wären einzig jene Performance-Praktiken, die in der Tradition der Performance Art gerade ohne jede Wiederholung zu arbeiten versuchen und die absolute Einmaligkeit des Aufführungsereignisses behaupten, die aber gerade deshalb ex negativo nur umso stärker auf die Wiederholung und alles, was mit ihr im Spiel ist, bezogen bleiben; auch das ist allerdings ein Aspekt, der gesondert zu behandeln wäre. Die angedeutete Parallele von Diderot und dem Theater der Gegenwart spricht jedenfalls nicht so sehr für die Aktualität Diderots, sondern umgekehrt eher dafür, dass wir heute gewissermaßen sehr alt sind und deshalb immer noch sehr modern, weil wir immer noch mit einer Herausforderung kämpfen, die Diderot als früher Moderner schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts so pointiert in eine Frage verpackt hat. „Et savez-vous l’objet de ces répétitions si multipliées?“, das wäre mithin eine Kernfrage für die Produktionsanalyse oder Probenforschung der Theaterwissenschaft. Der Stellenwert der Probe und der Wiederholung sind vielleicht der blinde Fleck in der zeitgenössischen Praxis, der die Ästhetik des Theaters auf unsichtbare Weise so stark prägt wie kaum ein anderer Produktionsmechanismus.

Die volle Dimension der Probe, der Wiederholung und der Zeitlichkeit in Diderots Paradox  wird allerdings erst ermessbar, wenn man jenes ungleich größere Problemfeld des Theaters hinzuzieht, mit dem dessen gesamte Theoretisierung in der Antike begann: das der Mimesis. Und derjenige, der so sehr wie kein anderer dazu beigetragen hat, die Bedeutung der Mimesis für das Paradox zu erhellen, ist natürlich der schon erwähnte Philippe Lacoue-Labarthe. Mit seiner Analyse von Diderots Schrift, die er 1979 in dem Vortrag mit dem programmatischen Titel Paradox und Mimesis entfaltete, werde ich einsteigen, um mich davon ausgehend an die oben gestellten Fragen zu wenden.

II Die Mimesis des Schauspielers
Diderots Paradoxe sur le comédien ist für Lacoue-Labarthe nicht irgendeine Schrift zur Mimesis, sie hat, wie er schreibt, „à bien des égards” zu gelten als “le texte «matriciel» de la moderne réélaboration de la question de la mimèsis.” (1986a, 10, Herv. i. O.). Denn Lacoue-Labarthes These lautet, dass die Logik des Paradoxes nichts anderes ist als die Logik der Mimesis selbst. Die herkömmliche Auffassung vom Paradox, die etwa Jens Roselt folgendermaßen zusammenfasst: „Schauspieler können Gefühle auf der Bühne nur dann glaubhaft vermitteln, wenn sie dabei emotional völlig unberührt, also kalt bleiben“ (2009, 134f.), eben diese Lesart des Paradoxes greift nach Lacoue-Labarthe zu kurz, weil sie nur den Effekt des tatsächlich zugrundeliegenden Paradoxes der Mimesis ausdrückt. Die Aufgabe des Schauspielers, des „grand comédien“ (erstmals Diderot 1996, 1378) besteht nämlich zuallererst nicht darin, auf der Bühne Empfindungen oder Empfindsamkeit nachahmen zu können, sondern darin, eine Rolle zu spielen, das heißt, einen anderen zu spielen als denjenigen, der er selbst ist. Darüber hinaus hat er die Aufgabe, nicht nur einen anderen zu spielen, sondern potentiell jeden Menschen nachahmen zu können, kurz: alles spielen zu können, was sich nur spielen lässt. Um dies zu erreichen, muss der Schauspieler paradoxerweise sich selbst negieren, er muss selbst nichts werden, muss vollkommen substanzlos, essenzlos, uneigentlich werden, um alles sein zu können. “Le paradoxe tient donc en ceci”, schreibt Lacoue-Labarthe: “pour tout faire, tout imiter – pour tout (re)présenter ou tout (re)produire, au sens le plus fort –, il faut n’être rien par soi-même, n’avoir rien en propre, sinon une «égale aptitude» à toutes sortes de choses, de rôles, de caractères, de fonctions, de personnages, etc.“ (1986b, 27, Herv. i. O.)

Lacoue-Labarthe belegt seine These unter anderem anhand folgender Textstelle, die besonders eindrucksvoll ist: der Zweite resümiert, wieder einmal, was der Erste gerade eben gesagt hatte: „A vous entendre, le grand comédien est tout et n’est rien.“ Darauf der Erste: „Et peut-être est-ce parce qu’il n’est rien qu’il est tout par excellence, sa forme particulère ne contrariant jamais les formes étrangeres qu’il doit prendre.“ (Diderot 1996, 1401) In dem Momentum, alles sein zu können, liegt ein qualitativer Sprung in der Mimesis, denn die Möglichkeitsbedingung des Vermögens, alle möglichen Rollen hervorbringen zu können, liegt in der Kraft begründet, die Hervorbringung selbst hervorbringen zu können. Der große Schauspieler ahmt nicht mehr ausschließlich die Phänomene der Natur nach, sondern das Prinzip der Natur selbst, ihre Kraft zur Schöpfung der Phänomene. Lacoue-Labarthe schreibt, der Schauspieler wird

don de rien, si ce n’est de l‘«aptitude» à présenter, c’est à dire à se substituer à la nature elle-même, à se faire (la) nature, pour, à l’aide de sa force et de son pouvoir propres, suppléer à son incapacité et mener à terme, effectuer ce qu’elle ne peut mettre en œuvre – ce à quoi son énergie, sans relais, ne peut suffire. (1986b, 28, Herv. i. O.)

Was Lacoue-Labarthe allerdings zu wenig akzentuiert, ist, dass es zur Vervollkommnung der Natur noch eines weiteren Elements bedarf. In der Gabe der Kraft liegt zwar das Potential zur Perfektion der Natur, damit es realisiert wird, muss allerdings die Einsetzung dessen hinzutreten, was Diderot das „modèle idéal“ nennt (erstmals 1380): kein Abbild der Natur, sondern ein Inbild der Natur, das der Schauspieler mit seiner Einbildungskraft entwirft, das heißt kein natürlich gegebenes, sondern ein menschliches, ein künstliches, rational geschaffenes Ideal; wobei man, wie etwa Günther Heeg ausgeführt hat, dieses modèle idéal nicht platonisch verstehen darf, denn Diderot versteht das Ideal zunächst als die Summe aus der Beobachtung aller empirisch bestehenden Naturphänomene und ihrer Eigenschaften (2000, 112ff). Führt der Schauspieler jedenfalls die schöpferische Kraft diesem idealen Modell zu, dann vollendet er die Natur. Im Paradox ist damit, wie Lacoue-Labarthe schreibt, ein unüberhörbares Echo jenes Paradigmas der Mimesis vernehmbar, das von Aristoteles ausgeht und nach dem die téchne die physis nicht nur nach nachahmt, sondern sie zugleich vervollkommnet (1986b, 23).

Was hat all das nun mit der Frage nach dem Zweck der vielen Proben zu tun? Erstaunlicherweise streift Lacoue-Labarthe in seiner Lektüre des Paradox die Fragen von Probe, Wiederholung und der Zeitlichkeit höchstens, wenn auch auf bedeutende Weise, und zwar mit dem Begriff des Gegenwärtigens. Er legt damit eine erste Fährte: die Zeit der Mimesis ist eine Zeit der Vergegenwärtigung – das wird auf Diderot, wie ich zeigen möchte, in einem ganz bestimmten Sinn zutreffen. Mehr allerdings erfährt man darüber in Lacoue-Labarthes Text nicht. Man kann über dieses Schweigen Lacoue-Labarthes zur Bedeutung von Wiederholung und Zeit bei Diderot nur mutmaßen, es ist jedenfalls insofern verwunderlich, als Lacoue-Labarthe bei einem anderen modernen Denker der Mimesis die Zeitlichkeit geradezu im Zentrum der Angelegenheit annimmt, und zwar in seiner Beschäftigung mit dem eigentlichen Helden seines Mimesis-Projekts, dem tragischen oder besser: nicht mehr tragischen Helden dieses Projekts, nämlich Hölderlin. Auch wenn ich auf Lacoue-Labarthes Hölderlin-Rezeption an dieser Stelle nicht weiter eingehen kann, möchte ich erwähnen, dass sie mir den Horizont dessen eröffnet hat, was ich im Folgenden zu Diderot zu entwickeln versuche.

III Die Wiederholung der Mimesis
Noch einmal zurück zum Anfang von Diderots Text. An einer bekannten Stelle, gleich nachdem der Erste zum ersten Mal artikuliert hat, dass der Schauspieler über gleiches Vermögen für alle möglichen Rollen verfügen muss, spricht er indirekt an, was die vielen Proben notwendig macht. Er sagt:

Si le comédien était sensible, de bonne foi lui serait-il permis de jouer deux fois de suite un même rôle avec la même chaleur er le même succès? Très chaud à la première représentation, il serait épuisé et froid comme un marbre à la troisième. Au lieu qu’imitateur attentif et disciple réfléchi de la nature, la première fois qu’il se présentera sur la scène sous le nom d’Auguste, de Cinna, d’Orosmane, d’Agamemnon, de Mohamet, copiste rigoureux de lui-même ou de ses études, […].“ (1996, 1380)

Auch hier ist die Frage der Empfindsamkeit nur der Effekt eines anderen Problems, das ungleich grundlegender für das Theater ist und zugleich ungleich einfacher: der Schauspieler muss nicht nur eine Aufführung, sondern viele Aufführungen ein und derselben Inszenierung spielen. Dass eine einzige Aufführung nicht ausreicht, dass sich das Theater immer mehrmals zeigen muss, ist auf die zeitliche Verfasstheit des Theaters zurückzuführen, denn das Theater ist schließlich im wahrsten Sinn des Wortes eine Kunst der Zeit: die einzige Zeit, in der es sich präsentiert und für das Publikum wahrnehmbar wird, ist die Gegenwart. Es existiert nur in der Aufführung als einem flüchtigen, ephemeren Gegenstand.

Diese Exklusivität der Theaterzeit lässt sich zweifach akzentuieren, wobei die zwei Akzente in ihrem Inneren verbunden sind, und zwar durch ein gewissermaßen selbst paradoxes Verhältnis. Zum einen ist das Theater aufgrund des Modus seines Erscheinens der prädestinierte Auftrittsort der Unmittelbarkeit, der Präsenz. Nachdem es nur im Moment sichtbar wird, ist es in diesem Moment voll gegenwärtig und erfahrbar. Zum anderen aber ist diese Unmittelbarkeit wiederum nur möglich durch das immer simultan sich ankündigende Verschwinden der Gegenwart. Nur weil der Moment, so wie er da ist, auch schon wieder weg ist, kann er als gesteigerte Erfahrung der Zeit fungieren. Nur weil die Aufführung, sobald sie endet, auch schon unwiederbringlich vergangen ist, erhält der Moment ihres Erscheinens retrospektiv den Glanz der Präsenz. Letztlich ist die Möglichkeitsbedingung der Unmittelbarkeit also nichts weniger als die radikale Bezogenheit auf das Ende der Zeit, den Tod. Die Gegenwart, die Zeit selbst wird erst durch ihr absolutes Außen konstituiert, den selbst nie gegenwärtigen Tod. Damit ist die absolute Anwesenheit im Moment nie als solche vorhanden, sondern immer schon selbst gespalten durch die Abwesenheit, die sie bedingt.

Die Konsequenz für das Theater ist deshalb so simpel wie tiefgreifend: die Aufführung muss, weil nicht sie von Dauer ist, wiederholt werden, um immer wieder sichtbar zu werden, und sie muss, weil sie in ihrer Gegenwart schon von der ihrem Ende durchzogen ist, geprobt werden, um wiederholbar zu sein – das ist letztlich der Kontext, in dem die Frage des Ersten nach dem Zweck der vielen Proben ihre volle Bedeutung entfaltet.

Das Subjekt, das mit dieser Komplexität der Theaterzeit zu kämpfen hat und in dem sie sich verkörpert, ist niemand anderer als der Schauspieler. Der Schauspieler ist gewissermaßen das paradigmatische Subjekt der Endlichkeit, weil alles, was dieses Subjekt macht und was es ausmacht, verloren ist, sobald es aufhört zu spielen. Die gesamte Kunst des Schauspielers hat keinen Bestand über die Zeit seines Machens hinaus und ist auf die absolute Endlichkeit seiner Aktivität und seiner Subjektivität bezogen. Dennoch soll und kann in Diderots Paradox niemand anderer als der Schauspieler selbst es zustande bringen, gerade diese Endlichkeit seiner Verfasstheit zu überwinden. Er soll seine Leistung, wie der Erste sagt, nicht nur einmal zufällig in einer Aufführung abrufen, sondern in vielen Aufführungen, immer und immer wieder, letztlich also in jeder Aufführung, die er spielt. In der radikalsten Konsequenz wird deshalb von ihm verlangt, dass er jederzeit, zu jedem beliebigen Zeitpunkt, wann auch immer eine Aufführung stattfindet, das unmögliche Kunststück vollbringen kann, in dem das Paradox besteht. Er soll immer und jederzeit nichts werden können, um alles spielen zu können und zu einem idealen Modell der Natur zu werden.

Auf diese Weise sind die Problemfelder der Mimesis und der Zeitlichkeit in Diderots Paradox verbunden: die Mimesis ist nicht nur eine Zeit des Gegenwärtigens, wie Lacoue-Labarthe sagt, mehr noch ist sie eine Zeit des immerwährenden Gegenwärtigens, es ist eine Zeit der absoluten Gegenwart ohne Ende, eine Zeit der ungebrochenen Präsenz. In dem unbedingten Streben, der Flüchtigkeit des Theaters zu begegnen, entwirft der Erste eine Zeit, die sich gewissermaßen selbst abschafft, weil sie nicht mehr vom Tod determiniert ist. Das zeitliche Phantasma des Paradoxes ist deshalb nicht weniger, als dass der Schauspieler seine eigene Endlichkeit transzendiert, dass er letztlich unendlich, ja unsterblich wird.

Die vielen Proben, das strenge Studium und die oftmalige Wiederholung sollen das Verfahren für die Überschreitung der Endlichkeit darstellen. Wie groß das Ausmaß der notwendigen Proben sein kann, erwähnt der Erste in einer weniger bekannten Passage in der Mitte des Textes. Er erzählt dort von einem Fall, bei dem sechs Monate Proben zum Erfolg nötig waren:

Il [ein neapolitanischer Dichter] exerce ses acteurs pendant six mois, ensemble et séparément. Et quand imaginez-vous que la troupe commence à jouer, à s’entendre à s’acheminer vers le point de perfection qu’il exige? C’est lorsque les acteurs sont épuisés de la fatigue de ces répétitions multipliées, ce que nous appelons blasès. De cet instant les progrès sont surprenants, chacun s’identifie avec son personnage; et c’est à la suite de ce pénible exercice que les représentations commencent et se continuent pendant six autres mois de suite, […]“ (1416. Meine Herv.)

Dieses Beispiel einer Theaterproduktion führt zum Kern des Paradoxes in seiner zeitlichen Dimension. In den vielen Proben ist, dem Beispiel folgend, ein doppelläufiger Prozess am Werk: durch die sechs Monate lange Wiederholung stumpft der Schauspieler ab, er erschöpft sich, das heißt er löscht sich aus und aktiviert zugleich das Potential, alles zu sein. Er lernt  dieses Potential einem idealem Modell zuzuführen, das er schließlich, wie es heißt, in jeder Aufführung für weitere sechs Monate abrufen kann. Aus dieser Dynamik lässt sich der entscheidende Punkt ableiten. Denn wenn Lacoue-Labarthe sagt, dass das Paradox darin besteht, dass der Schauspieler nichts werden muss, um alles sein zu können, dann lässt sich diese Aussage nun in Hinblick auf die Zeitlichkeit der schauspielerischen Subjektivität zuspitzen. Das Paradox lautet dann, und das ist meine These: der Schauspieler muss sich töten, um unsterblich zu sein. Er muss seine Endlichkeit überwinden, indem er den Tod radikal bejaht und dadurch überwindet. Nur wenn er tot ist, nur wenn er also dauerhaft nichts ist, kann er immer alles sein. Nur wenn er nicht mehr nach jeder Ausführung das mimetische Potential, alles zu sein, an die Gegenwart verliert, sondern unendlich behält, nur dann kann er jederzeit, in jeder Aufführung das Potential hervorrufen und in dem Ideal der Natur aktualisieren. Der Schauspieler muss also tot sein, um nicht dem Problem seiner Praxis ausgesetzt zu sein, dass sie nur in der Gegenwart existiert. Und die vielen Proben sind das Mittel, mit dem dieser Tod herbeigeführt werden soll. Proben heißt bei Diderot demnach sterben lernen, sterben lernen, um unsterblich zu werden. Das Paradox gehorcht in diesem Sinn einer zutiefst spekulativen Logik, beziehungsweise muss man sagen, dass vielmehr umgekehrt, wie Lacoue-Labarthe herausgearbeitet hat, die Spekulation ihre Logik aus der Struktur der Mimesis erhalten hat, aber ich kann darauf nicht näher eingehen, sondern will das Argument noch etwas vertiefen.

Inwiefern kann man bei Diderot tatsächlich vom Tod sprechen, von einem toten Schauspieler, und inwiefern von Unsterblichkeit? Der Schauspieler als Leiche fungiert als absolute Grenze dieser Vorstellung, wird aber von Diderot nicht aufgegriffen. Der Schauspieler tötet sich in den langen Proben in dem Sinn, dass er seine Empfindsamkeit durch etliche Wiederholungen vollkommen abstumpft, seinen Körper vollkommen erschöpft und damit zu einer Marionette ohne jedes Eigenleben macht. Diderot bringt den Begriff selbst ins Spiel: über die Schauspielern Clairon, das wenn man so will paradox gelebte Ideal des großen Schauspielers, schreibt er etwa, dass sie „l’âme d’un grand mannequin“ ist (1381). Die Seele, das ist eben das ideale Modell, das als Zielpunkt der Verwandlung zur Marionette fungiert. Der Schauspieler versucht seine leblosen Glieder an diesem idealen Modell auszurichten und sie identisch mit ihm zu machen, sodass der Marionetten-Körper schließlich einem Modell dient, das, weil ideal, weil rational geschaffen, auch unsterblich ist. Die Identität mit dem Modell steht als absoluter Garant für die Unsterblichkeit ein, denn das Modell ist von der Empfindsamkeit des Körpers unabhängig, existiert autonom und ist im Geist jederzeit abrufbar, das heißt, in jeder Aufführung abrufbar. In dieser Hinsicht überschreitet Diderots ideales Modell übrigens letztlich doch die Natur und die Summe ihrer Eigenschaften, denn die vollkommene Natur besiegt im Paradox auch das Gesetz der Endlichkeit. Auf die Identität mit dem Modell müssen sich jedenfalls alle Anstrengungen des Schauspielers ausrichten, denn nur in diesem Einswerden ist die Loslösung von der Sterblichkeit des Körpers in Aussicht. Es lässt sich zusammenfassen: der große Schauspieler des Paradoxe sur le comédien ist eine Gliederpuppe, die von einem Geist regiert wird.

In der Aufführung aber soll von den vielen Proben letztlich nichts mehr zu sehen sein, stattdessen soll der Schauspieler Illusion herstellen. Es ist nicht nur die Illusion, ein anderer zu sein oder die Illusion, ein Ideal darzustellen, sondern in zeitlicher Hinsicht die Illusion der Präsenz, der Unmittelbarkeit. Die Wiederholung ist demnach ein Mittel der Produktion, das sich selbst in der Aufführung, die wiederum nur eine weitere Wiederholung ist, unsichtbar machen muss, um für die Rezeption den Schein der vollkommenen Gegenwart zu produzieren. Die Gemachtheit der Unmittelbarkeit, die Mimesis als téchne muss verdeckt werden, um als bloße physis zu erscheinen.

IV Unmöglich scheitern
Diderot entwirft den Schauspieler letztlich als ein eigenmächtiges Subjekt, ein Subjekt, das  am Schluss seiner Verwandlung in ein Modell idealerweise kein Subjekt mehr ist, weil es sich nicht unterwirft, sondern alles sich unterwirft. Der Schauspieler ist omnipotent und omnipräsent, er kann jederzeit alles sein. Seine Mimesis ist eine aktive, vollkommen selbstbeherrschte. Was damit auch in Hinblick auf die Politik des Theaters auf dem Spiel steht, benennt wiederum Lacoue-Labarthe eindeutig: es geht um die Souveränität des Subjekts. Lacoue-Labarthe schreibt, „le génie impassible que décrit Bordeu dans Le Rêve de d’Alembert en des termes rigoureusement identiques «régnera sur lui-même et sur tout ce qui l’environne. Il ne craindra pas la mort» (1986b, 34). Und man kann nach dem bisher Gesagten hinzufügen: es wird den Tod nicht mehr fürchten, weil es sich selbst tötet und dadurch unsterblich wird. Die Formel lautet: Souveränität durch Unsterblichkeit.

Allerdings, die Unsterblichkeit des Schauspielers ist zumindest stets prekär. Sie wird von zumindest zwei Seiten bedroht: einmal vom Körper und seiner Empfindsamkeit. Wie Heeg schreibt, ist der Schauspieler eben nicht Skulptur, ist nicht „toter Stein“ (2000, 117), sondern immer noch Körper, der als widerständiges Material im Spiel bleibt, so sehr man auch probt, zum idealen Modell zu werden. Der Körper und seine Empfindsamkeit eröffnen eine andere Mimesis, eine Mimesis, die der Erste des Dialogs fürchtet, weil sie nicht kontrollierbar ist: es ist eine passive Mimesis, in welcher der Schauspieler vom Gefühl, von der Begeisterung, vom Enthusiasmus hinfortgerissen wird und auf diese Weise ein anderer wird. Sie lässt sich nicht jederzeit beliebig wiederholen, sie lässt sich nicht vom Subjekt beherrschen, denn sie gehorcht nur dem Eigenleben des Körpers. Die Gefahr droht aber nicht nur vom Körper, der nicht ganz tot zu kriegen ist, sondern auch von innen, vom idealen Modell selbst. Der Erste hat ein genaues Bewusstsein davon, denn er nennt das ideale Modell auch ein „grand fantôme“ (Diderot 1996, 1381), und sagt an einer bekannten Stelle, dass der große Schauspieler, hat er sich dem idealen Modell größtmöglich angeglichen, nicht mehr selbst handelt, sondern es handelt in ihm „l’esprit d’un autre qui le domine.“ (1415) Was hier droht, ist nichts anderes als eine weitere Passivität, nämlich der Wahnsinn: das Phantom kann sich verselbstständigen, es kann der Gewalt des Schauspielers entwischen, den Geist des Schauspielers und ebenso die Aussicht auf Kontrolle und Wiederholbarkeit seiner Aktivität hin fortnehmen.

Zuletzt muss äußerst fraglich bleiben, ob die Unsterblichkeit des Schauspielers überhaupt je erreicht werden kann, ob sie nicht vielmehr selbst ein unmögliches Ideal ist – und eben deshalb ein Paradox. Anders gesagt: nur als unmögliches Paradox kann die Unsterblichkeit des Schauspielers bestehen. Im Dialog gibt es auch davon mehr als nur eine Ahnung. Einmal sagt der Erste, „qu’ils“, die Laute eines Schauspielers,

ne satisfont à toutes les conditions requises que par une longue étude; qu’ils sont concourent à la solution d’un problème proposé; que pour être poussés juste, ils ont été répétés cent fois, et que malgré ces fréquentes répétitions, on les manque encore; (1383f., meine Herv.)

Nicht nur, dass selbst mehr als hundert Wiederholungen nicht ausreichen, um sicherzustellen, dass nicht doch in einer Aufführung die Mimesis misslingt; was sich in dieser Stelle andeutet ist, dass die Wiederholung selbst ist kein sicheres Verfahren ist, dass die Wiederholung selbst scheitern kann. Die Wiederholung ist also nicht so sehr nur Mittel zur Herstellung der Unsterblichkeit, sie ist zugleich immer der Ausweis dafür, dass es sich dabei um ein endloses Projekt handelt, das immer in der Schwebe bleiben muss. Man könnte im Übrigen auch die Performativität von Diderots Text selbst als Beleg dafür geltend machen: denn warum muss der Erste eigentlich immer und immer wieder seine These wiederholen, warum ist also die Wiederholung selbst ein bedeutendes Prinzip des Textes, wenn nicht deshalb, weil sich das Ideal des großen Schauspielers eben immer nur unabschließbar als Paradox umkreisen ließe.

Endgültig als unmögliches Paradox pointiert wird das Programm des Ersten schließlich durch eine ganz einfache, kurze Replik des Zweiten gegen Ende des Dialogs. Es handelt sich hier, wie zu Beginn angedeutet, um einen von jenen Momenten, in denen der ansonsten so zweitrangige Zweite mit einer simplen Frage die Unmöglichkeit des Ausführungen seines Gegenübers offenlegt.

LE SECOND. – Il ne me reste qu’une question à vous faire.
LE PREMIER. – Faites.
LE SECOND. – Avez-vous vu jamais une pièce entière parfaitement jouée?
LE PREMIER. – Ma foi, je ne m’en souviens pas… Mais attendez… Qui, quelquefois une pièce mediocre, par des acteurs médiocres. (1421)

Dass also das Paradox immer paradox ist, stellt der Text selbst augenscheinlich aus, und er kann das insbesondere durch das Format des Dialogs. Nur im Dialog, so scheint es, kann sich das Paradox artikulieren.

Vor allem in seiner Paradoxie ist das Paradox für die zeitgenössische Praxis bedeutsam: nicht nur, dass Diderot die Flüchtigkeit und Endlichkeit des Theaters so einzigartig zum Thema macht, mit der sich jedes aktuelle Theaterprojekt, egal ob Schauspiel, Tanz oder Performance gezwungenermaßen beschäftigen muss. Nicht nur dass jeder Schauspieler, jeder Tänzer, jeder Performer sich fragen muss, ob er sich in den Proben ein imaginäres Vorbild schafft, wie er spielen oder tanzen will, um dieses Vorbild in den Aufführungen möglichst genau umzusetzen – und wenn nicht, welches andere Verhältnis von Geprobtem und Gezeigtem er dann umzusetzen sucht. Nicht nur, dass sich jeder Theatermacher fragen muss, ob er in der Aufführung die Proben reflektiert und damit die Gemachtheit des Theaterabends ins Spiel bringt. Darüber hinaus muss sich jeder Akteur dem stellen, was das Paradox ausdrückt: die Möglichkeit des Scheiterns der Mimesis, des Scheiterns der Aktivierung der Kraft, die Möglichkeit des Einbrechens der Endlichkeit, der Abwesenheit in die Aufführung. In der Akzeptanz des möglichen Scheiterns und im spielerischen Umgang damit liegt wohl ein Aspekt einer anderen Politik des Theaters. Einer Politik, die nicht im Zeichen der Umsetzung von Souveränität steht. Einer Politik, die sich der Furcht annimmt, die nach Lacoue-Labarthe den sozio-politischen Hintergrund von Diderots Paradox ausmacht, nämlich der Furcht vor „le mouvement panique de la dissolution du lien social“ (1986b, 34). Denn mit der Mimesis ist nicht zuletzt immer schon die Frage nach der Gemeinschaft gestellt – und ob das Scheitern, die Endlichkeit, der Tod darin Platz haben oder nicht.

Quellen

  • Diderot, Denis. 1996. „Paradoxe sur le comédien.“ In ders. Œuvres, Tome IV, Esthétique – Théâtre, hg. von Laurent Versini, 1377-1426. Paris: Robert Laffont.
  • Heeg, Günther. 2000. Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.: Stromfeld.
  • Lacoue-Labarthe, Philippe. 1986a. „Avant-propos.“ In ders. L’imitation des Modernes. Typographies 2. 9-11. Paris: Galilée.
  • Lacoue-Labarthe, Philippe. 1986b. „Le paradoxe et la mimésis.“ In ders. L’imitation des Modernes. Typographies 2. 15-36. Paris: Galilée.
  • Roselt, Jens. 2009. „Schauspieler mit Verstand – Denis Diderot.“ In Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock- bis zum postdramatischen Theater, hg. von demselben, 134-136. 2. Aufl. Berlin: Alexander Verlag.

Georg Döcker, geb. 1988 in Wien, ist derzeit MA-Student am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen, wo er zuletzt auch als studentische Hilfskraft und Tutor tätig war. Mit Prof. Dr. Gerald Siegmund gründete und leitete er 2013 die studentische Tagung theôría, aus der die vorliegende Ausgabe von Thewis hervorging. Neben dem Studium unter anderem künstlerischer Mitarbeiter und Produktionsassistent von Laurent Chétouane und Martin Nachbar. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Subjektivität in Tanz und Theater der Gegenwart, Antonin Artaud, Mimesis, Dramaturgie, Probenforschung und Produktionsästhetik. Im Erscheinen: „Eine andere Grazie. Zur Aktualisierung der Diagonale in Laurent Chétouanes Tanzperformance horizon(s).Bühne: Realität, Geschichte und Aktualität raumbildender Prozesse. Hgs. Norbert Eke, Irina Kaldrack, und Ulrike Haß. München: Fink.

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