Lenz und die Künste | Notizen zu Zeichnungen von Jakob Michael Reinhold Lenz

Für eine intensive Beschäftigung mit Jakob Michael Reinhold Lenz ist die Auseinandersetzung mit dessen Manuskripten unabdingbar. Sein Figurenkosmos, seine Aufzeichnungen, seine teils fragmentarischen Texte – aus diesen Elementen bildet sich mosaikartig ein spannungsvolles Gesamtwerk heraus, zu dem die handschriftlichen Aufzeichnungen dazugehören. Ein Gesamtwerk, das hier in einem sehr wörtlichen Sinne auch als ‚Gesamtkunstwerk‘ verstanden werden kann: In den erhaltenen Manuskripten verlieren sich Textfetzen in seitenfüllenden Zeichnungen, einzelne grafische Skizzen stehen Spalier für penibel ausgeschriebene Textblöcke oder illustrieren Theaterszenen – häufig ergibt sich in den Arbeiten von Lenz erst aus der Summe der Text- und Bild-Puzzleteile das große Ganze.
In vielen Texten von Lenz – egal, welcher Gattung sie zugerechnet werden – finden sich Zeichnungen, die er seinen Arbeiten hinzugefügt hat.[1] Beispielhaft für dieses von Lenz häufig angewandte „Ineinander von Schrift und Zeichnung“[2] ist seine „Wörterklaviatur“[3]. Bei dieser Zeichnung handelt es sich um eine „komplexe Wörterstudientabelle“[4], in der Lenz schematisch Laute und Wörter auf einer Klaviertastatur anordnete. Auf den einzelnen Tasten, von denen einige freigelassen wurden, finden sich Vokabeln vieler verschiedener Sprachen. Die jeweilige Anordnung auf Halb- und Volltönen suggeriert dabei bestimmte Bezüge und (klangliche) Verwendungsmöglichkeiten der Wörter. Lenz ging es um die Verdeutlichung von kindlichem Muttersprachenerwerb und der Frage nach den ursprünglichen Zusammenhängen unterschiedlicher Sprachen.[5] Diese „etymologische[n] Teilbeobachtungen“[6] schlagen sich nicht etwa in einer rein textlichen Abhandlung nieder, sondern in eben jener grafischen, leichtfüßigen und musikalisch inspirierten Anordnung der Wörter – nicht umsonst wird die Wörterklaviatur aufgrund ihrer vermeintlich einfachen Zugänglichkeit zuweilen auch als „spielerisches Lerninstrument“[7] gedeutet. Lenz scheint sich die entsprechenden „semantisch-symbolischen bzw. mythologischen ‚Beziehungsfelder‘“[8], die er in der Klaviatur darstellt, also im wahrsten Wortsinn zuvor im Kopf ausgemalt zu haben – um sie dann in einer grafischen Form auf Papier zu bringen. Für Lenz sind die angesprochenen Bezüge – mögen sie motivischer, thematischer oder etymologischer Natur sein – dabei „immer bedeutungstragend, auch wenn ihm ihre Entschlüsselung häufig entgleitet.“[9]
Die Klaviatur rekurriert auch insofern auf jenes angesprochene Gesamtkunstwerk, als dass sie eine „potentielle Gesamtstruktur von (narrativen) Elementen darstellt, in der Figuren, Handlungen und Gegenstände einander zugeordnet werden“[10]. Die Wörterklaviatur kann also beispielhaft für die Verbindung von Lenz’ literarischer Tätigkeit und seinen bildend-künstlerischen Versuchen stehen. In ihr zeigt sich, dass Erzählung – die Wörterklaviatur wird auch als „Narrationsmaschine“[11] verstanden – und bildhafte Überlegungen bei Lenz enge Verknüpfungen aufweisen. Die Narrativkonstellationen, derer sich Lenz bedient, macht er sichtbar in jener Maschine, in der sich „Ketten bzw. Äquivalenzklassen von
(Kollektiv-)Symbolen, Stereotypen und elementar-ideologischen Werten“[12] bilden und aus denen sich somit Grundgerüste für Lenz-typische Erzählungen generieren lassen.

Die zeitgenössische Vorstellung von Zeichnungen wird im 18. Jahrhundert im Wesentlichen vom Kupferstich dominiert. In Kupfersticharbeiten prägen – primär aus technischen Gründen – klar gezogene Konturen und Schraffuren in exakten 180-, 90- oder 45-Grad-Winkeln die Erscheinung von Figuren und Landschaften. Die entstandenen Bilder orientieren sich zumeist an anatomisch genauen Maßen sowie an realen Proportionen und Perspektiven. Lenz’ Skizzen, die immer wieder zwischen seinen Aufzeichnungen und Schriften zu finden sind, brechen mit eben dieser Erwartungshaltung: Zu sehen sind kleine grafische Arbeiten, die mit selbstbewusst flottem Strich gezeichnet, fast geschmiert wurden. Sie ergeben sich aus runden Schraffuren, die mühelos aus dem rechten Handgelenk gezogen wurden – eben ohne die minutiöse Planung und Geduld eines Kupferstechers. Die Motive fügen sich dabei widerstandslos in das literarische Werk von Lenz ein und ergänzen selbiges.
Was Lenz zeichnete, ist vielfältig: Da sind Menschen, die in ihrer Überzeichnung einerseits nie vollständig organische Qualität entwickeln und andererseits scheinbar als potenzielle Figuren für eine anstehende Inszenierung bereitstehen. Es gibt Maschinen, deren Funktion sich den Betrachtenden und vielleicht auch Lenz selbst nicht ganz erschließen. Es gibt ungenaue Formen, die sich nicht klar benennen lassen: Ist das eine Glocke, ein Käfig oder ein Panzer? Teilweise werden bloß angerissene Gebäude, Landschaften, ein Zelt, ein Wald oder ein in der Ferne liegender Palast angedeutet. Zentral ist dabei immer wieder das Spiel mit Größen: Menschen werden in Verhältnissen zu Maschinen gezeichnet – oder in Relation zu Autoritäten und letztlich auch zum Göttlichen. Ein Beispiel: Winzige Figuren sind gefangen in einem überdimensionalen Gefängnis aus Mauern. Oder: Eine Gruppe Schüler sieht auf zu einer überlebensgroßen Lehrerin. Letztere ist so verwegen und unnatürlich gezeichnet, dass der Strich annährend modern erscheint. So nah Lenz’ Blick hier an die Figuren herantritt, so fern skizziert er auf der anderen Seite auch Landschaften im Makroformat. Finden wir hier Settings für seine Narrationen, die als Kulisse stehen bleiben und sich nie vollständig materialisieren?[13]
In Bezug auf die Titelzeichnung der vorliegenden Thewis-Ausgabe soll hier ganz besonders auf eine sakrale Skizze hingewiesen werden, die Lenz angefertigt hat. Der Künstler Jens Eike Krüger hat für seine Bearbeitung Bestandteile aus jener – in vielerlei Hinsicht speziellen – Zeichnung übernommen: Das Lenzsche Original[14] zeigt im oberen Bildteil eine göttliche Figur, die sich aus den Wolken erhebt. Hinter ihr befindet sich ein Rad mit Augen, dazwischen Sonnenstrahlen, ein Regenbogen und Flügel. Das Chaos wird betrachtet von zwei Dutzend Männern, von denen jeder eine Axt am Gürtel trägt. Die ganze Gruppe bleibt gesichtslos und wird lediglich von hinten dargestellt. Nur ganz am Rande, fast verloren, sieht man einen kleinen Kopf, der zurückschaut und den Betrachter in sein Sichtfeld nimmt. Wem gehört dieser Blick? Hat dieser „Mann mit dem Schreibzeug“[15] die Rolle eines „prophetischen Dichter[s]“[16]? Die Wichtigkeit dieser einzelnen Figur wird vor allem durch ihren Blick auf die Bildbetrachtenden offenbar. Ihr wird in Zusammenhang mit der in der Zeichnung dargestellten „gnadenlosen Vernichtung aller Menschen“[17], die sich als eine friedvolle Verkündigung anschickt, eine „Schlüsselrolle“[18] zugeschrieben.
Die Zeichnung von Jens Eike Krüger ist eine Verdichtung, beziehungsweise eine Komposition von Motiven nach Jakob Michael Reinhold Lenz. Krüger hat für dieses Werk mit Tusche und Feder gearbeitet. Die Zeichnung versteht sich als eine Ode, die ein Schmierfink einem zeitlosen Selbigen widmet.

  1. Vgl. Schäfer, Judith: „Schrift/Skizze/Szene. Lenz’ Theater der Fragmente zwischen Text und Bild“, in: Lenz-Jahrbuch. Literatur – Kultur – Medien 1750-1800 25 (2018). Hg. von Nikola Roßbach, Ariane Martin und Georg-Michael Schulz. Heribert Tommek: Gastherausgeber zum Thema: „J.M.R. Lenz in Russland (1780-1792)“, keine Seitenangabe (im Erscheinen).
  2. Vgl. Schäfer: „Lenz’ Theater der Fragmente“, o.S.
  3. Tommek, Heribert, Kommentar zur Zeichnung, in: Jacob Michael Reinhold Lenz: Moskauer Schriften und Briefe. Text- und Kommentarband. Herausgegeben von Heribert Tommek. Berlin 2007, Kommentarband, S. 717.
  4. Ebd.
  5. Vgl. Ebd.
  6. Ebd.
  7. Ebd.
  8. Ebd.
  9. Vgl. Schäfer: „Lenz’ Theater der Fragmente“, o.S.
  10. Tommek, Kommentarband, S. 718.
  11. Ebd.
  12. Ebd.
  13. Die Zeichnungen, von denen die Arbeit von Jens Eike Krüger inspiriert wurde, sind zu finden im Textband von: Jacob Michael Reinhold Lenz: Moskauer Schriften und Briefe. Herausgegeben von Heribert Tommek. Berlin 2007.
  14. Die hier angesprochene Originalzeichnung von Lenz ist zu finden in: Moskauer Schriften, Textband S. 526.
  15. Tommek, Kommentarband, S. 716.
  16. Ebd.
  17. Ebd., S. 715.
  18. Ebd., S. 716.
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