Schwerpunkt | Mind The Gap _ Für ein Denken des Ab-stands im Theater

Raum braucht Abstand.
Zwischen. Ein Zwischen
dung. Theater braucht
über das Theater braucht
schen, des Raumes als Ab-

Abbildung 1: Mind the Gap

Abstand braucht ein
braucht eine Verbin-
Raum. Ein Denken
ein Denken des Zwi-
stand.

Ein runder Tisch. Darum sitzen Menschen. Jede*r von ihnen ist von allen anderen gleich räumlich getrennt und ist doch mit ihnen durch das bloße Sitzen an dem Tisch verbunden. Mit diesem Bild beschreibt Hannah Arendt in Vita activa eine Form der Bezugnahme, die nachfolgend als Ab-stand hinsichtlich einer theatralen Form diskutiert werden soll.[1]

Im Handeln und Sprechen, so Arendt, ist eine Eigentümlichkeit enthalten. Sie schreibt von dem inter-est[2], das „was dazwischen liegt und die Bezüge herstellt, die Menschen miteinander verbinden und zugleich voneinander unterscheiden.“[3] Dadurch, dass Menschen über etwas sprechen, entsteht ein Zwischenraum, der im Gegensatz zu der realen, objektiven Distanz ein völlig anderes Zwischen meint, ein „Bezugssystem nämlich, das aus den Worten und Taten selbst, aus dem lebendig Handeln und Sprechen entsteht, in dem Menschen sich direkt, über die Sachen, welche den jeweiligen Gegenstand bilden, hinweg aneinander richten und sich gegenseitig ansprechen.“[4] Jenes diffuse Zwischen, das laut Arendt beim Handeln und Sprechen gleichermaßen entsteht, soll hier als Ab-stand bezeichnet werden und scheint essenziell für die Interaktion von Menschen zu sein, da es, wie Arendt weiter beschreibt, nicht greifbar ist und in der Welt selbst enthalten ist.[5] Diese Interaktion unterscheidet sich von den bekannten Kommunikationstheorien in dem Punkt, dass jene – wie der Name es bei den bekannten Vertretern wie Paul Watzlawick oder Friedemann Schulz von Thun bereits besagt – Modelle und Schematisierungen sind. In diesen Theorien gibt es immer eine*n Sender*in, einen Kanal, eine*n Empfänger*in, eine Intention und eine Beziehungsebene.[6] Hat dies ohne Zweifel seinen Nutzen, bezieht sich Hannah Arendt auf einen für die hier vorgenommene Betrachtung des Theaters abweichenden Aspekt des Sprechens (und, da ein Sprechakt ein Akt ist, auch des Handelns[7]). Sie denkt über eine Zwischenmenschlichkeit nach, die die Beziehungsebene Schulz von Thuns nur unzureichend bezeichnen würde. Der Bezug zwischen Menschen, welche handeln und sprechen, ist objektiv nicht greifbar. Dennoch ist er für das Theater und seine Darstellungsmechanismen essenziell, wie im weiteren Verlauf dargelegt wird.

Theater als Ab-stand

Zuvor soll jedoch kurz ein Theater beschrieben werden, das auf Darstellungen beruht, die innerhalb der für Kommunikationsmodelle so exemplarischen Sender-Empfänger-Konzepte verbleiben. Sei es bei der Darstellung/Erzählung von Gewaltakten, von persönlichen Erlebnissen oder von Handlungssträngen – die Annahme, etwas so übersetzen zu können, dass das Bild, das der Produktionsebene entspringt, 1:1 an die Zuschauenden übersendet werden kann, muss zwangsläufig eine Darstellung hervorbringen, die auf einer Ebene schematischer Interaktion verbleibt. Sie denkt das tatsächlich ankommende Wirkungsbild nicht mit, nicht die Rezeption eines*einer Zuschauenden. Auf dem Weg von dem*der Sender*in der Bühne zum empfangenden Publikum passiert im Ab-stand etwas mit der Nachricht, das jenseits von Kontext, Machtkonstellationen, Reziprozität und Metakommunikation liegt. Der Bezug zwischen Bühne und Publikum an sich wird im Modell jedoch ausgeklammert. Das Vermittelte konfrontiert sich so scheinbar unmittelbar dem Publikum, die Darstellung und das Dargestellte sind dort augenscheinlich identisch, nicht voneinander unterschieden. Die vermeintliche Eindeutigkeit führt dazu, dass ich als Zuschauende*r nicht mehr teilhabe an dem, was eigentlich übermittelt werden soll. Auf der einen Seite ist die Bühne, auf der anderen Seite sind die Zuschauenden – und dazwischen ist nichts, kein gedachter oder gewährter Raum für Abweichung, Denken, Bezugnahme.

Gesucht werden müsste stattdessen eine Darstellung, die die ästhetische Erfahrung als eine solche in ihrer Unbestimmtheit verweilen lässt, um den Zuschauenden und den Darstellenden Raum zu geben. Jaques Rancière verwendet hierfür im Kapitel Die Paradoxa der Politischen Kunst seines Werkes Der emanzipierte Zuschauer den Begriff des Abstandes, um zu verdeutlichen, dass der Prozess der Produktion und der Rezeption in den Künsten nicht ein und dasselbe sind: „Die ästhetische Wirksamkeit ist die eines Abstandes“[8]. Er plädiert für das Denken eines Abstandes zwischen dem Sinnlichen der Objekte/Körper/Orte der Produktion und Rezeption, einer eingerichteten Raum-Zeit neuer Möglichkeiten, aus dem das Ästhetische sich entfaltet als eine geteilte (räumliche) Erfahrung zwischen Darstellenden, der Bühne und den Zuschauenden. Der von ihm gesetzte Begriff des Abstandes verschiebt in diesem Zwischenraum das, was sag- und sichtbar, was machbar wird, indem zwischen Senden und Empfangen ein Zwischen geschaltet wird.[9] In Anlehnung daran zielt der hier zwischengeschobene Bindestrich beim Ab-stand darauf, eben diese verbundene Trennung zu visualisieren, den Raum einzuräumen, der gerade im Theater durch diesen Bindestrich eingenommen wird.

Es soll an dieser Stelle nicht gefordert werden, jegliche inhaltliche und direkte Darstellung im Theater zu unterlassen. Vielmehr soll darauf hingewiesen werden, dass der Bezug zwischen Bühne und Zuschauerraum selbst von großer Bedeutung ist, so abstrakt und gleichzeitig simpel es klingt. Das Affirmieren und die Akzeptanz des Ab-standes zwischen Zuschauer*innen und Darstellenden der Bühne macht das theatrale Erlebnis aus. Weder einer vierten Wand noch dem anderen Extrem, dem Sitzen auf der Bühne, muss dieser Ab-stand fehlen. Es geht um die Notwendigkeit, andere Menschen denken zu können.[10] Wenn das Publikum gedacht, bedacht wird, kann es die Bühne, die Darstellenden anders denken. Dem*der Anderen eine Existenz, ein eigenes Denken, Wahrnehmen, Fühlen jenseits einer Nachricht zuzugestehen eröffnet ihm*ihr Möglichkeiten, die durch das reine Senden und Empfangen nicht entstehen. Es gesteht ihm*ihr eine Existenz zu, die völlig verschieden ist von dem vorher imaginierten Publikum oder Erwartungen. Emmanuel Lévinas beschreibt die Beziehung zum*zur Anderen durch eine Haltung ohne kategoriale Bestimmungen „deren Bewegung zum Anderen hin sich nicht in der Identifikation wiedergewinnt, eine Bewegung, die nicht zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt“.[11] Das Aushalten der Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit des*der Anderen und der trotzdem vorhandenen Verbindung ist in der Wahrung des Ab-stands enthalten. Die Frage ist: Was braucht es, sich aneinander zu richten? Wie kann Ab-stand im Theater aussehen?

Bitten

Im Jahr 2012 inszeniert der Künstler Thomas Lehmen in Kooperation mit Zodiak Helsinki und PACT Zollverein seine Arbeit Bitte. Diese Inszenierung eröffnet vielleicht eine Möglichkeit, über den Bezug zwischen Bühne und Zuschauer*innen anders nachzudenken. Es passiert genau das, was der Titel verspricht: Sechs Performer*innen bitten sich gegenseitig um die Verkörperung bestimmter Gegenstände, Situationen, Phänomene. Sie richten sich dabei direkt aneinander. Um nur einige Beispiele zu nennen: „Thomas, can you be a house, breaking down, for me?“, „Vera, could you be an ocean, please?“ und „Eeva, could you be my suitcase, please? And could this suitcase be full of hope?“ Zum Teil benennen die Performer*innen auch einfach das, was sie anschließend darstellen werden: „I am a museum guard.“ Es folgt ein Stehen an unterschiedlichen Plätzen. Ein anderer Performer mimt eine Skulptur. Dann: „Liisa, can you be the house please?“, woraufhin die angesprochene Performerin die Bittende umarmt und anschließend an der Hand durch den Raum zieht. Es entstehen so viele kleine Sequenzen aus Bildern, Bewegungen und Verschränkungen von Körpern. Eine Performerin ist der Ozean, die nächste wird gebeten, ein Fels darin zu sein. Der nächste Performer fügt sich auf eine Bitte als das Meer hinzu, das gegen den Felsen brandet. Immer wieder wird dieses Spiel unterbrochen durch kurze Szenen einer leeren Bühne, während derer die Performer*innen in der ersten Reihe – zwischen Bühne und Publikum – sitzen und mit Instrumenten oder zu Instrumenten umfunktionierten Gegenständen melodielose Klänge erzeugen. Zudem gibt es zwei Momente, in denen die Bühne zum Bild gestaltet wird und die Performer*innen mit den Mikrofonen und den Kabeln Muster auf den weißen Tanzboden der Bühne legen.

Das Besondere an der Inszenierung Lehmens für ein Denken des Ab-stands im Theater ist der Bezug zwischen Bühne und Zuschauerraum und die Art und Weise, wie er gehandhabt wird. Zu jedem Zeitpunkt agieren und sprechen die Agierenden aus einer spezifischen Verortung heraus, die sie zum einen als der Bühne zugehörig kennzeichnet und gleichzeitig schauen sie immer wieder selbst auf die Bühne. Als Performende werden sie zur jeweiligen Umsetzung einer Darstellungsanfrage verleitet. Die Bitten werden gerichtet von einer*m spezifischen Performer*in an eine*n andere*n, sie sprechen sich gegenseitig mit ihren Alltagsnamen an. Man könnte sagen: Sie richten sich aneinander. Im Sprechen werden Eeva, Vera, Hermann oder nur I als sie selbst markiert, sind keine Zuschauenden, aber auch nicht lediglich Darstellende im Sinne des Verkörperns einer Rolle. Vielmehr sprengen sie die Grenzen dessen, was Darstellende und Privatpersonen normalerweise sind. Sie sprechen sich in einem Zwischen an und handeln auch immer wieder innerhalb des Abstands zwischen Bühne und Publikum. Sie sitzen mehrfach im Raum zwischen Bühne und Zuschauern, schauen auf die Bühne, Handeln von dort aus in Klängen, verlassen diesen Zwischenraum wieder, um auf der Bühne darstellend zu handeln. Die Zuschauenden selbst werden nicht direkt angesprochen und betreten den Zwischenraum nicht – leider. Und doch scheint Bezugnahme zu erfolgen. Es gibt keine Erklärungen, keine Kommentare zum Gebetenen oder Verbildlichten. Nur das Richten aneinander über einen Ab-stand hinweg. Die Zuschauenden richten ihre Wahrnehmung über den Ab-stand hinweg und haben Teil durch ihre Imagination des Darzustellenden und Dargestellten.

Letzten Endes geht es in dieser Arbeit Lehmens nur auf einer ersten Ebene um das titelgebende Bitten. Vielmehr, könnte man sagen, wird hier die theatrale Form auf ihre Möglichkeiten hin befragt. Das Konzept, so scheint es, ist ein Experiment mit Ab-ständen, denn es erlaubt, zwischen der Bitte und der Darstellung einen Ab-stand zu denken, der eine Öffnung in Richtung des Publikums zulässt und sozeit-räumlich und reflexiv eine Vielfalt an Zugängen zu den Geräuschen, Bildern, Bewegungen, Worten ermöglicht. Der Ab-stand wird dadurch, dass er betreten wird, visualisiert. Die Performenden nehmen ihn aber nicht einfach ein, sie denken den*die Andere mit, indem sie in dem Moment weder ganz Darstellende noch ganz Zuschauende sind. Sie sind im Zwischen, verbunden und doch getrennt vom Publikum. Dieses Manifest-Werden des Ab-stands beeinflusst die Interaktion und die Wahrnehmung. Die ästhetische Erfahrung des Publikums könnte man sagen, ist die gemeinsame, je eigene Wahrnehmung, die durch den Bezug, die Manifestation des Ab-stands entsteht. Da ist etwas, das von den Performenden durch gegenseitige Ansprache dargestellt werden soll, aber die tatsächliche Darstellung ist nicht dasselbe, was das Publikum denkt, was und wie es gleich dargestellt wird. Die Darstellung wiederum entspricht auch nicht unbedingt dem, um was gebeten wird, sondern es ist etwas Anderes. Doch in seinem Anders-Sein ist es in gewissem Sinne viel eher das, was dem Denken oder der Vorstellung von mir als Zuschauendem*r entspricht. Es lässt Raum, es impliziert andere Perspektiven, eigene Vorstellungen, alternative Bilder als Möglichkeit. Die Darstellung bleibt in der Schwebe, im Zwischen von Bühne, verorteten Darsteller*innen, verorteten Zuschauer*innen, Raum und Zeit. So wird Bitte zu einer Möglichkeit, darzustellen, ohne abzuschließen, weil es eigentlich der Ab-stand selbst ist, der sich darstellt. Ein Ab-stand zwischen Sprechen und Handeln, zwischen Imagination und Bild und der räumliche Ab-stand, der wieder und wieder besetzt, verändert, verlassen wird – und doch bleibt.

Andere(s) Denken

Ab-stand ist, nimmt man Jean-Luc Nancys Auffassung des Zwischen[12] zu den Überlegungen Arendts hinzu, ein Mobilée unterschiedlicher Perspektiven, Bilder und Blickwinkel. Auch Nancy denkt einen Bezug. Und im Theater wird ihm zufolge der Bezug als solcher ausgestellt. Dies geschieht, weil der dargestellte Bezug im Zusammen-Sein ist, dem singulär Pluralen, dem Sein im mit als solchem in der Ab-ständlichkeit des Zwischen. Aber auch Nancy bezeichnet mit als nicht darstellbar (und hier ist die Darstellung im Sinne einer Übersetzung gemeint), weil mit an sich schon ein (Re)-Präsentatives ist, weil das Gesellschaftlich-Sein symbolhaft ist, weil mit selbst Darstellung ist, ein unendlicher Bezug. Deswegen braucht es auch keine Übersetzung, denn es selbst (re)-präsentiert sich in der Teilung, im Bezug.[13]

Die Bühne ist der Raum der Mit-Erscheinung, ohne die es ein reines und schlichtes Sein, das heißt alles und nichts, alles wie nichts nicht gäbe. Das Sein gibt sich singulär plural und verpflichtet sich so selbst als zu seiner eigenen Bühne. Wir präsentieren und ein-ander als ‚ich‘ ebenso, wie ‚ich‘ sich uns jedes Mal ein-ander als ‚uns‘ präsentiert.[14]

Wenn Nancy also das Theater als die Kunst dieses sich manifestierenden Bezugs bezeichnet, dann tut er das, indem er dem Theater im selben Zug eine notwendige Distanz unterstellt, „denn ohne Distanz wäre es kein Bezug“.[15] Er vollzieht eine Bewegung, die ihren Anfang und ihr gleichzeitiges Ende in einer ursprünglichen Pluralität hat, in welcher Ko-Präsenz[16]bedeutet, dass der Bezug und die Bezugspunkte gleichzeitig sind und entstehen, aber es eben doch ein Zwischen der Bezugspunkte geben muss, weil es kein mit ohne ein Außen gibt, ein Außen, das sich in mir selbst eröffnet – eben dies ist der Ab-stand, der zu denken im Theater notwendig ist, um Darstellung offen zu halten. Ein Ab-stand, der Bühne und Zuschauende umfasst. Um diesen Ab-standaber zu bewahren, bedarf es der Gleichzeitigkeit von Trennung und Verbindung, für die Hannah Arendt das eingangs beschriebene Bild eines runden Tisches verwendet – der trennende Ab-stand zu meinem Tisch-Gegenüber bedeutet gleichzeitig auch meine Verbindung zu diesem.[17] Rancière wiederum nennt es die Teilhabe am Gemeinsamen, Der Erscheinungsraum einer möglichen (Re)Präsentation müsste demzufolge ein Gewebe sein, ein geteilter Ab-stand, in dem der Bezug als solcher manifest wird.

Da der Bezug als solcher im Theater ausgestellt wird, als immer schon ein Mehr bloßer Anwesenheit vor Ort, dann ist es „die (Re)Präsentation der einen gegenüber den anderen, derzufolge sie mit-ein-ander sind“[18]. Diese macht den Bezug aus und kann nur existieren, weil es ein Zwischen gibt. Trotz der Unmöglichkeit einer Objektivierung des Bezugs beschreiben Nancy und Arendt das Theater als die Kunst, in der dieses Zwischen, dieser Bezug sich offenbart. Der Grund liegt im hier so bezeichneten Ab-stand. Jener ist der Raum des Offenbarwerdens der Mitwelt des Menschen. Der Ab-stand ist essenziell für das Theater, denn erst so wird dem Handeln und Sprechen der Bühne in dem eigentümlichen Zwischen politisches Potential zuteil.

So ist das Theater die politische Kunst par excellence; nur auf ihm, im lebendigen Verlauf der Vorführung, kann die politische Sphäre menschlichen Lebens überhaupt so weit transfiguriert werden, daß sie sich der Kunst eignet. Zugleich ist das Schauspiel die einzige Kunstgattung, deren alleinigen Gegenstand der Mensch in seinem Bezug zur Mitwelt bildet.[19]

Die Inszenierung Thomas Lehmens stellte durch ihr Konzept eine Möglichkeit dar, sich diesem Bild Arendts anzunähern. Doch auch andere Theaterschaffende beschäftigen sich mit dem Denken des Ab-stands. Mind The Gap ist nicht nur die Ansage, die wir in diversen Metropolen Europas immer wieder in verschiedenen Sprachen hören, wenn wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln reisen. 2004 veranstaltete das Zentrum für Kunst und Medientechnologie unter diesem Titel ein Theatersymposion, das den Raumbegriff thematisierte.[20] Der Satz war zudem leitend für die Bemühungen der London Student Feminists, die strukturelle gesellschaftliche Kluft zwischen den beiden binären Geschlechtern herauszustellen und beispielsweise den Gender Pay Gap zu thematisieren.[21] Auch ein europäisches Theaterkollektiv setzt sich unter diesem Namen für die Gleichberechtigung von Künstler*innen mit einer Behinderung ein.[22] Für eine Debatte um die Angleichung der Gehälter zwischen so wahrgenommenen Männern und Frauen oder die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen im Kunstbetrieb braucht es zunächst ein Bewusstsein für den Gap, den Ab-stand. Die Angleichung der Gehälter oder die Chancengleichheit bedeutet dabei nicht, den Ab-stand zu eliminieren, sondern ihn umzuwenden und ihn dadurch zu affirmieren. Ab-ständliches Denken ist so als Ausgangspunkt zu nehmen für eine Gleichheit in Vielheit, in dem jede*r zu allen und allem einen Ab-stand hat und braucht, um ihn*sie denken zu können. Die*der Andere ist, so gedacht, nur in Alterität denkbar. Er ist, um es mit Emmanuel Lévinas zu sagen, der*die absolut Andere[23] und insofern nicht ein Gegenstück zu mir. Meine Beziehung zu dem*der Andere ist dabei eine des Ab-stands, der meinem Selbst erst Sinn verleiht. „Die Beziehung zum Anderen stellt mich in Frage, sie leert mich von mir selbst, sie leert mich unaufhörlich, indem sie mir so unaufhörlich neue Quellen entdeckt.“[24] So ist die*der Andere für mich in ihrer*seiner Andersartigkeit immer ab-ständlich und doch für mein Sein unabdinglich mit mir verwoben. In dieser verbundenen Trennung liegt für Lévinas „unser soziales Sein selbst“[25] und aus jenem Ab-stand heraus lässt sich im Adressieren des des*der Anderen als ebendiese*r Gleichheit im Sinne einer Verantwortlichkeit realisieren.[26]

Im Ab-stand, in der verbundenen Trennung zu unserer*m mit bedachten Anderen liegt Hannah Arendt zufolge das politische Potential des Öffentlichen, unseres Erscheinungsraumes. Dessen theatrale Darstellung kann heißen, eine Öffnung anzustreben, die der Bezüglichkeit des Theatralen selbst Raum lässt, im Zwischenraum, im Ab-stand, der immer schon existiert und uns doch erst in Darstellung begegnen muss, damit wir ihn bemerken.

Ein Ab-stand im Theater kann ein Erscheinungsraum durch den Bezug sein. Deshalb: Mind The Gap.


  1. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 2013, S. 52.
  2. Ebd., S. 224.
  3. Ebd., S. 225.
  4. Ebd., S. 225.
  5. Ebd., S. 225.
  6. Siehe hierzu Khabyuk, Olexiy: Kommunikationsmodelle : Grundlagen – Anwendungsfelder – Grenzen. Stuttgart 2018.
  7. Siehe hierzu den Begriff der Illokution John Austins bei Wirth, Uwe: „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität“, in: Ders. (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 200213, S. 9-63, hier S. 13.
  8. Rancière, Jacques: „Die Paradoxa der politischen Kunst“, in: Ders.: Der emanzipierte Zuschauer. Wien 2008, S. 63-99, hier S. 69.
  9. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Berlin 2009, S 9. Um die Öffnung der Darstellung im Ab-stand denken zu können, muss jedoch zunächst der von Rancière verwendete Begriff des Abstandes perspektivisch umgewendet werden. Statt einer „Neutralisierung“ (Rancière: „Die Paradoxa der politischen Kunst“, S.69), der von einem Neutrum ausgeht, soll hier im Sinne Donna Haraways ein situierter Ab-stand gedacht werden. Denn wir sind immer verortet, verankert, perspektivisch eingebunden, wir sind nie ein Neutrum.
  10. Siehe hierzu die gleichnamige Installation Andere Menschen Denken von Alfredo Jaar in Anlehnung an eine Rede John Cages am Maxim Gorki Theater zum 3. Herbstsalon Desintegriert euch! im Jahr 2017. (https://www.berliner-herbstsalon.de/dritter-berliner-herbstsalon/ kuenstlerinnen/alfredo-jaar; Zugriff am 20.02.2020).
  11. Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg 20177, S. 215.
  12. Nancy, Jean-Luc: singulär plural sein. Zürich 2004, S. 25. Sofern nicht anders deklariert, beziehen sich die im Folgenden auf Nancy bezogenen kursivierten Begriffe auf die Art und Weise, in der auch Nancy diese begreift und für seine Ausführungen im genannten Werk verwendet.
  13. Vgl. Nancy, Jean-Luc: „Theater als Kunst des Bezugs, 1 und 2“, in: Tatari, Marita (Hg.): Orte des Unermesslichen. Theater nach der Geschichtsteleologie. Zürich 2014, S. 91-108.
  14. Nancy: singulär plural sein, S. 106.
  15. Nancy: Theater als Kunst des Bezugs, 2, S. 108.
  16. Nancy: singulär plural sein, S. 31.
  17. Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass Hannah Arendt sich im Jahr 1951 gegenüber Schwarzen Menschen und BiPOC zu ihrer Zeit aus heutiger Sicht abwertend, mindestens aber mit einem eurozentrischen Blick geäußert hat (Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft : Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München 201720). Das von ihr entworfene Bild eines Tisches, an dem alle Menschen zueinander in Bezug stehen, wird in vorliegendem Artikel in einer alle Menschen einschließenden Weise gedacht und nimmt Arendts Visualisierung zum hilfreichen Ausgang, ohne ihre Haltung zu affirmieren.
  18. Nancy: singulär plural sein, S. 95 ff.
  19. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 233 ff.
  20. Vgl. „Mind the Gap. Theaterräume/Medienräume. Recherchen für eine andere Szenografie“. https://zkm.de/de/event/2004/11/mind-the-gap-theaterraeume-medienraeume (Zugriff am 25.02.2020).
  21. Siehe: https://londonstudentfeminists.blogspot.com (Zugriff am 26.02.2020).
  22. Siehe: http://www.mind-the-gap.org.uk/about/ (Zugriff am 27.02.2020).
  23. Vgl. Lévinas, Emmanuel: Zwischen uns: Versuche über das Denken an den Anderen. München 1995.
  24. Lévinas: Die Spur des Anderen, S. 219 f.
  25. Ebd., S. 219.
  26. Siehe hierzu die Ausführungen von Mayte Zimmermann, die auch Derridas Lektüre von Lévinas aufgreift, der das Antworten, das Sich-Adressieren als Besitzaufgabe beschreibt. Vgl. Zimmermann, Mayte: Von der Darstellbarkeit des Anderen. Szenen eines Theaters der Spur. Bielefeld 2017, S. 64.

Abbildungsverweise:

Abbildung 1: Stöcker, Lisa: Mind The Gap. London 2019.

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