Editorial

Die vorliegende sechste Ausgabe von Thewis, der Online-Zeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft, knüpft an das Konzept der vorangegangenen Ausgaben an, die zunächst in Leipzig, dann in Bochum und zuletzt in Gießen erstellt wurden: Wie in den ersten vier Ausgaben wurde neuerlich ein Schwerpunktthema gewählt, zu dem jüngere Forscherinnen und Forschern, aber auch erfahrene Kolleginnen und Kollegen aus Theaterwissenschaft und Theaterpraxis beitragen. Dabei wird ein Thema aufgegriffen, das Gegenstand einer von der Theaterwissenschaft am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität ausgerichteten Masterclass war, zu der Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland und Israel sich trafen, um über das Kafkas Texten eigene Theater und den Umgang mit Kafka im Theater zu diskutieren. Aus einigen der dabei vorgetragenen Impulsvorträgen wurden Beiträge, die für die vorliegende Zeitschriftenausgabe ausgearbeitet worden sind. Sie werden ergänzt durch einen Beitrag des israelischen Theaterwissenschaftlers Freddie Rokem, anlässlich von dessen Gastaufenthalt am Frankfurter Institut als erster Friedrich Hölderlin-Gastprofessor für Allgemeine und Vergleichende Theaterwissenschaft die Master Class abgehalten wurde.

Neu ist, dass in dieser Ausgabe neben den längeren Beiträgen des Hauptteiles vier Miszellen in einem zweiten Teil der Ausgabe veröffentlicht werden: Es handelt sich dabei um vier kürzere Beiträge von Studierenden eines Symposiums, das von der Theaterwissenschaft der Goethe-Universität in Zusammenarbeit mit dem finnischen Theaterwissenschaftler Esa Kirkkopelto in Frankfurt veranstaltet wurde und unter dem Thema Theatre of the A-Human stand. Abgerundet werden die beiden Sektionen wie in der vorangegangenen Ausgabe durch eine in die Zeitschrift aufgenommene Sektion für Rezensionen.

Am Zustandekommen dieser Ausgabe hatten neben den vier gemeinsam verantwortlichen HerausgeberInnen weitere MitarbeiterInnen Anteil, denen an dieser Stelle zu danken ist: Eva Döhne, welche die Endkorrektur der Texte übernommen hat, Franz Scherer, der ihre technische Einrichtung übernahm, sowie Lydia White, die für die Korrektur der englischsprachigen Texte verantwortlich zeichnet. Die Master Class Kafka und Theater sowie das Symposium Theatre of the A-Human wurden ermöglicht durch die vom Deutschen Akademischen Auslandsdienst und vom International Office der Goethe-Universität geförderte Friedrich Hölderlin-Gastprofessur für Allgemeine und Vergleichende Dramaturgie.

Impressum
HerausgeberInnen und Redaktion der vorliegenden Ausgabe:
Matthias Dreyer (Frankfurt am Main)
Nikolaus Müller-Schöll (Frankfurt am Main)
Julia Schade (Frankfurt am Main)
Marten Weise (Frankfurt am Main)

Verantwortlich i.S.d.P. für die aktuelle Ausgabe:
Prof. Dr. Nikolaus Müller-Schöll

Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft

Professur für Theaterwissenschaft
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Norbert-Wollheim-Platz 1
60322 Frankfurt am Main

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Vorwort | Automobilität. Ein abreißender Anfang zum Thewis-Schwerpunkt Kafka und Theater

Würde ich einmal ein größeres Ganzes schreiben können wohlgebildet vom Anfang bis zum Ende, dann könnte sich auch die Geschichte niemals endgültig von mir loslösen und ich dürfte ruhig und mit offenen Augen als Blutsverwandter einer gesunden Geschichte ihrer Vorlesung zuhören, so aber läuft jedes Stückchen der Geschichte heimatlos herum und treibt mich in die entgegengesetzte Richtung. – Dabei kann ich noch froh sein, wenn diese Erklärung richtig ist.[1]

So endet ein kurzer Tagebucheintrag Franz Kafkas, mit dem er die Szene einer öffentlichen Lesung kommentiert, die Max Brod aus seinen, Kafkas, Pariser Tagebuchaufzeichnungen gibt. Der Eintrag beginnt mit den Zeilen: „Die Bitterkeit, die ich gestern abend fühlte als Max bei Baum meine kleine Automobilgeschichte vorlas. Ich war gegen alle abgeschlossen und gegen die Geschichte hielt ich förmlich das Kinn in die Brust gedrückt.“[2] Alltägliches Theater, vielleicht, auf jeden Fall eine Szene ist es, die hier beschrieben wird, mit der für Kafka so typischen Genauigkeit der Beschreibung einer nicht weiter erklärten Körperhaltung, mit dem Eigenleben, das die Teile des Ganzen gewinnen, die Dinge, Worte, Buchstaben:

Die ungeordneten Sätze dieser Geschichte mit Lücken, daß man beide Hände dazwischen stecken könnte; ein Satz klingt hoch, ein Satz klingt tief wie es kommt; ein Satz reibt sich am andern wie die Zunge an einem hohlen oder falschen Zahn; ein Satz kommt mit einem so rohen Anfang anmarschiert, daß die ganze Geschichte in ein verdrießliches Staunen geräth; eine verschlafene Nachahmung von Max schaukelt hinein, manchmal sieht es aus wie ein Tanzkurs in seiner ersten Viertelstunde. Ich erkläre es mir damit, daß ich zu wenig Zeit und Ruhe habe um die Möglichkeiten meines Talentes in ihrer Gänze aus mir zu heben. Es kommen daher immer nur abreißende Anfänge zu Tage, abreißende Anfänge z.B. die ganze Automobilgeschichte durch.[3]

Buchstäblich automobil, wie Kafka zufolge die Sätze seiner Geschichte über einen kleinen Autounfall in Paris[4] und ihre im Tagebuch beschriebene Intonierung durch Max Brod, scheint alles zu sein, woran man sich bei der Lektüre von Kafkas Texten zu klammern versucht, und dies von Anfang an und gerade den Anfang und das Anfangen betreffend: Abreißend, wie sie sind, verweisen die Anfänge auf einen buchstäblich versetzten, sich entziehenden anderen Anfang, auf einen an-archischen Ursprung von Kafkas Prosa, den man vielleicht mit jenem Ursprung vergleichen könnte, den Walter Benjamin in seinem Trauerspielbuch zu fassen versuchte: In Absetzung zur metaphysischen Tradition, die im Ursprung den Anfang und Grund alles folgenden zu finden glaubt, begriff er dort den Ursprung des deutschen Trauerspiels zugleich auch als Ur-sprung, als jene anfängliche irreduzible Teilung, die er eindrücklich zuvor in seinem frühen Sprachaufsatz als enteignende Eigenheit von Sprache überhaupt entfaltet hatte.[5]

Ausgehend von dem, was Kafka in der zitierten Textstelle als „abreißende Anfänge“ bezeichnet, entdeckte Benjamin in seinen Texten jenes gestische Theater wieder, das er zunächst in der Kommentierung Brechts beschrieben hatte. Dort hatte er konstatiert, dass das epische Theater gestisch sei und ausgeführt: „Gesten erhalten wir um so mehr, je häufiger wir einen Handelnden unterbrechen.“[6] Kafka, so schreibt er in einer vielzitierten Stelle seines Essays über den Dichter, „reißt hinter jeder Gebärde – wie Greco – den Himmel auf; aber wie bei Greco – der der Schutzpatron der Expressionisten war – bleibt das Entscheidende, die Mitte des Geschehens die Gebärde.“[7] Dieses Bild des aufgerissenen Himmels, eine prägnante Vorstellung der metaphysischen Leere bzw. der transzendentalen Obdachlosigkeit in einer Moderne nach dem Tod Gottes, fasst vielleicht eben das, was Kafka selbst im eingangs zitierten Eintrag als die Heimatlosigkeit der „Stückchen der Geschichte“ benennt. Auf jeden Fall hält es in nuce fest, was Kafka zum literarischen Theoretiker der Theatermoderne par excellence macht: Die von ihm freigelegte „Mitte des Geschehens“, kann mit Benjamin als von Spannungen gesättigte Konstellation oder „Dialektik im Stillstand“[8] bezeichnet werden, so oder so aber als jenes Theater vor jedem Theater, als Theater der bloßen Veränderbarkeit oder Automobilität, das, wenn nicht dem Theater überhaupt, so doch zumindest allem modernen Theater insofern eingeschrieben ist, als es ein Theater ohne Anfang und Grund, ohne Erstes und deshalb ohne Letztes, ohne Archä und ohne Telos ist.

*

Zum Nachleben der von Benjamin dergestalt an Kafkas Schriften exponierten Geste gehört, dass Roland Barthes ihre Theorie in seiner Auseinandersetzung mit Photogrammen aus den Filmen Eisensteins – also gewissermaßen mit deren gestischem Material – aufgreift und damit einen der Fluchtpunkte der Gestentheorie Benjamins und Brechts neuerlich zum Vorschein bringt.[9] Heiner Müller hebt in Fatzer + Keuner, seiner kritischen Auseinandersetzung mit Brechts Erbe, an Benjamins Kommentaren zu Brecht und Kafka hervor, dass Benjamin die „Gesten“ Kafkas im Vergleich zu jenen Brechts als realitätshaltiger erschienen seien, weil sie „ohne Bezugssystem“ dargestellt seien, „nicht orientiert auf eine Bewegung (Praxis), auf eine Bedeutung nicht reduzierbar, eher fremd als verfremdend, ohne Moral“.[10] Giorgio Agambens viel diskutierter kurzer Essay „Noten zur Geste“ knüpft insofern an Benjamin an, als er im „Kontrollverlust über die Gesten“ um 1900 ein „allgemeines Symptom“ zu erkennen glaubt. Er sieht in der Geste das eigentliche „Element des Kinos“ und zugleich eine „Potenz, die nicht in den Akt übergeht“, was er als Seinsweise der Bewegung im Tanz entdecken zu können glaubt.[11] Werner Hamacher schließlich greift die „Geste“ Benjamins in seiner Theorie der afformativen Unterbrechung und der Politik reiner Mittelbarkeit auf: Sie steht ihm für die Sprachlichkeit der Sprache, ihre „Vorstruktur“, das Versprechen eines Versprechens, das selbst noch nichts verspricht.[12] Nicht zuletzt geht die Geste – und genauer: die von Benjamin an Kafka ent-deckte Geste – in das konstruktive Prinzip der Bilder Jeff Walls und in Godard „Histoires du cinema“ ein.[13]

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Während sich so über die Jahre das Gestische und dabei zugleich das Szenische der Texte Kafkas, vermittelt durch Benjamin, aber auch durch andere KommentatorInnen in einer kaum noch überschaubaren Weise verselbständigt hat und während überdies in den vergangenen Jahrzehnten eine kaum noch überschaubare Vielzahl von Regisseurinnen und Regisseuren Inszenierungen seine Texte auf die Bühne brachten oder aber als Ausgangspunkt eigener szenischer Forschung wählten, wurde die genauere Auseinandersetzung mit dem Theater in seinen Texten ungeachtet vieler Veröffentlichungen selbst zu einem anderen abgerissenen Anfang. Von ihm nehmen die hier versammelten Beiträge ihren Ausgang.

Hervorgegangen sind sie aus einer Master Class anlässlich der Friedrich Hölderlin-Gastprofessur des israelischen Theaterwissenschaftlers Freddie Rokem am Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft der Goethe-Universität Frankfurt. Diese Master Class bildete den Abschluss einer semesterlangen gemeinsamen Arbeit von Lehrenden und Lernenden im Forschungskolloquium der Theaterwissenschaft mit Texten, die in der einen oder anderen Weise die gegenwärtige Lektüre Kafkas in seinem Verhältnis zum Theater und darüber hinaus prägen. Um hier nur die prominentesten Beispiele anzuführen: Derridas Ausführungen zu „Vor dem Gesetz“ entdecken an Kafkas Text Literatur als ein spezifisches Feld des Wissens, dem es eigen ist, dass sein Objekt, das, was in seinem Zentrum steht, als Bedingendes und Gegenstand, sich entzieht. Es bedarf, so führt Derrida aus, eines Theaters des Unsichtbaren, des Theaters als eines Ortes, an dem das Unsichtbare zur Erscheinung kommen kann. Kafkas Texte, so könnte man schließen, konstruieren ein solches Theater, setzen es in ihrem Schreiben in Szene.[14] Samuel Webers Auseinandersetzung mit Kafka, „The Box and the Butterfly. To Kafka’s ‚Hunter Gracchus‘“[15], kommentiert dessen Jäger Gracchus. „Sind Sie tot?“ „Ja“, sagte der Jäger, „wie sie sehn. Vor vielen Jahren, es müssen aber schon ungemein viel Jahre sein, stürzte ich im Schwarzwald, das ist in Deutschland, von einem Felsen, als ich eine Gemse verfolgte. Seitdem bin ich tot.“ „Aber sie leben doch auch?“ sagte der Bürgermeister. „Gewissermaßen“, sagte der Jäger, „gewissermaßen lebe ich auch. Mein Todeskahn verfehlte die Fahrt…“[16] Diese Geschichte, die von Adorno in einem rätselhaften Beitrag seiner Prismen mit der Biopolitik der Lager assoziiert wurde, als Vorausschau auf die Reduktion von deren Insassen auf ihr bloßes, nacktes Leben[17], wird von Weber als Allegorie ihrer eigenen Erscheinung gelesen. Wie Weber, wie Adorno und wie dieser kurze Text über abreißende Anfänge lässt sich auch W.G. Sebald von den Texten Kafkas immer wieder dazu bringen, sie über lange Zeilen hinweg nur zu zitieren, abzuschreiben, eins zu eins aufs eigene Blatt zu übertragen.[18] So ist es überliefert auch von Heiner Müller, der seitenweise Kafkas Texte abgeschrieben haben soll und in einem Interview zu Kafka anmerkte: „Als Benjamin sagte, dass Kafka der erste bolschewistische Schriftsteller sei, entgegnete Brecht: ‚Dann bin ich der letzte katholische.‘ Aber Benjamin hat es auf den Punkt gebracht. Kafka war der erste Autor, der nicht unsterblich werden wollte, der wollte, dass seine Texte verbrannt werden. Kafka hat sich ins KZ geschrieben, weil er Auschwitz als Konsequenz europäischer Kultur spürte.“[19] Diese Äußerung Müllers geht nicht zuletzt auf die Kafka-Lektüre von Gilles Deleuze und Felix Guattari zurück, die von Kafkas „littérature mineure“ – von „kleiner“, aber auch „minderwertiger“ Literatur – sprechen, der Literatur einer kleinen Minderheit in der Minderheit, der jüdischen Deutschen in Prag. Es ist die Literatur derer, die lebten zwischen „der Unmöglichkeit, nicht zu schreiben, der Unmöglichkeit, deutsch zu schreiben, und der Unmöglichkeit, anders zu schreiben.“[20] Kleine Literatur: Eine deterriorialisierte Sprache ist ihr Kennzeichen, in ihr ist alles politisch und alles gewinnt in ihr einen „kollektiven Wert“. Wie aber, so fragen Deleuze und Guattari in ihrem großen kleinen Kafka-Buch, in ihrer selbst durch und durch politisch zu nennenden Suche nach Kafka im Jahr 1973, mitten in den Nachwehen von 68, wie „kann man der eigenen Sprache eine Literatur abzwingen, die fähig ist, die Sprache auszugraben und sie freizusetzen auf eine nüchtern-revolutionäre Linie? Wie wird man in der eigenen Sprache Nomade, Fremder, Zigeuner? Kafka sagt: Indem man das Kind aus der Wiege stiehlt, indem man auf einem Seil tanzt.“[21] Mit gutem Grund könnte man in dieser delirierenden Passage des Kafka-Buches der zwei französischen Philosophen eine Variante jener Poesie „aus der Zukunft“ sehen, die Marx in seinem 18. Brumaire für die soziale Revolution des 19. Jahrhunderts beschwört und praktiziert. Bekanntlich beschreibt er dort die unabsehbare revolutionäre Situation, „die jede Umkehr unmöglich macht“ als eine, in der „die Verhältnisse selbst rufen: Hic Rhodus, hic salta! Hier ist die Rose, hier tanze!“[22] Dabei zitiert er Hegel, der in der Variation des Wörtchens „Rhodus“ – zugleich Rhodos, aber auch Rose meinend – selbst die Poesie zu beschwören scheint, der zumindest von ihr, und sei’s contre coeur, in seinen „Grundlinien der Philosophie des Rechts“[23] auf Abwege geführt wird – auf die Abwege der Sprache in ihrer Sprachlichkeit beziehungsweise, frei nach Kafka formuliert: ihrer Automobilität. Ob von Marx hergeleitet oder aus der selbst in sich geteilten Sache, in jedem Fall stoßen wir nicht von ungefähr bei Deleuze/Guattari dort, wo sie in ihrem Kommentar Kafkas die Revolution von dessen Literatur zu beschreiben versuchen, auf eine weitere Katachrese, einen weiterer Bild-Bruch, eine weitere Fragmentierung, die auf das verweist, was sich, irreduzibel, entzieht: Ein weiteres Theater des Unsichtbaren, ein weiterer abreißender Anfang, den man der irreduziblen Automobilität nicht nur von Kafkas Sprache, sondern vielleicht von Sprache überhaupt zuschreiben kann.

*

Die vorliegende Thewis-Ausgabe versammelt einige der im Zuge der Master Class Kafka und Theater entstandenen und dann weiterbearbeiteten Beiträge neben einigen Originalbeiträgen, die von der gemeinsamen Diskussion inspiriert verfasst wurden: Freddie Rokem wählt in seinem Beitrag „The Hebrew Notebook and other stories by Franz Kafka“ einen zeitgenössischen und zugleich autobiographischen Zugang zu Kafka. Dabei gilt sein Interesse dem von der Ruth Kanner Theatre Group ins Zentrum einer Performance gestellten Notizheft, in das Kafka während seines Hebräisch-Studiums die Vokabeln, die er zu lernen versuchte, auf Deutsch und Hebräisch eintrug. Einen Zugang zur Welt des Notizbuches, so führt er aus, erlaube die Aufführung als performative Entdeckung eben jener gestischen Struktur von Kafkas Arbeiten, die es erlaubt, sie, wie Walter Benjamin es formuliert hatte, „in immer wieder andere Zusammenhänge und Versuchsanordnungen“ zu stellen. Ramona Mosse zeichnet in „Vor und hinter den Kulissen in Kafkas Theaterräumen. Ein Spaziergang“ die fiktiven Theaterräume Kafkas nach und konstatiert, dass ihnen eigen ist, dass beständig mehrere Grenzen destabilisiert werden. Nachhaltig werde so beim Lesen unser Theaterverständnis beeinflusst. Deutlich werde, dass theatrale Ereignisse sich nicht in der Aufführung erschöpfen, sondern sich in schriftliche Räume übersetzen. Bernhard Siebert entwickelt in „Blind arbeiten. Notiz zu einem Stück von Oskar Baum“, der Lektüre eines Tagebucheintrags, was Kafka anlässlich eines Vortrags von Oskar Baum als „dramatische Kraft“ von Texten beschreibt: das Verfugen von Darstellung und Entstellung, die ihnen inhärente „radikale (…) Verschiedenheit von Text und textlich Mitgeteiltem“. Dieser „Entstellung“ in den Texten Kafkas, das Wort im Sinne Benjamins begriffen, gilt auch das Augenmerk von Julia Schade, die in „Asphalt übers Moor – Odradeks Sumpflogik oder das Ausbrechen aus der Totschlägerreihe“ Kafkas vielkommentierte und -zitierte Erzählung „Die Sorge des Hausvaters“ unter dem Aspekt des ihr inhärenten abgründigen Sprachverständnisses untersucht. Leon Gabriel untersucht in „Die Täuschung der Parabel. ‚Das Schweigen der Sirenen‘ am Abgrund der Erzählungen“ im Anschluß an Maurice Blanchot, Bettine Menke und Christiaan Haart Nibbrig, was es mit der Theatralität von Kafkas abgründiger Neudeutung der Begegnung von Odysseus mit den Sirenen auf sich hat. Sie erscheint ihm als „listiges Hinterfragen der Erzählung der aufklärerischen Moderne“ und insofern als „Spiel mit einer bestimmten Theatralität“ wie auch als „deren Auflösung“. Marten Weise entwickelt in „’Ernst‘ und ‚Als-ob‘: Zum Theatralen in Der Proceß“ ausgehend vom ersten Satz des Romanfragments „Der Proceß“ und speziell von der darin erwähnten Verleumdung des Josef K. eine Lektüre der „unmöglich-möglichen Logik der Vertretung“. Diese begreift er als Theater im Sinne eines Raums, in dem sich die Geschehnisse ereignen. Leonie Otto stellt in ihrem Text „Der Affe der Zivilisation. Einige Überlegungen zum Körper in Kafkas Ein Bericht für eine Akademie“ die Hypothese auf, dass man Kafkas „Bericht an eine Akademie“ als die Erzählung einer Selbstdisziplinierung begreifen kann, die derjenigen gleicht, welche mit Frühformen der Choreographie verbunden war: Sie begreift die im Bericht dargelegte Menschwerdung als Form der Unterdrückung von Körperlichkeit, die untrennbar zugleich als Subjektivierung zu verstehen ist.

  1. Kafka, Franz: Tagebücher 1909 – 1912. Frankfurt a. M. 1994, S. 177.
  2. Ebd.
  3. Ebd. Vgl. ausführlicher zu dieser Textstelle und zu Kafka und Theater: Verf.: „Theatralische Epik. Theater als Darstellung der Modernitätserfahrung in einer Straßenszene Franz Kafkas“, in: Balme, Christopher/Erika Fischer-Lichte, Erika/Grätzel, Stephan: Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Tübingen 2003, S. 189-201.
  4. Vgl. Kafka, Franz: Reisetagebücher in der Fassung der Handschrift. Frankfurt a. M. 1994, S. 75 – 78, hier S. 75.
  5. Vgl. Benjamin, Walter: „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Hg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Band I, 1, Frankfurt a. M. 1980, S. 203-439, hier S. 226. Fortan zitiert als: GS + Band + Seite. Vgl. auch Weber, Samuel: Genealogy of Modernity: “History, Myth and Allegory in Benjamin`s Origin of the German Mourning Play”, in: MLN, 106, 1991: 465 – 500, hier S. 468 f.
  6. Vgl. Benjamin, Walter: „Was ist das epische Theater? (1)“, in: GS II, 2, S. 519-531, hier S. 521. Vgl. auch: Verf.: Das Theater des „konstruktiven Defaitismus“. Lektüren zur Theorie eines Theaters der A-Identität bei Walter Benjamin, Bertolt Brecht und Heiner Müller. Frankfurt a. M. 2002, S. 19-184, insb. S. 139-174.
  7. Vgl. Benjamin, Walter: „Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages“, in: GS II, 2, S. 409-438, hier S. 419.
  8. Vgl. GS II, 2, S. 530.
  9. Barthes, Roland: “Le troisième sens”, in: Ders.: L`obvie et l`obtus. Essais critiques III. Paris 1982, S. 43-61. Schklowski, Viktor: Eisenstein. Romanbiographie. Berlin 1986.
  10. Müller, Heiner: „Fatzer + Keuner“, in: Ders.: Material. Texte und Kommentare. Herausgegeben von Frank Hörnigk, Leipzig 1989, S. 30-36, hier S. 31.
  11. Agamben, Giorgio: „Noten zur Geste“, in: Georg-Lauer, Jutta (Hg.): Postmoderne und Politik. Tübingen 1992, S. 97 – 108.
  12. Vgl. Hamacher, Werner: „Afformativ, Streik“, in: Was heißt „Darstellen“? Herausgegeben von Christiaan L. Hart Nibbrig. Frankfurt 1994, S. 340 – 374; Ders.: „Die Geste im Namen. Benjamin und Kafka“, in: Ders.: Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt a. M. 1998, S. 280-323.
  13. Vgl. Verf.: „Mitte (ohne Ende, ohne Anfang). Über „von Spannungen gesättigte Konstellationen“ in Bildern Jeff Walls“, in: MLN, Vol. 129, No. 3, April 2014, S. 621-639.
  14. Vgl. Derrida, Jacques: Préjugés. Vor dem Gesetz. Wien 1992, S. 72. Vgl. dazu auch Verf.: „Das Dispositiv und das Unregierbare. Vom Anfang und Fluchtpunkt jeder Politik“, in: Aggermann, Lorenz/Döcker, Georg/Siegmund, Gerald (Hg.): Theater als Dispositiv. Dysfunktion, Fiktion und Wissen in der Ordnung der Aufführung. Frankfurt a. M. 2017, S. 67-87, hier S. 86 f.
  15. Der Text lag dem Forschungskolloquium im Manuskript eines Vortrags vom Mai 2014 vor.
  16. Vgl. Kafka, Franz: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß. Frankfurt a. M. 1994, S. 40-45.
  17. Adorno, Theodor W.: „Aufzeichnungen zu Kafka“, in: Ders.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1997, S. 9-287, hier S. 254-287.
  18. Sebald, W.G.: „Das unentdeckte Land. Zur Motivstruktur in Kafkas Schloß“, in: Ders.: Beschreibungen des Unglücks. Salzburg und Wien 1985, S. 78-92; ders.: Das Gesetz der Schande. Macht, Messianismus und Exil in Kafkas Schloß. Frankfurt a. M. 1995, S. 87-103.
  19. Müller, Heiner: „Denken ist grundsätzlich schuldhaft“, in: Ders.: „Jenseits der Nation“. Heiner Müller im Interview mit Frank Raddatz. Berlin 1991, S. 35-60, hier S. 54 f.
  20. Kafka, Franz: Briefe. 1902-1924, hg. von Max Brod. Frankfurt a. M. 1958, S. 337 f.
  21. Deleuze, Gilles, Félix Guattari: Kafka. Für eine kleine Literatur. Aus dem Französischen von Burghart Kroeber, Frankfurt a. M. 1976, S. 28 f.
  22. Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Berlin 1988, S. 23.
  23. Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts. Frankfurt a.M., Berlin, Wien, Ullstein, 1972, S. 12 f.

Schwerpunkt | The Hebrew Notebook – And other stories by Franz Kafka. A work of ‚Speech Theatre‘ by the Ruth Kanner Theatre Group

Remark to the title[1]

Verstecke sind unzählige, Rettung nur eine, aber Möglichkeiten der Rettung wieder so viele wie Verstecke. Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern.

Franz Kafka[2]

Dann erst wird man mit Sicherheit erkennen, daß Kafkas ganzes Werk einen Kodex von Gesten darstellt, die keineswegs von Hause aus für den Verfasser eine sichere symbolische Bedeutung haben, vielmehr in immer wieder anderen Zusammenhängen und Versuchsanordnungen um eine solche angegangen werden. Das Theater ist der gegebene Ort solcher Versuchsanordnungen.

Walter Benjamin[3]

The Hebrew Notebook – And other stories by Franz Kafka[4] is a performance of the Ruth Kanner Theatre Group inspired by the notebook that Kafka used for studying Hebrew which is kept in the Israel National Library in Jerusalem.[5] The performance premiered in November 2013 as part of the 120th anniversary celebrations of the library for which twelve Israeli artists had been invited to create a work of art connected to the library or based on any of its holdings, and it is still (as I am writing this in March 2016) occasionally performed, mainly at the Tel Aviv Museum of Art as well as in other venues. It was also invited to participate in the symposium on Kafka and the Theatre at the Goethe University in Frankfurt am Main, in December 2014 and was shown twice at the Künstlerhaus Mousonturm for an audience, most of which without any knowledge of Hebrew. In this version, German (together with English, because the actors are not German speakers) was much more prominent than in the ‚original‘ Israeli/Hebrew version of the performance.

According to their website the Ruth Kanner Theatre Group „has been engaged since 1998 in exploring its own surroundings by searching for a local theatrical language, interweaving storytelling, physical theater and visual imagery. The group’s re-examination of Israeli narratives is performed through literary and documentary texts, creating Storytelling Theater.“[6] The group has a clearly pronounced avant-garde agenda both in terms of the form and the contents of their productions, collectively telling a story where each actor either appears as ‚her‘- or ‚him‘-self or displays several ‚figures‘, swiftly shifting the focus or the character by presenting short ’sketches‘ rather than staging dramatic texts with the actors impersonating (or representing) fully ‚visible‘ characters.

The virtuosity of the individual actors as well as their highly synchronized, choreographic and vocal expressivity as a chorus and individually – always drawing attention to the language and the individual words of the text – serve as the common basis for the group’s ongoing critical examination of fundamental ideological concerns in today’s Israeli society. The Hebrew Notebook – And other stories by Franz Kafka is no exception. All the actors have studied in the Department of Theatre Arts at Tel Aviv University, where the director of the group, Ruth Kanner holds a position as professor in acting and ’scenic expression‘.[7]

The performance consists of two main sections telling at least three different ’stories‘. The first part reveals the story how the director first learned about Kafka’s Hebrew notebook and presents short fragments which in retrospect can be seen as a documentation of the preparations and the rehearsals for the performance. It takes place in a ‚white box‘ gallery space where the spectators are invited to observe or listen to different exhibits, mainly presented by the individual actors but can also watch pictures or texts that are mounted on the walls. The second part of the performance takes place in a traditional performance space with a stage and a few rows of chairs for the spectators. It presents two distinct kinds of ’stories‘. First the actors simply recite the words in the notebook, mostly in Hebrew but also with some words in German[8], and then they ‚tell‘ a few of Kafka’s own stories (in their own typical form of collective narration), demonstrating how many of the words from the notebook (or their ‚atmosphere‘ or ‚gestures‘) have been central for Kafka’s own writing and appear in his ‚other‘ stories from the period when he studied Hebrew – like An Old Manuscript (Ein altes Blatt) and Jackals and Arabs (Schakale und Araber) which were both published, though not for the first time, in the collection of stories A Country Doctor (Ein Landarzt) published in 1919. There is also a short ritual transition between the two parts when the spectators walk through the door from the gallery into the more traditional performance space. The most prominent impression that remains after having seen the performance is that even if the Hebrew words Kafka studied and wrote down in his notebook and their translations into German, as well as the notebook itself (as a specific highly valued ‚object‘ in the library archive), through which the actors gradually begin to explore the enigmatic mysteries of Kafka’s unique fictional universe, what they actually discover (and show us) is much more complicated and more monstrous than the first, even somewhat naive steps of learning a new language.

At the same time as the performance presents the story of Kafka’s Hebrew studies it implicitly also tells the larger story of the revival of Hebrew as an everyday language, which was an important part of the Zionist project, starting already during the last decade of the 19th century with the establishment of the Hebrew Language Committee in Jerusalem in 1890. Kafka, who only wrote in German, began studying Hebrew in 1917, the year he was diagnosed with tuberculosis and continued these studies – with interruptions and with three different teachers – until a few months before his death, in June 1924. At this time, the utopian dream of a Jewish homeland where Hebrew will be spoken had become more real, after the British army – during the First World War – had conquered what they termed Mandatory Palestine (parts of which became the State of Israel in 1948) from the crumbling Ottoman Empire and issued the Balfour Declaration favoring „the establishment in Palestine of a national home for the Jewish people“[9] in 1917, the year Kafka began his Hebrew studies.

The performance of The Hebrew Notebook – And other stories by Franz Kafka in effect also shows that this utopian dream, which Kafka participated in by studying Hebrew (and at some moments in his life even considered to take an active part in), has now (for many of the spectators) been transformed into a dystopian nightmare, as depicted by Kafka in his writings. The performance even suggests that Kafka was able to write his nightmarish stories because he sensed that there is something inherently fated or threatening in a national project where the Hebrew language will actually be spoken. Approximately 10 years later Gershom Scholem expresses this in a letter to Franz Rosenzweig.[10] The performance has also been shown at a time when the legal disputes over the ownership of the Kafka manuscripts which had been brought to Mandatory Palestine by Kafka’s close friend Max Brod who fled from Prague in 1939 were frequently reported in the daily press.[11]

The Hebrew Notebook

The notebook is in effect Kafka’s private dictionary containing the Hebrew words he was learning and their German counterparts. All the words in the notebook, in both languages, are in Kafka’s own handwriting, written down with a pencil in large letters and with much more space around the individual words than in most of his preserved letters, diaries or literary manuscripts. Maybe this reflects Kafka’s position as a ‚pupil‘ studying the Hebrew words, literally ‚making room‘ for them, also enabling him to reflect on each individual word, separately. It is however not possible to say with any certainty in which language a particular word originated, with the German words (written from left to right) or the Hebrew words (from right to left) on the pages of the notebook with the two languages, approaching each other from the margins of each of the two columns of words, keeping a safe distance between them.[12]

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Fig. 1 The first page of the Hebrew Notebook, beginning (in the upper right hand corner) with the Hebrew word מבט (Mabat) translated as Blick and Ansicht. This is also the first word the actors read from the notebook in the second part of the performance.

Today we can only speculate how the notebook itself originated with Kafka and his teacher – who for the notebook in the archives of the Israel National Library was Puah (Menczel) Ben-Tovim (1903-1991) – probably conducting conversations in Hebrew about the meanings of the Hebrew words. It is also possible that they read a text in Hebrew together and we know that Kafka also used the Hebrew textbook The language of our people by Moshe Rat for his studies, which could also have been a possible source for the words in Kafka’s notebook.[13] At some point Kafka could make himself more or less fully understood in Hebrew; a letter he wrote in Hebrew to Puah (Menczel) Ben-Tovim has been preserved.[14]

The notebook contains the potentials for many forms of performativity which have been developed and interwoven into the performance. Reading the notebook as a document based on Hebrew, from right to left, the first word in the notebook is מבט (mabat), which Kafka has noted down on the top of the right hand column of the first page and translates as Blick meaning ‚view‘, ‚glance, ‚gaze‘, or Ansicht which is somewhat more abstract, meaning ‚idea‘, ’notion‘, ‚judgement‘. If we read the notebook on the basis of German, from left to right on the page, the first word in the notebook on the top of the left column is Klarheit, which in Hebrew is בהירות (behirut), meaning clarity or lucidity. Looking at the page in the notebook the way in which the words in the first row have been noted down, with behirut almost pushed off the page by the following word which is Gelage, in Hebrew מרזח (marzeach), meaning ‚feast‘ of ‚banquet‘ indicates that it is perhaps a later addition or an afterthought.

In spite of the fact that the notebook opens as a book written with Latin letters, opening the cover page to the left with the back cover of the book on the right (and not as a Hebrew book, with the back cover on the left) the second part of the performance begins by giving precedence to the way in which a page is read in Hebrew, beginning in the upper right hand corner of the page. The reading of the notebook begins with Tali Kark somewhat hesitantly pronouncing the word מבט (mabat; as ma-bat), initiating the spectators into the inner secrets of the notebook by establishing a ‚gaze‘ and transforming the word on the page which is simultaneously screened on the wall behind the actors into the very performance we are watching. This initiation is followed by the Hebrew word סתם (stam), the second word in the right column on the page which Kafka translated as unbestimmt, meaning ‚indecisive‘. In today’s Hebrew the word stam refers to something which has no particular reason.

The Hebrew Notebook – And other stories by Franz Kafka presents a broad range of associative strategies by creating a labyrinthine ‚word-scape‘, offering suggestions what the words that Kafka studied ‚mean‘, also showing how many of them have ‚invaded‘ his writings or appear in the performance as distant echoes emerging from his texts. The suggestive evocations of the words open up new venues for understanding Kafka’s texts, even if the performativity connected to them can only begin to decipher their enigmas, barely letting us peep below the surface. And as is always the case with enigmatic texts that present a ‚riddle‘, when we have (or think we have) found a solution, we immediately realize that it is only a temporary resting-place, compelling us to continue searching for new answers. But what we can gain in cases like this is that the contours of enigma become more distinctly visible and get a clearer formulation by this process.

What the performance also makes us realize is that Kafka’s texts, as Benjamin suggested in his essay published on the tenth anniversary of Kafka’s death – quoted as the second motto above and presented as an exhibit on the wall in the first part of the performance – constitute a „code of gestures which surely had no definite symbolic meaning for the author from the outset; rather, the author tried to derive such a meaning from them in ever-changing contexts and experimental groupings.“[15] This means that Kafka himself was also searching for the symbolic meaning of the „code of gestures“ inscribed in his writings. And following Benjamin’s directive, the Ruth Kanner Theatre Group shows us that their performance continues Kafka’s own efforts to derive the meaning from these gestures (as well as the Hebrew words), creating new and constantly evolving performative contexts and groupings. They show us that their performance is the „gegebene Ort solcher Versuchsanordnungen„, i.e. the given site or place (Ort) for such experimental arrangements, inviting us to a laboratory experiment where the lexical and gestural components of Kafka’s texts are carefully examined, empowering the spectators to continue with their own reading ‚experiments‘ of Kafka’s writings.

At every moment and in numerous ways, the words themselves, the words that Kafka studied and wrote down in his notebook, the words he mobilized for the writing of his diaries, gradually transforming them into aphorisms and stories, are the true protagonists of the performance. The performers – the five actors and a visual artist – are the vehicles for the multidimensional performative elaborations of these words, individually and collectively creating a work of what they have termed ’speech theatre‘.

The Gallery Installations

The first part of The Hebrew Notebook takes place in an open gallery space where each of the six participants presents her or his own relatively short individual piece, consisting of a monologue or an installation. The spectators are encouraged to move around freely, exploring the different ‚exhibits‘ individually or in small groups. The two male participants, the visual artist Guy Sagi (who is responsible for the projections of the Hebrew and German ‚word images‘ in Kafka’s handwriting on the wall in the second part of the performance) and the actor Ronen Babluki present mute installations; while the three of the actresses, Shirley Gal, Tali Kark and Adi Meirovitch recite short texts by Kafka to one or a small group of listeners. The fourth actress, Yael Mutsafi impersonates Ruth Kanner, telling us how the performance that has just begun originated, after she had been asked to participate in the National Library project for its 120th anniversary celebration. There are also some short texts by Kafka glued onto the gallery-walls as well as quotes from the Walter Benjamin-essay that I referred to before, as well as the well-known photograph with Kafka wearing a straw hat, seated with two men and a woman in a mock papier-mâché airplane taken in the Viennese Prater in September 1913. Here, as opposed to most of the photographs of Kafka, he is smiling, apparently enjoying himself, while posing for the camera.

I begin with Yael Mutsafi’s impersonation of Ruth Kanner, where we learn about the director’s excitement when she was exposed to the notebook for the first time. This is how ’she‘ (Kanner/Mutsafi) begins; with a text which even in reading gives us a sense of her intonations and gestures as well as the idiosyncrasies of a Hebrew speaker (here in English):

Did you know that The National Library in Jerusalem celebrated its 120th anniversary? And towards these celebrations they made a special project – they invited 12 artists, to choose, each, an archival item from the library and to do some work with it. I went to the library. I was looking for something that would be of interest to me, but didn’t find anything. I was on the verge of giving up … and then – just like that – without any real expectations I asked the archivist – perhaps, by any chance – you do have there something hidden on… of…probably not… ‚cause everything has been published and said but… perhaps… yet… you have by any chance something in the archives of… Franz Kafka???

And he said: yes… and went underground – that is where they hide all of their special treasures in safes – and came back with a thin, blue notebook and put it in my hands!!! I am holding in my hands a notebook that Franz Kafka himself wrote! His own handwriting! I didn’t know what to do with it – I smelled it! I wanted to eat it!!!

And then, I opened it and saw a list of words in Hebrew! This was the notebook from which Franz Kafka had studied Hebrew.[16]

The performance begins by introducing the notebook with its more than three hundred words which Kafka himself had written down in both languages. This document triggered the desire of the director to smell the pages and to devour the words, transforming them into a performance that originates from and explores the materiality of the words, each with its unique qualities and taste as well as the infinite potentials for combinations with other words, creating the basis for the speech acts which gradually develop into complex stories. The notebook is an unexplored territory which has been hidden in the archives of the National Library, now revived as the point of departure for the performance we are going to experience.

After hearing about the ‚birth‘ of the performance (from the smell of the words Kafka had written down in his own handwriting) we can see and hear Adi Meirovitch present a short passage about eating from Kafka’s diary which serves as a sharp juxtaposition to the kind of appetite the notebook triggered for the director. After taking out a small piece of red candy that she is eating from her mouth, holding it in her hand, Adi begins to recite:

This craving that I almost always have, when for once I feel my stomach is healthy, to heap up in me notions of terrible deeds of daring with food. I especially satisfy this craving in front of pork butchers. I see a sausage that is labelled as an old hard sausage; I bite into it in my imagination with all my teeth and swallow quickly, regularly, and thoughtlessly, like a machine. The despair that this act, even in the imagination, has as its immediate result increases my haste. I shove the long slabs of rib meat unbitten into my mouth, and then pull them out again from behind, tearing through stomach and intestines. I eat dirty delicatessen stores completely empty. Cram myself with herrings, pickles, and all the bad, old sharp foods. Bonbons are poured into me like hail from their tin boxes, I enjoy this way not only my healthy condition but also a suffering that is without pain and can pass at once.[17]

As opposed to Yael Mutsafi’s tongue-in-cheek impersonation of the director, this is a recital of a text where the speaker establishes a critical distance from the first-person voice of the narrator in the text itself. Instead of showing us the different dishes that Kafka mentions, Adi puts the candy back into her mouth for a short while, and then takes it out again, ending the presentation by offering a piece of candy from the jar to her listeners. This is her craving; not Kafka’s.

In one of the corners of the room, while playing with a little human shaped figure, Shirley Gal recites a section from the First Octavo Notebook about a Chinese visitor who does not speak German but insists on coming to see the narrator of the story-fragment. She ends her presentation when she – as if breaking some secret taboo – suddenly takes a small bite from the figure. And while approaching Tali Kark who is hiding in another corner of the room it is possible to hear her whispering some of the aphorisms of Kafka from the Octavo Notebook, the so-called Zurau Aphorisms, including the second part of the one which I have quoted the first motto: „Es gibt ein Ziel, aber keinen Weg; was wir Weg nennen, ist Zögern.“ [There is a goal/destination but no way there; what we call way is hesitation.“] She is a fortune teller, conveying some terrible secret about ourselves. We are at a fair; like the one where the photograph of Kafka with his friends in the airplane was taken.

The two male participants employ quite different expressive means for inviting us to enter the world of Kafka’s ‚Hebrew Notebook‘. Guy Sagi sits on a chair with a sketch block on his knees drawing concentric circles with a pencil on a sheet of paper. He gradually fills the page with the circular pencil movements, perhaps like Kafka, gradually filling the pages of his notebook with words in Hebrew and German, fulfilling the cyclical patterns of history by returning to the Hebrew language; or by just creating a ‚black hole‘. He is mute, like Ronen Babluki, who during his introductory installation stands in front of a gallery wall watching a short video of himself, photographed from behind while painting a white wall with a big brush and with a bucket of paint just behind him. The live actor is standing 2-3 meters in front of the gallery wall, with his back turned to the spectators. He is holding an identical (or the same?) paint brush in his hand and to his right stands a/the bucket with paint. As the figure in the video is taking a step back to dip the brush in the bucket, so that he can continue painting, the live actor does the ’same‘ thing, mimicking this particular act in the video, including scraping off the superfluous paint in the brush. But when the figure on the wall resumes the act of painting, the live actor in front of us comes to a standstill, just watching himself, continuing to paint like before. The installation is a demonstration of the creative process where the „ever-changing contexts and experimental groupings“ of Kafka’s gestures are explored in a theatrical, performative context, as Benjamin had suggested in his Kafka essay.

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Fig. 2 Ronen Babluki dipping the paintbrush/es in the bucket(s). Photo: Noa Elran

In the beginning of the video installation there is a short quote in Hebrew from the opening section of Benjamin’s Kafka-essay, which in the German original is „Weltalter hat der Mann beim Tünchen zu bewegen.“[18] In the English translation the quote reads „The man who whitewashes has epochs to move.“[19] The context where Benjamin’s description of the movements of the man who is painting appears in the Kafka essay is in a comparison between Georg Lukács, who Benjamin argues thinks in terms of historical ages, while Kafka thinks in terms of „cosmic epochs“ (Weltaltern). Benjamin wants to draw a clear distinction between Lukács, who is the historical materialist, while Kafka – as Benjamin’s essay will gradually claim – should probably be termed a ‚metaphysical materialist‘. In the essay itself Benjamin has added an additional sentence, saying that „Und so noch in der unscheinbarsten Geste,“ meaning that this – having epochs to move – also goes for what in the English translation has been rendered as „his most insignificant gesture“, but is closer to „inconspicuous“ or „nondescript“ gestures. Directly after having presented the comparison between Lukács, who Benjamin quotes as having said that the carpenter who wants to make a decent table nowadays „must have the architectural genius of a Michelangelo“ (795), on the one hand, and Kafka’s whitewasher, on the other, Benjamin almost triumphantly adds that „on many occasions, and often for strange reasons, Kafka’s figures clap their hands.“ (795) Here however, while for Benjamin the association leads to the figures clapping their hands, Ruth Kanner and Ronen Babluki compress the image of whitewashing (including its political dimensions) into a mute installation depicting these epochs of time in front of an empty wall.

‚Kabbalat Mila‘

Prior to the beginning of the introductory section outlined above, one of the actors shortly explains what the procedures of the event we have just joined are. We are first told that we will be able to see all of the introductory installations if we follow certain rules of time-keeping, creating a mock-educational dimension of the performance, but without any irony. We are also told that at a given sign the preparatory stage of the introductions will end and we will pass through the ‚Kabbalat Mila Ceremony‘ in order to enter the space where the „performance itself will take place“. This very simple ceremony which involves each and every one of the spectators but only takes a few minutes reinforces the ‚educational‘ context the performance. In the ceremony one of the actors presents a little grey card with a word from the notebook, in Kafka’s handwriting – in Hebrew on one side and in German on the other – to each individual spectator as we are about to pass through the door leading to the more traditional performance space. Each spectator gets her or his own individual word. This again draws attention to the materiality of the words on the pages of the notebook. These cards could even be used as flash-cards for studying Hebrew or German. It is even possible that they are part of a lottery or some kind of puzzle which we will be introduced in the next room.

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Fig. 3 Ronen Babluki giving a word-card to one of the spectators in the Kabbalat Mila ceremony. Photo: Kineret Kisch

Kabbalat Mila, the name for this seemingly simple ceremony – the rite-de-passage from the gallery presentations to the inner performance space – literally means ‚Receiving the Word‘. But this direct, straightforward name evokes an ambivalent tension between the names of two ceremonies which is only exists in Hebrew. The first is Kabbalat Shabbat, the ceremony for greeting the day of rest on Friday evenings. Kabbala, besides meaning receiving or acceptance, is at the same time also the mystical teachings of Judaism, where letters and words contain numbers which can reveal hidden secrets about a person’s life or about the Godhead. And the second ceremony which is evoked by the strange collocation of Kabbala and Mila is the Brit Mila, the circumcision through which the Jewish male child is brought into the covenant between God and Abraham (Genesis 17:10-14) when he is eight days old. But the word mila, though from another lexical root, also means ‚word‘. Thus, playing on the double meanings of mila, the Hebrew ‚word‘ (for itself) becomes directly connected to the circumcision and the covenant between man and God, made by using words in the same language in which the world was supposedly created. Studying Hebrew as Kafka did and which we are about to do, studying Kafka’s Hebrew notebook is an initiation into the work of Kafka through the art of story-telling.

 

Inside the Performance Space: The Classroom

After the spectators have entered the more traditional performance space and are seated on the chairs facing a small elevated stage on which there are five chairs and with a small table standing on the floor to the left, the actors enter – each by her- or himself – showing their hesitation and formality while collecting the blue booklets from the table and finding the way to their designated chairs on the elevated stage. As pupils entering a classroom on the first day of school they refrain from looking at each other and after they are finally seated on the stage they begin to recite the words in the notebook – beginning with ‚mabat‚/gaze – presenting the strange words in Kafka’s notebook to the spectators. As they finally find the courage to utter the word ‚mabat‚ they have already acted out a whole event without looking at anyone of their fellow actors, as they are watched by the audience, establishing the spectatorial gaze.

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Fig. 4 The pupils are learning the word „stam“ (unbestimmt, the second word in the notebook. Photo: Daniel Tchetchik

After a long sequence of reading, reciting, even singing many of the words from the notebook, individually and in unison, there is somewhat longer pause and Adi Meirovitch begins reciting a fragment from the Third Octavo Notebook which begins, „There was once a community of scoundrels…“ It is followed by a fragment from the Second Octavo Notebook beginning „At last our troops succeeded in breaking into the city through the southern gate…“ which is recited by Ronen Babluki while the other actors are accompanying the recital with strange sounds, and they resume the recital of words from the notebook in order to restore the ‚order‘ it represents. After finishing these readings Shirley Gal collects the notebooks and begins to recite the conjugations of the Hebrew verb radaf meaning ‚chase‘ or ‚pursue‘ in English, using the textbook The language of our people by Moshe Rat. After finishing this exercise, she begins telling the story An Old Manuscript which was written in 1917 and published in 1919 in the collection of short stories, A Country Doctor. It is followed by Jackals and Arabs which was first published in 1917, and was also included in the same, 1919-collection of short stories. Now Tali Kark leads the recital of the story, again with the participation of the whole ensemble. Throughout, the words in Kafka’s handwriting are projected on the wall behind them.

In this section, with which the performance ends, we gradually realize that the strategies of spectator attention have to change as we are transported from the world of the individual words of the notebook and their associative potentials to the disturbing narratives of conflict where the ’same‘ words now serve the development of the story. The power of the individual words is still very much present through the musicality of the collective story-telling techniques, but the disturbing, even uncanny characteristics of the situations, with the performers on the same ‚classroom‘ platform as before enact in a sketch-like manner, begin to take over. The previously more or less disciplined ‚pupils‘ are now much more openly oscillating between the position of story-tellers and nameless ‚characters‘, enabling us a quick glance into Kafka’s stories which now comment, but only as a distant, hazy or blurred reflection, on the present day conflicts in Israel.

Photo: Daniel Tchetchik

This shift to this more anarchic, dissonant form of presentation reflects the stories themselves, which both exemplify one of Kafka’s major literary themes which in turn also reflects one of his frequently repeated narrative devices: to begin the story with the entrance of an unknown stranger. This is obviously how The Trial begins, but in An Old Manuscript the intruder is not an individual but a more or less unidentified collective and the story depicts a situation which has the characteristics of a military invasion. We hear how the invaders strip the inhabitants of the town of their possessions, and we see how two of the ‚local‘ women are approached by the strangers and stripped them, leaving them in their underwear. While both of them take out a long braid of blond hair hidden from their remaining garments, attaching this braid to her much darker hair, they hesitantly recite two words, fragmentary echoes from a more optimistic past: moladeteinu (our homeland) and leshoneinu (our language).

Jackals and Arabs which is the final story of the performance also depicts an invasion, but at the same time as it is the storyteller who is the invader or just a visitor to a foreign country, the jackals say they have been waiting for him in order to help them – the animals living in this desert – to curb the Arabs with whom the stranger is travelling and with whom they, the jackals have an ancient conflict; „We want cleanliness, nothing but cleanliness“ they howl before asking the stranger to „cut their throats with a pair of scissors.“[20] The performance ends with the description of the jackals that the Arab leader of the caravan communicates to the storyteller as they are about to leave their resting place for the night in the oasis: „You’ve seen them. Marvelous creatures, aren’t they? And how the despise us!“ (39) (Gesehen hast du sie. Wunderbare Tiere, nicht wahr? Und wie sie uns hassen!)[21] This pronouncement which has been interpreted as Kafka’s skepticism towards Zionism, now also refers to the ongoing and gradually increasing racism of Israeli Jews towards the Palestinians. And after the recital of Jackals and Arabs, in the silence and emptiness that hovers over the stage as we learn about the hatred of the Jackals who have invaded the territory of the Arabs, the performance returns one more time to the notebook, creating closure with the words hashrasha (rooting) and geza (גזע race), and ending with hofa’a (הופעה appearance, performance).

Photo: Daniel Tchetchik

  1. Without the long and ongoing exchange of ideas with Ruth Kanner it would not have been possible for me to write this article. I want to thank her for inspiring my research as well as from a more practical perspective, for providing me with her own sources of inspiration as well as giving me crucial keys to her Kafka performance. My warm thanks also go to the marvelous actors of the group. And I want to thank Dr. Stefan Litt from the National Library of Israel in Jerusalem and Margaret Czepiel from the Bodleian Library in Oxford for their assistance.
  2. Kafka, Franz: Zurau Aphorisms, # 26, http://gutenberg.spiegel.de/buch/franz-kafka-aphorismen-166/1 (last accessed Oct 7, 2016) „There are innumerable hiding places and only one salvation, but the possibilities of salvation are as numerous as the hiding places. There is a destination but no way there; what we refer to as way, is hesitation.“ The Zurau Aphorisms, trans. Geoffrey Brock & Michael Hofmann (New York: Schocken, 2006)
  3. Benjamin, Walter: „Franz Kafka: Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages“, Gesammelte Schriften, Frankfurt am Main, II, 1, 1977, 418. „/…/Kafka’s entire work constitutes a code of gestures which surely had no definite symbolic meaning for the author from the outset; rather, the author tried to derive such a meaning from them in ever-changing contexts and experimental groupings. The theatre is the logical place for such groupings.“ Walter Benjamin, „Franz Kafka: On the Tenth Anniversary of His Death“, Selected Writings, vol 2, 1927-1934, ed. Michael W. Jennings, Harvard University Press, Cambridge, Mass., 1999, S. 801.
  4. In the original Hebrew: מחברת העברית – וסיפורים אחרים מאת פרנץ קפקא
  5. The notebook was deposited in Israel National Library (Schwad 01 19 268) by the Schocken family in the early 1990’s. There are five additional Hebrew notebooks in the Bodleian Library in Oxford.
  6. http://www.ruthkanner.com/en/Content.aspx?t=10&p=3&iid=14&eof (Last accessed March 23, 2016).
  7. http://www.ruthkanner.com/en/Content.aspx?t=10&p=&iid=7&eof I have followed the work of Ruth Kanner throughout her career and together with Daphna Ben-Shaul we organized a ’shift‘ presenting the work of the Ruth Kanner Theatre Group at the Psi #15-conference in Zagreb in 2009, which we later summarized in writing in: „Capturing Moments of Misperformance: ‘Local Tales’“, in: Performance Research, 15 (2), 2010, S. 66-73. See also Ben-Shaul, Daphne: „Ideology of Form in Storytelling Theater: The Politics of Inter-medial Adaptation”, in: Discovering Elijah, A Play about War. Gramma, Journal of Theory and Criticism 17 (2009), S. 165-182 and Ben-Shaul, Daphna: „Her Role as a Storyteller: On Theatre Creator Ruth Kanner,“, in: Motar 12 (2004), S. 107-118, (Hebrew).
  8. In the Frankfurt performances many more words in German were recited.
  9. http://www.mfa.gov.il/mfa/foreignpolicy/peace/guide/pages/the%20balfour%20declaration.aspx (Last accessed March 23, 2016).
  10. See the letter from Gershom Scholem (in Jerusalem) to Franz Rosenzweig (in Europe) from December 1927 which opens by saying that „This country is a volcano! It harbors the language! One speaks here of many matters that may make us fail. More than of anything else we are concerned today about the Arab. But much more sinister than the Arab problem is another threat, a threat which the Zionist enterprise unavoidably has had to face: the ‚actualization‘ of Hebrew.“ Quoted from Cutter, William: „Ghostly Hebrew, Ghastly Speech: Scholem to Rosenzweig, 1926“, in: Prooftexts, 10, 3, 1990, S. 413-433, hier 417.
  11. For a critical analysis of this legal dispute and its implications for understanding of Kafka’s view of Zionism, see Butler, Judith: „Who Owns Kafka?“, in: London Review of Books, March 3, 2011, S. 3-8 (http://www.lrb.co.uk/v33/n05/judith-butler/who-owns-kafka last accessed March 24, 2015).
  12. For a discussion of the ‚meeting‘ between German and Hebrew on the page of a Yehuda Amichai-manuscript see, Rokem, Na’ama: “ German–Hebrew Encounters in the Poetry and Correspondence of Yehuda Amichai and Paul Celan“, in: Prooftexts, 30, 1, 2010, S. 97-127.
  13. Amenu, Sefat: Lehrbuch der Hebräischen Sprache für Schul- und Selbstunterricht, Wien 1917.משה ראטה, שפת עמנו: ספר להוראת הלשון העברית, דקדוקה וספרותה לבתי ספר ולתלמידים, וינה, 1917.
  14. See Suchoff, David: „Franz Kafka, Hebrew Writer: The Vaudeville of Linguistic Origins“, in Nexus: Essays in German Jewish Studies, eds. William Collins Donahue, Martha B. Helfer, Volume 1, Camden House, New York 2011, S. 137-152. 
  15. See note 2, above.
  16. From Ruth Kanner’s private archives.
  17. Kafka, Franz: Diaries 1910-1923, (30 October, 1911), ed. Max Brod, New York 1976, S. 96. [„Dieses Verlangen, das ich fast immer habe, wenn ich einmal meinen Magen gesund fühle, Vorstellungen von schrecklichen Wagnissen mit Speisen in mir zu häufen. Besonders vor Selchereien befriedige ich dieses Verlangen. Sehe ich eine Wurst, die ein Zettel als eine alte harte Hauswurst anzeigt, beiße ich in meiner Einbildung mit ganzem Gebiß hinein und schlucke rasch, regelmäßig und rücksichtslos, wie eine Maschine. Die Verzweiflung, welche diese Tat selbst in der Vorstellung zur sofortigen Folge hat, steigert meine Eile. Die langen Schwarten von Rippenfleisch stoße ich ungebissen in den Mund und ziehe sie dann von hinten, den Magen und die Därme durchreißend, wieder heraus. Schmutzige Greislerläden esse ich vollständig leer. Fülle mich mit Heringen, Gurken und allen schlechten alten scharfen Speisen an. Bonbons werden aus ihren Blechtöpfen wie Hagel in mich geschüttet. Ich genieße dadurch nicht nur meinen gesunden Zustand, sondern auch ein Leiden, das ohne Schmerzen ist und gleich vorbeigehn kann.“ http://gutenberg.spiegel.de/buch/tagebucher-1910-1923-162/3 (last accessed October 10, 2016)].
  18. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, II, 1, Frankfurt am Main 1977, S. 410. In Hebrew: נצחים חייב האיש להניע כשהוא מסייד.
  19. Benjamin, Walter: „Franz Kafka: On the Tenth Anniversary of His Death“, in: Selected Writings, vol 2, 1927-1934, ed. Michael W. Jennings, Cambridge/Mass. 1999, S. 795.
  20. Kafka, Franz: „Jackals and Arabs“, in: A Country Doctor, translated by Siegfried Mortkowitz, Prague 2015, S. 37.
  21. http://gutenberg.spiegel.de/buch/franz-kafka-erz-161/19 (last accessed October 9, 2016).

Schwerpunkt | Vor und hinter den Kulissen in Kafkas Theaterräumen. Ein Spaziergang

Zittern – verabscheuen – schmachten – begehren: Wörter aus Kafkas hebräischem Notizbuch, die das Blut in Wallung bringen und am oberen Ende der emotionalen Skala zu verorten sind. Es ist ein Notizbuch einzelner Worte, als solches eher ein Vokabelheft, das Kafka für sein Hebräisch-Studium nutzte und das lange unbeachtet in der Jerusalemer Nationalbibliothek lag. Kafkas verstreute Worte graben sich ein in die Phantasie mit all ihrer emotionalen Intensität. Allerdings spiegeln sie nicht so sehr die komplexen Gewebe von Kafkas eigener Prosa, vielmehr kommt einem die spannungsgeladene Handlung eines Melodrams in den Sinn. Zittern – verabscheuen – schmachten – begehren. Das beschreibt auch manche Aufführung des jiddischen Theaters in Prag, welches Kafka zu seinen regelmäßigen Zuschauern zählen durfte und dessen Einfluss auf Kafkas Überlegungen zum Theater heute weitgehend als erforscht gelten kann.[1] Die Worte aus dem Notizbuch führen uns also zurück zu Kafka, dem Theatergänger, darüber hinaus aber auch zu Kafka als Theatermaterial. Denn die Wörter aus Kafkas Vokabellisten finden sich auf der Bühne wieder, allerdings nicht in Form einer melodramatischen Handlung, sondern vielmehr als Sprech-Performance der israelischen Ruth Kanner Theatre Group, die sich auf postdramatische Weise der gewaltigen Wortwelt Kafkas nähert. The Hebrew Notebook, aufgeführt im Dezember 2014 im Künstlerhaus Mousonturm in Frankfurt am Main, ist der schlichte Titel der Performance, die mit der Materialität der Wörter experimentiert und diese – lesend, sprechend, klingend – die Zuschauerinnen und Zuschauer nahezu körperlich erfahren lässt, Kafkas Erzählungen auf der Bühne aber nicht darstellt. Zittern – verabscheuen – schmachten – begehren: in den Händen der Performerinnen und Performer werden diese Gemütszustände zu Lautmaterial, das immer wieder neu geformt und in den Zuschauerraum hineingegeben wird. Es werden Wörter zum Mitnehmen: als ZuschauerIn bekommt man sie sogar wortwörtlich als kleine Zettelbotschaft zugesteckt und kann so die Handschrift Kafkas, vergrößert und im Detail, betrachten und nach Hause tragen.

Theatergänger? Sicher. Theatermaterial? In der Tat. Wie aber steht es mit Kafka und dem Theater, wenn man sich jenseits von Biographie und zeitgenössischen Theateradaptionen seiner Erzählungen begibt? Als Theaterautor mag man ihn wohl nicht bezeichnen, weswegen auch die Übertitelung dieser Ausgabe – Kafka und das Theater – nicht so sehr eine Symbiose als vielmehr ein Spannungsfeld beschreibt, das ein Theater des Denkens und der Abstraktion bezeichnet. Eine andere Wortreihe – meine eigene, nicht Kafkas – mag nun hier den weiteren Verlauf bestimmen: Radikalität – Antitheatralität – Theaterraum – Grenze. Um diese wird es sich im Folgenden drehen. Die Frage stellt sich, inwieweit Kafka als radikal oder schlichtweg antitheatral bezeichnet werden kann? So nennt Nikolaus Müller-Schöll Kafka den „radikalste[n] Theatertheoretiker der Moderne“, da er dem Theater das Theater entzieht und ein mediales Unbehagen zum Grundgestus ästhetischer Produktion überhaupt macht. [2] Kafkas Bezug zur Darstellung ist daher immer ein Kommentar zur Doppelbödigkeit der Existenz an sich, der wiederum dabei der Bedeutungsrahmen genommen wird. So wird ein Projekt wie Kafka und das Theater, ob als Masterclass in Frankfurt oder in Form einer theaterwissenschaftlichen Sonderausgabe, immer Teil einer Entgrenzung der Künste und eines Projektes, in dem Teile des Theaters – Körper, Gesten, das Illusionsprinzip – von Kafkas Prosa seziert werden. Aber Kafka & Theater – das gibt es auch in einer anderen Variante, als Ausgabe der Germanic Review 2003 unter der Herausgeberschaft von Martin Puchner. Puchner argumentiert hier nicht für Kafka, den Theatertheoretiker par excellence, sondern stattdessen für Kafka als Antitheatraliker: „[…] Kafka’s prose is not so much theatrical as it is antitheatrical, presenting dramatic and theatrical scenes and characters only to decompose and recompose them according to a specifically literary poetics.“[3] Für Puchner ist Kafkas Widerstand gegen das Theater auch ein Privilegieren des literarischen Schreibens über die Verdopplungsstrategien des Theaters, über den Drang zur Mimesis. Die terminologische Gegensätzlichkeit von radikaler Theatertheorie und Antitheatralität ist allerdings nur eine scheinbare, denn schlussendlich ist die radikalste Theorie, die das Theater des 20. Jahrhunderts entscheidend mitgeprägt hat, die der Antitheatralität, etwa in Form der historischen Avantgarden. Bei Artaud ist die Attacke auf das etablierte Theater offensichtlich, sie ist aber ebenso bei Brecht zu finden, der z.B. in seinen Lehrstücken jede und jeden zur Mitspielerin oder zum Mitspieler werden lassen will und damit seinen einschneidendsten Vorschlag zur Erneuerung des Publikums und seiner Rolle macht. Im Antigonemodell von 1948, das zu seiner ersten Inszenierung nach der Rückkehr aus dem Exil entstand, wird der ideale Theaterabend von der Bühne auf die Buchseite transferiert. Der Weg führt aus den Theaterhäusern hinaus, ob wortwörtlich oder abstrahiert: radikales Theater ist auch gleichsam antitheatral. Bei der Frage nach dem Theater liegt ein Hauptaugenmerk der Kafka-Forschung auf Gestus und Körperlichkeit, sind doch Kafkas Charaktere gezeichnet von körperlicher Fragmentierung.[4] Walter Benjamin nannte es die „Auflösung des Geschehens in das Gestische.“[5] Ebenso macht Puchner den antitheatralen Charakter von Kafkas Prosa an Körper- und Sprachgesten fest.[6] Und Müller-Schölls kafkaeske Straßenszene fokussiert sich auf die Unmöglichkeit der Übertragung eines Unfalls in sowohl die Körpersprache des Autofahrers als auch den Akt der Protokollierung durch den Polizisten.[7]

Wenn aber der Weg des Theaters der Avantgarden aus den traditionellen Theaterhäusern führt und Kafka darum bemüht ist, theatrale Ästhetik innerhalb seiner Werke neu zu konfigurieren, so stellt sich die Frage nicht nur nach durch Gesten erfahrbaren Körpern, sondern auch nach einer vorherrschenden Raumerfahrung. Architektur und Raumkonstruktion sind bei Kafka in keinem Fall unbeachtet geblieben, doch verbindet sich die Diskussion zur Räumlichkeit –verschachtelte Zimmerfluchten und Flurlabyrinthe aus Der Prozeß kommen einem in den Sinn – oft lediglich mit Fragen der Gerichtsbarkeit und dem Bild einer Gesellschaft, die geprägt ist von schier undurchdringlicher Bürokratie. Was dagegen in den folgenden Überlegungen entwickelt werden soll, ist keine vollständige Kartographie von Kafkas Theaterwelt, sondern eher ein kleiner Spaziergang durch einige von Kafkas fiktiven Theaterräumen. Wie also ist das Theater beschaffen, von dem er schreibt?

Sowohl in seiner Prosa als auch in seinen Tagebucheintragungen kommt Kafka immer wieder auf die Theatersituation zurück und scheint eine Vielzahl von Konstellationen und Perspektiven durchzuspielen, sei es, dass die Erzählposition die eines Zuschauers oder eines Schauspielers ist, sei es, um verschiedene Blickwinkel auf das Konstrukt Bühne zu erhaschen. Für den anpassungsfähigen Affen aus Ein Bericht für eine Akademie steht der transformative Effekt seiner schauspielerischen Fähigkeiten auf den menschlichen Zuschauer im Zentrum; Josefine, die singende Mäusedame, präsentiert sich dem Leser dagegen durch die Augen eines teils kritischen, teils hämischen Mäuse-Publikums, das sie im Endeffekt aburteilt. Das Naturtheater von Oklahoma, dem Karl in Amerika begegnet, ist wohl die meist zitierte Variante einer solch offenen Theaterlandschaft, die sich auf der Claytoner Anwerbestelle als immenses Jahrmarkttreiben präsentiert. Nicht nur die Offenheit des Ganzen – schließlich wird dort jeder aufgenommen, wie das Plakat bewirbt – sondern auch dessen immense Größe treten schnell in den Vordergrund. Schon Karl konstatiert die Größe des Unternehmens. Dieser Eindruck vertieft sich im Gespräch mit Engel Fanny, die es nicht nur als „das größte Theater der Welt“ bezeichnet, sondern es sogar „fast grenzenlos“ nennt.[8] Naturtheater, Theater ohne Grenzen: da schwingt zunächst einmal die Utopie einer Totalität von Theater mit. Doch in seiner nur beinahen Grenzenlosigkeit verstärkt sich schlussendlich der implizite Widerspruch zwischen Natur und Theater in Kafkas Begriff, bedarf doch gerade das Theater der Abgrenzung von der Natur. Natur, im Sinne von Wildnis, bleibt ein blinder Punkt für das Theater und liegt jenseits seines Repräsentationsvermögens. Kafkas Naturtheater spielt somit satirisch mit den theatrum mundi-Begriff, allerdings im Sinne einer Entgrenzung des Theaters ohne das stabilisierende Moment einer göttlichen AutorInnen- oder ZuschauerInnenschaft. Was bleibt, ist allein der leere Raum. Das zeigt auch eine weitere Passage, in der Karl ein Bild der Präsidentenloge des Naturtheaters in Händen hält:

Beim ersten Anblick konnte man denken, es sei nicht eine Loge, sondern die Bühne, so weit geschwungen ragte die Brüstung in den freien Raum. […] weißes, doch mildes Licht enthüllte den Vordergrund der Loge, während ihre Tiefe hinter rotem, unter vielen Tönungen sich faltendem Samt […] als eine dunkle, rötlich schimmernde Leere erschien. Man konnte sich in dieser Loge kaum Menschen vorstellen, so selbstherrlich sah alles aus.[9]

Obwohl mehrere Bilder des Theaters durch die Runde gehen, erreicht nur dieser prunkhafte Ausschnitt des Zuschauerraums Karl, dessen Beschreibung Bühne und Zuschauerraum zu verdrehen scheint, und nicht nur ob der architektonischen Ausmaße der Loge. Auch der Samtvorhang erinnert an das Proszenium, in dessen Mitte „die rötlich schimmernde Leere“ zum Ort der Verheißung und Projektionsfläche für jegliche theatrale Aktion wird. Am eindrucksvollsten aber ist die Tatsache, dass die Gestaltung dieser Logenbühne nicht auf gewichtige Ehrengäste zu warten scheint, sondern ihre Theatralität ganz in der einsamen Selbstherrlichkeit des architektonischen Raumes jenseits des Menschen besteht. Kafkas Beschreibung steht hier im direkten Gegensatz zu einem Tagebucheintrag vom 8. Oktober 1911, der eine eher kärgliche Bühne nebst ZuschauerInnen in Vorfreude auf die nahende Ankunft lebender Körper zum Thema hat: „Der Anblick der einfachen Bühne, die die Schauspieler ebenso erwartet wie wir.“[10] Hier nun erscheint das Theater nicht ausschließlich definiert durch den Raum, sondern in Relation zu menschlichen Körpern und zumindest potentiellen Handlungen.

Auf den ersten Blick stechen die Unterschiede der beiden Szenarien hervor, der überwältigende stuckbesetzte Prunk des einen Theatersaals passt nicht zusammen mit dem kärglichen Bühnenbild aus Tisch und Stühlen. Und doch, in beiden Fällen sind es Räume, die von Leere geprägt sind: entweder sind es die SchauspielerInnen, die (noch) abwesend sind oder aber die ZuschauerInnen, deren Selbstinszenierung in der Loge unterhaltsamer Bestandteil eines Theaterabends sein könnte. Stattdessen: „rötlich schimmernde Leere.“ Das erinnert zunächst an eine seltsam verlockende Leere der Potentialität, wie Peter Brook sie in The Empty Space heraufbeschwört, aber auch eine epistemologische Leere, die beispielsweise von Shimon Sandbank als Verbindungsglied zwischen Ionesco und Kafka gezogen wird und auch sonst ein zentrales Topos in der Kafka-Forschung ist.[11] Die Leere ist zwar eine Grundkondition des Theaters, wo jeder leere Platz zur Voraussetzung für das kreative Spiel aus Sehen und Gesehen werden wird. Die Leere beflügelt den Erwartungshorizont, doch sie will ausgefüllt werden, und wenn nur durch einen Menschen, der sie durchquert. Doch trotz aller Erwartungshaltung, die auch dem Tagebucheintrag Kafkas innewohnt, ist hier diese Leere selbst der ästhetische Kern, den Kafka heraufbeschwört und den er sich auszufüllen weigert.

Was aber passiert, wenn nun doch jemand auf diese leeren Bretter tritt? Eine fast grenzenlose Bühne, wie Fanny es gerüchteweise über das Naturtheater gehört hat, kommt in einem weiteren Tagebucheintrag von Kafka vom 9. November 1911 zustande: „In einem Akt waren die Dekorationen so groß daß nichts anderes zu sehn war, keine Bühne, kein Zuschauerraum, kein Dunkel, kein Rampenlicht […]“[12] In ähnlicher Form wie das Naturtheater expandiert das Bühnenbild hier ins Grenzenlose und verschluckt den Theatersaal an sich. Stattdessen wird die ganze Stadt zur Szene, die „die schönste Dekoration der ganzen Erde und aller Zeiten war.“[13] Auch hier geht es um einen Raum, der auf die ZuschauerInnen überwältigend wirkt, weil in ihm Grenzziehungen verwischen oder verdreht erscheinen. In einer weiteren Variation des theatrum mundi wird die Bühne zum Ort der Grenzenlosigkeit, deren Raum manipulierbar und optimiert erscheint: nicht schnöde Realität, sondern phantastische Variante der Stadt außerhalb der Theaterwände. Es gibt zu diesem grenzenlos gewordenen Bühnenbild ein scheinbares Gegenstück in einem kurzen Fragment aus Kafkas Nachlass:

Das ist ein Leben zwischen Kulissen. Es ist hell, das ist ein

Morgen im Freien, dann wird es gleich dunkel, und es

ist Abend. Das ist kein complizierter Betrug, aber man

muß sich fügen solange man auf den Brettern steht. Nur

ausbrechen darf man, wenn man die Kraft hat, gegen den

Hintergrund zu, die Leinwand zu durchschneiden und zwischen

den Fetzen des gemalten Himmels durch, über einiges Gerümpel

hinweg in die wirkliche enge Gasse sich flüchten, die zwar

noch immer wegen der Nähe des Teaters Teatergasse heisst,

aber wahr ist und alle Tiefen der Wahrheit hat.[14]

In dieses Theater taucht man nicht ein. Stattdessen wird das Illusions- als Lebensprinzip zum Gefängnis aus dem es auszubrechen gilt, wobei die beklemmend wirkende Bühnendekoration richtiggehend zerstört werden muss. Doch wer ist es, der sich gegen den Raum, der ihn umgibt, wendet? Es scheint der Schauspieler selbst, der sich von seiner Existenz befreien will, ist er doch derjenige, der „auf den Brettern steht“. Andererseits sind die ZuschauerInnen so häufige BesucherInnen auf Kafkas fiktiven Bühnen, dass sich das unspezifische „man“ auf alle TeilnehmerInnen eines Theaterabends ausweiten ließe. Am bemerkenswertesten scheint jedoch, dass die Flucht in jedem Fall als Kraftakt in Form der Zerstörung der Bühne zu geschehen hat; das weitaus weniger dramatische Verlassen durch das Auditorium ist keine Alternative. Die Ironie des Ziels der engen Theatergasse scheint ebenso nur ein Wortspiel auf das sprichwörtliche „hinter die Kulissen blicken“. Denn hier ist zunächst nur Gerümpel, und gleiches befindet sich generell in den engen Gassen hinter den Theatern. Man mag sie sich vorstellen als düstere Sackgasse, verstellt mit Mülltonnen, bewohnt von Ratten. Was dann bleibt von der tiefen Wahrheit, ist der Unrat der „Teatergasse“ und die zerstörte Illusion der Leinwand, durch die man entkam.

Die zerschnittene Leinwand: das ist allerdings mehr als das fast schon antiquiert wirkende gemalte Bühnenbild mit seinen „Fetzen des gemalten Himmels“. Hinter ihr tut sich eben keine neue Welt auf, sondern nur der Schutt alten Gerümpels. Kafka muss sich der Doppeldeutigkeit seines Bildes bewusst sein, in dem die Leinwand als Projektionsfläche für das neue Medium Film ebenso präsent ist. Zerschnittene Leinwände finden sich im Kino als beliebter selbstreferentieller Topos, der dem Spiel-im-Spiel des Theaters nahe kommt.[15] Ebenso schafft W. G. Sebald die Verbindung von Kafka und Film in seinem Kafka im Kino, in dem er Kafkas Reaktion auf und Faszination für das damals neue Medium als „ein undeutliches Grauen […] vor den mit dem beginnenden Zeitalter der technischen Reproduktion sich anbahnenden Mutationen der Menschheit“ beschreibt.[16] Sebald zeigt Kafka als gesellschaftlichen Kommentator, der in das zentrale Kopie/Originalitätsthema des frühen Fotografie- und Filmdiskurses eingreift.[17] Sebalds Auseinandersetzung unterstreicht Kafkas geschärftes intermediales Bewusstsein und seine Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten und Gefahren ästhetischer Medien per se. Die Problematik medialer Übersetzung beschränkt sich also nicht auf das Übertragen theatraler Strategien ins Narrative sondern findet bei Kafka potentiell immer schon auf mehreren Ebenen statt. Die immerwährende Bühne wird zum Ort des „Grauens“, wie Sebald es oben beschrieb, denn in ihr verläuft man sich in der mise-en-abyme der Verdopplungsstrategien scheinbar unwiederbringlich. Damit ist der Schnitt durch die Leinwand in Kafkas Fragment natürlich auch ein Schnitt durch die Realität, den Himmel, der auf den fleddernden Fetzen gemalt ist. Realität verbleibt nur noch als Fetzen. Gleichzeitig markiert das Theater in Kafkas Texten immer auch mehr als Theater, es wird eine Art Metapher für die mediale Vervielfältigung, der Kafka gegenübersteht. Das Theater ist also nicht nur Gegensatz zum Schreibprozess, wie Puchner es formulierte, es markiert auch die allgemeine Proliferation der Reproduktionsmedien, die in der Lage sind, Wirklichkeit auf immer wieder neue und gleichsam irritierende Weise zu spiegeln.

So sind die von Kafka evozierten Bühnen ausgezeichnet durch einen hohen Grad an Selbstreflexivität, deren räumliche Strukturen selbst zum metatheatralen Kommentar werden. Denn in jedem der fiktiven Theaterräume, die wir bis hierher durchquert haben, geht es um Grenzverschiebungen und ultimativ um die Instabilität der Grenze zwischen Bühne und Zuschauerraum. Die Fotografie der Präsidentenloge des Naturtheaters von Oklahoma stellt die ebendiese Grenze in Frage, wie sich aus Karls verwirrtem Blick ergibt, sind doch Bühne und Loge sich hier zum Verwechseln ähnlich. Das Beispiel des zum Menschen avancierten Affen aus Ein Bericht für eine Akademie unterläuft die Grenze zwischen Mensch und Tier und vereint sie als potentielle Theaterspieler. Mark Anderson hat die Undurchdringlichkeit von Kafkas Theaterwelt unterstrichen.[18] Eine solche Undurchdringlichkeit zeichnet auch die Situation der Theatergänger aus, die zwischen den Kulissen feststecken. Ob sie verloren gehen in der Dekoration oder zwischen den Kulissen auszubrechen suchen, gerade diese Hervorhebung von Undurchdringlichkeit deutet auf einen Kontrollverlust im Repräsentationsprozesses hin, die im Drama gern durch den etablierten „Trick“ des Spiels-im-Spiel verhandelt wird, d.h. der Multiplikation der Realitätsebenen durch Momente des Dramas im Drama. In seiner Studie zu Formen des Metadramas identifiziert Richard Hornby das Spiel-im-Spiel als grundlegendes Moment, durch das es gilt, Wahrnehmungsapparat und Erkenntnisfähigkeit zu untersuchen. Dabei spricht er von einer regelrechten „dislocation of perception“.[19] Solch ein Fokus auf die fragile Relation von Wahrnehmung und Wahrheit ist ebenso präsent in Kafkas Werk, allerdings lässt sich hier natürlich nicht von einem Drama im Drama sprechen. Jedoch zeigt sich in der immer wieder präsenten Verschiebung theatraler Grenzen eine übertragbare Sensibilisierung Kafkas für die Transformation des Wahrnehmungsapparats in einer zunehmend multimedial geprägten Wirklichkeit, für die die Mimesis des Theaters nur Platzhalter ist. So erschafft Kafka eine Denkbühne der anderen Art, die Heiner Müllers Theater „aus Gehirnströmen, aus Schädelnerven“[20] ähnelt. Auf Kafkas Bühnen werden immer neue Perspektiven auf den Repräsentationsprozess durchgespielt und immer wieder neue fiktive Räume kreiert, in denen die verschwimmende Grenze zwischen Spiel und Ernst, Illusion und Realität im Zentrum steht. Doch geht es Kafka nicht wirklich um das Theater als pulsierende Erlebniswelt, sondern um Theater als Ort für das, was Benjamin und nach ihm Werner Hamacher mit dem Terminus „wolkige Stelle“ bezeichnet haben: „[…] und also heißt wolkige Stelle, daß sie nicht heißen, nicht benennen und bedeuten kann. Sie ist nicht Metapher für etwas anderes, sondern für die Unmöglichkeit der Metapher selbst […].“[21] Kafkas fiktive Theater werden zu Laboratorien für die epistemologische Krise, die durch den Reproduktionsapparat der Medien entsteht. Anders formuliert: es gelingt ihm, eine der fundamentalsten theatralen Konstruktionen, nämlich das Spiel-im-Spiel, zu verschriftlichen. Die Destabilisierung der theatralen Grenze, die im Spiel-im-Spiel auf der Verschachtelung von Spielebenen beruht, wird bei Kafka durch immer wieder neue Erzählpositionierungen in seinen fiktiven Theatern ersetzt, die es miteinander gemein haben, dass sie die Konditionen der Theaterräume, und mit ihnen der Wirklichkeit selbst, infrage stellen. Immer wieder findet der Zuschauer sich selbst zum Spielen gedrängt, während die Grenzen zwischen realem und fiktivem Raum schwinden. So wird Kafkas verschriftlichtes Theater ein Denken mit und über die Grenze im ästhetischen Raum an sich.

Worin also liegt die Begegnung von ‚Kafka und Theater’ heute und für uns als TheaterwissenschaftlerInnen? Wenn man durch Kafkas fiktive Theaterräume schlendert, so bemerkt man sowohl die antitheatrale Spannung, als auch die immense Anziehungskraft, die hier zwischen den Künsten besteht. Gleichzeitig wird klar, dass mehrere Grenzen destabilisiert werden: zwischen Realität und Illusion, aber auch zwischen Text und Theater, und schließlich zwischen Philologie und Theaterwissenschaft als Disziplinen, die von der Erinnerung an ihre Gemeinsamkeiten statt ihrer Differenzen profitieren würden. Kafka schafft einen gestischen Theaterraum, der sich uns als Idee einprägt und unser Theaterverständnis nachhaltig beeinflusst. Denn Kafkas fiktive Theater zeigen auf, dass das Theatererlebnis weit über die Kopräsenz von ZuschauerInnen und SchauspielerInnen im Aufführungsmoment hinausgeht und sich auf die schriftliche Ebene erweitern lässt. Vielmehr lebt das theatrale Ereignis von den Erinnerungen an die vielen Theater – vorgestellte und reale –, die wir besucht, durchwandert, beschrieben, auf den Kopf gestellt oder auch zu Fall gebracht haben. So entsteht ein schriftlicher Theaterraum, der sich mit architektonischen und dramatischen Räumen verbindet und so eine neue Metaebene offeriert. In ihm zittern, verabscheuen, schmachten und begehren wir und schaffen so das Theater als Idee und Erfahrung immer wieder neu.

  1. Vgl. Beck, Evelyn Torton: Kafka and the Yiddish Theatre. Its Impact on his Work. Madison/Milwaukee/London 1971, S. 12-31.
  2. Müller-Schöll, Nikolaus: „Theatralische Epik. Theater als Darstellung der Modernitätserfahrung in einer Straßenszene von Kafka“, in: Balme, Christopher et al. (Hg.): Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Marburg 2003, S. 189-201, hier S.196 f.
  3. Puchner, Martin: „Kafka’s Antitheatrical Gestures“, in: The Germanic Review 78, 3, Summer 2003, S. 177-193, hier S. 178.
  4. Vgl. Lack, Elisabeth: Bewegte Körper. Die Tagebücher und Briefe als Laboratorien von Bewegung. München 2009.
  5. Benjamin, Walter: „Franz Kafka. Zur Wiederkehr seines Todestages“, in: Tiedemann, Rolf/ Schweppenhäuser, Hermann (Hg.): Gesammelte Schriften II.2, Werkausgabe Bd. 5, Frankfurt a. M. 1980, S. 409 – 438, hier S. 418.
  6. Puchner, Martin: 2003, S. 184-188.
  7. Müller-Schöll, Nikolaus: 2003, S. 192-194.
  8. Kafka, Franz: Amerika Oder: Der Verschollene. Frankfurt a. M. 2007, S. 267.
  9. Ebd.: S. 281.
  10. Kafka, Franz: Tagebücher 1909 – 1923. Fassung der Handschrift. Frankfurt a. M. 1997, S. 52.
  11. Sandbank, Shimon: After Kafka: The Influence of Kafka’s Fiction. Athens/London 1989, S. 74.
  12. Kafka, Franz: 1997, S. 75.
  13. Ebd.
  14. Kafka, Franz: Nachgelassene Schriften und Fragmente. Jost Schillemert (Hg.). In: Franz Kafka. Schriften. Tagebücher. Briefe. Kritische Ausgabe. Born et.al. (Hg.), Frankfurt a. M. 1992, S. 358.
  15. Vgl. Paech, Joachim: „Das Loch in der Leinwand“, in: Röttger, Kati/Alexander, Jakob (Hg.): Theater und Bild. Inszenierungen des Sehens. Bielefeld 2009, S. 143-159.
  16. Sebald, W.G.: Campo Santo, hg. v. Sven Meyer, München/Wien 2003, S. 200.
  17. Ebd., S. 204.
  18. Anderson, Mark: „(…) nicht mit großen Tönen gesagt“: On theater and the theatrical in Kafka“ in: The Germanic Review 78, 3, Summer 2003, S. 167-176.
  19. Hornby, Richard: Drama, Metadrama, and Perception. Lewisburg 1986, S. 32.
  20. Müller, Heiner: „Theater ist Krise. Arbeitsgespräch vom 16. Oktober 1995“, in: Frank Hörnigk et al.: Ich Wer ist das / Im Regen aus Vogelkot / Im Kalkfell / Für Heiner Müller. Arbeitsbuch. Berlin 1996., S. 136 – 143, hier S. 141.
  21. Hamacher, Werner: „Die Geste im Namen: Benjamin und Kafka“, in: Ders. (Hg.): Entferntes Verstehen. Studien zur Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Frankfurt a. M. 1998, S. 287.

Schwerpunkt | Blind arbeiten. Kafkas Notiz zu einem Stück von Oskar Baum

In seinem Tagebuch[1] erzählt Kafka von einem Abend mit Freundinnen und Freunden, an dem sie sich gegenseitig eigene Texte vorlesen. Anwesend sind neben Franz Kafka Max Brod, Oskar Baum, ein „Fräul. T.“, vermutlich Felix Weltsch und vielleicht weitere Personen aus dem so genannten Prager Kreis:[2]

So war ich z.B. Samstag abend nach dem Anhören der guten Novelle des Fräul. T., die doch Max mehr gehört, ihm zumindest in größerem Umfange mit größerem Anhang gehört, als eine eigene, dann nach dem Anhören des ausgezeichneten Stückes „Conkurrenz“ von Baum, in welchem dramatische Kraft genauso ununterbrochen bei der Arbeit und in der Wirkung gesehen werden kann, wie im Erzeugnis eines lebendigen Handwerkers, nach dem Anhören dieser beiden Dichtungen war ich so niedergeworfen und mein durch mehrere Tage schon ziemlich leeres Innere ziemlich unvorbereitet mit so schwerer Trauer angefüllt, daß ich Max auf dem Nachhauseweg erklärte [hier kein Komma] aus Robert u. Samuel könne nichts werden.[3]

Dieser Satz führt in einem Zug vom Beginn des Lektüre-Abends zu dessen Ende, an dem Kafka mit seinem Freund Max Brod nach Hause geht.[4] Vieles im Text über diesen Samstagabend bleibt unklar: Wem gehört der Text nun zu welchen Teilen, den Fräul. T. laut liest, und warum ist dies für Kafka von Bedeutung?[5] Warum denkt er beim Nachhausegehen, dass das Projekt eines gemeinsamen Romans mit Brod unter dem Titel Robert und Samuel, das die beiden nun schon eine Zeitlang planen, zum Scheitern verurteilt ist?[6] Der Titel des Stücks, das Baum vorliest, Conkurrenz, lässt an die konkrete Lektüresituation (Fräul. T. gegen Oskar Baum, zumindest, Fräul. T. gegen Max Brod, alle auch irgendwie gegen Kafka – und wer weiß, ob nicht noch weitere Texte gegeneinander gelesen wurden) ebenso denken wie an Kafkas Stellung innerhalb des Prager Kreises.[7] Die Idee der Konkurrenz, des Wettkampfs, referiert dabei auf die vielfältigen Beziehungen, die Autorinnen und Autoren zueinander pflegen – betreffend die Diskussion der UrheberInnenschaft und ihre Bedeutung; betreffend die Teilnahme an Lektüreabenden, an welchen Unfertiges zur Debatte gestellt wird; oder betreffend die Diskussion der Möglichkeit der Ko-AutorInnenschaft. In gewisser Weise gewinnt die Vokabel Konkurrenz (Conkurrenz) damit von der Mitte des Satzes her eine bestimmende Bedeutung: Es handelt sich um die grundlegende Idee einer Verhandlung von Arbeitsbedingungen von Autorinnen und Autoren und von den möglichen Bestimmungen ihrer Beziehungen untereinander. Kon-kurrenz: parallel laufende, gegeneinander versetzte Bewegungen. Vor diesen Betrachtungen tritt ein weiteres Detail in den Vordergrund, das die konkrete Arbeit an Texten betrifft: Wenn Kafka auf Baums Vortrag – dieses „ausgezeichneten Stückes“! – zu sprechen kommt, schreibt er, dass für ihn darin „dramatische Kraft genauso ununterbrochen bei der Arbeit und in der Wirkung gesehen werden kann, wie im Erzeugnis eines lebendigen Handwerkers“. Was hat es mit dieser dramatischen Kraft auf sich? Oskar Baum wird als Autor gezeichnet, der in spezieller Weise Handwerker ist, dessen Kraft hier sichtbar wird, „bei der Arbeit und in der Wirkung“ sichtbar, „ununterbrochen“. Die Auswirkung eines Texts, eines Dramas, laut vorgelesen, kommt hier zur Anschauung. Kafkas Beschreibung lässt uns nachvollziehen, wie er den Text in chronischer Doppelung wahrnimmt, und er bemüht dazu den Vergleich mit einem handwerklichen Erzeugnis, in dem das Moment seiner Erzeugung weiterhin fortwirkt. Kafka empfindet es so, als könne er Baum bei der Arbeit und als könne er dem Text bei seiner Wirkung auf sein Publikum zusehen. Er schildert seine Wahrnehmung des Dramas als die eines literarischen Erzeugnisses, in das einerseits Arbeit gesteckt wurde und von dem andererseits eine bestimmte Bewegung ausgeht. Kafka betont diese doppelte Anschauung, er verweist auf die beiden Gesichter des Texts in seinem Vorgelesen-Werden. Diese Beobachtung entsteht aus der Szene dieses Vorlesens, in der sich Kafka findet: Er selbst hat Baums Text nicht vor sich, ihn nicht vorab gelesen, und nun entfaltet dieser sich für ihn im Vortrag des Freundes. Kafka erinnert daran, dass diese beiden Aspekte, also Zeitlichkeit und Räumlichkeit, hier in der Szene des Vorlesens miteinander verbunden sind. Er betont, dass jedem künstlerischen Produkt ein künstlerischer Produktionsprozess eignet. Was ihm zu gefallen scheint, ist die Idee, dass beide Aspekte nun gleichzeitig in eine spezielle Sichtbarkeit treten – dem Text könne „ununterbrochen bei der Arbeit und in der Wirkung“ zugesehen werden. Die Idee dieser doppelten Sichtbarkeit im Rahmen der Lesung nun aber genau in Bezug auf Baum herauszustellen ist deshalb entscheidend, weil Baum blind ist – eine für Kafka so offensichtliche Tatsache, dass sie in seinen Tagebuchnotizen zur Familie Baum keinen Niederschlag findet.[8] Von Brod wissen wir, dass Baum bereits in früher Jugend in Folge eines Unfalls erblindete und daraufhin in einem Wiener Blinden-Institut erzogen wurde.[9] Er wurde Mitglied im Prager Kreis, und als Schriftsteller war ein „größerer Teil [seines] literarischen Schaffens […] von Baums eigenen Erlebnissen als Blinder geprägt.“[10] Baum schreibt und liest also, obwohl er blind ist: Der Schlüssel zu seiner Lese- und Schreibtechnik ist Braille, die Schrift, die mit den Fingern gelesen wird und bei welcher jeder Buchstabe durch ein spezielles Sechs-Punkte-Muster in einem Hexadezimalsystem dargestellt ist.[11] Baum nutzte ein spezielles portables Schreibgerät, was durch die Beschreibung einer bestimmten Szene durch Max Brod überliefert ist: Brod beschreibt eine Situation, in der die Schriftstellerfreunde außerhalb von Prag auf einem Hügel sitzen und Baum seinen Braille-Apparat herausnimmt, den er immer dabei zu haben scheint. Er hat bereits dickes Papier in das kleine Gerät eingelegt und beginnt, mit einer kleinen Nadel daran zu arbeiten, wobei er Klickgeräusche erzeugt.

Wir glaubten daran (und Baum bestärkte uns durch sein ganzes unbefangenes Benehmen in diesem Glauben), daß wir manchmal durch irgendwelche geheimnisvollen Schwingungen ihm mitteilen konnten, was wir sahen. Der Blinde sah mit unsern [sic] Augen. Wir versuchten sogar, auf einem Aussichtspunkt, ihm das Gefühl des weiten Raumes, der fernen Stadt und ihrer verschwimmenden Farben zu vermitteln. Dann saßen wir auf einer Bank, Baum hatte schon seinen Braille-Apparat hervorgeholt, den er immer bei sich trug – schon war in die kleine zweiteilige Messingklappe ein dickes Papier eingeklemmt, und nun arbeitete Baum mit seinem Stichel flink drauflos, klapperte in den viereckigen Löchern der Metallfläche. Auf diese Art machte er seine Notizen; die er uns aber in dieser unfertigen Form nie vorlas, das hätte sein künstlerischer Geschmack nicht zugelassen.[12]

Der Apparat, mit dem Baum arbeitet, ist offenbar recht einfach auf einen Spaziergang mitzunehmen. Für Notizen wird ein Stichel genutzt, mit dem durch eine speziell angefertigte Metallfläche das Papier mit Erhebungen versehen werden kann. Corngold und Wagner gehen in ihrer Untersuchung zum Maschinellen in Kafkas Schreiben so weit, dass sie diesen Braille-Apparat und die mit ihm ausgeführte Tätigkeit als eine der vielen Referenzen für den „Apparat“ in Kafkas Erzählung In der Strafkolonie in Verbindung bringen.[13] Dieser Apparat dient allerdings laut Brod nur für die Notizen, Zum Vorlesen – und also für die eingangs geschilderte Szene – greift Baum wohl auf eine überarbeitete Version zu:

Später las er wohl von dem dicken, mit unzähligen hervorstehenden Punkten bedeckten Papier das ab, was er ausgearbeitet hatte. Er las mit seinen fein empfindlichen Fingerspitzen, die er rasch über das Papier führte. Wir aber, indem wir ihn auf möglichst taktvolle Art korrigierten, unmerklich-behutsam zu belehren suchten, kamen uns manchmal in all unserem Freundschaftseifer grotesk vor, ähnlich jenen beiden gespenstischen Erziehungs-Experten, den famosen Biedermännern Herrn Bouvard und Herrn Pécuchet, wie Flaubert sie unerbittlich als halbe oder zu Zeiten ganze Dummköpfe geschildert hat.[14]

Somit ist Lesen und Schreiben tatsächlich eine andere Kulturtechnik für Baum als für den Rest des Prager Kreises, insofern sie Hören und Sehen in einen anderen Bezug zueinander setzt. Aber Baum gilt seinen Zeitgenossinnen und -genossen als Schriftsteller, der sehr lebendige und komplexe räumliche Anordnungen und Arrangements entwickelt – wie Brod berichtet: Sein Roman Leben im Dunkeln[15] stelle beispielsweise Ansichten und Einsichten eines groß angelegten Gebäudes zur Verfügung, inklusive Garten, Werkstätten, geheimen Eingängen. Brod bezeichnet ihn als ein „Meisterwerk“ in Bezug auf räumliche Darstellung:

Sein hierauf entstandener Roman ‚Das Leben im Dunkeln‘, der das Erziehen, Erzogenwerden und die Sehnsucht nach besserer Erziehung in einem Blindeninstitut darstellt, ist ein Meisterwerk körperlich raumhafter Darstellung. Man sieht das ganze weitläufige Areal vor sich, Garten, Werkstätten, geheime Zugänge, Direktion, Schule, zahllose Zimmer und den übersinnlichen Zusammenhang in all dem, den kein Situationsplan darstellen kann.[16]

Baum beschreibt eine komplexe architektonische Anordnung, dem eine große Sichtbarkeit zukommt – „man sieht das […] Areal vor sich“ – und lässt bei dieser Vermittlung seiner Vorstellung damit seinerseits eine Art von „übersinnliche[m] Zusammenhang“ entstehen, die vielleicht in gewisser Weise den „geheimnisvollen Wellen“ der Mitteilung entspricht, von dem Brod an anderer Stelle spricht. Es geht hier um die Vermittlung von räumlichen Anordnungen durch Literatur, die über die Grenze der Blindheit hinweg erfolgt, und trotz dieser Blende. Was könnten diese Situationen und Szenen des blinden Schreibens nun mit Kafkas Werk zu tun haben? Oskar Baum, das ist an dieser Stelle vielleicht wichtig zu erwähnen, bezeichnet Kafka als engen „Helfer und Freund“, als guten Kollegen.[17] Kafka kennt Baum und seine Arbeit sehr gut und macht in der Betrachtung der Szene der Lesung mit Baum nun die eingangs diskutierte Beobachtung, die das Prozessuale und das Werkhafte des literarischen Vortrags zu fassen sucht. Kunst kann offenbar, wenn sie entsprechend „handwerklich“ gefertigt wurde, als „ausgezeichnet“ erkannt werden und dabei nicht unsichtbar machen, wie sie verfertigt wurde. Es scheint auf den ersten Blick konservativ, wenn Kafka an dieser Stelle auf den Begriff des Handwerks zurückgreift, aber es muss die Frage gestellt werden, ob Kafka nicht mit dem Begriff des Handwerks an dieser Stelle ein Hand-Werk meint: Nämlich das Werk eines Schriftstellers, der die Räumlichkeit der Welt zunächst über den taktilen Sinn wahrnimmt und sie über seine Hand-Schrift, sein Schreiben auf dem Braille-Apparat, umgestaltet und zu etwas doppelt Sichtbarem werden lässt, obwohl er selbst nicht sehen kann. Es handelt sich demzufolge um handwerkliche Arbeit an Bildern zwischen zeitlicher Konstituierung und räumlicher Veränderung, Arbeit an Zeit-Raum-Bildern. Aber könnten mit dieser Beschreibung nicht auch schriftstellerische Strategien gefasst werden, die nicht bei Baum, sondern bei Kafka dafür sorgen, dass Bauwerke ständig in anderer Weise imaginiert werden müssen (Beim Bau der chinesischen Mauer); dass sich ein Lesepublikum Situationen und Verfasstheiten in ihrer beständigen Veränderung vorstellen muss (Die Verwandlung); dass sich im Laufe der Narration Objekte wie Odradek und deren Beschreibung ständig verschieben und erweitern (Die Sorge des Hausvaters)? Vielleicht ist es interessant, in diesem Zusammenhang auf Walter Benjamins Begriff der Entstellung zurückzukommen, die er an der Figur Odradek aus der Erzählung Die Sorge des Hausvaters entwickelt: [18]

Entstellt ist die ‚Sorge des Hausvaters‘, von der niemand weiß, was sie ist, entstellt das Ungeziefer, von dem wir nur allzu gut wissen, daß es den Gregor Samsa darstellt, entstellt das große Tier, halb Lamm halb Kätzchen, für das vielleicht ‚das Messer des Fleischers eine Erlösung‘ wäre.[19]

Diese Entstellung wäre nach den hier angestellten Überlegungen allerdings ein aktiv betriebenes Entstellen und damit weniger etwas, das bereits vor der Beschreibung durch Kafka stattgefunden hat und nun durch ihn nur aufgezeichnet wird, sondern etwas, an dem gearbeitet wurde und das weiter in den Texten arbeitet.[20] Vor unseren Augen, wenn man so will, verändern sich bei Kafka ganze Gebäude (Die große chinesische Mauer), Figuren (Die Sorge des Hausvaters) und Personen (Die Verwandlung). Kafka arbeitet hier an einem Prozess der Entstellung für die raum-zeitliche Beschreibung von Situationen.[21] Er scheint ganz genau zu wissen, dass Erzählungen und Formulierungen etwas zu sehen geben, obwohl sie sich in gewisser Weise in Textform als Blende zwischen Lektüre und Diegese stellen und entwickelt eine bestimmte Blindheit des Textes gegen das, was dieser vorstellt. Dazu arbeitet er, zumal in seinen Tagebüchern, an einer gewissen dramaturgischen und erzählstrategischen Handwerklichkeit seines Schreibens, die häufig auf spezielle Umgestaltungen fokussieren; Entstellungen, Verwandlungen und Prozesse, die sich im Zuge der Lektüre nach und nach konstituieren. Es handelt sich dabei um ein Schreiben, das im Sinne Rüdiger Campes „eine Bewegung“ meint, „die die Grenze der Unterscheidungen in Richtung auf den Körper oder auf Materialität überquert.“[22] Kafka arbeitet an und mit dieser doppelten Sichtbarkeit, die Texte in der Szene des Vorlesens zeitigen, und es geht ihm damit, um Benjamins Begriff ernst zu nehmen, selbst um die ununterbrochene Dar- und Ent-stellung von Figuren – wenn beispielsweise nachvollzogen werden kann, wie „entstellt das Ungeziefer“ ist, das „Gregor Samsa darstellt“. Wenn Kafka also gerade beim Vortrag Oskar Baums eindrücklich als Synopse beschreibt, wie für ihn „dramatische Kraft“ sichtbar wird, sowohl „bei der Arbeit“ als auch „bei der Wirkung“, dann scheint es, als entspringe diese doppelte Sichtbarkeit von Arbeit und Wirkung in gewisser Weise aus einer speziellen Blindheit, die sich aus der radikalen Verschiedenheit von Text und textlich Mitgeteiltem ergibt. Kafkas Begriff vom Schreiben zielte damit immer auf eine spezielle Komposition von Texten, die Momente von Darstellung und Entstellung verfugen und gerade dadurch ihre dramatische Kraft entfalten, weil sie um die Möglichkeit ihrer doppelten Anschauung wissen.

  1. Für die Wertung der Stellung der Tagebuchnotizen in Kafkas Werk folgt dieser Aufsatz einem Hinweis Walter Müller-Seidels: „Das Jahr 1910 bezeichnet eine allgemeine Wende in der literarischen Entwicklung. Daß Kafka als Tagebuchautor in diesem Jahr beginnt, ist weder zufällig noch privat. Noch ehe er etwas veröffentlicht, erhalten seine Niederschriften einen exemplarischen Sinn, wie er dem Öffentlichkeitscharakter der Literatur entspricht. Der Vorgang der literarischen Wertung, der damit in Frage steht, hat zur Folge, daß wir nicht berechtigt sind, Tagebücher wie diese als bloß inhaltlich biographisches Quellenmaterial zu behandeln. Sie sind in eine künftige ‚Poetik‘ zu ‚integrieren‘. Die Frage stellt sich von selbst, welche Kriterien es sind, die das ‚sprachliche Kunstwerk‘ dergestalt erweitern.“ Müller-Seidel, Walter: Probleme der literarischen Wertung. Stuttgart 1965, S. 55.
  2. Vgl. hierzu v.a. Brod, Max: Der Prager Kreis. Frankfurt am Main 1984; weiterführend Pazi, Margarita: Fünf Autoren des Prager Kreises. Frankfurt am Main u.a. 1978; im kritischer Auseinandersetzung mit dem Begriff und in Zusammenhang mit Oskar Baum auch besonders Dominik, Sabine: Oskar Baum (1883-1941). Ein Schriftsteller des „Prager Kreises“. Würzburg 1988, hier v.a. S. 33-41.
  3. Kafka, Franz: Tagebücher. Band I: 1909-1912. Frankfurt am Main 1994, S. 165. Die Notiz ist Teil einer längeren Eintragung vom 30. Oktober 1911.
  4. Kafka war häufig bei Baum zu Gast, in seinen Tagebüchern findet sich die erste Eintragung zu diesen Besuchen für den 21. Dezember 1910, vgl. Kafka 1994, S. 108: „Bei Baum gewesen, so schöne Sachen gehört. Ich hinfällig wie früher und immer. Das Gefühl haben, losgebunden zu sein und gleichzeitig das andere, daß, wenn man losgebunden würde, es noch ärger wäre.“ Kafka führte zudem einen regen Briefwechsel mit Baum, vgl. Kafka, Franz: Briefe 1902-1924, Frankfurt am Main 1994.
  5. Es handelt sich bei „Fräul. T.“ laut Max Brod um dessen Freundin und spätere Frau Elsa Taussig, mit der gemeinsam er an der Novelle Weiberwirtschaft arbeitete, vgl. den Kommentar zu Kafka, Tagebücher I, 1994, S. 322.
  6. Später auch unter dem Titel „Richard und Samuel“, für den dieselbe Abkürzung gälte, vgl. einen Tagebucheintrag am 14. November desselben Jahres: „Jetzt eine Skizze zur Einleitung für Richard und Samuel versuchen.“ Ebd., S. 194.
  7. Zudem verbindet die Schreibung mit „C“ diesen Text vielleicht mit einem anderen mit „C“ geschriebenen Wort: In Conkurrenz lesen wir vielleicht auch von der „Ceremonie“, bei der die Leoparden in den Tempel eindringen. In der maßgeblichen von Dominik 1988 vorgelegten Bibliografie zu Oskar Baums Werk findet sich kein Hinweis zu Conkurrenz.
  8. Vgl. zu Baum grundsätzlich Sabine Dominik 1988; Jacobsen, Wolfgang/Pardey, Wolfgang (Hg.): Oskar Baum: Der Blinde als Kritiker. Texte zu Musik und Literatur. München 2014.
  9. Brod, Max: „Notiz zum Schaffen Oskar Baums“, in: Die Freistatt – Alljüdische Revue. Monatsschrift für jüdische Kultur und Politk, Heft 4 (07/1914), S. 229-234, hier S. 229: „Damals wußte ich über Oskar Baum nur, daß er in früher Jugend durch unglückselige Fälle erblindet, daß er in einem Wiener Blindeninstitut erzogen worden war.“
  10. Dominik 1988, S. 58.
  11. Bei Dominik 1988 und Jacobsen/Pardey 2014 finden sich keine Angaben zu den schreibtechnischen Praktiken seiner literarischen Tätigkeit.
  12. Brod, Max: Der Prager Kreis. Göttingen 2016, S. 180-181.
  13. Corngold, Stanley/Wagner, Benno: Franz Kafka. The Ghosts in the Machine. Evanston 2011, S. 78.
  14. Ebd., S. 181.
  15. Vgl. Baum, Oskar: Das Leben im Dunkeln, Berlin 1909, nach Wissen des Autors zum Zeitpunkt der Veröffentlichung über die DNB nicht einzusehen, antiquarisch gehandelt für ca. € 250.
  16. Brod 1914, S. 233:
  17. Binder, Hartmut: „‚Jugend ist natürlich immer schön…‘ – Kafka als literarischer Herausgeber“, in: ders.: (Hg.): Prager Profile. Vergessene Autoren im Schatten Kafkas, Berlin 1991, S. 17-93, hier S. 64: „Unter Kafkas Büchern hat sich der 1909 erschienene Roman Das Leben im Dunkeln von Oskar Baum erhalten, der dieses Exemplar mit folgender handschriftlicher Widmung versehen hat:
    Meinem lieben Helfer und Freund.
    Dem lieben Dr. Franz Kafka
    Oskar Baum.
    Der erste der beiden verwendeten Begriffe kann sich nicht allein auf den Umstand beziehen, daß Kafka im Juli 1909 den Epilog dieses Werks einer Kritik unterzogen hat. Vielmehr ist anzunehmen, daß er dem blinden Kollegen auch schon zuvor mit Ratschlägen zur Seite gestanden und praktische Hilfe bei der Endredaktion geleistet hat.“
  18. Benjamin Walter: „Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. II, S. 409-438, hier besonders S. 431-432: „Odradek ist die Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen. Sie sind entstellt. Entstellt ist die ‚Sorge des Hausvaters‘, von der niemand weiß, was sie ist, entstellt das Ungeziefer, von dem wir nur allzu gut wissen, daß es den Gregor Samsa darstellt, entstellt das große Tier, halb Lamm halb Kätzchen, für das vielleicht ‚das Messer des Fleischers eine Erlösung‘ wäre. Diese Figuren Kafkas aber sind durch eine lange Reihe von Gestalten verbunden mit dem Urbilde der Entstellung, dem Buckligen.“
  19. Benjamin, Walter: Gesammelte Schriften, Band II, S. 1245.
  20. Hier bin ich dem Hinweis von Roger Thiel gefolgt, der damit seine Schrift einleitet, vgl. Thiel, Roger: Anarchitektur. Lektüren zur Architektur-Kritik bei Franz Kafka. Berlin 2011.
  21. Es wäre hier spannend, Kafkas Vorgehen mit den Strategien zu vergleichen, die in Texten von Heiner Müller (Bildbeschreibung), Peter Handke (Der Bildverlust) oder Dietmar Dath (Die Abschaffung der Arten) zur Anwendung kommen.
  22. Campe, Rüdiger: „Die Schreibszene. Schreiben“, in: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, K. Ludwig: Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Situationen offener Epistemologie, Frankfurt am Main 1991, S. 759-772, hier S. 760.

Schwerpunkt | Die Täuschung der Parabel: Das Schweigen der Sirenen am Abgrund der Erzählungen

Die etwas mehr als eine Seite umfassende Erzählung Das Schweigen der Sirenen aus Kafkas Nachlass beginnt unmittelbar mit dem ersten Wort „Beweis“. Ein Erzähler oder eine Erzählerin (scheinbar auktorial, weder genannt noch charakterisiert noch durch irgendein grammatikalisches Zeichen angezeigt), kündigt den Lesenden einen Beweis an: „Beweis dessen, daß auch unzulängliche, ja kindische Mittel zur Rettung dienen können.“ [1] Schon dieser Einstieg verunsichert, denn wer will das beweisen? Beweist sich der Beweis selbst? Wer spricht hier und wenn es eine Beweisführung ist, was für eine Art Erzählung liegt dann vor – etwa eine Parabel?

Auf die kurze Einführung lässt Kafka einen Text über die kindlichen Maßnahmen eines gewissen Odysseus folgen. Maßnahmen gegen die Gefahr, die von dem Gesang der Sirenen ausgeht bzw. von deren Nicht-Singen, deren Schweigen. Damit gehört der Text zu jenem winzigen Korpus von insgesamt drei Erzählungen Kafkas, welche antike Mythen neu erzählen und dabei signifikant verändern: Neben der besagten Erzählung sind dies Prometheus (1918) und Poseidon (1920). Die Akzentverschiebung Kafkas, nicht das Singen, sondern das Schweigen in den Vordergrund zu rücken, veranlasste Max Brod dazu, der Erzählung bei der Erstveröffentlichung 1930 posthum aus Kafkas Nachlass den heute geläufigen Titel zu geben. Kafka hatte den Text unbetitelt gelassen und ihn zwischen dem 23. und 25 Oktober 1917 in seinem Oktavheft 3 notiert.[2]

In der Rezeptionsgeschichte wurde nicht selten darauf verwiesen, dass sich Kafka und die Sirenen eine Art von Theater gegenseitig vorspielen. Ich werde daher die Theatralität der Erzählung als ein listiges Hinterfragen der Erzählung der aufklärerischen Moderne, mithin aber auch als ein Spiel mit jenem Konzept der Theatralität als einer Sichtbarkeit untersuchen. Unter der ‚Erzählung der aufklärerischen Moderne‘ verstehe ich die Bildung einer synthetischen, geschlossenen Behauptung des Subjekts dank der Verbindung von kritischer Erkenntnis, Selbstbeherrschung und der Emanzipation aus dem Bann von Mythen. Dass die Kritik an dieser Subjektposition ebenso wie die Kritik an der Vorstellung einer (einzigen) Moderne heute nicht neu ist, liegt auf der Hand. Doch interessiert hier die vermeintlich objektive Betrachterposition, welche aufs engste mit dieser Vorstellung verbunden ist und sich aller Kritik an Subjekts-, Geschichts- oder Vernunftskonzepten vor allem an einem Ort retten konnte: dem Theater. Kafkas listenreiches Spiel mit der Prometheus-Erzählung greift insofern nicht von ungefähr das theatrale Motiv der Illusion auf, welches wiederum die Kategorien des Bildlichen und des Spiegels betrifft. Insofern werden Kafkas Sirenen und sein Odysseus insbesondere anhand der hier verdoppelten und ambivalenten Figur der Täuschung und Illusion verfolgt, die zunächst aus dem Spiel von Text und Intertext entwickelt und dann als eine Doppelung der Irreführungen aus einem Theater der Rhetorik und einem Theater des Blickes dargelegt werden. Damit aber nicht genug: Kafkas kleiner Text schließt mit einer dritten, weitaus größeren Verunsicherung, die in einer mise en abyme kulminiert. Die Erzählung selbst wird ihrer eigenen unsicheren Leere ausgesetzt und damit öffnet Kafka die Konstruktion der Erzählung ihrem eigenen Abgrund gegenüber, lässt aber auch selbst diesen Abgrund gleichzeitig kollabieren, indem er dessen Konstruktion ausstellt.

Text und Intertext

Das Schweigen der Sirenen distanziert die Lesenden vom vermeintlichen Geschehen und nimmt sie paradoxerweise darin auf: Wie bei einem Beweis vor Gericht ist die Erzählung bereits, wie Bettine Menke in ihrer Deutung von Kafkas Sirenen hervorgehoben hat, Lektüre und Interpretation.[3] Und für Christiaan L. Hart Nibbrig entwickelt Das Schweigen der Sirenen geradezu ein Eigenleben oder zumindest eine von einem Erzähler-/Autorsubjekt abgelöste Aktivität: „Der Text schreibt den Homerischen, den er voraussetzt, fort und um.“[4] So wie unklar ist, wer diese Geschichte erzählt, wird bei diesem Beweis hier nicht deutlich, ob es überhaupt einen bewertenden oder rationalen Betrachtenden des Geschehens gibt. Denn was fehlt, ist, wie einleitend angedeutet, ein wirklicher Urheber des Beweises, der sich für seine Gültigkeit gewissermaßen verbürgt. Umgekehrt fehlt aber auch die Artikulation der Möglichkeit der ‚legitimen Betrachterposition‘ vermittels des Beweises. Während also mittels eines Beweises im herkömmlichen Verständnis sowohl die bekannten Fakten zusammengetragen als auch die distanzierte Position eines bewertenden und rationalen Betrachters behauptet werden könnte, verwischt diese Erzählung zusammen mit der Unklarheit über den Beweis die Grenzen zwischen dem Prätext und dem eigentlichen Text der Erzählung selbst. Als Lesende sind wir schon ab dem ersten Satz in ihm drin, doch ebenso durch die Anbindung an den bekannten Metatext des homerischen Epos auch außerhalb von ihm. So beinhaltet der erste Satz in nuce die ganze paradoxe Schwierigkeit des Folgenden, zwischen ‚eigentlichem‘ Text und Metatext immer wieder unentscheidbar zu changieren. Der Satz kündigt also inhaltlich einen Beweis an, aber in seiner eigenen Form eröffnet der Satz statt eines eindeutigen Beweises ein unentscheidbares Verfahren – und diese Unentscheidbarkeit wird dann zum Charakteristikum des als Beweis bezeichneten Folgenden.

Diese Unentscheidbarkeit oder Verunsicherung geht aber soweit, dass es selbst ungewiss sein könnte, ob der erste Satz überhaupt im engeren Sinne den folgenden Text als Beweis ankündigt oder nicht vielleicht für sich steht. Anlass für diesen Einwand gibt ein scheinbar unwichtiges editionsgeschichtliches Detail: Während die meisten Editionen von Das Schweigen der Sirenen einen Doppelpunkt nach dem besagten ersten Satz einfügen, steht dieser in Kafkas Oktavheften einfach nur mit einem Punkt. Gemäß der eingangs formulierten Frage ist also wirklich nicht klar, ob dieser Beweis auf die folgende trickreiche List des Odysseus bezogen ist – oder nicht auf die trickreiche Erzählung selbst. Oder beides? Obwohl die Frage nach Doppelpunkt oder Punkt wie eine Haarspalterei klingen mag, gilt es gerade solche Nuancen in Kafkas Schreiben genau zu bedenken. Denn die Verwendung des Themas der Odyssee erlaubt wegen der Bekanntheit des homerischen Epos eine reduzierte Sprache, sodass in synekdochischer Weise Referenzen zu diesem gesetzt werden.

Kafka führt mehrere signifikante Änderungen in die Erzählung ein, als erste und wichtigste, dass Odysseus sich selbst die Ohren verstopft bevor er sich „am Mast“ festschmieden lässt. Bei Homer hingegen muss sich nur die Schiffsbesatzung die Ohren verstopfen, Odysseus darf hören, denn er ist ja festgebunden. Der Mast ist, wie sich an dieser Stelle zeigt, ein gutes Beispiel für das eben erwähnte synekdochische Verfahren: Bettine Menke hat darauf verwiesen, dass, wenngleich ohne Erwähnung eines Schiffes, nur von einem Mast die Rede ist, wir dennoch um die Existenz des Schiffes wissen oder meinen, darum zu wissen.[5]

Zweitens fügt Kafka ein, dass es „in der ganzen Welt bekannt [war], daß das unmöglich helfen konnte“, weil der „Gesang der Sirenen“ alles „durchdrang“. Just der listenreiche Odysseus dachte an diesen entscheidenden Punkt aber gar nicht, „obwohl er davon vielleicht gehört hatte. Er vertraute vollständig der Handvoll Wachs und dem Gebinde Ketten und in unschuldiger Freude über seine Mittelchen fuhr er den Sirenen entgegen.“ Die scheinbare Lösung dieser eigentlich zum Scheitern verurteilten Strategie nun offeriert Kafka durch die dritte Veränderung gegenüber der Version Homers, durch den besonderen Kniff des Schweigens („eine noch schrecklichere Waffe“), welches sich als verheerender erweisen soll als das Singen. Damit wird das Schweigen zum zentralen Punkt einer verschobenen Geschichte und Intrige, in welche Kafka allerdings noch eine vierte Veränderung einführt. Demnach folgt Odysseus nicht einfach Kirkes Anweisungen, wie den Sirenen zu begegnen sei, sondern spielt ein doppeltes Spiel, indem er nicht den Sirenen nur einen Scheinvorgang vortäuscht, sondern auch die Götter austrickst, wie es im letzten Absatz der Erzählung als Möglichkeit auftaucht.

Beiden Versionen, der homerischen und der kafkaschen, ist gemein, dass paradoxerweise eigentlich nur Odysseus selbst derjenige sein kann, der die Geschichte seiner Reise erzählt, weil er ja der einzige ist, der überlebt (Homer), bzw. der einzige Zeuge überhaupt (Kafka). Odysseus wird Homer. Bertolt Brecht wiederum hat diesen Punkt in Odysseus und die Sirenen, seiner Version der Episode, aufgegriffen, ebenso wie sich Brecht auf Kafkas Version bezieht, so heißt es in einer Anmerkung: „Für die Geschichte findet man auch bei Franz Kafka eine Berichtigung, sie scheint wirklich nicht mehr recht glaubhaft in neuerer Zeit!“[6] Brechts besondere Drehung besteht darin, dass die Sirenen sich weigern, für einen festgebundenen Odysseus zu singen und es vorziehen, diesen „verdammten, vorsichtigen Provinzler“[7] zu beschimpfen. Der bloßgestellte Odysseus hingegen tut so, als höre er sie dennoch singen und gaukelt dies seinen Ruderern vor, die ja selbst nichts hören. Um den Schein auch für die Nachwelt zu wahren, erzählt schließlich Odysseus überall seine Version der Geschichte. Brecht baut damit den angesprochenen Aspekt der theaterhaften Schauanordnung weiter aus, indem er auf den Illusionscharakter des Vorgaukelns eingeht. Dergestalt eröffnet Brecht in seiner Lektüre von Kafkas Lektüre von Homer eine folgenschwere Deutungslinie: Die Konstellation vom festgebundenen Odysseus gegenüber dem entfernten Schauspiel der Sirenen wird zur Miniatur der Betrachtersituation im neuzeitlichen Theater, der ganz reglos und ohne vom Geschehen tangiert werden zu können, der Kunst lauschen möchte. Brecht lässt dann wiederum die Sirenen, „diese machtvollen und gewandten Weiber“[8], sich als Repräsentantinnen eines anderen Kunstanspruches über diesen kleingeistigen Reduktionismus empören.

Odysseus als Prototyp

Diese Verknüpfung von Odysseus mit der neuzeitlichen Form des distanzierten Zuschauens im Theater wurde in Brechts Folge dankend aufgegriffen – am prominentesten etwa von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in der 1947 erschienenen Dialektik der Aufklärung.[9] Adorno/Horkheimer nehmen diese Zuschauerkonstellation als Paradigma oder Prototypen der modernen Subjektivität: Der „abgelöste, instrumentale Geist“ betrügt die Natur und das Schicksalsgefüge des Mythos,[10] indem er zum Zwecke einer Selbstwerdung den „identische[n], zweckgerichtete[n], männliche[n] Charakter“ gegenüber der Möglichkeit des Verlustes des Ichs in der Verlockung des Vergangenen behauptet.[11] Adorno und Horkheimer nutzen so den Sirenenmythos als ein pars pro toto der ganzen Odyssee wie auch als transhistorische Metapher für die Dialektik der Aufklärung: Natur und Zwang werden unterdrückt und die instrumentelle Vernunft entwickelt sich um den Preis einer neuen mythischen Verblendung. Wesentlich ist hierbei die Rolle der Kunst, für Adorno/Horkheimer figuriert durch die Sirenen. Denn Kunst kommt die Surrogatfunktion zu, „Vergangenes als Lebendiges zu erretten“, dabei aber abgeschlossen von jeder Praxis trotzdem nicht die „patriarchale Ordnung“ durcheinanderzubringen, welche stets eine festes Schema der Zeit aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft einhält: „Das dreiteilige Schema soll den gegenwärtigen Augenblick von der Macht der Vergangenheit befreien, indem es diese hinter die absolute Grenze des Unwiederbringlichen verweist und als praktikables Wissen dem Jetzt zur Verfügung stellt.“[12] Die Verlockung der Sirenen ist demnach der Ruf in ein noch nicht nach Zeitstrukturen geordnetes Reich des Imaginären, welches von ihrerseits wiederum irreführenden Gedanken, Bildern und Gefühlen als Kräften des unerledigten Vergangenen bevölkert ist. Dieses Imaginäre würde das sorgsam hergestellte Selbst auflösen und hinter die Ausdifferenzierung von Eigenem und Anderen zurückfallen: „Die Angst, das Selbst zu verlieren und mit dem Selbst die Grenze zwischen sich und anderem Leben aufzuheben, die Scheu vor Tod und Destruktion, ist einem Glücksversprechen verschwistert, von dem in jedem Augenblick die Zivilisation bedroht war.“[13]

Tod und Homöostase verlocken das Subjekt, das aber durch seine Bindung an seine technische Ratio dieses Locken auf Distanz halten und dies sich seiner selbst vergewissernd betrachten kann, so wie ein Zuschauender gegenüber einem klar abgegrenzten Schauspiel. Dennoch wäre die Rückübertragung von Adorno/Horkheimers Homerinterpretation auf Kafkas Erzählung als eine ebenso „ahnungsvolle Allegorie der Dialektik der Aufklärung“[14] allzu vorschnell.[15] Zwar erscheint Odysseus, einem neuzeitlichen Helden gleich, auffälligerweise allein. Eine Gemeinschaft oder ein Kollektiv wird nicht erwähnt, was durch eine für Kafka ungewöhnliche Positivität ergänzt wird, da Odysseus weder eindeutig zerstört oder demoralisiert wird (etwa in einem nie endenden Prozess oder durch andere Institutionen). Dennoch könnte es sich bei Das Schweigen der Sirenen um etwas anderes als eine Heldengeschichte handeln, ja vielmehr um etwas anderes als eine Geschichte. Kafkas Erzählung zeigt, dass sie gleichzeitig avant la lettre zu den dargelegten Erkenntnissen aus der Dialektik der Aufklärung passen mag, dass sie aber auch noch einen anderen Schritt vornimmt. Denn die vermeintliche Parabel nimmt gar nicht so sehr ein einzelnes Subjekt in den Blick (welches sich selbst zu erretten vermag), als vielmehr die Ränder dieser Subjektivität und deren Auflösung. Kafka schreibt nämlich vom Vorgang einer ständigen Täuschung und Verkennung im Gegensatz zu einer Selbst-Erkenntnis und liefert gleichzeitig im Spiel dieser Täuschungen die Erzählung selbst demjenigen aus, was jede (heroische) Erzählung aus sich selbst heraus bedroht: einer Stille, einem Abgrund, einer Leere, einem Nichts, dort, wo man einen identischen Kern vermuten könnte.[16] Kafka spielt mit einer doppelten Konstellation der Täuschung, die nun weiter ausgeführt wird. Diese läuft aber schließlich auf eine dritte, ganz andere Täuschung hinaus, die den Text selbst und damit die Parabel oder Erzählung in Frage stellt.

Erste Täuschung: Rhetorik und Imaginäres

Odysseus versucht die Sirenen zu täuschen, wird aber selbst getäuscht und letztlich durch sein eigenes Getäuscht-Werden gerettet. Weil er denkt, die Sirenen würden singen, kann er nicht in die fatale Falle tappen, ihre eigentliche Stille zu bemerken – so die erste Erklärung die uns der Text für Odysseus‘ Überleben gibt. Andernfalls würde er wie alles „Irdische“ glauben, „aus eigener Kraft sie besiegt zu haben“, was sein sicherer Untergang wäre. Dies nennt Kafka im dritten Absatz die „alles fortreißende Überhebung“ derer, die fälschlicherweise glauben, das Unglaubliche geschafft und triumphiert zu haben. Diese Überlegenheit würde nicht schützen, sondern vielmehr vernichten, worin erst die subtile Falle liegt, die normalerweise in jedem Fall den Sirenen den Sieg sichern sollte. Die Motivation der Sirenen, nicht zu singen, bleibt hingegen offen. Doch egal ob „sie glaubten, diesem Gegner könne nur noch das Schweigen beikommen“ oder ob sie einfach vergessen zu singen wegen des „Anblick[s] der Glückseligkeit im Gesicht des Odysseus“, beide Varianten (Glauben und Vergessen) legen nahe, dass die Sirenen so etwas wie ein Bewusstsein haben müssten – was jedoch später explizit revidiert wird (s.u.).

Die Sirenen sind neben anderen Auslegungen auch die Figur der falschen und täuschenden Rhetorik, welche die Lesenden weg vom Inhalt zieht und die geschlossenen Bedeutungsebene für neue, alternierende Bedeutungen und Gedanken öffnen.[17] Als eine solche Figur der Illusion, Oberfläche und Eitelkeit stehen sie für eine Textualität, die aus sich selbst besteht und auf keine weitere Bedeutung verweist. Sie versprechen denjenigen etwas, die ihren Stimmen folgen, doch das Versprechen besteht in nichts mehr als dem Gesang selbst. Anstatt einen tiefer liegenden Sinn oder Essenz hinter der Oberfläche zu enthüllen, bezeichnet ihr Gesang nichts, statt einer Aussage bietet er nichts an, außer Oberfläche, außer Rhetorik, und droht damit zumindest potentiell, in einer tautologischen Leere auf nichts anderes zu ‚zeigen‘ als auf sich selbst. Bei Kafka wiederum verzichten allerdings die Sirenen auf ihren Gesang: Sie lassen es an ihrem Gesang ermangeln – liegt doch dieser Mangel ihrem Gesang zugrunde.

Auch Maurice Blanchot hat Odysseus’ List gegenüber den Sirenen als den Sieg der „Macht der Technik“[18] dargelegt, jedoch über einen „rätselhaften Gesang, der durch seinen Mangel stark ist“[19]. Blanchot zufolge sind die Sirenen „nur rein tierischer Natur“ und ihre Macht besteht in ihrem „nichtmenschliche[n] Gesang“, der „dem gewohnten Singen der Menschen nachgebildet“ war.[20] Als Mächte des Imaginären sind sie dessen Boten und nicht einfach durch Vernunft auszulöschen. Vielmehr bedrohen die Sirenen mit ihrem Gesang die Ich-Grenzen. Es wäre für Blanchot vermessen, sie einfach als „verlogen in ihrem Gesang, trügerisch in ihrem Seufzen, nur angeblich vorhanden“ zu bezeichnen, als „im ganzen [sic] ohne wirkliches Dasein und auf so kindische Art nichtexistent, daß der gesunde Menschenverstand des Odysseus genügte, sie auszutilgen“.[21] Denn die Sirenen rufen dazu auf, „jenen Abstand zwischen dem Wirklichen und dem Imaginären […] zu durchmessen“[22]. Sie kehren das Nicht-Menschliche jedes menschlichen Gesanges, den sie ja imitieren, hervor und verweisen so auf die Leerstelle, die Offenheit, der jedes Singen (und Sprechen, wie sich mit Blanchots anderen Schriften ergänzen ließe) gewidmet ist: „Sang des Abgrundes, der, wenn man ihn nur einmal vernommen hatte, in jedem Wort einen Abgrund auftat und sehr verlockte, in ihm zu verschwinden.“[23] Der Ruf der Sirenen ist gleichsam einzigartig wie auch profan: offenbart er doch einen Schwindel, ein Taumeln, das diejenigen befällt, die sich anziehen lassen von diesem Imaginären, das Sprache konstitutiv durchdringt und an ihrem anderen Pol, gegenüber der sinnhaften Bezeichnung von Dingen, lauert.

Auch für Blanchot locken also die Sirenen, doch sieht er ihre Anziehung nicht einfach als eine Verblendung (qua ‚reiner‘, interesseloser, tautologischer Rhetorik), sondern vielmehr als den Sog hinein in einen konstitutiven, ent-setzenden Mangel, eben eine Leere, die mehr ist als nur ein referenzloses Sprachspiel. Denn die Leere ist zwar der Fehl einer letztbestimmbaren Wesensart, doch damit eröffnet sich dennoch in der Begegnung von Odysseus mit dem Imaginären etwas anderes: „Ouvertüre jener unendlichen Bewegung, in welcher die Begegnung eigentlich besteht, die immer abgerückt ist von dem Ort und dem Augenblick, in dem sie sich bezeugt, denn sie ist selber diese Abgerücktheit, dieser imaginäre Abstand“[24]. Die Täuschung der Rhetorik erweist sich als eine viel wesentlichere Täuschung, nämlich diejenige, in einem einfach nur arbiträren Spiel mit den Zeichen und dem Gesang der Sirenen nicht einer viel tiefergreifenden Leere ausgesetzt zu sein: Der Entsetzung der sorgsam behaupteten Grenzen des Selbst. Bei Kafka treffen die Sirenen auf einen gegen diese Erfahrung dermaßen gut präparierten Odysseus, dass sie aus welchen Gründen auch immer, in einen zweiten Täuschungsmodus verfallen, nämlich in die Täuschung darüber, nicht wirklich ihre täuschend-lockenden Gesänge anzustimmen. Dafür aber benötigen sie eine andere Form der Täuschung.

Gedoppelte Täuschung: Das Theater des Blickes

Die Passage vom Vorbeifahren des Odysseus, seinem glückseligen Gesichtsausdruck und dem gleichzeitigen Nicht-Singen der Sirenen findet sich in der Mitte der Kurzgeschichte, im vierten Absatz. Diese Passage stellt den Wendepunkt der scheinbaren Parabel dar, an dem die erste Illusion vom verlockenden Singen der Sirenen und der erste Trick des Odysseus umschlagen in eine zweite Geschichte über die Illusion der Blicke und schließlich in einen zweiten und weitaus elaborierteren Trick des Odysseus. Doch handelt es sich keineswegs um den klassischen Scheitelpunkt des parabelhaften Handlungsbogens, wo sich Referent und Geschichte am stärksten annähern. Mit den Worten „der Anblick der Glückseligkeit im Gesicht“ (s.o.) ändert sich die Ordnung der Täuschung: Von nun an lesen wir über die visuellen Täuschungen, während wir zuvor auf die rhetorischen konzentriert waren. Der Text bewegt sich von der Täuschung der Stimme/Rhetorik zur Täuschung des Blicks. Ab diesem Punkt verschwindet das semantische Feld der Geräusche beinahe und das des Visuellen taucht auf: So, als ob der Ton des Geschehens abgestellt worden wäre.[25] Was nun folgt, ist ein komplexes Spiel verschachtelter Blicke: Odysseus sieht die Sirenen, welche ihrerseits ihn zuvor gesehen haben, der nunmehr den Blick in die Ferne lenkt – und die Sirenen hoffen, „den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus“ zu erhaschen.

Die Sirenen ihrerseits tun so, als würden sie Odysseus per Gesang dorthin locken, wo der Selbstverlust und die Auflösung aller Abgrenzungen drohen, möglicherweise um ihn so durch seine Selbstüberhebung ob des Triumphes doch noch zu überlisten. Odysseus widersteht der Versuchung, sich den Sirenen zu nähern, weil er den gewissen Abstand zwischen seiner alltäglichen, vernünftigen, instrumentellen ‚Wirklichkeit‘ und dem Imaginären akzeptiert, ja sogar bewusst (durch Mast, Ketten und Wachs) diese Grenzen physisch zu verstärken sucht. Odysseus‘ „kindische Mittel“ halten ihn – in seiner Wahrnehmung – fest verankert an einer praktischen Welt, die ihn daran hindert, sich selbst in der sich ihm scheinbar darbietenden Weite zu verlieren. Mit anderen Worten: Odysseus schafft sich eine vermeintlich fixierte Realität, um der Auflösung der Grenzen seiner Welt standhalten zu können und baut darüber eine Betrachterdistanz zu dem Geschehen vor sich auf. Konstitutiv verkennt er, dass nicht seine Mittel ihn vor der Verlockung retten, sondern dass die Sirenen jetzt auf eine andere Form der Täuschung umgestellt haben: Er „hörte ihr Schweigen nicht, er glaubte, sie sängen, und nur er sei behütet, es zu hören. Flüchtig sah er zuerst die Wendungen ihrer Hälse, das tiefe Atmen, die tränenvollen Augen, den halb geöffneten Mund, glaubte aber, dies gehöre zu den Arien, die ungehört um ihn verklangen.“

Einer Szene ohne Ton gleich, [26] sieht Odysseus eine Täuschung des Gesanges der Sirenen, denn die Sirenen „streckten und drehten sich, ließen das schaurige Haar offen im Winde wehen und spannten die Krallen frei auf den Felsen“. In dem Moment aber, in dem die Distanz zwischen Betrachtendem und Betrachtetem minimal wird, wird für Odysseus dieses visuelle Theater auch schon wieder Ungewußtes, Ungedachtes – seiner Vorstellung entwischend: „Bald aber glitt alles an seinen in die Ferne gerichteten Blicken ab, die Sirenen verschwanden förmlich vor seiner Entschlossenheit, und gerade als er ihnen am nächsten war, wußte er nichts mehr von ihnen.“ So bleibt Odysseus verschont, weil er ein entferntes Schauspiel sieht und er sich ganz auf die Distanz, die er hierbei einnimmt, als Schutz verlassen kann, denn selbst, wenn ihm die Sirenen nahe kommen, so bietet ihm seine Position die Möglichkeit, trotzdem ihnen gegenüber distanziert zu bleiben, ja, sie nicht einmal mehr wahrzunehmen, sondern stattdessen in die Ferne zu blicken. So kann Odysseus die Sirenen sprichwörtlich übersehen, weil sie obwohl sie ihm nahekommen, seinem distanzierenden Betrachterblick entrückt sind. Anstatt die Grenze von vermeintlicher Realität und Spiel zu überschreiten, verlassen die Sirenen schlichtweg den Bildrahmen und werden sofort von Odysseus vergessen, ein Vorgang, der sie eigentlich auslöschen müsste, wenn sie denn sich gewahr werden könnten, was da gerade Ungeheuerliches passiert ist: „Hätten die Sirenen Bewußtsein, sie wären damals vernichtet worden. So aber blieben sie, nur Odysseus ist ihnen entgangen.“ Der Preis für diese Rettung ist aber hoch, denn Odysseus bringt sich damit selbst um die Erfahrung, für etwas anderes als seine instrumentelle Logik empfänglich zu sein.[27]

Beides zusammen, die weiter ausgebaute Illusion und das daraus resultierende Vergessen, retten diesen Odysseus zu Lasten seiner Empfänglichkeit für ein Anderes. Seine Fehlannahmen lassen ihn gegenüber dem Theater der Rhetorik, der Täuschung der Sirenen, ein ihn absorbierendes, letztlich aber abstumpfendes Theater der Blicke behaupten, welches Odysseus erst als Trick von den Sirenen unwissentlich übernimmt, dem sie sich dann aber umso mehr anpassen: „Sie wollten nicht mehr verführen, nur noch den Abglanz vom großen Augenpaar des Odysseus wollten sie so lange als möglich erhaschen.“ Odysseus baut sich ausgehend von einer konstitutiven Täuschung (über den Gesang und seine Möglichkeit, sich über diesen erheben zu können, ebenso wie über das dann stattfindende Ausbleiben des Gesanges) eine Distanz zwischen seiner Wirklichkeit und dem Imaginären. Doch damit gehört unlösbar zu seiner ‚Wirklichkeit‘ bereits eine Täuschung – neben den ganz harten Fakten wie Mast, Wachs und Ketten. Die Sirenen können ihrerseits nur deshalb überleben, weil sie eben Tiere ohne Bewußstein sind, damit also nicht menschlich. Die Sirenen wollen zwar vom großen, glanzvollen Odysseus, der an ihnen unbeachtet vorbeisegelt, gesehen werden, doch das Nicht-Gesehen-und-Vergessen-Werden können sie ebenso wieder vergessen, bzw. dieser Vorgang findet außerhalb einer Bewußtwerdung statt, also noch vor einem Prozess von Vergessen und/oder Erinnern. Sie bedürfen somit nicht der Konstitution im Blick des Anderen: Sie können den Rahmen des Gesehenwerdens verlassen und sind nicht mehr Subjekt im Blick des Anderen. Damit sind die Sirenen eindeutig nicht-menschlich, doch zugleich weder ‚einfache‘ Tiere noch weiterhin mythische Wesen. Denn die Überwindung des mythischen Gesetzes des Zwangs und des Schicksals hätte, die Zerstörung des mythischen Wesens zur Folge (so geschehen bei der Sphynx im Moment der Lösung ihres Rätsels und damit ihres mythischen Existenzgrundes).[28]

Die mise en abyme des Theaters

So wäre Kafkas Kurzgeschichte in der Tat eine zwar verworrene, doch irgendwie aufgehende Parabel von einem Missverständnis, dass letztlich doch in die Überlistung des Mythos und die Konstitution des Vernunftmenschen wie auch seines bildhaften, distanzierten Theaters mündet. Doch Kafka fügt im letzten Absatz dem Bisherigen und den zwei Täuschungen eine dritte Täuschung hinzu, sodass das Täuschungsspiel noch weitergeht, indem die beiden vorigen Täschungen in einer mise en abyme kombiniert werden. Erstaunlicherweise verkündet der letzte Absatz, es gäbe noch einen „Anhang hiezu [sic]“ – jedoch zu was? Ein Anhang meint, dass der vorliegende Text schon geschrieben ist. Was wir zuvor gelesen haben, wäre also abgeschlossen für den, der den Anhang überliefert.

Der besagte Anhang sieht dann so aus:

Odysseus, sagt man, war so listenreich, war ein solcher Fuchs, daß selbst die Schicksalsgöttin nicht in sein Innerstes dringen konnte. Vielleicht hat er, obwohl das mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen ist, wirklich gemerkt, daß die Sirenen schwiegen, und hat ihnen und den Göttern den obigen Scheinvorgang nur gewissermaßen als Schild entgegengehalten.

Das ganze Ereignis des Gesangs der Sirenen und deren Schweigen, Odysseus’ Maßnahmen und sein konstitutives Missverständnis werden nun zu einem „obigen Scheinvorgang“ erklärt, welcher von Odysseus als Schild benutzt wurde. Ein Prozess, der den „Menschenverstand“ (und damit auch alles Irdische) übersteigt. Odysseus bewegt sich an unsere Position, die der Lesenden, denn er kann sich offenbar zu seiner eigenen vorher geschilderten Geschichte in Beziehung setzen[29] und kann sie eben als eine solche Geschichte nutzen – doch zugleich löst sich damit die Geschichte, als klar abgegrenzte Geschichte und zumal als Geschichte von der zwar missverstandenen, aber geglückten Überwindung des Mythos, auf. Die mise en abyme erweist sich als seltsame Doppelfigur: Einerseits ist sie romantischen Traditionen zufolge ein schier unendlicher Abgrund der Doppelungen, etwa der von einander gegenüberstehenden Spiegeln oder, wie in der Heraldik, vom selben Wappen im selben Wappen, vom selben Bild im Bild, das sich so endlos fortzusetzen scheint. Doch die mis en abyme ist auch die Zäsur, die die Darstellung unterbricht. Sie ist dann das Offenlegen der Konstruktion dieses Abgrundes bzw. das Offenlegen der Konstruktion jeder Geschichte (oder Inszenierung). Bei Kafka geschieht beides: Erstens die unendliche Vervielfältigung der Vorstellung ins Imaginäre, indem Odysseus sich seiner eigenen Geschichte ermächtigen und diese nutzen kann, womit aber der Vorgang des Nutzens der Geschichte schon wieder in der Geschichte stattfindet, was deren Grenzen ständig erweitert bzw. immer weitere Verschachtelungen von Geschichten in Geschichten bildet. Zweitens wird Kafkas Geschichte jedoch im selben Moment, wo Odysseus seine Geschichte in der Geschichte zu nutzen scheint, ausgehebelt: Es wird offenkundig, dass dies eine Geschichte ist, ihre eigenen Bedingungen werden ausgestellt und zugleich in der stattfindenden Veränderung der Geschichte entstellt. Kafkas Geschichte über das Subjekt befindet sich an einem Scheitelpunkt, denn einerseits kippt diese Geschichte mit diesem verworrenen Ende in ihren eigenen Abgrund und scheint ins Unendliche zu fallen, in die unauflösbare Verzahnung von Text und Metatext. Dann wäre Das Schweigen der Sirenen ein Spiel im Stil romantischer Texte. Kafkas Bruch mit der Erzählung, gar mit Erzählungen überhaut, liegt aber in der Unentscheidbarkeit der mise en abyme, denn der zitierte letzte Absatz der Erzählung kann auch als die Unterbrechung der eigenen Darstellung verstanden werden, wodurch sogar der vermeintliche Sturz in den Abgrund noch fraglich wird.

Welche Bedeutung dieser Aspekt des Abgrundes, des Sich-Verlierens, des Stürzens in der Erzählung hat, macht eine kleine Notiz direkt im Anschluss an Das Schweigen der Sirenen aus demselben semantischen Feld in Kafkas Oktavheft deutlich, ebenfalls vom 23. bis 25. Oktober 1917: „Nachmittag vor dem Begräbnis einer im Brunnen ertrunkenen Epileptischen“[30]. Dieses bislang meines Wissens nach nicht untersuchte Fragment Kafkas wäre mit Blick auf die Geste bei Kafka und speziell Gesten in Das Schweigen der Sirenen (gefesselter Odysseus vs. Epileptische) weiterzuverfolgen, ebenso auf den Aspekt hin, dass Odysseus in seiner Bewegungsfreiheit gänzlich eingeschränkt ist dank Mast und Ketten, während die erwähnte „Epileptische“ die Bewegung nicht kontrollieren kann. Darüber hinaus führt sogar die nächste Eintragung des Oktavhefts implizit den Gedanken des Abgrundes über den Topos von Schein und (Selbst-)Erkenntnis fort:

Erkenne dich selbst, bedeutet nicht: Beobachte dich. Beobachte dich ist das Wort der Schlange. Es bedeutet: Mache dich zum Herrn deiner Handlungen. Nun bist du es aber schon, bist Herr deiner Handlungen. Das Wort bedeutet also: Verkenne dich! Zerstöre dich! also etwas Böses – und nur wenn man sich sehr tief hinabbeugt, hört man auch sein Gutes, welches lautet: ‚Um dich zu dem zu machen, der du bist.[31]

Erkenntnis und Verkennen, wie sie schon in Kafkas Das Schweigen der Sirenen auftauchen, setzen sich in diesen Einträgen weiter fort. Auch der kurze Passus enthält weniger eine eindeutige Anweisung oder Interpretation, denn vielmehr eine paradoxe Verzahnung. Der Passus ließe sich gleich in mehreren Hinsichten auf die Erzählung von Odysseus und den Sirenen beziehen: Auf Odysseus, auf die Erzählung als Ganze und auf den Platz der Lesenden ihr gegenüber.

Der Platz der Lesenden

Aus dieser Doppelung von unendlicher Vervielfältigung der Geschichte wie auch ihrer gleichzeitigen Auflösung soll daher abschließend in einem letzten Schritt ein Rückbezug auf den ersten Absatz von Kafkas Das Schweigen der Sirenen und auf den Anfang der hier vorgenommenen Untersuchung gewagt werden. Denn in der beschriebenen Doppelung von abgründiger Erzählung und dem Aushebeln dieser Erzählung überhaupt wiederholt der letzte Absatz die einführende Geste: Ein Teil des Textes wird Metatext, nur ist diesmal neben den Lesenden auch Odysseus, welcher den Platz des Erzählenden seiner eigenen Geschichte einnimmt und seinen eigenen Täuschungsvorgang, der nun wiederum eine Täuschungsgeschichte ist, als einen Schild nutzt. Die Referenz des Textes (der homerische Epos, der Plot) und sein eigener Inhalt (das konkret hier Erzählte) geraten miteinander erneut in Berührung,[32] eine Verzahnung, die die Ununterscheidbarkeit des Eröffnungssatzes wiederholt.

Odysseus bleibt jetzt zugleich Teil der erzählten Geschichte wie er auch seine eigene Geschichte liest. Er nutzt nunmehr die Verzahnung beider als besagten Schild – doch war dies nicht unsere Position als Lesende, die wir zu Beginn der Parabel eingenommen hatten, sozusagen innen und außen von diesem Text und seinem Metatext zugleich zu stehen?[33] Blanchot sieht in allen Texten Kafkas die Lesenden als zwei-in-einem, weil diese unauflöslich zwischen sich widersprechenden Positionen schwanken, zwischen einem vermeintlich evidenten Innen und einem opaken Außen. Durch dieses Changieren bleiben immer beide Lesenden zugleich zugegen und machen jede „richtige Lektüre“ unmöglich,[34] so dass die ‚Richtigkeit‘ der Lektüre zur Fiktion wird.

Was wäre also, wenn sich der eingangs erwähnte Beweis hier wiederfände am Ende von Das Schweigen der Sirenen, aber so, dass er nicht ausgesprochen, sondern in der textuellen Verabgründung auf die Spitze getrieben würde? Doch selbst dieser eindeutige Schluss ist uns nicht vergönnt – denn wer wird überhaupt gerettet? Sofern Odysseus tatsächlich gerettet wird (was die Erzählung nicht klärt, Odysseus ist nur den Sirenen „entgangen“), so wäre seine Rettung womöglich demselben Grund geschuldet, wie die der Sirenen: Odysseus scheint gar nicht in dem Sinne menschlich zu sein. Schon seine Tat der Vortäuschung des Scheinvorgangs ist mit Menschenverstand nicht mehr zu begreifen und nur weil Odysseus möglicherweise nicht menschlich – oder zumindest nicht der neuzeitlichen Anthropologie entsprechend menschlich – wäre, wäre es ihm demnach möglich, seinen eigenen Rahmen, die Erzählung, zu verlassen und ihn sogar auszusetzen. Vielleicht ist Odysseus deshalb also „ein solcher Fuchs“: In der Figur der Odysseus würde sich dann die ganze Erzählung vom menschlichen Subjekt einmal selbst in sich drehen und entstellen.

Das Spiel mit der mise en abyme ist deshalb so verwirrend und faszinierend, weil es letztlich keine Instanz der vermeintlichen Geschichte intakt lässt. Wenn Odysseus soeben als nicht mehr menschlich beschrieben wurde, dann deshalb, weil seine Funktion und das, wofür hier dieser Odysseus steht, nicht mehr in der Erzählung von einem Menschen zu fassen ist. Denn Odysseus wird zum Shifter zwischen den Funktionen von Protagonist, Leser und Erzähler seiner Geschichte. Dieser Odysseus, von dem zunehmend immer unklarer wird, wer er ist, was er ist – oder ob er letztlich dasselbe wie seine Erzählung und wie der Beweis ist – hat unseren Platz als Lesende eingenommen, seine eigene Geschichte gelesen und dadurch die Ordnung der Plätze gesprengt. In dieser mise en abyme wird Odysseus Teil des Schildes und hält ebenso diesen Schild.[35] Vor allem wird er zu dem Grenzwesen, dem être limitrophe, das die Parabel selbst kollabieren und doch noch bestehen lässt.

Wir als Lesende haben nunmehr unseren sicheren Platz verloren und blicken unentscheidbar auf diese mise en abyme, die uns zugleich betrifft: Einerseits sehen wir den unendlichen Abgrund eines Textes, der recht bedacht ins Bodenlose geht. Andererseits sehen wir vielleicht keinen abgeschlossenen Text mehr, der uns als Lesende nicht immer schon involviert. Und könnte hierhin nicht die eigentliche List Odysseus’ und zugleich der späte Sieg der Sirenen liegen? Anstatt qua Vernunft überwunden worden zu sein, die Erzählung dieser Vernunft immer wieder auszuhebeln? Für Blanchot ziehen die Sirenen in der homerischen Erzählung mit ihrem Gesang Odysseus dann noch in ihren Bann, wo er ihnen meint entkommen zu sein, wenngleich in abgeschwächter und transformierter Weise, weil er nun zur Geschichte geworden ist, von der er erzählen muss: „nicht mehr unmittelbarer Gesang […], sondern erzählter und dem Anschein nach harmlos gewordener Gesang, nicht mehr Ode, sondern Episode“[36].

Möglicherweise ist das eigentlich Schrecklichere an der Waffe des Schweigens der Sirenen bei Kafka, dass sie uns unentscheidbar mit dem Protagonisten in die Episode ziehen, die nicht einmal mehr nur als ‚einfach eine Erzählung‘ zu halten ist. Dann wäre der Abgrund, den die Erzählung Das Schweigen der Sirenen für uns öffnet wie auch zugleich in seiner Konstruktion offenlegt, die späte Rache der Sirenen, vielleicht aber auch ihr verlockendes Angebot, doch für etwas anderes als die instrumentelle Vernunft empfänglich zu sein. Das alles passiert uns gerade dort, wo wir als Lesende in die Falle getappt sind zu glauben, einem parabelhaften Beweis zu folgen. Vielleicht wurde ja etwas ganz anderes bewiesen: Dass keine Erzählung eine Rettung bereitstellt, wir aber dennoch in kindischem Glauben auf solche Mittel vertrauen.

  1. Kafka, Franz: Gesammelte Werke in zwölf Bänden. Hg. nach der Kritischen Ausgabe von Hans-Gerd Koch. Bd. 6: Beim Bau der chinesischen Mauer und andere Schriften aus dem Nachlaß, Frankfurt 1994, S. 168-170, hier S. 170. (Nachträglich mit „Das Schweigen der Sirenen“ betitelt, in der zitierten Ausgabe ohne Titel) Im Folgenden wird bei Zitaten dieses Primärtextes nicht mehr einzeln die Quelle angegeben.
  2. Am wahrscheinlichsten ist als Datum der Notiz der 23. Oktober. So steht in den Oktavheften unmittelbar vor dem Text: „23. früh im Bett“.
  3. Menke, Bettine: „Die Macht des Schweigens und die Finten des Textes. Kafkas Sirenen“, in: Dies.: Prosopopoiia. Stimme und Text bei Brentano, Hoffmann, Kleist und Kafka. München 2000, S. 610-656, hier S. 611.
  4. Folgt man Hart Nibbrigs Lektüre, der ich neben denjenigen Lektüren von Menke und Blanchot viel verdanke, so müsste sich sogar der Text selbst lesen können, ebenso wie seine intertextuellen Vorläufer. Hart Nibbrig, Christiaan L.: Geisterstimmen. Echoraum Literatur. Weilerswist 2001, S. 20-25, hier: S. 22.
  5. Menke: „Die Macht des Schweigens und die Finten des Textes“. S. 612. Menke bezieht sich allerdings im Folgenden emphatisch auf den eigentlich nicht gesetzten Doppelpunkt des vermeintlichen Beweises.
  6. Brecht, Bertolt: „Odysseus und die Sirenen“, in: Ders.: Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe. Hg. von Werner Hecht/Jan Knopf/Werner Mittenzwei/Klaus Detlef Müller. Band 19, Berlin/Weimar/Frankfurt 1997, S. 340.
  7. Ebd.
  8. Ebd.
  9. Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente, Frankfurt 1988, S. 50-87, hier S. 66 f. Vgl. ebenso: S. 40 ff.
  10. Ebd., S. 67
  11. Ebd., S. 40.
  12. Ebd., S. 39.
  13. Ebd., S. 40.
  14. Ebd., S. 41.
  15. Eine solche Richtung schlägt etwa Sabine Döring ein, die Odysseus als Geburtsfigur des neuzeitlichen Helden „aus dem Geist der Selbstüberschätzung“ deutet. Siehe: Döring, Sabine: „Entzauberung der Antike“, Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.09.2008, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/kafkas-saetze-60-entzauberung-der-antike-1664910.html [letztmalig abgerufen am 06.12.2016].
  16. So wäre korrespondierend auch ein detaillierter Blick auf Kafkas Erzählung Prometheus lohnend, beginnt diese doch mit den Worten: „Die Sage versucht das Unerklärliche zu erklären; da sie aus einem Wahrheitsgrund kommt, muß sie wieder im Unerklärlichen enden.“ Kafka, Franz: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 6, S. 192-193 (nachträglich als „Prometheus“ betitelt, in der zitierten Ausgabe ohne Titel).
  17. Menke: „Die Macht des Schweigens und die Finten des Textes“, S. 610.
    Menke weist darauf hin, dass die irreführenden Rhetorik weiblich belegt sei, was aus der Spätantike und aus christlichen Allegorien stamme.
  18. Blanchot, Maurice: „Die Begegnung mit dem Imaginären“, in: Ders.: Der Gesang der Sirenen. Essays zur modernen Literatur. Frankfurt a. M. 1988, S. 11-21, hier S. 13.
  19. Ebd., S. 14. (Hervorhebung: L.G.)
  20. Ebd., S. 11.
  21. Ebd., S. 12 f.
  22. Ebd., S. 18.
  23. Ebd., S. 12.
  24. Ebd., S. 20.
  25. Vgl. Menke: „Die Macht des Schweigens und die Finten des Textes“, S. 632.
  26. Vgl. Hart-Nibbrig: Geisterstimmen. S. 23.
  27. Vgl. Häntzschel, Günther: „Odysseus in der deutschen Literatur vor und nach 1945“, in: Erhart, Walter/Nieberle, Sigrid (Hg.): Odysseen 2001. Fahrten – Passagen – Wanderungen. München 2003, S. 119-131.
  28. Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung. S. 65.
  29. „Was Odysseus bei Homer verheißen wurde und worauf er um seiner Rettung willen verzichtet, gewährt Kafka, um der Rettung willen, dem seinen: Er liest seine eigene Geschichte.“ Hart Nibbrig: Geisterstimmen. S. 24.
  30. Kafka: Gesammelte Werke in zwölf Bänden, Bd. 6, S. 170.
  31. Ebd.
  32. Hart-Nibbrig: Geisterstimmen. S. 24f.
  33. Vgl. Ebd., S. 24f.: „[Odysseus] liest seine eigene Geschichte. Und zwar in dem Maße, wie er an die Stelle des Lesers der ‚obigen‘ Geschichte gerückt wird.“
  34. Blanchot, Maurice: „La Lecture de Kafka“, in: Ders.: La Part du Feu, Paris 1949, S. 9-19, hier S. 12.
  35. Auch Hart-Nibbrig und Menke schlagen eine Lektüre des Textes als mise en abyme vor, allerdings ausschließlich gemäß romantischer Muster der endlosen Verdoppelung.
  36. Blanchot: „Die Begegnung mit dem Imaginären“, S. 13 f.

Schwerpunkt | Die unmöglich-mögliche Logik der Vertretung. Zum Theater in Der Proceß

I. Einleitung

Kafkas Romanfragment Der Proceß[1] beginnt mit einem überaus rätselhaften Satz. „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ (9) Wenn es denn nichts Böses war, was hatte er getan? Warum wurde er verleumdet? Wollte ihm jemand etwas anhängen? Wie auch immer diese Fragen zu beantworten sind, die der Roman unberührt lässt – dies ist der Moment, in dem der Prozess mit einer Schuldvermutung einsetzt. Sein Anfang ist an die – wenn auch hypothetische – Ursache der Verleumdung und der sich daran anschließenden Annahme einer weitgehend unhinterfragten Schuld geknüpft. Dies mag nahelegen, dass es eine Zeit vor dem Prozess und der Verhaftung gegeben hat: eine Zeit, in der K. noch nicht schuldig geworden war. Zugleich verweist eine viel spätere Passage aus dem Roman jedoch explizit auf die Möglichkeit, dass es überhaupt kein Außerhalb des Prozesses gebe. K. trifft auf den Maler, der davon spricht, dass „alles zum Gericht gehöre“. (158) Welcher Art von Situation fällt K. zu Beginn zum Opfer oder – wenn alles zum Gericht gehört – in was für einer Lage befindet er sich schon immer? Wie kann der Prozess zugleich einen Anfang haben und damit auch eine Grenze oder ein Ende sowie sich selbst und zugleich alles andere beinhalten – insbesondere dasjenige, was ihm eigentlich vorausgehen müsste: sein Außerhalb? Kurzum, was hat es mit dem Raum des Prozesses von Der Proceß auf sich?

II. Vom Raum zum Theater

Die vorangegangene Passage macht deutlich: Der Raum im Proceß ist kein bloßer Container und kann nicht einfach als Reflexionsraum für bereits Gedachtes herhalten.[2] Vielmehr ist Walter Benjamin zu folgen, der schreibt, dass es in den Texten Kafkas keine Weisheit gebe, sondern vielmehr Zufallsprodukte, Experimente und Torheit der Figuren.[3] Mit dem Schwerpunkt auf Anordnung und Konstellation, in denen das Potential des Entstehens im Vordergrund steht und die Teleologie und Richtung der Erzählung tendenziell abgezogen ist, wird eine Verschiebung auf die Frage des Raumes vorgenommen. Kafkas Vokabular macht deutlich, dass der Raum als zu berücksichtigende und entscheidende Komponente des Geschehens und des Schreibens betrachtet werden muss. Er zeichnet sich darüber hinaus durch eine starke Affinität zum Theater aus. Dabei ist festzuhalten, dass Josef K. sich nicht als eine Figur auszeichnet, die, ähnlich wie der Mann vom Lande vor dem Gesetz vor einer metatheatralen Situation oder vor dem Theater steht, wie mit Blick auf die Strukturhomologien zwischen der Parabel Vor dem Gesetz im Dom-Kapitel und dem gesamten Text argumentiert werden könnte.[4] Vielmehr befindet sich K. von Beginn an in einer Art Theatersituation oder auf einer Bühne.

Theatertheoretische Überlegungen sowie solche zur Theatralität wurden anhand unterschiedlichster Texte Kafkas in der Vergangenheit bereits von verschiedenen Autoren und Autorinnen herausgearbeitet.[5] Während sie treffende Vorschläge machen, zielen sie zumeist – entweder mit Blick auf einen einzelnen Text oder sein gesamtes Schaffen im Verbund mit Theatertheorien und/oder Inszenierungen, den Tagebüchern und seinem Interesse am jüdischen Theater – auf eine Allgemeinheit beanspruchende Theoretisierung seines Werkes. Im vorliegenden Versuch soll es dagegen darum gehen, eine konkrete Auseinandersetzung mit dem Theater zu unternehmen, das sich auf sprachlicher Ebene in Der Proceß entfaltet. Dabei ergibt sich nicht unmittelbar ein Begriff des Theaters. Vielmehr kommt ein Theater zum Tragen, welches als unzuverlässiges aber zugleich unhintergehbares Referenzsystem des Textes zwischen Spiel und Ernst aufgefasst werden kann.

III. Die Bühne der Verhaftung

Nicht nur die Zuordnung von Personen zueinander lässt Räumlichkeit entstehen[6], was besonders während des nächtlichen Aufeinandertreffens mit Fräulein Bürstner (32ff.) deutlich wird. Der Raum ist vom ersten Kapitel an, in welchem die Verhaftung geschildert wird, stark an eine Bühne angenähert. Er ist zum einen durch die Unterscheidung Innen/Außen geprägt: Im Zentrum des Geschehens befindet sich das Zimmer Josef K.s, welches von einem Nebenzimmer und den Fenstern umgeben ist. In ihm ereignen sich Auf- und Abgänge, verhinderte und tatsächliche. Anna, die Köchin der Vermieterin, tritt nach K. im Text als diejenige auf, die nicht kommt, um ihm das Frühstück zu bringen. Stattdessen tritt ein Unbekannter in das Zimmer und ein Zweiter bleibt im Vorzimmer – Ort des Gelächters über das Geschehen in K.s Zimmer – während der Hauptfigur untersagt wird, den Raum zu verlassen. Dieser wird des Weiteren umso prägnanter und expliziter zur Bühne, als die in den Fenstern sitzenden Nachbarn, die Vorkommnisse beobachtend, als Zuschauer bezeichnet werden. (21) Sie schauen zunächst ungewöhnlich neugierig und in der Folge immer aufdringlicher: „[…] drüben sah er die alte Frau die einen noch viel ältern Greis zum Fenster gezerrt hatte […]“ (15) Zu den beiden älteren Herrschaften tritt ein Mann, „der seinen rötlichen Spitzbart mit den Fingern drückte und drehte“ (19), als beobachtete er die Geschehnisse nachdenklich. Erst als K. zum Fenster tritt und seinem Unmut Luft macht, ist die Gesellschaft in der Ruhe ihres Zuschauens ein wenig gestört. Im Moment der Verhaftung ist K. den Blicken der Sehenden und Zusehenden von gegenüber ausgesetzt. Er will dieser „Schaustellung“ (15), die zugleich Quelle seiner Scham ist, gleich ein Ende machen. Hier ist das Motiv der Dichotomie von Innen und Außen fortgeführt: Der verhaftende Zugriff der Wächter und seine anfängliche Festsetzung innerhalb eines Raums vollzieht sich unter und in ihren Blicken. Diese sind präsent, selbst wenn sie ihn nicht unmittelbar treffen, weil sich die Wächter im Vorzimmer befinden. „Sie mochten jetzt, wenn sie wollten zusehn…“ (17). Ihre Blicke machen K. nicht nur sichtbar, sondern er ist ohne diese gar nicht mehr denkbar, das heißt schlichtweg niemals ohne sie – auch noch in der Selbstbeobachtung. (25) Genau diese Blicke sind es, die den Auftritt des Rechtssubjekts veranlassen und damit die Anklage und die Situation des Gerichts und den – allgemeiner gesprochen – Charakter des Rechts, einerseits als Theater sowie andererseits als einen Zug des Theaters markieren. Dabei bleibt unerheblich, ob vielleicht eher von Unrecht oder sogar von einem Unrechtsubjekt die Rede sein müsste. Und nicht zuletzt sind die Wächter solche, die wachen, also die Augen nicht schließen und begleitet werden von einem Aufseher. Während K. sichtbar bleibt, sieht er selbst schlecht, so als sei er geblendet. Er hatte die Wächter nicht einmal als die drei Angestellten der Bank erkennen können. Vielleicht blendet ihn das schlechte Licht, in das er durch die Verleumdung gerückt wurde?

Auch im späteren Verlauf des Romans gerät K. in Situationen, in denen er sich wie vor Zuschauern verhalten muss. So ist auch hin und wieder von Zuschauern die Rede oder auftauchende Figuren werden in eine Analogie zu Zuschauenden gebracht. (52, 79, 135, 164) Weil K. unter permanenter Beobachtung des großen in der Schwebe befindlichen Gerichtsorganismus steht, sieht er es für das Beste an, sich ruhig zu verhalten und nur keine Aufmerksamkeit zu erregen. (126) Er ist somit einerseits Teil des bereits erwähnten Experiments aus Benjamins Kafka-Lektüre, auch wenn er sich als Untersuchungsgegenstand zu entziehen versucht und wird andererseits im Dom-Kapitel selbst auch zu einem Beobachter. (220ff.) Noch vor der unmöglich zu treffenden Entscheidung allerdings, ob K. als Spieler oder Zuschauer einzustufen ist und jenseits seiner mit den erdrückenden Subjektivierungsprozessen zusammenhängenden psychologischen Entrückung ist er in Mechanismen und Strukturen verstrickt, derer er nicht Herr zu werden vermag. Woran es ihm letztendlich mangelt, ist ein Zugriff auf seinen Erfahrungs- und Handlungshorizont. Er scheint ihm immer zu entgleiten, sei es als Überstürzung oder Hemmnis. Er handelt immer entweder zu früh oder zu spät. Diese Verfehlungen ereignen sich in und als Relation zwischen ihm und den ihn umgebenden (In-)Konstanten des Raumes. Modo negativo wird dabei herausgestellt, worin dieses Individuum in seinem Fremdwerden über das hinausgeht, worin es eingelassen ist. K. scheitert fortlaufend an den ihn konfrontierenden Ansprüchen und wird dem Zugriff der Macht durch den schwebenden Gerichtsorganismus nie ganz gerecht, selbst dann nicht, wenn er bemüht ist, voreilig Folge zu leisten.

IV. Das Drama der Vertretung

Die Vertretung ist ein Motiv, das sich durch das Romanfragment hindurch zieht. Stetig vertritt jemand etwas oder jemand anderen. So stehen Advokaten für ihre Klienten sowie niedrige Beamte und Richter für ihre Vorgesetzten ein, wobei diese weder gesehen werden, noch überhaupt auftauchen. Sie sind Unbekannte, die nicht einmal ihren Vertretern bekannt sind. Die Wächter vertreten ein Gesetz, das für sie und alle Ausführenden nicht einsehbar ist. K.s Vorgesetzter ist der Stellvertreter des Direktors, während der Direktor selbst häufig nur auf vermittelt erzählte Weise auftaucht. K. wird zu seinem Stellvertreter, wenn dieser ihn mit der Begleitung eines Italieners betraut, der als Vertreter eines Geschäftes in Italien auftritt. Nachdem der Italiener nicht zur verabredeten Besichtigung des Doms erscheint, tritt seine Abwesenheit in den häufigen Rekursen auf ihn überaus deutlich hervor. Der ‚no-show‘ oder das Nichterscheinen erhält damit einen dermaßen eigenständigen Status, dass in der Rede der Erzählstimme der Italiener so gewissermaßen durch seine für K. unerwünschte Abwesenheit vertreten wird. Am selben Ort tritt K. schließlich dem Gefängniskaplan gegenüber. Als Kirchenvertreter ist dieser ein Vertreter der Vertretung Gottes auf Erden, während K. als Vertreter der Gemeinde der Gläubigen gefasst wird. Jene Möglichkeit der Vertretung der Gemeinde wird aber noch zur Debatte gestellt, ist sie doch als Frage formuliert und durch ein anderes Verb gefasst, welches das Problem der Vertretung wie kein anderes zu verhandeln vermag: „Konnte K. allein die Gemeinde darstellen?“ (220, Hervorhebung M.W.) Mit der Erzählung der Parabel und der anschließenden Diskussion über sie erscheint der Dom als eine Art Vertretungsort für das Theater. Und wenn K. seinem Advokaten die Vertretung entzieht, setzt er sich an dessen Stelle und vertritt sich selbst. Wo ist aber das Selbst geblieben? Die paradoxe Situation in der Vertretung, oder das Drama der Vertretung, welche anhand der genannten Beispiele schon angedeutet ist, kondensiert in der Rede und an K. während seiner ersten Anhörung. Dort verkündet er, nicht für sich selbst, sondern für die Vielen einzustehen, die sich in einem solchen Verfahren, wie es auch ihm widerfährt, befinden. Er trägt damit eine verschobene Version des Barbier-Paradoxons[7] vor: Er ist gleichzeitig Vertreter einer Gattung, so, wie er außerhalb derselben zu stehen behauptet, wenn er seinen eigenen Fall nicht zu den vielen anderen zugehörig begreift. Obschon er behauptet, nicht für sich einzustehen, kann er nicht anders als auch sich zu vertreten, weil sein Fall zu denen gehört, für die er einsteht – begreift er ihn doch als „Zeichen eines Verfahrens wie es gegen viele geübt wird“ (52).

Es entsteht eine paradoxe Situation, in der Vertretung zugleich möglich und unmöglich ist. Vertretung und die Unmöglichkeit derselben schließen einander nicht aus. Diese Gleichzeitigkeit von Einschluss und Ausschluss erstreckt sich über den gesamten Roman und könnte als seine raum-zeitliche Konstante bezeichnet werden. Es ist nie das Selbst einer Figur oder die Figur als ein Selbst, welche auf eine andere trifft, sondern in der Stellvertretung wird jedes Aufeinandertreffen in die Sphäre eines ‚Als-ob‘ verschoben. Nichts ist jemals vollständig an seinem Platz. Auch K. ist nie ganz bei der Sache und landet nie vollständig im Prozess – vielmehr schwankt er. Er vernimmt den fiktionalen Charakter des Prozesses, ordnet seine Zweifel an der Legitimität seiner Festnahme aber der anfänglichen Anerkennung unter.[8] Fällt er im zweiten Kapitel noch mit seiner Rolle in eins und übernimmt die Anklage seiner selbst in Vertretung des Gerichtes, als er den Schrei des Aufsehers in der Darstellung der Verhaftung für Fräulein Bürster nachahmt, (37) so vergisst er zwischenzeitlich den Prozess völlig. (196) Die sich daran anschließenden Bemühungen, aus ihm auszubrechen, (225) müssen scheitern, hat er ihn doch eben damit wieder anerkannt. Was genau aber hat K. anerkannt? Was hat er angefangen, ernst zu nehmen?

K. hat sich auf die den Roman einläutende Verleumdung eingelassen. Eine Verleumdung ist eine Herabsetzung durch üble Nachrede und somit die Tätigkeit, jemanden in ein schlechtes Licht zu rücken. Dieses schlechte Licht gehört einer Vorzeitigkeit ohne Roman-inhärente episch-empirisch Zeitlichkeit an: „Jemand mußte Josef K. verleumdet haben …” Die in der Verleumdung verheißene Schuldzuweisung ist aus der Sicht der nun erfolgenden Verhaftung absolut und unanfechtbar, von einem unbekannten, unantastbaren Außerhalb, dem Text selbst Unzugänglichen, in diesen hineingesprochen. Die Mutmaßung, dass es geschehen sein müsse, bleibt unterentwickelt und wird später nicht ausgeführt, bleiben die Fragen ‚Wer?‘ und ‚Wofür‘ doch ungeklärt. Das „Jemand“ enthält vermittelt über ein „Irgendjemand“ die Möglichkeit von „Niemand“. Die Vermutung einer Verleumdung – denn was könnte anderes geschehen sein? – kommt aus einer Erzählperspektive, die nicht allwissend ist. Möglicherweise operiert die Erzählung in diesem Moment gar auf dem Wissensstand K.s. Zu Beginn des Textes ist K. bereits angeklagt und dem Raum der Schuld übergeben. Das „Jemand“ und seine Verleumdung ist der Verweis auf eine Quelle, einen Ursprung, oder ein Außen, das zugleich unauffindbar ist. „Jemand“ ist die semantische Vertretung für eine Instanz, die zugleich Urheber sowie Teil des Ganzen ist, ohne aber auf irgendeine Weise verbürgt zu sein: ein untergehbares und zugleich völlig ungesichertes a priori. Das abwesend-anwesende Außen, welches den Prozess in Gang bringt, versetzt ihn zugleich in eine Schwebe der Fragwürdigkeit und ist somit Auslöser der Sicherung sowie der Verunsicherung des Rahmens.

Diese Bewegung des Textes stellt diejenigen ‚ernsten‘ Lesarten von Kafkas Arbeiten in Frage, die eine übertragene Bedeutung forcieren und damit eine geschlossene Theorie und Kafkas Texte auf einen Nenner zu bringen suchen.[9] Solche Analysen, die mit Begriffen, Themenkomplexen und Feldern wie Gericht, Gesetz, Schuld, Existenz und im Zusammenhang von Institution und Person, Subjektivierung und dem Problem der Stellvertretung operieren,[10] beruhen auf der Annahme einer im Narrativ etablierten Ordnung, innerhalb derer der Status von Gericht und Institution gesichert ist. Dies ist jedoch nicht gegeben. Begriffe wie accusation oder advocacy,[11] Für- oder Gegensprache[12] als Teil des kafkaschen Denkens zu begreifen, ohne die Dimension der Rahmung desselben mit zu reflektieren, bedeutet den konjunktivischen – und damit inhärent unsicheren – Charakter der Verleumdung bruchlos in eine Aktualität oder einem ‚Ernst‘ des Romans zu überführen. Wie aber könnte dasjenige, was nicht zu verorten ist, anerkannt werden? Dementgegen verläuft ein Riss durch den Roman, welcher mit der Verleumdung und der mit ihr angestoßenen unmöglich-möglichen Logik der Vertretung aufbricht und als das große, dem Roman vorgängig-äußerliche ‚Als-ob‘ angesehen werden muss. Sie – die unmöglich-mögliche Logik der Vertretung: der idiosynkratische Modus der Darstellung im Proceß – ist die abgründige Inszenierung, das Theater von Prozeß und des Prozesses, es durchdringt den Text und lässt ihn gleichermaßen ein- und aussetzen. Dieses ‚Als-ob‘ bedroht den ‚Ernst‘ der Geschehnisse, weil es nicht von ihm abzuziehen ist. Ausformuliert ist es auf der Ebene der permanenten Gleichzeitigkeit von Spiel und Ernst, mit dem sich K. konfrontiert sieht.

V. ‚Ernst‘ und ‚Als-ob‘

Bei Benjamin heißt es – mit allgemeinem Blick auf die Texte Kafkas –, dass in ihnen der Mensch von Haus aus auf der Bühne stehe.[13] Alles Menschliche und zum Menschen Gehörende spielt sich auf einer Bühne ab. Diese Hypothese fällt mit der dem Text äußerlichen oder vorgängigen Verleumdung und der daraus resultierenden Verhaftung und apriorischen Schuldvermutung im Prozess zusammen. Wie jedoch ist das genauer zu begreifen?

Der Roman wirft im Verlauf die Vermutung auf, dass alles Teil des Prozesses ist und sich nichts außerhalb seiner Grenzen abspielt. Wenn eine Zeit der Unschuld im ersten Satz noch denkbar ist, verfällt diese Möglichkeit nach und nach immer deutlicher und es wird klar, dass der Prozess der ganze Wirkungsraum ist, in dem sich K. befindet und in dem jede Verwicklung vor sich geht. Dies wird im Kapitel Advokat/Fabrikant/Maler explizit. Der Maler belehrt K. darüber, dass „ja alles zum Gericht gehöre“ (158). Die Beschreibung, dass er dies „halb im Scherz, halb zur Erklärung“ sagt, verweist auf die Verhaftung durch die Wächter am Anfang des Romanfragments. K. ist sich schon hier nicht sicher, ob er mit einem Spaß konfrontiert ist und überlegt sich diesen aufzulösen, indem er den Wächtern ins Gesicht lacht, kommt jedoch zu dem Entschluss, die Komödie vorerst mitzuspielen. (12/13) Auch ist ein Lachen aus dem Nebenzimmer zu hören, als einer der Wächter hinausruft, dass er nach seinem Frühstück verlange. (9) An beiden Stellen ist Spaß und Ernst gleichrangig nebeneinandergestellt und damit eine Unsicherheit, wie zu entscheiden sei, mitgegeben. Von Anfang an ist dem ernsten Geschehen etwas Scherzhaftes, Unglaubliches oder Lächerliches beigemengt. Der ganze Vorgang ist von der Möglichkeit begleitet, ein ungeheurer Spaß oder ein Streich der Kollegen zu sein. Ein ‚Als-ob‘ gesellt sich zum ‚Ernst‘.

Auch die Erklärung des Malers, dass „alles zum Gericht gehöre“, erweist sich als dieser Logik der Uneindeutigkeit zugehörig. Es bleibt unklar, ob sich die Aussage dem Register ‚Ernst‘ oder ‚Als-ob‘ zuordnen lässt. Zugleich hat die Verquickung von ‚Ernst‘ und ‚Als-ob‘ zur Folge, dass ein Außerhalb nur schwer überhaupt noch denkbar ist. Was bei Benjamin als ein unmögliches hors-scène des Welttheaters bei Kafka entworfen ist, konfiguriert sich im Proceß zunächst als unmögliches Außerhalb jenseits der aus der Verleumdung resultierenden Schuld, wobei diese, wie oben ausgeführt, ein gewaltiges ‚Als-ob‘ mit sich führt. Dies ist der Hintergrund vor dem das richtige Auffassen einer Sache und das Missverstehen der gleichen einander nicht ausschließen. (229)

K. tritt nie wirklich in den Proceß ein und kommt auch nicht aus ihm heraus. Die im Proceß angenommene Schuld ist Resultat der vorangegangenen Inszenierung, welche durch das Gericht verwaltet wird. Die Schuld ohne Vergehen beziehungsweise ohne den Vorgang eines Schuldigwerdens oder gar eine konkrete Tat ist das Kontinuum, vor dessen Hintergrund sich das Geschehen entfaltet. Die Verhaftung soll nicht an der gewöhnlichen Lebensweise hindern. (23) Die Verleumdung ist – gleichzeitig ‚Ernst‘ und als ‚Als-ob‘ – das Gesetz, das Theater oder die Bühne des Textes: seine Grenze und sein Auslöser. Der erste Satz setzt die abwesend-anwesende Kohärenz eines Verlaufs in Gang, welche, als Rahmung ohne Einheit in Zeit und Ort, Theater genannt werden könnte. Dieses findet in dubiosen Dachstuben, leeren Sitzungssälen, im Gespräch mit den verschiedensten Personen und am Krankenbett des Anwalts statt und ist damit nirgends und überall zugleich. Dass diesem grenzenlosen Theater der Ernst der Vorfälle zugleich immer eingeschrieben bleibt und das Theater weit mehr als nur ein konsequenzloses ‚Als-ob‘ oder ein harmloser Schein ist, wird mit aller Deutlichkeit anhand K.s Tod deutlich. Ob durchblickt oder nicht, das Als-ob hat potenziell tödlich-faktische Auswirkungen.

So müsste ein Fazit dieses kurzen Versuches lauten, dass das Theater die Triebfeder der kafkaschen Verfahrensweise des Erfahrungsberichtes ist. Das hypothetische Theater der Verleumdung eröffnet den Rahmen der Darstellung und der kafkaschen „Versuchsanordnung“[14]. In der Darstellung und als Darstellung – in dem Sinne als sie die Darstellung selbst verhandelt – vermisst Kafkas Theater den Horizont der Verstrickung. Denn es wirft keine Alternativen auf, selbst wenn es das Gedankenspiel erlaubt, dass K. dem Prozess möglicherweise entgehen könnte, indem er ihn ignoriert oder nicht anerkennt. Die Wirkmacht des Prozesses tritt immer dann umso gewaltsamer zurück auf den Plan, wenn K. bemerkt, dass er ihn vergessen hatte. Ob vergessen, oder nicht: Das Theater als unmöglich-mögliche Vertretung ist der unhintergehbare Ausgangspunkt allen Tuns. Nur aufgrund der unmöglich-möglichen Logik der Vertretung gibt es einen Anfang. Sie erlaubt Handlung, Gegenhandlung, Überlegungen und Gedankenspiele. Dieses Theater ist der Raum, in dem sich die, bei genauerem Hinsehen, wenig zusammenhängenden Geschehnisse ereignen. Die Vermessung dieser Verstrickung in ein Theater zwischen Spiel und Ernst fasst nicht nur einen bestimmten Modus der Darstellung als die unmöglich-mögliche Logik der Vertretung. Im Proceß ist Darstellung genau das: Sie zeigt, was sie ist, indem sie ist, was sie zeigt.[15]

  1. Kafka, Franz: Der Proceß in der Fassung der Handschrift. Frankfurt a. M. 2006. In der Folge sind Verweise und Zitate im Fließtext mit der Seitenzahl in Klammern kenntlich gemacht.
  2. Vgl. dazu die Kritik an einem „oriented understanding“, welche Samuel Weber mit Verweis auf Adornos „Aufzeichnungen zu Kafka“ beschreibt. Weber, Samuel: „The Box and the Butterfly: To Kafka’s ‚Hunter Gracchus’“, unveröffentlichtes Vortragsmanuskript, Frankfurt a. M. 2014. Vgl. zudem Adorno, Theodor W.: „Aufzeichnungen zu Kafka“, in: Ders.: Prismen. Kulturkritik und Gesellschaft. Frankfurt a. M. 1963, S. 248-281, hier S. 251.
  3. Vgl. Benjamin, Walter/Schweppenhäuser, Herrmann (Hg.): Benjamin über Kafka. Texte, Briefzeugnisse, Aufzeichnungen. Frankfurt a. M. 1981, S. 86 f.
  4. Vgl.: Derrida, Jacques: „Before the law“, übers. v. Ronell, Avital; Roulston, Christine, in: Ders./Attridge, Derek (Hg.): Acts of Literature. New York/London 1992, S. 209.
  5. Vgl. Weber, Samuel: Theatricality as Medium. New York 2004, bes. S. 70 ff.; Müller-Schöll, Nikolaus: „Theatralische Epik. Theater als Darstellung der Modernitätserfahrung in einer Straßenszene Franz Kafkas“, in: Balme Christopher/Fischer-Lichte, Erika/Grätzel, Stephan (Hg.): Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Bern 2003 S. 189-201; Peters, Sibylle: „Kafkas Schreiben lesen. Literarische Theatralität zwischen Text und Schrift“, in: de Mazza, Matala Ethel/Pornschlegel, Clemens (Hg.): Inszenierte Welt. Theatralität als Argument literarischer Texte, Freiburg i. B. 2003, S. 297-324; Simons, Oliver: „Schuld Und Scham – Kafkas Episches Theater”, in: Simons, Oliver; Höcker, Arne (Hg.): Kafkas Institutionen. Bielefeld 2007, S. 269-293. Vgl. außerdem eine Ausgabe der Germanic Review zu Kafka und Theater: Puchner, Martin: „Kafka and the Theater: Introduction“, The Germanic Review: Literature, Culture, Theory, 78:3 (2003), S. 163-165; Mladek, Klaus: „Radical Play: Gesture, Performance, and the Theatrical Logic of the Law in Kafka“, The Germanic Review: Literature, Culture, Theory, 78:3 (2003), S. 223-249; Anderson, Mark M.: “[…] nicht mit großen Tönen gesagt”: On Theater and the Theatrical in Kafka, The Germanic Review: Literature, Culture, Theory, 78:3 (2003), S. 167-176
  6. Vgl. Binder, Hartmut: „B. Ästhetik 3. Bauformen“, in: Engels, Manfred/Auerochs, Bernd (Hg.): Kafka-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung. Stuttgart 2010, S. 77.
  7. “You can define the barber as ‘one who shaves all those, and those only, who do not shave themselves’. The question is, does the barber shave himself?”, in: Russell, Betrand: The Philosophy of Logical Atomism. London Routledge 2010, S. 101.
  8. Mladek: „Radical Play“, S. 227.
  9. Sie knüpfen darin nolens volens an die Lesart Wilhelm Emrichs an, welcher insbesondere den Proceß als eine die menschliche Situation schlechthin darstellende Welt begreift, in der Schuld als mit einer Institution ein- und aussetzende Existenzschuld zu verstehen ist. Vgl. Elm, Theo: „2. Die Romane c) Der Prozeß“, in: Kafka Handbuch in zwei Bänden. Band 2: Das Werk und seine Wirkung. Stuttgart 1979, S. 422.
  10. Vgl. etwa: Derrida: „Before the law“, S. 181-220. Vgl. außerdem: Campe, Rüdiger: „Kafkas Institutionenroman: ‘Der Proceß’, ‘Das Schloß’“, in: Campe, Rüdiger/ Niehaus, Michael (Hg.): Gesetz. Ironie. Festschrift für Manfred Schneider. Heidelberg 2004, S. 197-208. Vgl. jüngst: Trüstedt, Kathrin: „Execution Without Verdict: Kafka’s (Non-)Person“, Law Critique 26 (2015), S. 135-154.
  11. Trüstedt: „Execution without Verdict“, S. 139 f.
  12. Campe, Rüdiger: „An outline for a critical history of Fürsprache: synegoria and advocacy“, in: Deutsche Vierteljahresschrift für Literatur 82 (2008), S. 355-381.
  13. Benjamin: Benjamin über Kafka, S. 22.
  14. Vgl. Benjamin: Benjamin über Kafka, S. 18.
  15. Den hier vorgelegten Hinweisen auf die Verhandlung einer Inszenierung oder Theater des Ek-sistierens im Proceß soll an anderer Stelle und mit Bezug auf Texte Martin Heideggers – die hier aus Platzgründen ausgespart wurden – ausführlicher nachgegangen werden. Arbeitshypothese ist dabei, dass Kafka als literarisch-theatrales Verfahren erprobt, wofür Heidegger nur eine unzulängliche Sprache bleibt „So kommt es denn bei der Bestimmung der Menschlichkeit des Menschen als der Ek-sistenz darauf an, daß nicht der Mensch das Wesentliche ist, sondern das Sein als die Dimension des Ekstatischen der Ek-sistenz. Die Dimension jedoch ist nicht das bekannte Räumliche. Vielmehr west alles Räumliche und aller Zeit-Raum im Dimensionalen, als welches das Sein selbst ist.“ (Vgl. „Brief über den »Humanismus«“, S. 333/334)

Schwerpunkt | Asphalt übers Moor – Odradeks Sumpflogik oder das Ausbrechen aus der Totschlägerreihe

1. Seekrankheit auf festem Lande

„Die Kafkasche Logik als Sumpflogik. Auf weite Strecken hin er[s]trecken sich die Darlegungen seiner Figuren wie ein Asphalt übers Moor.“[1]

Was Walter Benjamin hier in einer kleinen Anmerkung zu seinem Essay über Kafka in erstaunlicher Bildlichkeit beschreibt, taucht in seinen weiteren Aufzeichnungen in verschiedensten Varianten immer wieder auf. So heißt es: „Den Überlegungen, die er [Kafka] anstellt, folgt man als ginge man auf einem Moorboden“[2], dann ist die Rede von „Sumpfgeschöpfen“[3], von einem „nicht tragfähig[en] Boden“[4], von einer „Vergangenheit als Sumpfdasein der Menschheit“[5], einer „schwankende[n] Struktur der Erfahrung“[6] und sogar eine „Schamlosigkeit der Sumpfwelt“[7] attestiert Benjamin Kafkas Texten. Was in all diesen Variationen Ausdruck findet, ist eine tiefgreifende Verunsicherung. Das Motiv des Sumpfes steht dabei für die Gefahr der Verabgründung: Auf den ersten Blick den täuschenden Anschein trittfesten Bodens gebend, entpuppt sich der Sumpf dann jedoch als archaisch bedrohliche[8], dickflüssig glucksende Masse, die jeden nach Halt suchenden unerbittlich verschlingt. Kafka selbst wiederum spricht von einer „Seekrankheit auf festem Lande“[9] – der umgekehrten Bewegung also: trotz festen Bodens unter den Füßen schwankt der Grund. Auch hier geht es um die Erfahrung von Haltlosigkeit. Was beide Motive vereint, ist ein Entzug bekannter Maßstäbe, Gewissheiten, Ordnungen und damit der Zusammenbruch fundierter Sinnzusammenhänge. Was heißt es nun aber, wenn Benjamin gerade die ‚Darlegungen‘ der Kafka‘schen Figuren als „Asphalt übers Moor“[10] beschreibt – also als vermeintlich sicheren Weg über diese Grundlosigkeit?

Im Folgenden möchte ich zeigen, wie sich in Kafkas enigmatischer Erzählung Die Sorge des Hausvaters auf mehreren Ebenen ebensolche Verabgründungs-Figuren finden lassen und wie sich innerhalb des Textes das entfaltet, was ich als „Sumpflogik“[11] bezeichnen möchte: eine Darstellung, deren Vorgehen die Darstellung selbst auf den Prüfstand setzt und die nach dem Prinzip der Entstellung funktioniert.

2. Die Unsicherheit der Deutungen

Die Kafka‘sche Erzählung Die Sorge des Hausvaters beginnt mit einer etymologischen Spekulation: „Manche sagen, das Wort Odradek stamme aus dem Slawischen […] andere wieder meinen, es stamme aus dem Deutschen“.[12] Bereits der erste Satz macht klar, dass es sich bei diesen Herleitungsversuchen des seltsamen Wortes wohl kaum um fundierte wissenschaftliche Studien, sondern um bloße Mutmaßungen unbekannter ‚mancher‘ und ‚anderer‘ handelt. Die „Unsicherheit beider Deutungen“[13] ist es, die diese Herleitungsversuche unbrauchbar macht – sie sind schlicht unzutreffend: „zumal man auch mit keiner von ihnen einen Sinn des Wortes finden kann.“[14] Das Mangelhafte und Unzulängliche dieser Deutungsversuche liegt also in ihrem Unvermögen, den Sinn des Wortes positiv zu erfassen – dessen habhaft zu werden, was Odradek eigentlich bedeutet, was es meint und auf was es vielleicht hindeutet.

Ironischerweise tut die Erzählung damit nichts anderes als all jene zahlreichen Interpretationsversuche vorwegzunehmen und gleichzeitig zu delegitimieren, die sich in den darauffolgenden Jahren bemühen werden, das Wort Odradek zu entschlüsseln.[15] Der Erzähler dieser Geschichte, von dem bis zuletzt nicht klar ist, ob es sich dabei tatsächlich um den Hausvater handelt, vertritt offensichtlich eine Hermeneutik, die auf Eindeutigkeit aus ist und deshalb Ansätze als unzutreffend ablehnt, die es nicht vermögen, ein Wort oder einen Text auf einen ganz bestimmten Sinn hin zu bestimmen. Nun gehört es jedoch gerade zu Odradeks Eigenheiten, sich jeder positiven Bestimmung zu entziehen. Notwendigerweise ist es[16] damit genau die Instanz, an der eine auf Sinnstiftung ausgelegte hermeneutische Praxis, wie sie der Erzähler voraussetzt oder eben jene etymologische, die er kritisiert, scheitern muss. So operiert die gesamte Erzählung mit einer Unbestimmtheit und einer ständigen Zurücknahme der Sprache, die es nicht vermag, Odradek hinreichend zu erfassen.

3. Den Boden unter den Füßen verlieren

Adorno beschreibt genau diese Eigenart Kafkascher Texte in seinen Aufzeichnungen zu Kafka mit dem Begriff der „Generalklausel der Unbestimmtheit“[17]: Das Prinzip einer Dichtung, die „unablässig sich verdunkelt und zurücknimmt“[18] und dabei von einer „Vieldeutigkeit“ durchzogen ist, „die wie eine Krankheit alles Bedeuten bei Kafka angefressen hat“[19]. Wieder taucht hier der Begriff der Krankheit auf[20]: Wenn Kafka selbst die Erfahrung seiner Texte, wie eingangs zitiert, als „Seekrankheit auf festem Lande“[21] beschreibt, die trotz eines festen Grundes alles vermeintlich fest Verankerte zum Schwanken bringt, so spricht Adorno hier von einem ganz ähnlichen Symptom. Die ständige Zurücknahme der Sprache und das Streuen von Vieldeutigkeit zersetzt vermeintliche Gewissheiten und produziert eine tiefe Verunsicherung. Das einzige ‚Rezept‘ gegen diese Krankheit liegt für Adorno im „Prinzip der Wörtlichkeit[22] und der „Treue zum Buchstaben“[23]: Bei Kafka gelte es, „alles wörtlich [zu] nehmen“. Der Leser solle auf die „inkommensurablen, undurchsichtigen Details, den blinden Stellen“[24] beharren, um nicht „jeden Boden unter den Füßen [zu] verlieren“.[25] Die Gefahr des Abgrunds[26] ist also ständig gegeben: Angesichts einer Sprache, auf die kein Verlass mehr ist, scheint lediglich das Festhalten an der Buchstäblichkeit zu helfen.

Wie Benjamin bemüht Adorno so das Bild des sich entziehenden Grundes, des Abgrunds und der Bodenlosigkeit. Diese „Sumpflogik“[27] ist hier die Logik einer Sprache, die keinen Halt bietet, weil sie jegliche auf den ersten Blick scheinbar konsistente Bedeutung und alle vermeintlich bestimmten Aussagen unmittelbar wieder zurücknimmt und damit ins Undeutliche, ins Unbestimmte, Vieldeutige und damit Unscharfe gleiten lässt. Die Notwendigkeit einer „Treue zum Buchstaben“[28], die Adorno betont, ist Benjamins „Asphalt“[29] übers Moor – die Hoffnung auf zumindest einen kurzzeitigen Halt unter den Füßen. Doch selbst dieser erweist sich bei genauerer Betrachtung als zwiespältig: Asphalt, etymologisch abzuleiten aus dem griechischen „asphaltos“, „sphallestai“ (beschädigt werden, umgestoßen werden) und negiert durch das Präfix „a“, trägt die Gefahr seines Zusammenbruchs dennoch immer schon in und mit sich.[30] Es steht also zugleich für die Beschädigung und den Versuch, ihn zu kitten – ‚Asphalt‘ impliziert damit immer schon beides: sowohl Ordnung als auch Haltlosigkeit.[31]

So tröstlich Adornos Appell, alles „wortwörtlich“[32] zu nehmen, jedoch klingen mag: Nähert man sich der Erzählung Die Sorge des Hausvaters nach dieser Prämisse, stellt sich sukzessive eine schleichende Verunsicherung darüber ein, dass allen vermeintlichen Gewissheiten über Odradek wohl doch nicht so recht zu trauen ist. Selbst der Erzähler scheint sich auf seine eigenen Aussagen nicht verlassen zu können. Das einzige, was gesichert, ja bestimmbar scheint, ist zunächst Odradeks Existenz, denn – so heißt es, als sei dies völlig selbstverständlich – „[n]atürlich würde sich niemand mit solchen Studien beschäftigen, wenn es nicht wirklich ein Wesen gäbe, das Odradek heißt.“[33] Doch selbst bei dieser Formulierung handelt es sich um einen Konditionalsatz.[34] Die Frage, ob es Odradek denn nun wirklich gibt oder nicht, ist damit nun immer noch nicht geklärt. Auch im Verlauf der Erzählung erfährt man weniger, was Odradek ist, als vielmehr, was es zu sein scheint. Nicht anders sieht es bei der Beschreibung seines Äußeren aus. Odradek „sieht zunächst aus wie eine flache, sternartige Zwirnspule, und tatsächlich scheint es auch mit Zwirn bezogen; allerdings[…]“[35]. Selbst über das Material, aus dem es gefertigt ist, lässt sich nichts Eindeutiges sagen: „Das Holz, das er zu sein scheint“[36]. Sätze, die wie hier auf den ersten Blick wie definitive Aussagen wirken, heben sich im Hypothetischen wieder auf, andere nehmen sich unmerklich wieder zurück: „man wäre versucht zu glauben, […] dies scheint aber nicht der Fall zu sein“.[37] Derjenige Erzähler, der gerade noch das Unvermögen der etymologischen Bestimmungsversuche monierte, Odradek auf einen Sinn festzulegen, wird nun seinen eigenen Prämissen nicht mehr gerecht und muss schließlich zugeben: „das Ganze erscheint zwar sinnlos, aber in seiner Art abgeschlossen. Näheres lässt sich übrigens nicht darüber sagen“.[38]

4 .Ursprungsloses Gebilde

Nun lässt sich eben genau deswegen nichts Näheres über Odradek sagen, weil es weder eine erkennbare Form oder Gestalt, noch einen bestimmten Zweck hat. Es ist nicht nur sinnlos, sondern auch art-, form- und traditionslos. Geschichtlich bleibt es unverortbar – Odradek hat keine Geschichte, es ist ohne Herkunft: „unbestimmter Wohnsitz“[39] entgegnet es lachend auf die Frage nach seinem Wohnort. Odradek antwortet, indem es sich der Eindeutigkeit verlangenden Frage entwindet, Vieldeutigkeit stiftet und die Forderung nach einer gesicherten Aussage in Unbestimmtheit versickern lässt. Selbst die Ordnung und Eindeutigkeit der Geschlechterverhältnisse bringt Odradek dabei durcheinander: im Verlauf der Erzählung wird es mal „es“, mal „er“ genannt.[40]

Odradek entspringt also weder einer bekannten Art noch lässt es sich als Ganzes aus etwas anderem ableiten. Es bietet weder Hinweise auf eine ursprüngliche Form, aus der es entstanden sein könnte, noch lässt es Vergleiche zu. Es ist eben nur „in seiner Art“ – zwar in sich abgeschlossen und als ein ‚Ganzes‘ erkennbar, aber in sich nicht einheitlich. Es erinnert lediglich entfernt an eine Form, die es vielleicht einmal hatte, offensichtlich aber mit der Zeit verloren hat. Aber auch hier wieder entzieht die Erzählung sogleich die Hoffnung auf Gewissheit:

Man wäre versucht zu glauben, dieses Gebilde hätte früher eine zweckmäßige Form gehabt und jetzt sei es nur zerbrochen. Dies scheint aber nicht der Fall zu sein; wenigstens findet sich kein Anzeichen dafür; nirgends sind Ansätze oder Bruchstellen zu sehen, die auf etwas Derartiges hinweisen würden.[41]

Alles, was die Erzählung bietet, ist eine Beschreibung der heterogenen und gänzlich nutzlosen Elemente, aus denen Odradek besteht: „allerdings dürften es nur abgerissene, alte, aneinander geknotete, aber auch ineinander verfilzte Zwirnstücke von verschiedenster Art und Farbe sein“[42]. Kafka selbst verwendet den Begriff „Gebilde“[43]: ein Ensemble aus Fragmenten, die entfernt daran erinnern, einmal einen Zweck und eine ursprüngliche Form besessen zu haben, nun jedoch alt und nutzlos sind. Das wahrlich beunruhigende an Odradek ist wohl eben dieser Umstand, dass es jeden Verweis über sich selbst hinaus unterbindet. Etwas an Odradek ist auf unerklärliche Weise unverhältnismäßig, grotesk, deformiert ohne dass klar wäre, woher diese Deformierung rührt.

5. Entstellung

Hier treffen sich nun „Sumpflogik“ und eine damit einhergehende Deformierungsbewegung, die Walter Benjamin „Entstellung“ nennt und die für seine Betrachtungen Odradeks zentral ist:

Odradek ist die Form, die die Dinge in der Vergessenheit annehmen. Sie sind entstellt. Entstellt ist die ‚Sorge des Hausvaters‘, von dem niemand weiß, was sie ist, entstellt das Ungeziefer, von dem wir nur allzu gut wissen daß es den Gregor Samsa darstellt, entstellt das große Tier, halb Lamm halb Kätzchen […][44]

Bemerkenswert an dieser Passage ist zunächst, dass Benjamin Odradek in eine Reihe mit anderen ‚Kreaturen‘ Kafkas setzt, die er der „Welt der Monstra“[45] zuordnet. Allerdings übergeht Benjamin, dass sich Odradeks Entstellung keineswegs auf eine rein körperliche Ebene begrenzen lässt.[46] Im Gegensatz zu anderen Kreaturen aus Kafkas Geschichten, wie beispielsweise dem Katzenlamm[47], das aus zwei eindeutig zu identifizierenden Tierarten zusammengesetzt ist, zu Leni aus dem Schloss[48], die mit ihren Schwimmhäuten zu einer Art Mensch-Tier-Hybrid wird, oder zu Gregor Samsa[49], dessen Entstellung als Verwandlung einen Übergang von einem menschlichen hin zu einem tierischen Körper impliziert, rührt Odradeks Erscheinung ausdrücklich nicht von einer Deformierung her, die „in das natürliche Normalvorbild des Körpers eines Menschen oder eines Tieres eingegriffen“[50] hat und bei der der ‚ursprüngliche‘ Körper im Stadium der Entstellung noch zu erkennen wäre.[51] Auch haben wie es hier nicht mit einem Phänomen der Verwandlung zu tun, wenn man darunter etwas direktional Prozesshaftes versteht.[52] Vielmehr stellt Odradek gerade die Möglichkeit des Originals oder des Vorbildes als solches auf radikalere Weise in Frage. Was Odradek monströs macht, ist der Umstand, dass es eben den Bezug von Original und Abweichung, von Normalem und Nicht-Normalen verzerrt: Es geht auf kein Original zurück, ein ‚Normalvorbild‘ – menschlichen oder tierischen Ursprungs – kennt es nicht. Genauer: es gibt keine Anzeichen für eine ursprüngliche Zeit vor der Entstellung, keinen Anfang, kein Ende, keinen Zustand, der nicht immer auch schon in sich entstellt war und ist: Odradek war immer schon da und endet nie – ganz wie der Sumpf, über den die Darstellung seiner Figur sich erstreckt.

6. Grenzwegnahme und Miniatur-Anarchismus

Die Entstellung betrifft folglich nicht nur Odradeks physische Form, sondern Odradek wird selbst zum Prinzip der Entstellung. Es tritt auf als „Miniatur An-Archist“[53]: so wie es selbst entstellt, ohne Ursprung (arché) ist, so entstellt es widerspenstig auch alles andere um sich herum – sogar vor den ‚natürlichen‘ Gesetzmäßigkeiten von Zeit und Raum, Leben und Tod macht es nicht halt; es verschiebt, verdreht, entgrenzt auch diese. Odradek ist damit nicht nur Grenzgänger, sondern betreibt das, was Adorno „Grenzwegnahme“ nennt:

[g]ewiß ist Odradek als Rückseite der Dingwelt Zeichen der Entstelltheit – als solches aber eben ein Motiv des Transzendierens, nämlich der Grenzwegnahme und Versöhnung des Organischen und Unorganischen oder der Aufhebung des Todes: Odradek überlebt.[54]

Das Wesen entrinnt demzufolge nicht einfach dem Tod, sondern sein Überleben ist grundsätzlicher zu verstehen. Odradek kommt die Macht zu, Grenzen zwischen Leben und Tod, zwischen Mensch und Ding aufzuheben. Weil es (über)lebt, also schlicht niemals nicht ist, (aber gleichzeitig auch niemals richtig ist) beraubt es die Größen Raum und Zeit ihrer Messbarkeit und entgrenzt sie ins Unendliche. Die einzige Regel, an die es sich hält, ist die der ewigen, unerbittlichen Wiederkehr im Häuslichen – aber auch da erscheint es nur, um plötzlich wieder zu verschwinden: „Er hält sich abwechselnd auf dem Dachboden, im Treppenhaus, auf den Gängen, im Flur auf. Manchmal ist er monatelang nicht zu sehen; da ist er wohl in andere Häuser umgesiedelt; doch kehrt er unweigerlich wieder in unser Haus zurück.“[55] Doch diese Rückkehr ist keineswegs eine, die die Ordnung des Häuslichen bestätigen würde. Ganz im Gegenteil stellt Odradek für diese vielmehr eine tiefe Verunsicherung und Bedrohung dar.

7. Raumloser Raum: Die Bedrohung des Geordneten

Die Erzählung Die Sorge des Hausvaters funktioniert szenisch durch die Konstituierung eines in sich hermetisch abgeschlossenen Raumes, in den Odradek eindringt und den es Stück für Stück zersetzt. Odradek ist der Störfaktor in dieser Welt, die kein Außen kennt. „Nirgends öffnet sich der Horizont“ [56], schreibt Adorno über Kafkas Texte und fügt einige Zeilen später hinzu:

Denn keine Welt könnte einheitlicher Sein als die beklemmende, die er [Kafka] durchs Mittel der Kleinbürgerangst zur Totalität zusammenpreßt; geschlossen logisch durch und durch und des Sinnes bar wie jegliches System. Alle seine Geschichten spielen in demselben raumlosen Raum, und so gründlich sind dessen Fugen verstopft, daß man zusammenzuckt, wenn einmal etwas erwähnt wird, was nicht in ihm seinen Ort hat.[57]

Das Haus, in das Odradek zurückkommt, aber in dem es niemals bleibt, gehört einer Welt an, die sich durch einen ebensolchen beklemmenden, geschlossenen, einheitlichen, „raumlosen“ Raum ohne Verweis auf ein Außen, einen Horizont auszeichnet.[58] Odradek bringt die Gesetzmäßigkeiten dieses unbewegten homogenen Raumes nun ins Wanken – es läßt zusammenzucken –, gerade weil es in ihm „keinen Ort“ hat: Odradek zersetzt das geschlossene, logische System, in dem alles seine Letztbegründung hat und kein Raum für Kontingenz ist, mit dem, was in ihm nicht aufgehen kann und doch daraus nicht wegzudenken ist. Die Spezifik der Erzählung Die Sorge des Hausvaters liegt also just darin, dass sie einen solchen geschlossenen Raum nur konstruiert, um ihn dann – durch Odradek – von Innen heraus zum Zerbersten zu bringen.

Darüber hinaus zeigt sich nun ein weiterer Aspekt des Prinzips der Entstellung Odradeks: Der kleine Miniatur-An-archist[59] fungiert nicht nur als „Motiv des Transzendierens“ [60] auf der Ebene der Erzählung, sondern wendet die Entstellung sogar gegen die Autorität des Textes an, dem er entspringt. Indem Odradek selbst den Tod des Erzählers überdauert, verunmöglicht es eine Beobachterinstanz, von der aus der Hergang der Erzählung, aber darüber hinaus auch Zeit als messbare Größe zu fassen wäre und erhebt sich damit selbst zum obersten Prinzip.[61] Odradek wird damit zum Schrecken jeder Totalität.

8. Hinausspringen aus der Totschlägerreihe

In Kafkas Tagebuch findet sich ein Eintrag, in dem er den Aspekt einer solchen höheren Form der Beobachtung als eine Art Befreiungsschlag mit dem Potential des Schreibens selbst verbindet:

Merkwürdiger, geheimnisvoller, vielleicht gefährlicher, vielleicht erlösender Trost des Schreibens: das Hinausspringen aus der Totschlägerreihe Tat-Beobachtung. Tat-Beobachtung, indem eine höhere Art der Beobachtung geschaffen wird, eine höhere, keine schärfere, und je höher sie ist, je unerreichbarer von der „Reihe“ aus, desto unabhängiger wird sie, desto mehr eigenen Gesetzen der Bewegung folgend, desto unberechenbarer, freudiger, steigender ihr Weg.[62]

Wenn Kafka hier von einem „Hinausspringen aus der Totschlägerreihe“ schreibt, so impliziert dies einen Ausbruch aus eben jener Zwangslogik von Gesetzen der Kausalität, Linearität und Geschlossenheit, die der Erzähler in Die Sorge des Hausvaters verkörpert. Demgegenüber stellt Kafka eine „höhere Art der Beobachtung“, die sich aus der Ordnung der Benennbarkeit und der Totalität der festgelegten Bedeutung loslöst und nach eigenen Gesetzen funktioniert – Gesetze, die unberechenbar und damit fernab jeder (Zwangs)Logik liegen. Genau darin liegt für Kafka der Trost, die Hoffnung des Schreibens, aber auch die Gefahr. Das Hinausspringen aus der gegebenen Ordnung wird zur „Bedrohung des gesamten Prinzips“[63] – der Sprung geht einher mit dem Risiko, den Stabilität versprechenden, aber die Haltlosigkeit immer schon in sich tragenden „Asphalt“[64] von Letztbegründungen und Totalitätsbehauptungen zu verlassen und sich dem ‚Fernab‘ des Moores und seiner Sumpflogik auszuliefern. In der Figur des Odradek findet sich ein solches „Hinausspringen aus der Totschlägerreihe“ als Trost und Bedrohung gleichermaßen. Sein Prinzip der Entstellung ist dabei weder radikaler Abbruch mit allem Vorherigen, noch völlige Kontingenz. Vielmehr verweist es hoffnungsvoll auf einen Horizont jenseits der Totschlägerreihe, ohne sich aber auf eine neue Ordnung einzulassen. So heißt es bei Adorno über Kafka: „Das Bild der heraufziehenden Gesellschaft entwirft er nicht unmittelbar [..], sondern montiert es aus Abfallsprodukten, welche das Neue, das sich bildet, aus der vergehenden Gegenwart ausscheidet“.[65] Odradek, als eben ein solches Gebilde aus Abfallfragmenten verkörpert damit sowohl jene „fast schmerzliche“[66] Vorstellung, von der der Erzähler am Schluss spricht, als auch die Hoffnung, dass letztendlich sich erst im „Bodensatze der Kreatur […] die neue Verfassung des Menschen, das neue Ohr für die neuen Gesetze, der neue Blick für die neuen Verhältnisse“ [67] vorbereitet.

  1. Benjamin, Walter: „Franz Kafka. Zur zehnten Wiederkehr seines Todestages.“ Gesammelte Schriften. Unter Mitw. von Theodor W. Adorno und Gershom Scholem. Hg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Frankfurt a. M. 1978, Band. II.3, S. 1202. (Im Folgenden zitiert als Benjamin: „Franz Kafka“, Band, Teil des Bandes, Seitenzahl).
  2. Ebd., II.2, S. 429.
  3. Ebd.
  4. Ebd., II.3, S. 1236.
  5. Ebd., II.3, S. 1205.
  6. Ebd., II.3, S. 1236
  7. Ebd., II.3, S. 1213.
  8. Das Motiv des Sumpfes taucht bei Benjamin auch im Zusammenhang mit Kafkas Frauenfiguren auf und wird durch einen expliziten Verweis auf Bachofen um den Aspekt eines maternalistisch-archaischen Urzustandes erweitert. Vgl. Benjamin: „Franz Kafka“, II.3, S. 429, sowie 1192 und 1201. Vgl. Bachofen, Johann Jakob: Mutterrecht und Urreligion. Hg. v. Yahya Elsaghe, Stuttgart 2015.
  9. Kafka zitiert nach Benjamin, Ebd., II.3, S. 1218.
  10. Ebd.
  11. Benjamin: „Franz Kafka“, II.3, S. 1202.
  12. Kafka, Franz: „Die Sorge des Hausvaters“, in: Ders: Drucke zu Lebzeiten. Hg. v. Wolf Kittler, Hans-Gerd Koch und Gerhard Neumann, Frankfurt a. M.1996, S. 282–284.
  13. Ebd., S. 282.
  14. Ebd.
  15. In den letzten Jahren ist eine Flut von Veröffentlichungen zu Odradek erschienen. Ulrich Holbein stellt eine große Auswahl davon zusammen in: Ders.: Samthase und Odradek. Frankfurt a. M.1990. Thomas Schestag verhandelt den Zusammenhang von Odradek und seiner enigmatischen Namensgebung in: Ders.: „Dach“, in: Bern Ternes (Hg.): Beiträge zur beginnenden Unvorstellbarkeit von Problemen der Gesellschaft, Marburg 2000, S. 108-155. Werner Hamacher führt eine Reihe etymologischer Herleitungsversuche des Wortes Odradek in seinem Aufsatz „Die Geste im Namen. Benjamin und Kafka“ vor. Vgl. ders., in: Entferntes Verstehen. Studien zu Philosophie und Literatur von Kant bis Celan. Hg. von Karl Heinz Bohrer, Frankfurt a. M. 1998, S. 280-323. (Im Folgenden: Hamacher: „Die Geste im Namen“, Seitenzahl).
  16. Im Folgenden benutze ich in Bezug auf Odradek das Neutrum. Zur Uneindeutigkeit seiner Geschlechtsbestimmung komme ich im späteren Verlauf dieses Artikels zurück.
  17. Adorno, T.W.: „Aufzeichnungen zu Kafka“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 10.1: Kulturkritik und Gesellschaft I: Prismen / Ohne Leitbild, Hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M. 1997, S. 254-289, hier S.257 f. Diese Formulierung ist insofern beachtenswert, da sie einen Begriff aus der Rechtswissenschaft entlehnend auf die Lückenhaftigkeit einer allgemeingültigen Norm verweist: Da die Generalklausel immer nur eine Allgemeinheit zu erfassen versucht, ist sie singulären Tatbeständen gegenüber notwendigerweise blind und bedarf stets einer Konkretisierung. Die Rechtsprechung muss angesichts der im Einzelfall nicht greifenden Generalklausel die Rechts-Lücken intra legem durch wortgenaue „wertausfüllende“ Konkretisierungen ‚füllen‘. Wenn Adorno nun die Formulierung einer „Generalklausel der Unbestimmtheit“ wählt, so stiftet er das Paradox einer sich selbst die Gültigkeit raubenden Norm – eine Norm also, die keine sein kann, weil sie sich durch Unbestimmtheit selbst wieder aufhebt. So heißt es im Creifelds Rechtswörterbuch, 19. Aufl., 2007, unter dem Stichwort „Generalklausel“: „Zu den normativen (wertausfüllungsbedürftigen) Rechtsbegriffen gehört die Generalklausel. Sie wird vom Gesetzgeber häufig verwendet, um durch allgemein gehaltene Formulierung möglichst viele Tatbestände zu erfassen. Dadurch soll der Gesetzeswortlaut von der Belastung mit detaillierten Merkmalen freigehalten, zugleich aber die Gefahr ungewollter Einengung des Anwendungsbereichs vermieden werden.“
  18. Adorno, T.W.: „Aufzeichnungen zu Kafka“, S. 257.
  19. Ebd., S. 258.
  20. Auch bei Benjamin findet sich das Motiv der Krankheit, hier bezogen auf Kafkas Werk und seine Beziehung zur Tradition: „Kafkas Werk stellt eine Erkrankung der Tradition dar“. Vgl.: Schweppenhäuser, Hermann (Hg.): Benjamin über Kafka, Frankfurt a. M. 1981, S. 149.
  21. Kafka zitiert nach Benjamin, Ebd., II.3, S. 1218.
  22. Adorno, T.W.: „Aufzeichnungen zu Kafka“, S. 257. Adorno führt dieses Prinzip der Wörtlichkeit in Kafkas Texten auf die „Thora Exegese der jüdischen Tradition“ zurück.
  23. Ebd., S. 257.
  24. Ebd., S. 258.
  25. Ebd., S. 257.
  26. Bei Adorno heißt es weiter: „Jeder Satz steht buchstäblich und jeder bedeutet. Beides ist nicht, wie das Symbol es möchte, verschmolzen, sondern klafft auseinander, und aus dem Abgrund dazwischen blendet der helle Strahl der Faszination.“ Ebd., S. 255.
  27. Benjamin: „Franz Kafka“, II.3, S. 1202.
  28. Adorno: „Aufzeichnungen zu Kafka“, S. 257.
  29. Benjamin: „Franz Kafka“, II.3, S. 1202.
  30. Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus: „Theatralische Epik. Theater als Darstellung der Modernitätserfahrung in einer Straßenszene Franz Kafkas“, in: Balme, Christopher, Erika Fischer-Lichte und Stephan Grätzel (Hg.), Theater als Paradigma der Moderne? Positionen zwischen historischer Avantgarde und Medienzeitalter. Tübingen 2003, S. 189-201.
  31. Vgl. Ebd., S. 190f. Müller-Schöll bezieht sich auf eine kurze Notiz Kafkas aus den Reisetagebüchern, in der dieser von „Asphaltpflaster“ spricht und zeigt auf, inwiefern es sich um ein hierbei um ein „Paradigma der Moderne“ handele. Darüber hinaus verweist er auf die nationalsozialistische und völkische Deutung des Begriffes „Asphalt-Kultur“ als „wurzellose, v. allen Bindungen an d. Volksboden freie Großstadt-kultur‘“, wie sie in Knaurs Lexikon A-Z, Berlin 1938, Spalte 77 zu finden ist. Vgl. Müller-Schöll: „Theatralische Epik“, S. 191.
  32. Adorno, T.W.: „Aufzeichnungen zu Kafka“, S. 257.
  33. Kafka, Franz: „Die Sorge des Hausvaters“, S. 282.
  34. Benjamin kommentiert Kafkas Verwendung von Konditionalsätzen wie folgt: „Kafkas Konditionalsätze sind Treppenstufen, die immer tiefer und tiefer führen, bis das Denken zuletzt in die Schicht gesunken ist, in der seine Figuren leben“. Auch hier evoziert Benjamin erneut das Bild eines schwindenden haltlosen Bodens. In: Benjamin: „Franz Kafka“, II.3, S. 1202.
  35. Kafka, Franz: „Die Sorge des Hausvaters“, S. 282. Hervorhebungen von mir, J.S.
  36. Ebd., S. 284.
  37. Ebd., S. 283.
  38. Ebd., S. 283.
  39. Ebd., S. 284.
  40. Eben dieses Potential Odradeks, bestehende Ordnungen zu verkehren, findet sich in einer Notiz Walter Benjamins, der schreibt, die Sorge des Hausvaters werde „der Vorstand einer jener zweideutigen Familien sein, bei denen sich die Geschlechtsverhältnisse verkehren.“ Vgl. ders.: GS, Bd. 4, S. 290.
  41. Kafka, Franz: „Die Sorge des Hausvaters“, S. 283.
  42. Ebd., S. 282 f.
  43. Ebd. Adorno benutzt diesen Begriff wiederum, um Kafkas Texte zu beschreiben. Er nennt sie „Kafkas Gebilde“. Vgl. ders.: „Aufzeichnungen zu Kafka“, S. 257.
  44. Benjamin: „Franz Kafka“, II.2, S. 431.
  45. Ebd., II.3, S. 1201.
  46. Hamacher bemerkt diesbezüglich, Benjamin verfalle darin einem „normativen Realismus“. Vgl. Hamacher: „Die Geste im Namen“, S. 295.
  47. Kafka, Franz: „Eine Kreuzung“, in: Ders.: Nachgelassene Schriften und Fragmente 1. Hg. von Malcolm Pasley, Frankfurt a. M. 1993, S. 372–374.
  48. Ebd.: „Das Schloss“, in: Kafka, Franz: Schriften, Tagebücher. Kritische Ausgabe. Hg. von Malcolm Pasley, Frankfurt a. M., 2002, S. 7-495.
  49. Ebd.: „Die Verwandlung“, in: Ebd. Drucke zu Lebzeiten, S. 113–200.
  50. Vgl. Hamacher: „Die Geste im Namen“, S. 295. Hamacher bemerkt diesbezüglich, Benjamin verfalle einem „normativen Realismus“.
  51. Wie es beispielsweise beim „Buckligen“ der Fall ist, den Benjamin einige Absätze später das „Urbild der Entstellung“ nennt. Vgl.: Benjamin: “Franz Kafka“, Bd. II.2, S. 431.
  52. Eine Kritik am inflationär gebrauchten Verwandlungsbegriff in Bezug auf Kafkas Texte findet sich in: Neumann, Gerhard: „Kafkas Verwandlungen“, in: Assmann, Jan und Aleida (Hg.): Verwandlungen. Archäologie der literarischen Kommunikation IX, München 2006, S. 245-266. Für eine genauere Differenzierung der Begriffe Transformation, Transsubstantiation und Transfiguration vgl. Gabriele Brandstetter: „Der Vorhang als Figur der Verwandlung“ im gleichen Band, S. 283-299.
  53. Hamacher: „Die Geste im Namen“, S. 308.
  54. Adorno brieflich an Benjamin am 17.12.1934, in: Theodor W. Adorno: Briefwechsel 1928-1940, Frankfurt a. M. 1994, S. 93-96.
  55. Kafka, Franz: „Die Sorge des Hausvaters“, S. 283.
  56. Vgl. Adorno, S. 255.
  57. Adorno, S. 268.
  58. Diejenigen Orte, die es bevorzugt aufsucht, so heißt es bei Benjamin, sind „die gleichen Orte wie das Gericht, welches der Schuld nachgeht. Die Böden sind der Ort der ausrangierten, vergessenen Effekte“. In: Benjamin: „Franz Kafka“, II.2, S. 431.
  59. Hamacher: „Die Geste im Namen“, S. 308.
  60. Ebd.
  61. Jacques Derrida betont diesen grundsätzlichen Aspekt und vermerkt in Bezug auf das Motiv des Überlebens bei Benjamin, es sei weder vom Leben noch vom Sterben abgeleitet, sondern mit einer „strikt ursprüngliche[n] Dimension“ verbunden: „Leben ist Überleben“. Vgl. Ders: Leben ist Überleben, Wien 2005, S. 32f.
  62. Kafka, Franz: „Tagebücher, Textband“, in: ders.: Schriften, Tagebücher, Briefe. Kritische Ausgabe, Hg. von J. Born, G. Neumann, M. Pasley und J. Schillemeit, Frankfurt a. M. 1990, S. 892. Dieser bisher wenig kommentierte Tagebucheintrag vom 27. Januar 1922 ist aufgrund eines übermutigen Editierzusatzes Max Brods lange Zeit unverständlich geblieben: Dieser hatte ein Komma zwischen „Totschlägerreihe“ und Tat-Beobachtung gesetzt, den Bindestrich entfernt und damit den Satz verfälscht. Vgl. zu diesem Missverständnis M. Pasley: „Kafkas ‚Hinausspringen aus der Totschlägerreihe‘“, in: Jahrbuch der deutschen Schillergesellschaft, XXXI, 1987, S. 383-393.
  63. Adorno: „Aufzeichnungen zu Kafka“, S. 268.
  64. Benjamin: „Franz Kafka“, II.3, S. 1202.
  65. Adorno, T.W.: „Aufzeichnungen zu Kafka“, S. 262.
  66. Kafka, Franz: „Die Sorge des Hausvaters“, S. 284.
  67. Benjamin: GS, Bd. 6, S. 1201.

Schwerpunkt | Die zivilisatorische Choreographie. Einige Überlegungen zur Rolle des Körpers in Kafkas „Ein Bericht für eine Akademie.“

Ein Bericht für eine Akademie, Kafkas erstmalig 1917 veröffentlichte Schrift, wurde in den letzten Jahren häufig auf die Bühne gebracht. Obwohl von Kafka selbst nicht als Text für das Theater eingestuft, lässt der Bericht schnell an dieses denken: Er besteht von Anfang bis Ende aus einem Monolog, dem Bericht, den der Protagonist den „[h]ohe[n] Herren“[1] einer nicht näher bestimmten Akademie vorträgt. Dieser Protagonist ist ein sprechender Affe, Rotpeter genannt. Bei einer „Jagdexpedition der Firma Hagenbeck“ an der „Goldküste“ (beide 301) wurde er gefangen genommen und referiert seinen gelehrten Zuhörern nun, in der Szene, die der Text entwirft, wie es ihm gelang, „in fünf Jahren das Affentum ab[zu]werfen und die ganze Menschheitsentwicklung durchzugaloppieren“[2].

Von besonderem Interesse für eine theaterwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Bericht für eine Akademie ist aber nicht nur die von Kafka gezeichnete Situation dieses Auftritts, sondern auch der Inhalt des vom Affen in gewählten Worten formulierten Vortrags. Kafka stellt den Affen als Künstler dar, der seine Evolution – so meine These – als eine Subjektwerdung nach dem Gesetz der zivilisatorischen Choreographie referiert. Dabei komprimiert der Vortrag einen umfassenden Diskurs über ein Verhältnis zum Körper, das von dessen (Selbst-)Disziplinierung und dessen Fremdheit gleichermaßen bestimmt ist. Von einer Choreographie der Zivilisation zu sprechen, wird dabei von Kafka mit der umfassenden Beschreibung, die Rotpeter über seine Formung nach Normen menschlichen Bewegens und Verhaltens vorbringt, aus heutiger theater- und tanzwissenschaftlicher Sicht geradezu nahegelegt. Denn die Geschichte der Selbstdisziplinierung eines auf der Grenze zwischen Mensch und Tier tanzenden Affen weist erstaunliche Parallelen zu einer aktuellen Lesart des frühen Begriffs von Choreographie auf, die Gerald Siegmund in kritischer Auseinandersetzung mit André Lepecki vorgelegt hat.

Im Folgenden soll, ausgehend von diesem Choreographie-Begriff eine Lektüre des Kafka-Texts vorgenommen werden, die sich darauf konzentriert, wie Kafka mittels der Figur des Affen und Künstlers Rotpeter auf wenigen Seiten verdichtet einfängt, inwiefern in der abendländischen Kulturgeschichte das, was als menschlicher Körper anerkannt wurde, niemals feststand, sondern anhand von Ausschlüssen festgesetzt und verfestigt wurde.

Choreographie als Gesetz der Menschwerdung

In einem Kapitel von Exhausting Dance. Performance and the Politics of Movement arbeitet André Lepecki heraus, dass die „Orchésographie“[3] – etymologisch der Vorläufer des seit Beginn des 18. Jahrhunderts und der Gründung der französischen Akademien verbreiteten Wortes „Choreographie“ – im 1588 veröffentlichten Lehrbuch des Franzosen Thoinot Arbeau „als Nachbearbeitung des Körpers“[4] verstanden werde, das heißt als Vorschrift von Bewegung „zur Disziplinierung des Körpers, der sich entsprechend der niedergeschriebenen Anweisungen bewegt“.[5] Der Priester und Tanztheoretiker Arbeau will damit junge Männer zu angemessenen Manieren und vorzeigbaren Bewegungen anleiten, um sie auf den Eintritt in die Gesellschaft vorzubereiten.[6] Gerald Siegmund, der sich im Aufsatz „Recht als Dis-Tanz: Choreographie und Gesetz in William Forsythes Human Writes“ auf Lepeckis Arbeau-Lektüre bezieht, arbeitet heraus, dass Arbeau in der den Anleitungen zu verschiedenen Gesellschaftstänzen vorausgehenden Einleitung die Sorge artikuliere, „ohne den Tanz nur Tier zu bleiben“.[7] Die Orchésographie beziehungsweise Choreographie verhelfe, so Siegmund, als „das Gesetz des sich bewegenden Körpers“[8] zu einer gesellschaftlich anerkannten weil als menschlich anerkannten Gestalt:

Nur weil es die Choreographie gibt, kann ich den richtigen gesellschaftlichen Umgang lernen. Sie ist der Grund für mein richtiges Verhalten, weil sie mir einen Körper gibt, in dem mein nicht gesellschaftsfähiger, tierischer Körper aufgehen kann.[9]

Bei Kafka beschreibt der Affe Rotpeter eine solche Grundlage des richtigen Verhaltens als „die Richtlinie […], auf welcher ein gewesener Affe in die Menschenwelt eingedrungen ist und sich dort festgesetzt hat“ (300). Die Grenze zwischen Mensch und Tier wird also als eine durchlässige, wenn auch aus der Richtung des Affen nur in Ausrichtung an einer choreographischen Vorschrift zur Erlangung eines gesellschaftsfähigen Körpers überwindbare beschrieben. Von der Seite der Menschen aus betrachtet ist die Grenze nicht minder durchlässig, wie nicht nur die von Siegmund bei Arbeau bemerkte Sorge nur Tier zu bleiben zeigt, sondern auch Theodor W. Adorno und Max Horkheimer in einem Fragment der Dialektik der Aufklärung, betitelt mit „Mensch und Tier“[10] konstatieren. Sie beschreiben die kontinuierliche Nachzeichnung dieser Grenze als notwendig für den westeuropäischen Anthropozentrismus:

Die Idee des Menschen in der europäischen Geschichte drückt sich in der Unterscheidung vom Tier aus. Mit seiner Unvernunft beweisen sie die Menschenwürde. Mit solcher Beharrlichkeit und Einstimmigkeit ist der Gegensatz von allen Vorvorderen des bürgerlichen Denkens, den alten Juden, Stoikern und Kirchenvätern, dann durchs Mittelalter und die Neuzeit hergebetet worden, daß er wie wenige Ideen zum Grundbestand der westlichen Anthropologie gehört. Auch heute ist er anerkannt.[11]

Obgleich die hier angesprochenen Unterscheidungen den Begriff des Menschen von dem des Tiers abzugrenzen suchen, schreiben sie beiden meist eine gemeinsame Basis zu: den Körper in seiner Animalität. Durch die Bestimmung einer „anthropologische[n] Differenz“[12] wird der Mensch als Tier „plus x“[13] definiert. Seit Aristoteles gilt der Mensch als das vernunftbegabte Tier – zoon logon echon,[14] oft übersetzt als animal rationale[15] –, seit Descartes’ als das beseelte Tier, welches mit den wie ein Automat funktionierenden Körper gemein habe.[16]

Kafka stellt das am häufigsten diskutierte Kriterium zur Definition dieser anthropologischen Differenz, den logos, also den Besitz von Vernunft, Verstand und Sprechvermögen, hinten an und verlagert die Differenzen, mit denen die Grenze zwischen Mensch und Tier konstituiert wird, auf die Ebene der Körper. Allerdings werden Körper dabei als nicht naturgegeben, sondern kulturell hergestellte entlarvt, wenn Rotpeter, der sprechende Affe, beschreibt, welche erlernten Unterschiede er in Bewegungen, Verhalten und Haltung zwischen Menschen und Affen beobachtet. Aus diesen Beobachtungen bringt er sich den richtigen gesellschaftlichen Umgang weitestgehend selbst bei. Den Bericht für eine Akademie ausgehend vom Begriff der Choreographie zu lesen, lenkt das Augenmerk darauf, dass Kafka beziehungsweise Rotpeter die philosophischen Grenzziehungen zwischen Mensch und Tier, die mit dem Sprachvermögen oder der Vernunft argumentieren, nicht übernimmt, sondern durch die Fokussierung auf Körper, die sich an Idealen und Regeln ausrichten und nicht naturgegeben sind, jene Grenzziehungen als ebenso fragile wie durchlässig markiert.

Die Figur des sprechenden und zivilisierten Affen Rotpeters unterscheidet sich von den anderen kafkaschen Tieren, da die im Bericht für eine Akademie aus der Ich-Perspektive rückblickend erzählte Transformation weniger eine „Tier-Werdung“ als eine „Mensch-Werdung“ ist.[17] Die Spezies „Affe“ ist dabei von Kafka wohlweislich gewählt. Die Kategorie der Primaten bildet bei Grenzziehungen zwischen Mensch und Tier eine Grauzone, spätestens seitdem der schwedische Naturforscher Carl von Linné in seiner 1776 erschienenen Klassifikation der Lebewesen sowohl Menschen als auch Menschenaffen der Gruppe der Anthropomorpha (später ersetzt durch den Begriff der Primaten) zuordnete.[18] Auch Linnés Zeitgenosse Jean-Jacques Rousseau konstatiert eine ausgedehnte Ununterscheidbarkeit von Menschen und Affen. Im Jahr 1753 will er, im Discours sur l’origine et les fondements de l’inégalité parmi les hommes aus seinen Überlegungen über den „Naturzustand“[19] eine „Genealogie der Soziabilität“[20] und eine „Rekonstruktion der Menschwerdung“[21] erarbeiten, um zu zeigen, dass Ungleichheit aus Vergesellschaftung erklärt und nicht als natürlich Gegebenes und Unabänderliches begriffen werden sollte. Im Zusammenhang mit der für seine Argumentation grundlegenden Frage, was ein Mensch sei, erörtert Rousseau in seinen ausführlichen Anmerkungen der Frage nach, wie und ob sich „der wilde Mensch“[22] von „anthropoformen Tierarten“[23] unterscheide. Eine Passage des Buchs Histoire générale des Voyages,[24] die die Orang-Utangs im Königreich Kongo als den Menschen sehr ähnlich beschreibt, lässt Rousseau zweifeln,

ob verschiedene den Menschen ähnliche Lebewesen, die von den Reisenden ohne lange Prüfung für Tiere gehalten wurden – entweder aufgrund einiger Unterschiede, die sie in der äußeren Beschaffenheit bemerkten, oder bloß deshalb, weil diese Lebewesen nicht sprechen –, nicht in Wirklichkeit wahrhaft wilde Menschen waren, deren Rasse, in alten Zeiten in den Wäldern zerstört, keine Gelegenheit gehabt hätte, irgendeine ihrer virtuellen Fähigkeiten zu entwickeln, keinerlei Grad von Vollkommenheit erlangt hatte und sich noch im anfänglichen Naturzustand befand.[25]

Es sei nicht ersichtlich, warum die Autoren der Voyages

den in Frage stehenden Tieren die Bezeichnung ‚Wilde Menschen‘ […] verweigern, aber es ist leicht zu vermuten, wegen deren Stupidität und auch, weil sie nicht sprechen – schwache Grüne für die, die wissen, daß obschon das Organ der Sprache den Menschen natürlich ist, die Sprache selbst ihm gleichwohl nicht natürlich ist, und die sich darüber im klaren sind, bis zu welchem Punkt seine Perfektibilität den bürgerlichen Menschen über seinen ursprünglichen Zustand hinaus gehoben haben kann.[26]

Nachdem diese längeren Überlegungen weitreichende Gemeinsamkeiten von Affen und wilden Menschen zusammentragen, kommt Rousseau überraschenderweise doch zum Schluss, dass es ein wesentliches Unterscheidungsmerkmal zwischen Menschen und Affen gebe:

Wie dem auch sei, es ist gut nachgewiesen, daß der Affe keine Varietät des Menschen ist, nicht nur, weil er der Fähigkeit zu sprechen beraubt ist, sondern vor allem, weil man sicher ist, daß seine Art nicht die Fähigkeit hat, sich zu vervollkommnen, die das spezifische Charakteristikum der menschlichen Art ist.[27]

Gerade diese Fähigkeit, sich zu vervollkommnen sticht auch als Charakteristikum der Rotpeter-Figur in seinem im Folgenden noch detaillierter wiedergegebenem Bericht über seine Selbstdisziplinierung hervor. Gleichzeitig scheint sich Rotpeter aber, auch darauf soll nun eingegangen werden, darüber im Klaren zu sein, dass das was man mit Siegmund seinen nicht gesellschaftsfähigen, tierischen Körper nennen könnte, nicht ganz im erlernten, als menschlich akzeptierten Körper aufgehen kann – ohne, dass man ihn andererseits irgendwie unter diesem wieder freigelegen könnte.

Unterwerfung und Hervorbringung durch die Choreographie

Rotpeters erste an die „Herren von der Akademie“ (299) gerichteten Sätze machen deutlich, dass er mit seiner Abhandlung auf ihre Aufforderung, einen Bericht über seine Ursprünge auf dem afrikanischen Kontinent einzureichen, antwortet. Genaugenommen besteht seine Antwort allerdings nur darin, dass er deutlich macht, dass die Frage falsch gestellt ist. Er könne dieser Aufforderung nicht nachkommen, erklärt Rotpeter und bietet als alternative Antwort die Nacherzählung seiner Assimilation an die Menschen in Europa an, die er selbst als eine Erfolgsgeschichte schildert, die sowohl sein Erlangen der „Durchschnittsbildung eines Europäers“ (312) als auch das Erlangen von Ruhm auf allen „großen Varietébühnen der zivilisierten Welt“ (301) umfasst.

Kafkas Leserinnen und Leser lernen erst diesen retrospektiv berichtenden, menschenähnlich gewordenen Rotpeter kennen. Sein „neue[s] Leben“ (303) sei nämlich, so Rotpeter, durch eine mit jedem Schritt seiner Verwandlung vergrößerte, zunächst von seinen Jägern und Wächtern, dann von der eigenen Assimilation verstellte Kluft von seinem „äffische[n] Vorleben“ (299) getrennt:

War mir zuerst die Rückkehr, wenn die Menschen gewollt hätten, freigestellt durch das ganze Tor, das der Himmel über der Erde bildet, wurde es gleichzeitig mit meiner vorwärts gepeitschten Entwicklung immer niedriger und enger; wohler und eingeschlossener fühlte ich mich in der Menschenwelt; der Sturm, der mir aus meiner Vergangenheit nachblies, sänftigte sich; heute ist es nur noch ein Luftzug, der mir die Fersen kühlt; und das Loch in der Ferne, durch das er kommt und durch das ich einstmals kam, ist so klein geworden, daß ich, wenn überhaupt die Kräfte und der Wille hinreichen würden, um bis dorthin zurückzulaufen, das Fell vom Leib mir schinden müßte, um durchzukommen. (299 f.)

So beschreibt Rotpeter eine Spanne von nahezu fünf Jahren – „eine Zeit, kurz vielleicht am Kalender gemessen, unendlich lang aber durchzugaloppieren, so wie ich es getan habe“ (299), – die ihn unwiderruflich von den Ursprüngen, über die die Akademiker etwas zu erfahren wünschen, abgeschnitten hat. Rotpeter versteht, im Unterschied zu ihnen, dass ein vermeintliches Außerhalb der Zivilisation stets nur als Konstruktion, ex negativo gedacht werden kann. Mit Jacques Derrida wäre diese Annäherung an den Naturzustand, die diesen als Gegenteil und Ergänzung der Kultur entwirft, als supplement zu bezeichnen. Derrida legt das Wort supplement in einer Lektüre von Rousseaus Emile frei und versteht es als Addition und Substitution eines Begriffs um sein Anderes, erst aus ihm selbst Abgeleitetes, welches damit aber die Leerstelle eines so nie dagewesenen und doch verloren geglaubten Ursprungs markiert.[28]

Selbst wenn Rotpeter den Willen und die Kräfte zu einer Rückkehr aufbrächte, würde er auf dieser „anderen Seite“ also wieder als Fremder eintreffen, durch den Verlust des Fells, das ihn bei den Menschen noch als Affen kennzeichnet, nun wiederum gegenüber den anderen Affen als Mensch gekennzeichnet. Und doch weiß Rotpeter darum, dass sich die eigene Animalität ebenso wenig, wie er zu ihr zurückkehren kann, vollständig negieren lässt. Vom leisen Wind aus früheren Zeiten bleibe niemand völlig unerreicht, betont er an die ihm zuhörenden Männer gerichtet:

Ihr Affentum meine Herrn, sofern Sie etwas Derartiges hinter sich haben, kann Ihnen nicht ferner sein als das meine. An der Ferse aber kitzelt es jeden, der hier auf Erden geht, den kleinen Schimpansen wie den großen Achilles. (300)

Auch noch an die Gefangennahme durch die Jäger der Hagenbeckschen Expedition hat Rotpeter selbst keine Erinnerung, sondern weiß davon durch „fremde Berichte“ (301). Solche Berichte waren zur Entstehungszeit von Kafkas Texten zum Rotpeter-Thema tatsächlich zahlreich vorhanden, wie in biographischen Ansätzen der Kafkalektüre gerne nachgewiesen wird. Hartmut Binder zeichnet nach, dass Zeitungsberichte über verschiedene Experimente mit „denkenden Pferden“ sowie der auch in Prag vorgeführte dressierte Schimpanse namens Konsul Peter (auf den Rotpeter an einer Stelle selbst verweist (vgl. 301)) Kafka bekannt gewesen sein müssen.[29] Der Name der Jagdexpedition, die Rotpeter an der Goldküste gefangen nimmt, verweist außerdem auf eine historische Figur: Carl Hagenbeck, nicht nur Tierhändler und -dresseur, sondern auch Veranstalter von Völkerschauen. Bei einer Lektüre von Hagenbecks Darstellungen seiner zoologischen Projekte und Tierdressuren verblüfft, wie viele Motive des Bericht für eine Akademie schon hier anzutreffen sind. So beispielsweise die dressierten Menschenaffen als Weinliebhaber, der „kluge […] Schimpanse […] Moritz“[30] oder das „schöne[n] Orangpaar Jacob und Ronja“, dem sein anthropomorphes Verhalten zu Zugeständnissen verhalf – durch die sie aber wiederum weiter anthropomorphisiert wurden:

Ihnen wurde volle Freiheit gewährt, sie bildeten Mitglieder der Familie […]. Als sie nach Europa überführt wurden, blieben sie während der Reise die ganze Nacht frei an Bord, sie konnten hingehen, wo es ihnen beliebte […].[31]

Der Blick in derartige Dokumente aus der Entstehungszeit des Bericht für eine Akademie zeigt, dass die von Kafka entworfene Welt gerade in der Zuspitzung von Vorgefundenem entsteht, das Kafka nur an wenigen Stellen weiterdreht. Die wichtigste Stellschaube, an der Kafka dreht, ist hier, dass er den dressierten Affen, um den es in seinem fiktiven Bericht geht, dazu ermächtigt, selbst zu berichten. So komprimiert er die Spannung zwischen dem Unterdrücken und dem Unterdrücktwerden der Animalität, zwischen dem Wunsch, die zu beherrschen und einer Faszination für sie, die ihre anthropozentrische Perspektive nicht verlassen kann, in einer Figur. Indem er Rotpeter eine Stimme verleiht, lässt er ihn als im zweifachen Sinne selbstbewussten Künstler auftreten. Gerade mit diesem Empowerment geht aber einher, dass Rotpeters Erlernen der zivilisatorischen Choreographie nicht allein als Dressur, sondern als Selbstdisziplinierung dargestellt wird, das heißt, dass Kafka ein besonderes Augenmerk auf das legt, was Rousseau die den Menschen ausmachende Fähigkeit, sich zu vervollkommnen, nennt – welche von Kafka ambivalenter beschrieben wird als von Rousseau.

Rotpeters Rückblick setzt also mit der Begegnung mit der zivilisierten Welt ein, mit der Schifffahrt nach Europa. Hier ist Rotpeters physische Freiheit soweit eingeschränkt, dass er sich in seinem Käfig nicht einmal bewegen kann. Seinen anfänglichen Zustand auf dem Schiff beschreibt er wie folgt:

Ich hatte doch so viele Auswege bisher gehabt und nun keinen mehr. […] Hätte man mich angenagelt, meine Freizügigkeit wäre dadurch nicht kleiner geworden. […] Ich hatte keinen Ausweg, musste ihn mir aber verschaffen, denn ohne ihn konnte ich nicht leben. (304)

Diese bis dahin unbekannte Ausweglosigkeit und sein Überlebenswille lassen ihn einen „besonderen Ausweg, diesen Menschenausweg“ (312) entdecken, der jedoch nicht in die Freiheit führe, wie er betont: „Nein Freiheit wollte ich nicht. Nur einen Ausweg […], sollte der Ausweg auch nur eine Täuschung sein […]. Nur nicht mit aufgehobenen Armen stillestehn, angedrückt an eine Kistenwand.“ (305)

Der Ausweg, der weder Freiheit noch Gefangenschaft bedeutet, ist der, die Menschen, die ihn gefangen halten, nachzuahmen um seinen tierischen Körper in einen gesellschaftlich anerkannten Körper umzuformen. An den Menschen um ihn herum schaut er sich ihre typischen Gesten ab. Nicht nur diese, sondern ihre gesamte Erscheinung sei recht universell, betont er: „immer die gleichen Gesichter, die gleichen Bewegungen, oft schien es mir, als wäre es nur einer“ (307). Diesen standardisierten menschlichen Bewegungsmustern entsprechend formt Rotpeter seinen Körper um. Eine Unterwerfung unter das choreographische Gesetz, die er selbst mit den Worten „Verzicht auf jeglichen Eigensinn war das oberste Gebot“ (299), kommentiert. Wenn er den Normen menschlicher Bewegungen und Manieren entspreche, dürfe er den engen Käfig verlassen, hofft Rotpeter.

Dass Rotpeter in der nicht näher bezeichneten Institution von Gelehrten überhaupt angehört wird, ermöglicht erst seine Anpassung, durch die er als ihnen ähnlich angesehen wird. Rotpeters eigene Beschreibung dieser Situation macht deutlich, dass er – mit Siegmund (und Michel Foucault, auf den Siegmund jedoch nicht explizit hinweist) gesprochen – Subjekt im doppelten Sinne ist, der Choreographie der Zivilisation ebenso unterworfen wie von ihr hervorgebracht.[32]

Von der alten Affenweisheit zur instrumentellen Vernunft

Über den zum Zeitpunkt der Suche nach einem Ausweg gefassten Entschluss, das, was von seiner tierischen Vergangenheit noch übrig sei, endgültig hinter sich zu lassen – „nun, so hörte ich auf, Affe zu sein“ –, kann derjenige Rotpeter vor der Akademie im Nachhinein nur konstatieren, dass er damals auf dem Schiff diesen „klare[n], schöne[n] Gedankengang“ irgendwie mit seinem Bauch „ausgeheckt“ haben müsse: „denn Affen denken mit dem Bauch“ (alle 304). Das menschliche Denken kennzeichnet Rotpeter demgegenüber als zielorientiertes Schlussfolgern, als ein Rechnen (vgl. 307), dem er sich nach und nach angenähert habe: „Ich kann natürlich das damals affenmäßig Gefühlte heute nur mit Menschenworten nachzeichnen“ (303), beschreibt Rotpeter, wie sich durch seine körperliche Transformation sein Denken verändert habe. Die These, dass aus einer Veränderung der leiblichen Position in der Welt und zur Welt ein anderes Denken entsteht, die Kafka hier mit Rotpeters Vortrag aufstellt, wird auch von der Tanzwissenschaftlerin Maxine Sheets-Johnstone nahelegt. Sheets-Johnstone setzt das Rechnen und die aufrechte menschliche Körperhaltung in einen entwicklungsgeschichtlichen Zusammenhang. Für die frühen Hominiden habe die Umstellung vom Vier- zum Zweibeiner durch die Aufrichtung des Oberkörpers einen in die Ferne gerichteten Blick sowie die Benutzung der Hände für das Erkennen von Mengen durch deren ins Verhältnissetzen zu den Fingern ermöglicht. Gleichzeitig sei mit dem aufrechten Gang die Körperorganisation vereinfacht worden: Die Schrittfolgen verliefen weniger rhythmisch als mit vier Beinen, die räumliche Orientierung veränderte sich zu einfacheren, binären Gegensätzen von vorne/hinten, oben/unten, rechts/links.[33] In diesen binären Parametern des geometrisch-euklidischen Raumverständnisses erinnert Rotpeter seine Gefangenschaft:

Nach jenen Schüssen erwachte ich – und hier beginnt allmählich meine eigene Erinnerung – in einem Käfig im Zwischendeck des Hagenbeckschen Dampfers. Es war kein vierwandiger Gitterkäfig; vielmehr waren nur drei Wände an einer Kiste festgemacht; die Kiste also bildete die vierte Wand. Das Ganze war zu niedrig zum Aufrechtstehen und zu schmal zum Niedersitzen. Ich hockte deshalb mit eingebogenen, ewig zitternden Knien, und zwar, da ich zunächst wahrscheinlich niemanden sehen und immer nur im Dunkel sein wollte, zur Kiste gewendet, während sich mir hinten die Gitterstäbe ins Fleisch einschnitten. […] Ich war zum erstenmal in meinem Leben ohne Ausweg; zumindest geradeaus ging es nicht; geradeaus vor mir war die Kiste, Brett fest an Brett gefügt. Zwar war zwischen den Brettern eine durchlaufende Lücke, die ich, als ich sie zuerst entdeckte, mit dem glückseligen Heulen des Unverstandes begrüßte, aber diese Lücke reichte bei weitem nicht einmal zum Durchstrecken des Schwanzes aus und war mit aller Affenkraft nicht zu verbreitern. (302 f., Hervorhebungen L.O.)

Obwohl er seine „Affennatur“ zu diesem Zeitpunkt noch nicht ganz „unterdrückt“ (beide 301) gewesen sei, kann er im Nachhinein „die alte Affenwahrheit nicht mehr erreichen“ (303), sondern die Situation nur noch in Kategorien von meist von Lebewesen, die als menschlich definiert werden, aufgeführten Bewegungen beschreiben: Aufrechtstehen, Sitzen, den Richtungsangaben ‚vorne‘ und ‚hinten‘.

An Rotpeters Schilderung dieser ersten Situation, an die er sich selbst erinnern kann und die ihm nicht bloß aus Erzählungen bekannt ist, (vgl. „hier beginnt allmählich meine eigene Erinnerung“ (302)), verblüfft bei genauerer Beachtung, dass Rotpeter im Zusammenhang mit seiner Erklärung, dass er nicht durch die Gitterstäbe blicken wollte, die Bezeichnung „vierte Wand“ (302), eine seit Denis Diderots Theatertheorie bekannte Bezeichnung für die am Rand der Bühne vorgestellte „große Mauer“,[34] die die Schauspielenden des neuzeitlichen Illusionstheaters imaginär von ihrem Publikum trennt, für die Kistenwand vor ihm benutzt. Hier deutet sich bereits an, dass der Ausweg Rotpeters schließlich doch geradeaus vor ihm liegt: auf den Bühnen der Varietés.

Kafka unterlegt Rotpeters Narration mit einer geradlinig von der Vergangenheit in die Zukunft weisenden Linearität, die ebenso unterstreicht, dass es für Rotpeter kein Zurück gibt, wie dass er über einen ausgeprägten Fortschrittsglauben verfügt.

Wird er anfänglich noch der (Waffen-)Macht der Jadgexpedition unterworfen, unterwirft er seinen Körper zunehmend dem eigenen Willen. Seine Selbstdisziplinierung geht so weit, dass er die Bestrafung seines Lehrers gutheißt, ihn und sich selbst „auf der gleichen Seite gegen die Affennatur“ (310) kämpfen sehend. Anstatt zu drohen, den Dresseur zu zerfleischen (wie noch Hagenbecks Raubtiere[35]), droht Rotpeter, sich selbst zu zerfleischen. Er geht dabei unbarmherziger als seine Dompteure vor: „Man beaufsichtigt sich selbst mit der Peitsche; man zerfleischt sich beim geringsten Widerstand“ (311). Stolz klingen seine Worte dabei: „Diese Fortschritte! Dieses Eindringen der Wissensstrahlen von allen Seiten ins erwachende Hirn!“ (312)

Das, was Adorno und Horkheimer in der Dialektik der Aufklärung als „das Destruktive des Fortschritts“[36] bezeichnen, beachtetet er nicht. Gerade dadurch wird an seinem Vortrag deutlich, wie sich sein Denken im Laufe dieser persönlichen Aufklärung von einer Art ganzheitlichem Bauchgefühl über das Nachahmen des menschlichen Rechnens zu einer über den Körper verfügenden „instrumentellen Vernunft“[37] transformiert.

Für das Verhalten seiner Jäger, Wächter und Dresseure findet Rotpeter Worte des Verständnisses, wenn nicht sogar der Sympathie und beginnt, sich verächtlich von allem Tierischen abzugrenzen und das Tier sowie das Tier im Menschen als solches zu beschimpfen (vgl. 301 f.). Adorno vertritt die These, dass der kantianisch-idealistische Anthropozentrismus der Aufklärung noch über die bereits zuvor übliche abendländische Abgrenzung vom Tier hinausgehe: Er hasse es. Davon ausgehend, dass es als Beleidigung gilt, jemanden ein Tier zu schimpfen, zieht Adorno eine Parallele vom Umgang mit Tieren zum nationalsozialistischen Umgang mit der jüdischen Religion angehörigen Personen.[38] Diese Parallele spielt zweifellos auch im Bericht für eine Akademie eine bedeutende Rolle. Indem Kafka denjenigen, der der menschlichen Gesellschaft nicht angehört, als Tier darstellt, spitzt er zu, dass das, was als menschlich gilt, stets von Normen vorgeschrieben wird. Kafka entwirft mit Rotpeter eine Figur, die aufgrund ihrer Nichtzugehörigkeit zu dem, was als Mensch definiert wird auch als politisch ausgeschlossene und verfolgte Person gelesen werden kann, die trotz ihrer Assimilation nur als ausgeschlossene in die Gesellschaft aufgenommen wird.[39]

Ein Abstand zum choreographischen Gesetz?

Rotpeter macht deutlich, dass die Nachahmung der Menschen für ihn eine Notwendigkeit und kein Vergnügen ist: Es fällt ihm leicht (vgl. 308), doch es reizt ihn nicht (vgl. 311). Als Höhepunkt seiner Annäherung an die Menschen stellt er dar, dass es ihm sogar gelingt, eine Schnapsflasche zu leeren, was ihm während seines Lernprozesses die meisten Schwierigkeiten bereitetet habe. Nach dieser perfekten Mimesis, die er „nicht mehr als Verzweifelter, sondern als Künstler“, einem „großen Zuschauerkreis“ (beide 310) vorführt, ist er sofort in die menschliche Gemeinschaft aufgenommen. Die Gitterstäbe, die Rotpeter einige Sätze zuvor noch isolierten, lässt Kafka ohne ein weiteres Wort fallen. Außerdem gelingt es Rotpeter sogar, ein „Hallo!“ von sich zu geben (311), ohne Zeit damit verbracht zu haben, die menschliche Sprache zu erlernen. Auch wenn er seine menschliche Stimme danach wieder für einige Monate verliert, braucht das Sprechen in dieser Erzählung weit weniger Training als das Erlernen der Choreographie menschlichen Bewegens und Verhaltens (vgl. 311). Genaugenommen geht es, wie sein verändertes Denken, einfach damit einher.

Rotpeters Anpassung reicht, trotz all seiner Anstrengungen, nicht aus, um ihm ganz zur Aufnahme in die menschliche Gesellschaft zu verhelfen:

Als ich in Hamburg dem ersten Dresseur übergeben wurde, erkannte ich bald die zwei Möglichkeiten, die mir offen standen: Zoologischer Garten oder Varieté. Ich zögerte nicht. Ich sagte mir: setze alle Kraft an, um ins Varieté zu kommen; das ist der Ausweg; Zoologischer Garten ist nur ein neuer Gitterkäfig; kommst du in ihn, bist du verloren. (311)

Rotpeter hält also am Ausweg der Choreographie fest, als die Schiffsreise beendet ist. So kann er sich in eine bestimmte Art der Menschenfreiheit flüchten, die er als „selbstherrliche Bewegung“ (305) bezeichnet – eine Wortwahl, welche die Hybris der menschlichen Naturbeherrschung und die der menschlichen Selbstbeherrschung verknüpft. Rotpeter verwendet sie in folgendem Zusammenhang:

Nebenbei: mit Freiheit betrügt man sich unter Menschen allzuoft. Und so wie die Freiheit zu den erhabensten Gefühlen zählt, so auch die entsprechende Täuschung zu den erhabensten. Oft habe ich in den Varietés vor meinem Auftreten irgendein Künstlerpaar oben an der Decke an Trapezen hantieren sehen. Sie schwangen sich, sie schaukelten, sie sprangen, sie schwebten einander in die Arme, einer trug den andern an den Haaren mit dem Gebiß. ‚Auch das ist Menschenfreiheit‘, dachte ich, ‚selbstherrliche Bewegung.‘ Du Verspottung der heiligen Natur! Kein Bau würde standhalten vor dem Gelächter des Affentums bei diesem Anblick. (304 f.)

Rotpeter beendet seinen Bericht damit, dass er in den Varietés als dressiertes Tier ausgestellt, für seine enorme Selbstdisziplinierung bewundert und berühmt, und zu „Banketten, […] wissenschaftlichen Gesellschaften, […] gemütlichem Beisammensein“ geladen wird. Von der zivilisierten Gesellschaft zugleich ein- und ausschlossen, verbringe er nur seine Nächte noch „nach Affenart“. Erst hier, ganz am Ende des Berichts erwähnt Rotpeter ein weiblich konnotiertes Wesen. Dieses ist weit weniger als er selbst in die Gesellschaft der männlichen Menschen integriert, die bis dahin in Rotpeters Vortrag vorkamen oder diesem zuhören. Die kleine Schimpansin, deren zurückgebliebene Wildheit Rotpeter bei Nacht zu mögen scheint, ist, in seinen Worten, „halbdressiert […]“, und passt, da sie „den Irrsinn des verwirrten dressierten Tieres im Blick“ (alle 313) hat, nicht in sein gesellschaftskonformes Leben bei Tag. Die Rolle der Frau in einer die Natur zu beherrschen versuchenden „Männergesellschaft“[40] liegt nicht in der Produktion, sondern der Reproduktion, insbesondere der „Verkörperung der biologischen Funktion“,[41] bringen schon Adorno und Horkheimer das zentrale Argument des marxistischen Feminismus vor.

Obgleich Rotpeter die Geschichte seiner Menschwerdung als Geschichte einer Assimilation erzählt, macht er an mehreren Stellen seines Berichts deutlich, dass er, wenngleich er seine Assimilation erfolgreich meistert, Außenseiter bleibt. Beeindruckt er in seinen Auftritten im Varieté damit, wie weit seine Menschwerdung reicht, thematisiert er in seinem Auftritt vor der Akademie, dass das Verhältnis seines Körpers zur zivilisatorischen Choreographie davon gekennzeichnet bleibt, dass die beiden Seiten nicht ganz ineinandergreifen: sein Körper geht nicht ganz im choreographischen Gesetz auf, dieses wiederum kann den Körper nicht vollständig ergreifen. Das, worauf Rotpeter hiermit aufmerksam macht – und was er zugleich nutzt, um überhaupt darauf aufmerksam machen zu können – ließe sich mit Siegmund als ein möglicher „kritische[r] Abstand zwischen Körper und Gesetz“[42] bezeichnen. Rotpeters Vortrag verdeutlicht, dass dieser kritische Abstand gerade dadurch offengehalten werden könnte, die eigene Transformation durch die zivilisatorische Choreographie nicht zu leugnen oder sich ihr zu widersetzen zu versuchen, aber auch nicht Bewegung einfach in ihrer Selbstherrlichkeit vorzuführen, sondern das eigene Unterworfen- sowie Hervorgebrachtsein durch die zivilisatorische Choreographie zur Sprache zu bringen.

Deutlich macht die Balance des Affen auf der Grenze zwischen Mensch und Tier so außerdem, dass bereits ein gewisser Einschluss in die zivilisatorische Choreographie mit Rotpeter vonstattengehen muss, bevor eine Unterwerfung unter das, was hier als zivilisatorische Gesetz bezeichnet wurde, überhaupt stattfinden kann. Hinsichtlich dieses Aspekts lässt sich eine Parallele zwischen Kafkas Figur des Affen und der Figur des Flüchtlings bei Giorgio Agamben, die Agamben im Rückgriff auf Hannah Arendts Diskussion der „Aporien der Menschenrechte“[43] behandelt. „Die Paradoxie, die von Anfang an in dem Begriff der unveräußerbaren Menschenrechte lag, war, daß dieses Recht mit einem ‚Menschen überhaupt‘ rechnete, den es nirgends gab“[44], analysiert Arendt in Bezug auf die 1789 in Frankreich verabschiedete Declaration des droit de l’homme et du citoyen ebenso wie die 1948 erfolgte Verabschiedung der allgemeinen Menschenrechte. Wen auf nationaler Ebene verabschiedete Gesetze und Erlasse aus der nationalstaatlichen Lebensform ausschließen, die oder der verliert mit seiner Staatsangehörigkeit auch die mit dieser garantierten Rechte und wird damit, als Staatenlose oder Staatenloser, in ein Außerhalb des Gesetzes katapultiert, konstatiert Arendt.[45] Agamben dazu:

Das Paradox, von dem sie hier ausgeht, besteht darin, daß die Figur – der Flüchtling –, die den Menschen der Menschenrechte schlechthin hätte verkörpern sollen, statt dessen die radikale Krise dieser Konzeption bezeichnet[46].

Kafkas Figur des Affen Rotpeters unterstreicht, dass das Problem noch drastischer darzustellen ist, als Arendt und Agamben es abbilden: Nicht nur der Nexus von Nativität und Nationalität, das heißt von Geburt und Staatsangehörigkeit ist eine Konstruktion,[47] sondern auch derjenige von Geburt und Anerkennung als Mensch. Aufmerksam macht Rotpeter damit nicht zuletzt darauf, dass das anthropozentrisch organisierte Theater stets nur auf einer solchen die Idee des Menschen manifestierenden und normalisierenden Choreographie gründen kann – womit sich sein Bericht für eine Akademie als eine theater- und tanzwissenschaftlich höchst aktuelle Theorie liest.

  1. Kafka, Franz: „Ein Bericht für eine Akademie“, in: ders.: Franz Kafka. Schriften Tagebücher Briefe. Kritische Ausgabe. Drucke zu Lebzeiten. Frankfurt a. M. 1994, S. 299-313, hier S. 299. Diese Ausgabe wird nachfolgend im Text durch Seitenangaben in Klammern zitiert. Erstmals erschien der Text als: „Zwei Tiergeschichten. 2. Ein Bericht für eine Akademie“, in: Der Jude (1917), S. 559-565.
  2. Kafka: „Ein Bericht für eine Akademie und andere Texte zum Rotpeter-Thema“, in ders.: Die Erzählungen und andere ausgewählte Prosa. Frankfurt a. M. 2001, S. 294-307, 2. beigefügtes Fragment, hier S. 306.
  3. Arbeau, Thoinot: Orchésographie, Réimpression précédée d’une Notice sure les Danses du XVIe siècle par Laure Fonta, Bibliotheca Musica Bononiensis. Nachdruck der Ausgabe Paris 1888, Bologna 1981.
  4. Lepecki, André: Option Tanz. Performance und die Politik der Bewegung. Berlin 2008, S. 17.
  5. Ebd. S. 15.
  6. Vgl. Arbeau: Orchésographie. S. 3 ff.
  7. Siegmund, Gerald: „Recht als Dis-Tanz: Choreographie und Gesetz in William Forsythes Human Writes“, in: Forum Modernes Theater, 22/1/2007, S. 75-93, hier S. 82. Im Einzelnen verwendet Arbeau für die zu überwindende kreatürliche Körperlichkeit die Worte „espaule de mouton“ (Hammelschulter), „coeur de porc“ (Schweineherz) und „teste d’asne“ (Eselskopf). Vgl. Arbeau: Orchésographie, S. 6.
  8. Siegmund: „Recht als Dis-Tanz“, S. 81.
  9. Ebd. S. 82.
  10. Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente in: Theodor W. Adorno. Gesammelte Schriften, Bd. 3. Frankfurt a. M. 1984, S. 283.
  11. Ebd.
  12. Wild, Markus: Tierphilosophie zur Einführung. Hamburg 2008, S. 27.
  13. Ebd. S. 26. Gemein ist den oben erwähnten Abgrenzungsversuchen, dass sie mit dem in einem verallgemeinernden Singular stehenden Begriff Tier die nicht einholbare Fremdheit der einzelnen Tierarten und Tiere negieren, worauf Jacques Derrida unter anderem in seinem Buch L’animal que donc je suis mit seinem Versuch, einem bisher vernachlässigten Thema der Philosophie zu eingehenderen Untersuchungen zu verhelfen, eindringlich hinweist. Die Reduzierung der Vielfalt der Tiere auf die Rede von „dem Tier“ will er durch den Entwurf des Wortes „animot“ (meist ins Deutsche übersetzt als das „Tierwort“), das klanglich auf den Plural „les animaux“ verweist, umgehen. Derrida, Jacques: Das Tier, das ich also bin. Wien 2010, S. 58.
  14. Vgl. Aristoteles: Werke in deutscher Übersetzung, Bd. 9, Politik, Teil 1. Darmstadt 1991, S. 13 (1253a).
  15. Vgl. Kant, Immanuel: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht. Stuttgart 1983, S. 278.
  16. Vgl. Descartes, René: Die Welt. Abhandlung über das Licht. Der Mensch. Französisch-Deutsch. Hamburg 2015, S. 173 ff.
  17. Vgl. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Kafka. Für eine kleine Literatur. Frankfurt a. M. 1976, S. 50.
  18. Vgl. Linné, Carl von: „Vom Thiermenschen“, in: Des Ritters Carl von Linné Auserlesene Abhandlungen aus der Naturgeschichte, Physik und Arzeneywissenschaft, Bd. 1. Leipzig 1776, S. 57-70. Vgl. dazu auch Agamben, Giorgio: Das Offene. Der Mensch und das Tier. Frankfurt am Main 2003, S. 65 ff.
  19. Rousseau, Jean-Jacques: Diskurs über die Ungleichheit. Kritische Ausgabe des integralen Textes. Paderborn u.a. 1997, S. 71. Das Traktat entstand als Antwort auf eine am 13. Juli 1753 von der Académie de Dijon gestellte Frage: „Welches ist der Ursprung der Ungleichheit unter den Menschen, und ob sie durch das natürliche Gesetz autorisiert wird?“. Rousseaus Traktat gewann den von der Akademie ausgeschriebenen Prix de marche des Jahres 1754 nicht und wurde 1755 in Amsterdam veröffentlicht. Vgl. die Anmerkungen des Herausgebers und Übersetzers Heinrich Meier auf S. 64 f.
  20. Heinrich Meier: „Rousseaus Diskurs über die Ungleichheit – Ein einführender Essay über die Rhetorik und die Intention des Werkes“, in: Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, S. XXI-LXXVII, hier S. LXVI.
  21. Ebd. S. LXX.
  22. Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit. S. 105.
  23. Ebd. S. 331.
  24. Das vom Abbé Antoine François Prévost von 1746 bis 1791 herausgegebene 20 Bände umfassende Werk lag 1754 bereits mit den ersten sieben Bänden vor. Diese sind eine Übersetzung der 1741 bis 1754 in London von John Green veröffentlichten New Collection of Voyages and Travels. Vgl. die Anmerkungen Meiers in: Rousseau: Diskurs über die Ungleichheit, S. 326 ff.
  25. Ebd. S. 325 ff. „Orang-Utang“ meinte damals auch die Affenarten, die heute Schimpansen und Gorillas genannt werden. Vgl. ebd. S. 334.
  26. Ebd. S. 333.
  27. Ebd. S. 335.
  28. Vgl. Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt a. M. 1974, S. 244 ff. und S. 248 ff. Stephan Gregory macht mit Paul de Man darauf aufmerksam, dass Rousseau in seiner Gesellschaftstheorie schon einen Schritt weiter sei als Derrida in seiner Lektüre annehme, weil Rousseau selbst schon berücksichtige, dass seine Überlegungen über einen Urzustand immer schon von seiner Zeitgenossenschaft geprägt und damit verfälscht seien. Vgl. Gregory, Stephan: „Rousseaus Experimente: Wie man zur Natur zurückkehrt“, in: Maud Meyzaud (Hg.): Arme Gemeinschaft. Die Moderne Rousseaus. Berlin 2015, S. 20-48, hier S. 21 sowie 26 f.
  29. Vgl. Binder, Hartmut: Kafka: Der Schaffensprozeß. Frankfurt am Main 1983, S. 271-305.
  30. Vgl. Hagenbeck, Carl: Von Tieren und Menschen. Erlebnisse und Erfahrungen. Hamburg 2012 [1908], S. 212, S. 217. Vgl. zu der fragwürdigen Begeisterung für durch Dressur vermenschlichte Affen auch die Forschung Donna Haraways in: dies.: Primate Visions: Gender, Race and Nature in the World of Modern Science. New York 1989, S. 21.
  31. Hagenbeck: Von Tieren und Menschen, S. 212. Anselm Franke, Ko-Kurator der am Haus der Kulturen der Welt gezeigten Ausstellung Ape Culture bezeichnet Affen als „Gefangene des Spiegels“, als welcher sie die Menschen aufgrund ihrer Ähnlichkeit mit ihnen faszinieren. Lediglich daraufhin betrachtet, was sie Menschen über diese selbst verraten, dienen sie der Forschung vor allem dann, wenn es menschenähnliche Körpern oder menschenähnliches Verhalten verlangt. Franke, Anselm: „Spiegel an Grenzen“, in: Ders./Peleg, Hila (Hg.): Ape Culture / Kultur der Affen, Leipzig 2015, S. 12-23, hier S. 12.
  32. Gerald Siegmund zeigt, dass es zu kurz greift, Choreographie im Sinne Lepeckis auf das „ihr inhärente Moment der Unterdrückung von Körperlichkeit zu reduzieren“. Er macht deutlich, dass das Verhältnis des Einzelnen zur Choreographie vielmehr im Sinne Foucaults als Subjektivierung zu verstehen sei. Vgl. Siegmund: „Recht als Dis-Tanz“, S. 81. Vgl. zu Foucaults (spätem) Subjektbegriff beispielsweise Foucault, Michel: „Subjekt und Macht“, in ders.: Schriften in vier Bänden. Band IV. Frankfurt am Main 2005, S. 269-294.
  33. Sheets-Johnstone, Maxine: The Roots of Thinking. Philadelphia 1990, S. 71-89. Vgl. zu dieser mit einer bestimmten Prägung des Verhältnisses der Menschen zur Welt verknüpften Körperlichkeit auch Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 265 ff.
  34. Vgl. Diderot, Denis: „Von der dramatischen Dichtkunst“, in: Bassenge, Friedrich (Hg.): Denis Diderot. Ästhetische Schriften. Frankfurt a. M. 1968, S. 239-347, hier S. 284.
  35. Hagenbeck versteht seine neue, vermeintlich humanistischere Methode „zahme Dressur“: „Die Zeiten der Gewaltdessuren sind jetzt vorbei, schon deshalb, weil man mit Gewalt nicht den hundertsten Teil dessen erreichen kann, was sich mit Güte erzielen läßt. Aus diesem Grunde habe ich aber seinerzeit die zahme Dressur nicht eingeführt, sondern es geschah aus Mitgefühl und aus der Erwägung, daß es einen Weg zur Psyche des Tieres geben muß. […] Die Tiere besitzen ein feines Unterscheidungsvermögen in Bezug auf die Art, wie man ihnen begegnet, sie sind fähig, Freundschaften zu schließen, auch mit dem Menschen […].“ Ders.: Von Tieren und Menschen, S. 166 f. Vgl. zu Hagenbecks Zooreformen Adorno: Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben, Frankfurt am Main 2001, S. 211 ff.
  36. Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 13.
  37. Horkheimer: Gesammelte Schriften, Bd. 6, „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“ und Notizen 1949-1969. Frankfurt a. M. 1991.
  38. Vgl. Adorno: Nachgelassene Schriften, Abt. 1, Fragment gebliebene Schriften, Bd. 1, Beethoven. Philosophie der Musik. Fragmente und Texte. Frankfurt a. M. 1993, S. 123. Siehe auch Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 290 f.
  39. Hannah Arendt hat aufgezeigt, dass das Thema der Assimilation in Kafkas Schriften immer wieder auszumachen ist. Vgl. Arendt, Hannah: Die verborgene Tradition. Essays. Frankfurt a. M. 1976, S. 72 ff.
  40. Adorno/Horkheimer: Dialektik der Aufklärung, S. 286.
  41. Ebd. S. 285.
  42. Siegmund: „Recht als Dis-Tanz“, S. 78.
  43. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. II. Imperialismus. München 1995, S. 452.
  44. Ebd. S. 454.
  45. Vgl. ebd. S. 422 ff.
  46. Agamben: Homo sacer. Die souveräne Macht und das nackte Leben. Frankfurt am Main 2002, S. 135.
  47. Vgl. ebd. S. 140 f.

Miszellen | Unoccupied Centers in Moscow Conceptualism. Collective Actions’ Journeys into Nothingness

Conceptualism or self-sufficient philosophizings

Formed around Andrei Monastyrsky in 1976, Collective Actions (Kollektivnye deistviya, hereafter referred to as KD) was a Moscow-based group of conceptual artists that organized various actions for more than three decades. KD usually put on its events on the outskirts of Moscow, which were followed by a series of descriptive, contextualizing and interpretative activities carried out by its participants. Most of the actions had the same format: A group of people (of close friends and fellow artists) was invited to take a train to a station outside Moscow. They would walk from that station to a field and wait for something to happen. The group would witness and take part in a small-scale action/an event and then return to Moscow. Once they discovered an electric bell buried under the snow in the middle of the field, which continued ringing after they had left. Other times, the group discovered a banner with a slogan hung between the trees or simply the organizers appearing at the other end of the field. At the level of content/appearance, the actions could be summarized as “being in a certain place”, “walking in a straight line”, “motionless standing”, “appearing”, “disappearing” etc.[1] Afterwards, participants would engage in a personal process of finding meaning, writing about their experiences and providing interpretations for further debate among the members of the circle. The Dictionary of Terms of Moscow Conceptualism, collected and assembled by Andrei Monastyrsky, defines the journey outside the city (poezdka za gorod) as a “genre of action in which the accent was placed on the aesthetic importance of various phases of travelling to the place of the action, as well as various forms of describing it”[2]. The action undertaken by the participants was just as important as the theoretical-analytical activity afterwards; both activities were considered part of the journey.

All of these activities were documented by KD’s main theoretician, Andrei Monastyrsky, and published in 1998 in an eleven-volume publication, Journeys Outside the City (Poezdki Za Gorod, hereafter referred to as Journeys).[3] The members of KD meticulously documented every single performance. There seems to have been an aesthetic of administration, something like a bureaucracy of madness at work here. A simple description of an action turned into an interpretation, which was based on or resulted in theoretical texts on the acts of perception, which became the subject of further interpretations, which were reinterpreted – until participants finally got lost in the loop of reinterpretation and self-referentiality. Andrei Monastyrsky’s Journeys is anything but straightforward; its discourse is often hermetic and impenetrable. The hyper-reflexivity presented in the explanatory and analytic texts is already an attack on the commentator, forestalling his or her judgement. To which extent is this documentation a kind of wishful thinking, where the intentions of the actions are possibly presented as their results, where the group’s aspirations are presented as the outcomes of actions? It seems to me that thinking with, within and about the conceptualist archive requires a type of thinking that is also able to simultaneously think against itself – an almost impossible task, in fact. KD’s archive forces us to accept incomprehension and incompleteness, but even this acceptance seems to be consistent with conceptualist aspirations, for as Pavel Pepperstein once put it in an interview with Aleksandr Goldstein: “Conceptualism deliberately calls for incomprehension […]. Conceptualism expects incomprehension and works with it.”[4]

In a narrower sense, Moscow Conceptualism was a circle of artists united by a search for new forms, which emerged as an underground movement in the early 1970s, at a time when Socialist Realism was the only officially acceptable form of artistic expression. Its roots go back to the unofficial art movement that developed during the Khrushchev Thaw of the mid-1950s and early 1960s, a period of de-Stalinization that loosened the straightjacket of repression and censorship in the Soviet Union.

First and foremost, conceptualism deals with ideas. A concept is any idea presented as an idea, where any reference to the ‘real’ or the prospect of realization is irrelevant. As Mikhail Epstein points out, contrary to the Marxist assumption that concepts like collectivism, equality and freedom are “historically real”, conceptualists view any system of thought as self-enclosed, with no correspondence to reality whatsoever: “Conceptualists demonstrate that all these notions are contingent on mental structures or derived from linguistic structures.”[5] Andrei Monastyrsky understood conceptualism not as an independent school or a period of art history but as a “philosophical-aesthetic methodology”, as a “mode of artistic vision and thought”, as “a poesis of philosophy”[6]. The aim of conceptualism is to reflect and meditate on the hidden conditioning of our consciousness. Whereas all the -isms and schools of thought impose ideological schemes upon reality, which is not intelligible, conceptualism tries to uncover the aggressiveness of such impositions.[7] KD had its origins in poetry and actually put on “poetic performances”. In a letter from 1976, when referring to its first actions, Monastyrsky asks Agamov-Tupitsyn to take into account “that all these things are poetry”[8]. Whereas ‘Western’ performances and happenings in the 1960s and 1970s might be best captured by the term indistinguishability (between art and life) or at least by the aspiration to blur the division between art and life, Moscow Conceptualist performance art – and KD in particular – can be best described by the terms detachment and isolation: understood as events which took place outside of the sphere of life, outside of the sphere of art, outside of the indistinguishable zone between them. Yevgeniy Barabanov emphasizes that Moscow Conceptualism – in contrast to conceptualists on the other side of the iron curtain such as Hans Haacke or Wolf Vostell – was not primarily concerned with social problems. Instead, its attention was directed toward questions of perception, purely aesthetic investigations, structures of consciousness and the different layers of the psyche.[9] While the ‘Western’ conceptual (performance) tradition put the figure of the artist, the body, the face at its center, Moscow Conceptualism left its center unoccupied. Its central category was emptiness, a void, or as Kabakov once put it: “its contact to nothingness, void nebulousness”[10].

In the following I am interested in looking at KD as embodied thinking, as a “philosophical practice”. I borrow this term (filosofskaya praktika) from the Dictionary of Moscow Conceptualism, which defines it as a “ritualized part of philosophy”, as a “type of activity or a quasi-ritual addition of a practical component to philosophy”[11]. KD’s activities can be seen as concrete philosophy, which is expressed not in concepts but in concrete objects, sounds, performative actions etc. In the sixth volume of the Journeys, Monastyrsky writes that actions are “sort of self-sufficient philosophizings with legs, body, sounds”[12].

By touch through the fog

In a letter to Viktor Tupitsyn, recalling his own participation in KD, Ilya Kabakov explains the essence of his experience with an image from his childhood: an image of walking somewhere with his mother. He describes a kind of walking when your mother knows where you are heading to, but you have not really paid attention, so you are just following her down the street – in a light and happy manner – observing the houses, kicking a tin can; you have no goal, the ‘other’ – your mother – knows the aim. Your inner “dispatch operator” is switched off. She takes you somewhere without explaining what is awaiting you, but you are assured that nobody will harm you. Kabakov describes how he felt the same kind of lightness and joy while taking part in the journeys: “From the moment I got on the train, my goals, the questions and affairs that constantly preoccupied me, my fear of myself and others, were all, as it were, taken away from me”[13]. He emphasizes that the most remarkable thing was that not even the organizers seemed to have any aims or concrete wishes to show, create or transmit anything, “everyone was moving by touch through the fog”[14] Another aspect he highlights is the experience of “for the first time, being among my own”[15], in a carefully designed parallel reality, undetermined but safe. These two aspects – being released from a goal and a peculiar sense of being among “my own” – presented in Kabakov’s metaphoric reminiscence of his own participation provide an ideal introduction to what I would like to discuss: the question of unity and communality KD negotiated by performative means. I will refer to two actions that were organized under conditions of so-called “real socialism”.

For the action Balloon (1977), participants and organizers (Monastyrski, Nikita Alexeev, Georgy Kizevalter, L. Veshnevskaya, Andrei Abramov) gathered in the forest near the Gorkovskaya railway station and inflated balloons for six hours. Afterwards, pieces of colored calico were sewn together to form an envelope for the balloons four meters in diameter, which was subsequently stuffed with the smaller balloons. At the end, a ringing alarm clock was put inside and the huge balloon was let off to drift down the Klyazma River.[16] In Pictures (1979), twelve sets of twelve colored envelopes were distributed to twelve of the thirty participants. Each envelope contained basic information about the event: a timeline of the action, weather conditions, the color of the envelopes, sound, audience reactions, interpretation. While the viewers were unsealing the envelopes and arranging them in a line in the snow, three people crossed the field and disappeared into the forest. After having read the inscriptions on each of the envelopes, the participants folded and pasted each set of envelopes (the biggest on the bottom, the smallest on the top), so that one had twelve colored “framework” pictures in the end. The text – except for the indication of time and place of action – disappeared under the envelopes.[17]

Inoperative community

By trying to look at KD as both a group trying to build up a system of alternative inter-human relations and as a group practicing total escapism from its socio-political environment, I would like to consider their actions alongside Jean-Luc Nancy’s concept of the “inoperative community” (la communauté désoeuvrée).[18] For Nancy, community should be understood neither as a coming together of distinctly subjectivized individuals nor as an entity organized around a certain characteristic or any other formed and therefore closed identity. The central thought underpinning Nancy’s thinking in Inoperative Community (1991) is that community has never been possible on the basis of sharing an essence or identity. Its basis, as Nancy argues, is rupture, dispersal. Separation, distance is what makes it possible for entities to be exposed to each other, to communicate, to share an existence. In the absence of separation, distance, dispersal, no exposure can occur. Nancy’s historic references in his thinking of community are Heidegger’s concept of “being-with” (Mitsein) and Bataille’s notion of “community”, which he reviews and combines in the concept of “shared finitude”[19]. He sees Heidegger’s shortcoming in not having implicated “being-towards-death” (Sein zu Tode) in “being-with” (Mitsein) [20] Nancy moves from thinking about community as a metaphysical concept to the mortality of the body; he views community as being built up on singularities that are defined by their finitude .[21] This finitude characterizes both the being of singularity and the being of community and implies a sort of incompleteness. Nancy writes: “Community is calibrated on death as that of which it is precisely impossible to make a work”[22], because a shared relationship to death undoes assumptions about identity and collectivity. Nancy’s community is a multiplicity of singular existences that share nothing but mortality, the impossibility of being-in-common, or, in his own words: “The genuine community of mortal beings, or death as community, establishes their impossible communion. Community therefore occupies a singular place: it assumes the impossibility of its own immanence, the impossibility of a communitarian being in the form of a subject.”[23]

It is not wholeness or unity that builds up a community, but exposure to others or, in Nancy’s term, “co-appearance”[24]. Rejecting “immanentism” – the desire for a closed social identity – as necessarily ultimately leading to totalitarianism, Nancy proposes that “we have to dis-identify ourselves from every sort of ‘we’ that would be the subject of its own representation, and we have to do this insofar as ‘we’ co-appear”[25]. For Nancy, there is no world of ‘real’ identities and relationships, it is only through co-appearance that our being together is constituted; we are only related insofar as we appear.[26]

Beyond the common plan or intent

According to the artist Ilya Kabakov, there was a peculiar sense of communality among the spectator-participants of KD. In the first volume of the Journeys, he recalls the euphoric feeling that arose from the fact that they were collectively travelling outside the city without any particular task or goal (ne po delu) [27]. For Kabakov, the most unusual aspect of this action was the lack of any personal plan, intent or purpose. No one cared about accomplishing a task, nor was anyone bothered about whether or not the time they were spending was pleasurable, which can also be considered a kind of task. “Being cut off from personal intention”, Kabakov continues, “reveals some very comfortable layers of the psyche, […] a feeling of freedom that is bigger than political, social or any other kind of freedom. You can’t imagine what awaits you. An interesting kind of vacuum emerges”[28]. Kabakov recalls the feeling of unity (chuvstvo obshnosti), of being-called (chuvstvo pozvannosti) and the feeling that not even the organizers were in control of what would happen on that field, that even they would be surprised. Referring concretely to Pictures, Kabakov says: “Everyone was immersed in their own task, while everybody was occupied with this bullshit, as it seemed. This non-sociality, non-solidarity, but at the same time some kind of unity (communality) – all this created a field of freedom”[29] (. As in Nancy, community here is an experience of interrupted community. What you get as a result of the communal labor is a day in itself, the embodied proposition “there was a day” and that “this day is done”[30]. Participants folded and pasted a picture of a day spent together, which they took home as a gift at the end of the action.

We also have the aspect of collective labor in the action Balloon: six hours of collectively inflating balloons, sewing the fabric together. This labor was non-pragmatic, inoperative and, to a certain extent, absurd. The result of this collective labor – if it is at all possible to speak of a result – was a huge balloon stuffed with other balloons, drifting down the river, ringing: an object that was totally alien to its environment. Alekseev describes how this kind of labour was perceived by the participants as “necessary” but “not obligatory”[31]. It was a “collective labor shared by a group of people living in the absence of any canon”[32].

When confronted with a statement that collectivity was at the center of KD in an interview with Sabine Hänsgen, Monastyrsky answered that it was not collectivity but “emptiness”, “pre-receptivity”, “slipping-away corporality” that were at its core (.[33] As in Nancy’s concept of community, there was no essence or identity at its core and, consequently, there was no sharing of it. Community was experienced as such in a rupture, underlying the event as individualized inner-psychic and unshared experience. Moreover, seen in the context of a system violently throwing people into communality, KD’s actions can be read as an invitation to dis-identify from the fictional Soviet ‘we’, from the myth of community, in favor of emptiness, openness, comfortable being-released. Being in the field of co-appearance (beyond any completeness, wholeness, unity) and being in a state of heightened attention was the “outside” from which participants were able to enjoy community.

Even though I have emphasized how KD provided an experience of communality by withdrawing any overarching goal or sharing of an essence or identity, we still should not forget that the circle of Moscow Conceptualists was a closed one, established around certain shared traits: be it hatred towards the Soviet System, the narrowness of artistic institutions, common interests or, in conceptualist jargon, common “gnoseological thirst”[34]. However, it is important to keep in mind that, under Soviet communism, art was functionalized by being ascribed an official task to produce a New Man and a new subjectivity. To this extent, we can read KD’s actions as strategies of de-functionalization, as a clearing up of the very field of subjectivity. Obviously, KD did not aim to form a collectivist subject resting on – not exclusively, but predominantly – negative procedures: de-subjectivation, de-articulation of subjects.[35] This negativity is also at the core of Kabakov’s descriptions when he emphasizes that the most pleasant moment consisted precisely in not having a common task, of not being united by a common goal. On the contrary: Communality was the result of being released from them.

  1. Monastyrsky, Andrei: Poezdki Za Gorod: Kollektivnye Deistvia. Vol. 4. Moscow 1998, p. 450.
  2. Monastyrsky, Andrei (ed.): Slovari terminov moskovskoi kontzeptualinoi shkoly. Moscow 1999. http://www.conceptualism-moscow.org/page?id=313
  3. Cf. Monastyrsky 1998.
  4. http://pergam-club.ru/book/4801
  5. Epstein, Mikhail. “Philosophical Implications of Moscow Conceptualism”, in: Journal for Eurasian Studies 1:1 (2010), pp. 64-71, here p. 65.
  6. Degot, Ekaterina: “Batiskaf konzenpualizma”, in: Degot, Ekaterina/Zakharov, Vadim (eds.): Moskovskii Konzeptualism – Moscow Conceptualism. Moscow 2005, p. 17.
  7. Cf. Epstein 2010, p. 67.
  8. Agamov-Tupitsyn, Viktor/Monastyrsky, Andrei: Tet-a-Tet: Perepiska, Dialogi, Interpretacia, Faktografia. Vologda 2013, p. 13.
  9. Cf. Barabanov, Yevgeniy: “Moscow Conceptualism: Between Self-Definition and Doctrine”, in: Rosenfeld, Alla (ed.): Moscow Conceptualism in Context. New Brunswick 2005, pp. 48-99, here p. 61f.
  10. Kabakov, Ilya/Kabakova, Emiliya: Zhizn mukh (Life of Flies). Bielefeld 2008, p. 133.
  11. Monastyrsky, Andrei (ed.): Slovari terminov moskovskoi kontzeptualinoi shkoly. Moscow 1999. http://www.conceptualism-moscow.org/page?id=313
  12. Monastyrsky 1998, p. 25.
  13. Tupitsyn, Viktor: Glaznoe Yabloko Razdora: Besedy s Ilyei Kabakovym. Moscow 2006, p. 97.
  14. Ibid.
  15. Ibid.
  16. Monastyrsky 1998, p. 26.
  17. Ibid., 29.
  18. Cf. Nancy, Jean-Luc: The Inoperative Community. Transl. by Peter Connor et al. Minneapolis 1991.
  19. Ibid., p. 29.
  20. Ibid., p. 14.
  21. Ibid., p. 29.
  22. Ibid., p. 15.
  23. Ibid.
  24. Ibid., p. 29.
  25. Nancy, Jean-Luc: Being Singular Plural. Transl. by Robert D. Richardson/Anne E. O’Byrne. Stanford 2000, p. 71.
  26. Ibid., p. 68.
  27. Monastyrsky 1998, p. 69.
  28. Ibid., p. 69.
  29. Ibid., p. 74.
  30. Ibid.
  31. Ibid., p. 95.
  32. Ibid.
  33. Ibid., p. 15.
  34. According to The Dictionary of Moscow Conceptualism, it is a paradoxical combination of terms that connects the spiritual longing for knowledge and insight to a physiological process. http://www.conceptualism-moscow.org/page?id=313
  35. Concrete actions, as Collective Actions are, are also affirmative in the sense of bringing about something (new) devoid of a higher goal or intention.

Miszellen | Onomatopoeia in Comics. On the A-Human Theatre of Expression in Graphic Representations

When we think about comics, graphic novels or even just Japanese manga, big, pointy words – like pow, swoosh and sob – come to mind. These onomatopoeia, also known in German as bang words (Peng-Wörter), augment the emotions felt by the characters and depict the intensity of the character’s state or the situation in general. Pop artists such as Roy Lichtenstein have also been known to use big comic book fonts; Brigitte Bardot sings about them in Serge Gainsbourg’s music video Comic Strip. So, even people who are not entirely familiar with the comic genre have experienced their share of comic moments and references. In graphic works, these letters or semi-words usually appear accompanying an extreme movement or an emphasized action (such as a punch, a gust of wind or crying). Without these striking words, comic frames would remain blank, punches would become less powerful and tears less touching. In this contribution, I would like to examine to which extent these semi-words or letters do not just bear a notion of meaning, be it semantic or emotional, but are also able to grasp human expression in a theatrical mode of writing.

Let us at first examine the strategies of written language and onomatopoetic mechanisms that relate to human or anthropomorphic expression and emotion in comics. My focus will be on American comics by Marvel and DC Comics. Though there are differences between different comic forms (such as a comic books, comic strips, graphic novels and manga), within the framework of this article, my concern will be more of a general idea that refers to all forms within the genre.

The comic medium deals with two inherent aspects simultaneously: the graphic aspect of the drawn picture and the written aspect of narration and dialogue within and along the storyline. Like other media, there are specific guidelines and conventions within the comic genre. To give a quick example: When you read a superhero comic and Batman’s speech bubble says, “Good morning people!”, the frame of the speech bubble indicates direct speech. The task of the speech bubble is to give the comic character a voice and to enable dialogue between the characters, thus allowing the reader to follow their respective thoughts and opinions. It is by means of this mechanism that comic books are able to achieve great intimacy, as they enable a direct connection with the character without the somewhat inconvenient third-person narration – “…he screamed” or “…she thought” – that comes with storytelling or narration.

Written language in a comic is found at different points within the work. I would like to provide a brief overview of the different possibilities: Firstly, information boxes are often found at the beginning of a new chapter, telling us where we are and what the situation is, i.e. the place, some background or some context. The text in information boxes is usually somewhat impersonal and clear – neutral, so to speak. Secondly, dialogue can be found in speech and thought bubbles within the frames, and is customized to the character – each character can have a different font or sometimes colour, and that palette will be fixed throughout the character’s dialogue, with changes emphasizing meaning (bold or italics etc. emphasizing a different state of emotion or speech). The speech bubbles themselves also have different designs to underline the meaning of the phrases they contain. A speech bubble might have spikes if a character is shouting angrily or a dashed line to indicate whispering. In some cases, narration bubbles may appear along the panels, providing the direct dialogue with additional information or a narrative perspective. Finally, another option relates to the use of names and titles within the scenery, such as book titles on a book covers or signs on storefronts, direction signs above highways etc. The names of towns or the titles of books are, with some exceptions, simply eponymous and informative.

Onomatopoetic expressions differ from other forms of written language in this medium as they manifest a graphic position as a carrier of meaning or narration. Onomatopoetic texts usually appear outside the framed dialogue bubble, beside the character or floating within the scenery. They have a more distinct graphic design, emitting another sphere or layer of expression, such as the sound created by the character (or by their body) or an object that is not necessarily controlled by that character or object (i.e. a cough, the screech of tires, gunshot etc.). These onomatopoetic expressions appear when the characters themselves are not able to capture this live expression or, as I would put it, human emotion and expression.

The expressions I would like to talk about are comic-specific words that are interconnected with our cultural vocabulary. Due to their unique graphic design, they become medium-specific and therefore may be the first link or association that come to mind when we think about the genre of comics. As Martin Schüwer states, “[…] in the public perception of the comic as a medium, onomatopoetic expressions enjoy an exorbitant status.”[1]

Though lots of comics use onomatopoetic expressions (for example, a wide range of superhero comics), there are many that refrain from using them (for example The Arrival by Shaun Tan and Marvels Tangled Web: Severance Package). And even the works that do use them often only do so when there is a peak in the dramaturgy of the storyline. For example, when Superman fights Doomsday and they exchange punches and laser gazes; or when Peter Parker alias Spiderman cries over the loss of his uncle Ben. Fewer onomatopoetic expressions are used in comic scenes where, for example, the plot begins and the circumstances are explained. We can distinguish between four different kinds of onomatopoetic expression that can be found in comics:

  1. simple sound words that represent extra-linguistic phenomena, such as boink or splash;
  2. simple inflectives such as sigh or cough;
  3. mixed forms of one and two that are both inflectives and onomatopoetic sound words, such as rumble or screech; and
  4. simple interjections in the sense of non-word-based interjections or sounds made using the vocal chords, such as ooohhh!

The use of onomatopoeia must be viewed with regard to the rest of the written language in the panel and keeping the other panels around it still in mind, as they can influence each other and their meaning is usually constituted across the panels.

Written language is one component of the picture and, in spite of its graphic appearance, bears semantic meaning, whereas onomatopoeia go beyond the semantic aspect borne by written language, trying to capture a character’s emotional outburst within the panel, using a succession of letters. But while it captures emotions, it creates a form of expression that we would not (usually) use in real-life dialogue or to describe such occurrences or feelings. There are, of course, exceptions, expressions such as shazam or hm, that may already be found or heard in certain slang. Emojis (emoticons) or certain expressions in online chat platforms may be seen as originating from onomatopoeia, but these still differ from use in comics, as they assume an illustrative role to the written language on the smartphone or on the internet. But overall, comic characters and real-life people have two different ways of articulating their uncontrollable emotions. Therefore, I would argue that while the content of speech bubbles or information boxes resemble human expressions that can be found elsewhere, onomatopoeia work with a-human expressions, expressions that are only used to capture the human expression in the comic medium. I would also argue that onomatopoetic expressions are used to create another representation of human beings, generating and utilizing a unique language and specific set of rules.

Onomatopoeia, especially successions of letters, try to capture the sound of the human and its surroundings, working not with the semantic meaning of a word but with its sensory and synesthetic features. Onomatopoetic semi-words often create a synesthetic perception independent of graphic design, which gives the reader an understanding of the actions, sounds and/or emotions that can be observed while reading. Such onomatopoetic words, which reproduce and illustrate the sounds of the surroundings, complete the picture – with tires screeching, puddles splashing and guns going off with a bang. Schüwer quotes from E.J. Havlic’s Lexicon of Onomatopoetics: “Every onomatopoetic expression is a rough copy of an acoustic reality.”[2] Moreover, punctuation and additional lines can help to describe the expression in detail or even intensify the synesthetic perception of the expression. Punctuation, such as exclamation points, question marks or the frequently observed dot-dot-dot arrangement, has sound-specific connotations, such as volume, tempo, pitch and the pronunciation of onomatopoetic expressions.

So, surprisingly, even in what should have been a mute medium, acoustic attributes of sound can be found in comics. Moreover, this medium manages to convey acoustic aspects as something visual: Onomatopoetic expressions such as sob, murmur or crash are received together with their semantic linguistic codes, while – due to their lack of semantic meaning – onomatopoetic expressions such as ieeeehhh, argh and yuck are received more in terms of their graphic aspects and the distinct design of the succession of letters. Letters are received as a linear chain, whereas the typeface of onomatopoetic expressions is received simultaneously, embedded in the overall graphic structure. But we should keep in mind that fonts in comics cannot really become ‘neutral’, as fonts and graphic design are one essential aspect of the composition within this medium.

So, to what extent does the reader hear with his or her eyes and is able to come closer to the character and their trials and tribulations? And is the human aspect of a comic character exclusively captured through (written) sound? Because comics aim for a synesthetic effect, they are viewed in their entirety (regarding both graphics, graphic design, the use of color, use of written language, font etc.) and read sequentially. But within this linearity, the reader may perceive the very same character in two contrasting expressions of emotions on the same page: calm and angry, not crying and bursting out in tears etc. This is to say: We see these two emotional stages simultaneously on the same page. What we see here is a movement in standstill and we have the possibility to read and re-read it and to observe different states simultaneously.

The writer Kevin Smith and the artist Phil Hester seem to have fallen in love with onomatopoeia, as they are the creators of the supervillain Onomatopoeia who fights Batman and Green Arrow in DC Comics.[3] Though he might be at risk of being read as a one-dimensional villain, Onomatopoeia chooses to replace human communication with purely onomatopoetic language. Even if it now seem like onomatopoeia are a-human in the sense of the criminal, a closer look at the medium of the comic book suggests that onomatopoeia are an a-human addition to language proper in comics, which refers to nothing less than the a-human theater in language as such.

  1. Schüwer, Martin: “Laute malen: zum Status der Schrift im Comics”, in: Pietrini, Daniela (ed.): Die Sprache(n) der Comics. Munich 2012, pp. 15-32, here p. 31.
  2. Ibid., p. 29.
  3. Cf. Hetser, Phil/Smith, Kevin: Green Arrow 3:12 (2002).

Miszellen | Freud’s Uncanny and the Proscenium Stage. Thoughts on the Ego in Theater

Remark to the title[1]

One of the first documentary movies, A Train Arrives at La Ciotat Train Station by the Lumière brothers from the year 1895, is well known for its famous urban legend: the rumor is that, while the movie was being shown at one of its first screenings, the audience ran away, fearing that a real train would appear and destroy the café where the screening was taking place. Whether or not this story is true, I believe that the fact that it exists makes it worthy of further consideration. Either the audience must have been used to the fact that the train on screen was not a real one but a picture in motion, or they did not know anything about it and ran away. Interesting within this context is that the urban legend deals with viewing habits. But before focusing on viewing habits within this context, let us first take a look at Sigmund Freud’s study From the History of an Infantile Neurosis, also known as The Wolf Man, where a similar visual apparatus appears in relation to a dream.[2]

In a footnote, Freud describes the content of a patient’s dream that led to his discovery of the primal scene.[3] In the following, I will illustrate some key terms from his description. A scene is established in the dream about the wolves outside the window: The window in the dream serves as a proscenium arch framing the content of the dream, bringing together past and present.[4] The wolves are sitting on a big walnut tree. In Freud’s opinion, a tall tree is a symbol of observation, of voyeurism. I quote Freud: “A person sitting on a tree can see everything that is going on below him and cannot himself be seen.”[5] What interests me about these key words is that a description of a proscenium stage can be found in Freud’s explanation, perhaps even more than one.

My hypothesis is that a spectator’s situation within the apparatus of the proscenium stage can be compared with the situation of a person sitting in a cinema. Both viewers are seated in the dark, looking at a pictorial illusion in front of them, accepting their own reality. Or, as Christian Metz describes the viewing situation in his text Film and Dream, “[…] it is the impression of reality itself, and therefore the possibility of a certain affective satisfaction by the way of the diegesis […]”.[6] In the same paragraph he continues and writes in relation to the perception of reality:

[…] the tendency to perceive as true and external the events and the heroes of the fiction rather than the images and sounds belonging purely to the screening process (which is, nonetheless, the only real agency): a tendency in short, to perceive as real the represented and not the representor (the technological medium of the representation), to pass over the latter without seeing it for what it is, to press on blindly.[7]

This takes us back to the aspect of viewing habits: Spectators are able to perceive what is being represented as real because they are used to it, they have gone through a long learning process. Again, I quote from Christian Metz:

The filmic situation brings with it certain elements of motor inhibition, and is in this respect a kind of sleep in miniature, a walking sleep. The spectator is relatively immobile; he or she is plunged into relative darkness, and, above all, he or she is not unaware of the spectacle-like nature of the film object and the institution of cinema in its historically constituted form: He or she has decided in advance to conduct him or herself as a spectator […], a spectator and not an actor […], for the duration of the projection he or she puts off any plan of action.[8]

And a little later he writes:

For the fictional capacity, as we too often forget, is not exclusively (or primarily) the capacity […] to invent fiction, it is above all the historically constituted and much more widespread existence of a regime of socially regulated psychical functioning, which is rightly called fiction.[9]

And:

The diegetic cinema as an institution could not function […] if the spectator, already ‘prepared’ by the older arts of representation […] and by the Aristotelian tradition of Western art in general, were not able to systematically adopt and renew at will the special regime of perception that we are trying to analyze here in Freudian terms. [10]

Spectators know how to behave in the theater and in the cinema and therefore feel like they are in a secure and comfortable position most of the time. They are not an active part of what is happening before them, whether it is on stage or on screen because, after all, these are only images. But what happens if this comfortable situation changes and becomes uncanny?

In September 2014, Romeo Castellucci staged the piece Neither by Samuel Beckett and Morton Feldmann at the Ruhrtriennale Festival in Bochum. In its spatial composition, the audience was seated in the galleries of the proscenium stage apparatus, looking down on what was happening in front of them on stage. Neither is an opera that was written by Morton Feldman after he received the one-page piece by Samuel Beckett. The only voice that can be heard is a soprano. The staging can be considered spectacular in many ways. It contained scenes where the spectators’ usual viewing habits were put to the test: On stage there was a horse, a cat and an infant, i.e. different acting beings that are supposed to be difficult to stage because they defy the control of the director. The costumes and props resembled those of the 1920s, which was why the piece seemed to take place in a different time. At the beginning of the evening, the piece was introduced with the thought experiment known as “Schrödinger’s Cat”. The sound did not vary much, and the main emphasis of the staging was creating scenic images on stage that resembled cinematic projections, which blurred as soon as they were perceived by the spectator. As a result, many spectators became tired, almost falling asleep. This can be seen as one of the first points at which the audience was forced to unconsciously break with the theater conventions of the proscenium stage, as falling asleep is usually considered impolite.

In his essay, The Uncanny,[11] Freud writes that the uncanny, in German das Unheimliche, is derived from the German word heimlich, meaning familiar, native or domestic, but also secret. “Unheimlich”, Freud writes “is in some way or other a sub-species of heimlich.”[12] But what exactly does this mean and how can we think of it in theatrical situations or terms?

One of the conditions where the human being is confronted with the uncanny is the “dread of castration”[13]. This is a primal childhood fear, as Freud demonstrates in his essay about the uncanny by analyzing The Sandman by E.T.A Hoffmann.[14] In Castellucci’s piece, castration anxiety was employed when a young woman loses her leg. The audience saw her leg in front of her microphone while she was sitting at the back of the stage. At the end of the piece, the woman stood up and walked off stage. At that moment, the spectator could not see where the woman’s actual leg was hidden. Was it somewhere beneath her dress? During the applause, the audience then saw two women who looked very much alike coming on stage. One was walking on two legs, the other on one leg. Castellucci used the motif of the doppelganger to confuse his audience. The doppelganger motif combined with castration anxiety was also used in an earlier scene where doctors cut open a doll in surgery to remove its organs. Freud writes about the doppelganger while analyzing the work of E.T.A. Hoffmann:[15]

The quality of uncanniness can only come from the circumstance of the ‘double’ being a creation dating back to a very early mental stage, long since left behind, and one, no doubt, in which it wore a friendlier aspect. The ‘double’ has become a vision of terror […][16].

Freud writes further on – and this will lead us back to Christian Metz –: “[…] [A]n uncanny effect is often and easily produced by effacing the distinction between imagination and reality, or when a symbol takes over the full functions and significance of the thing it symbolizes, and so on.”[17]

I would like to suggest that Castellucci was aware of the apparatus of the proscenium stage and was therefore able to alienate the spectator from his or her own viewing habits, creating an uncanny atmosphere. Of course, not all aspects of the uncanny have been mentioned and some have been skipped, for example, Freud’s explanation of the relationship between the uncanny and animism. Let us look at two final quotes related to the topic of the uncanny and at what I consider to have been the climax of this piece. At one point, Freud writes that many situations in literature cannot be considered uncanny as they are fictional. He writes:

The situation is altered as soon as the writer pretends to move in the world of common reality. In this case he accepts all the conditions operating to produce uncanny feelings in real life; and everything that would have an uncanny effect in reality has it in his story. But in this case, too, he can increase his effect and multiply it far beyond what could happen in reality, by bringing events which never or rarely happen in fact. […] We react to his inventions as we should have reacted to real experiences […].[18]

Such an event occurred during the climax of the piece where reality, viewing habits and viewing expectations were blurred and a direct reference to Lumières film was made: A train came from the back of the stage moving forward towards the audience. If this had been a typical scene on a proscenium stage, the train would have stopped in front of the audience. In Neither, it did not. It moved forward until it reached the galleries, moving them back instantly, creating a situation that was not expected by the spectators, which therefore completely broke with their viewing habits for the proscenium stage: transforming something that is known into something unknown, something heimlich in the sense of domestic and familiar into something uncanny and frightening: “[t]he ego” realizes that it “is not master in its own house.”[19] For Freud, repressed childhood memories that are part of the unconscious in the present reappear. Those childhood memories are responsible for the uncanny feeling the spectator feels when watching a piece, in this case Castellucci’s Neither. The spectator realizes that the reality taking place in front of him or her is fictional. He or she has to deal with fears from an earlier stage of his or her life. Neither managed to make spectators rethink their viewing situation, making them feel less comfortable and questioning their egos on the proscenium stage. At the beginning of Neither, the shape of a house at the back of the stage was visible. In front of that shape was what appeared to be a living room. With the proceeding story, the shape of the house moved forward, creating disorder by moving the furniture away from the way it was at the beginning of the piece. The heimlich proceeded towards the unheimlich and reached its peak with the train entering the realm of the spectators.

  1. The first time I became aware of Freud’s concept of the uncanny was during Gerald Sigmund’s seminar at the Ruhrtriennale Student Campus in 2014. We watched the mentioned piece by Romeo Castellucci together and discussed it afterwards. I decided to focus more on the theory of the uncanny and to connect it to the proscenium stage and the topic of the conference, the “Theater of the A-Human”. Unless otherwise indicated, the quotations used in this text have been translated by the author. The quotations are from the sources originally used that were published in German.
  2. Freud, Sigmund: Aus der Geschichte einer infantilen Neurose, in: S.F.: Studienausgabe. Vol: 8: Zwei Kinderneurosen. Ed. by Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey. Frankfurt am Main 1972, pp. 149-166.
  3. Cf. Ibid., pp. 161-164.
  4. Cf. Ibid., p. 161.
  5. Ibid., p. 162. English translation quoted from: Freud, Sigmund: From the History of an Infantile Neurosis, in: S.F.: The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund Freud. Vol:17: An Infantile Neurosis and Other Works. Ed. by James Strachey et al. London 1955, pp. 1-60, here p. 43.
  6. Metz, Christian: “Der fiktionale Film und sein Zuschauer. Eine metapsychologische Untersuchung”, in: Psyche 48:11 (1994), pp. 1004-1046, here p. 1018.
  7. Ibid., p. 1019.
  8. Ibid., p. 1020.
  9. Ibid., p. 1022.
  10. Ibid.
  11. Freud, Sigmund: Das Unheimliche, in: S.F.: Studienausgabe. Vol. 4: Psychologische Schriften. Ed. by Alexander Mitscherlich/Angela Richards/James Strachey. Frankfurt am Main 1972, pp. 241-274.
  12. English translation quoted from: Freud, Sigmund: The “Uncanny”. Transl. by Alix Strachey, p. 4. http://web.mit.edu/allanmc/www/freud1.pdf
  13. Ibid., p. 7.
  14. Cf. Ibid., p. 7 ff.
  15. Cf. Ibid., p. 9.
  16. Ibid., p. 10.
  17. Ibid., p. 15.
  18. Ibid., p. 18.
  19. Freud, Sigmund: “A Difficulty in the Path of Psycho-Analysis”, in: S.F.: The Standard Edition of the Complete Psychological Works of Sigmund FreudVol. 17. Op. cit., pp. 140-143, here p. 143. 

Miszellen | Thinking Motion in Dance. On A-Human Mimetic Potential

“The body is thinking”[1]: This proposition, which seems to represent one major postulate of contemporary theoretical dance discourse, is also the title and subject of an essay written by former Forsythe Company member Dana Caspersen. In this essay, the author asks herself this question and tries to demonstrate how the body thinks:

Dancers develop a very keen proprioceptive ability that enables them both to sense and to imagine their bodies with a high degree of exactness. The kinesphere is the space that the body’s movement occupies. Taking in information within this sphere involves sensing the body where it cannot be seen, you cannot see your shoulder blade, but you can sense where it is in space and in relationship to the rest of your body. This ability of the body to create an internal image of itself also allows for the possibility that the body can create an image of itself where it does not exist. […] We have the sense that our proprioceptive field has expanded to include the space that our bodies do not actually occupy.[2]

Following on from this confrontation with the question of how it might be possible to actually grasp the dancing body’s specific mode of thinking, the search for an understanding that might add another quality to analyses like this could lead beyond the term of proprioception that Caspersen refers to. Maybe this search could depart from another term that is more likely to be familiar from the context of theater than specific to the field of dance: mimesis.

At first glance, this turn toward the concept of mimesis seems to lack motivation, since it usually merely connotes imitation. But by focusing on that promising other quality that the term bears, the path could lead to a writer we would not initially associate with the field of dance: Walter Benjamin. His essay “On the Mimetic Faculty” provides us with just a small hint of the mimetic potential inherent to dance, but these references are enough to open our minds up to the trace of the magical character of this specific mimetic quality, as Benjamin describes it.[3] Understood in this way, dance is a virtual medium with the “[…] phylogenetic significance of the mimetic faculty.”[4]

Benjamin’s approach to dance, when applying his understanding of mimesis to it (before moving his focus to language as part of the mimetic faculty), suggests us also to think of dance as an ancient pre-language. This kind of an ‘improper’ language, which represents a mimesis that performs connections between objects of “nonsensuous similarity”[5] is taken by him to be the oldest function dance can possess.[6] The magical function of dance could be the junction that will bring us closer to the chance to develop a new attribute for the term mimesis in relation to dance.[7] What Benjamin sees as the ancient, magical essence of dance constitutes a desire to create similarities through a process of mimesis that even includes the mimetic processing of what we would call the a-human. As Benjamin writes: “We must assume in principal that in the remote past the processes considered imitable included those in the sky. In dance, on other cultic occasions, such imitation could be produced, such similarity dealt with.”[8]

Continuing the search for a term that could enable a further understanding of the dancing/thinking body, applying another reading of theoretical texts leads back to our starting point of contemporary dance, that is, to a contemporary examination of dance and those actually performing it. Susan Leigh-Foster’s Choreographing Empathy and by José Gil and André Lepecki’s “Paradoxical Body” – both contributions to contemporary theoretical discourse on the dancing body as a thinking body – provide further interesting junctions within this discourse that can help us to reevaluate the term mimesis for/in dance.

The perhaps unjustified impression that this term might be a neglected one with regard to its contemporary application in dance stands in opposition to Benjamin’s appreciation of it, especially when applied to dance: Mimesis in the Benjaminian sense does not seem to carry the danger of meaning only the qualities of imitating or copying, rather, it is a practice of assembling “nonsensuous similarities”, which is surprisingly appropriate for approaching the thinking body in dance. This understanding of mimesis as potential and as the dancing body’s specific mode of thinking, viewing it as mimesis of the a-human is worth further examination. Analyzing the concept and phenomenon of kinesthetic empathy as an assumed ideal mode for these mimetic actions is one way to transfer the Benjaminian term of mimesis into the field of dance theory.

Starting from Benjamin’s proposal of a mimetic practice that is drawn to creating “nonsensuous similarities” and thus connecting phenomena and structures that go beyond inter-human relations, we could view the empathetic affinity of the dancing body to the a-human as the magical essence of dance itself. His understanding of dance as a language before language exposes it to the assumption that dance, just like language, is itself of an a-human quality as a human device and bearer of nonsensuous similarities.[9]

The desire to merge with or move into another being or even another a-human structure is something that can be attributed to empathy. As Leigh-Foster describes in Choreographing Empathy, the roots of the term empathy lead back to an attempt to coin a term that could be used to describe the connection recipients have with artworks when they are drawn into contemplation. This mode of contemplative reception can be understood as an oscillation between two causalities: Either the recipient is overwhelmed by the pull of his or her object of contemplation and becomes attached to it, or an active decision is made to move into the object by assimilating its structure into his or her own body. The term empathy, which we conventionally use in the sense of describing inter-human relations, originates in aesthetic discourse and was thus created to describe a human relation to the a-human.[10] Equating the concept of empathy with that of sympathy, which exclusively describes inter-human relations, seems to reflect an anthropocentric desire to exclude the other from the possibility of relating through Considered in this way, it is not just the a-human that is restricted from becoming ‘human’ by the exclusive character of sympathy. Humans have also been victims of the legacy of empathy since its infiltration by the connotations originally associated with sympathy. Leigh-Foster presents this paradox using the example of colonization. Colonizers measured colonized people’s levels of ‘humaneness’ by referring to their own ability to feel empathy towards the colonized other. But another factor in colonial oppression was either ascertaining or denying the quality of being empathetic as something that made a ‘savage’ more civilized and thus more ‘human’ By attesting a lack of empathy to them, humans could be turned into a-human objects of oppression, just as the need to identify in an empathetic way with an object or an animal is embedded within an anthropocentric mode of humanization.[11]

With regard to dance, the reference to assimilating the quality of an object into one’s own body when talking about empathy leads to the phenomenon of kinesthesia. This term describes a mode of interoception conceived as the movement-perception of our own muscular apparatus from within. It must be clearly differentiated from the sense of tactile perception – related to it as a “sixth sense” – which manifests a distinction between the inside (the body) and the outside (space).[12] Kinesthetic empathy can thus be understood as naming what Caspersen might understand as “thinking [something] into our bodies”[13]. The muscles’ motoric arousal when thinking about movement and connecting empathetically to the outside is an important part of what Caspersen describes. Thus, we should avoid differentiating between motoric and mental or body and mind, as they represent two qualities of one and the same process: the body is thinking.

The presumption that this sense works mostly without what we would call conscious perception or control would potentially turn dancers into those, who are able to explore, practice and observe how to enter a state of contemplative bodily introversion and thus have the opportunity to feel the sensation of congruency with a body that we feel kinaesthetically connected to as ‘ours’. One important feature of practicing kinesthesia is gaining awareness of the virtuality that lies within each movement and the thinking that leads to its final display. Before we actually perform a movement on the outside, there is always the crucial point at which the actual decision to perform precisely this specific movement is made. The question of where this decision is both initially and ultimately made becomes obsolete if we relate it to the holistic concept of a thinking body. Gil and Lepecki see this crucial moment of decision-making not necessarily as a point of exclusion, but as a moment of potentiality, where the dancing/thinking body virtually multiplies itself.[14] This virtual potency opens up a space that could be considered the scope of impact, which can be affected by kinesthetic empathy. This space, of kinesthetic empathy is interfused with virtual bodies, each presenting and actually being the potential of a movement. By deciding upon one of them, the dancer appropriates this auratic space and turns it into an actual space. The “space of the body”[15], as Gil and Lepecki refer to it in “Paradoxical Body”, is paradoxical as well, as it is both a virtual space and a space that is always performed to become an actual one. This extension of the dancing body through awareness of the “space of the body” as the space of its impact can thus be viewed as a fragile, continuously collapsing and re-emerging aura in between the interior space (the inside of the body, penetrated by kinesthetic sensation) and the exterior space of the outside world (penetrated by empathetic desire).[16] The space of the body as an extension of the body thus takes us back to Caspersen’s description of the thinking of the dancing body as the “[…] ability of the body to create an internal image of itself [that] also allows for the possibility that the body can create an image of itself where it does not exist.”[17]

  1. Caspersen, Dana: “The Body is Thinking”. https://walkerart.org/magazine/the-body-is-thinking-the-body-is-thinking-by-dana-caspersen#_blank from March 9, 2007.
  2. Ibid.
  3. Cf. Benjamin, Walter: “On the Mimetic Faculty”, in: W.B.: Selected Writings. Vol. 2: 1931-1934. Ed. by Michael W. Jennings/Howard Eiland/Gary Smith, transl. by Rodney Livingstone et al. Cambridge/London 1999, pp. 720-722.
  4. Ibid, p. 720
  5. Ibid., p. 722.
  6. Cf. ibid. p.721
  7. Cf. ibid.
  8. Ibid.
  9. Cf. ibid.
  10. Cf. Leigh-Foster, Susan: Choreographing Empathy. Kinesthesia in Performance. Abingdon 2011, pp. 10-11.
  11. Cf. ibid. pp.147-154.
  12. Cf. ibid. pp. 6-10.
  13. Cf. Caspersen 2007.
  14. Cf. Gil, José/Lepecki, André: “Paradoxical Body”, in: TDR: The Drama Review 50:4 (2006), pp. 21-35.
  15. Ibid. p. 22.
  16. Cf. ibid.
  17. Caspersen 2007.

Rezension | Dramaturgie anders begreifen

Ein Sammelband sondiert ein neues Forschungsfeld der Theaterwissenschaft

Neue Dramaturgien

Fragen der Dramaturgie wurden in der akademischen Diskussion lange vernachlässigt. Verstanden als ein Ordnungsprinzip des dramatischen Theaters, schien die Dramaturgie für das zeitgenössische Theater wenig anregend zu sein. Zudem waren ihre Arbeitsweisen fast nur den Insidern zugänglich, wurde sie doch intern als ein Praxiswissen weitergegeben und nicht theoretisiert oder öffentlich verhandelt. Die Lage hat sich in den letzten zehn Jahren geändert, seit in Europa eine Reihe von Studiengängen entstanden, die sich zum Ziel setzen, Dramaturgie in all ihren Formen zu unterrichten und zur Diskussion zu stellen. Die meisten von ihnen kooperieren eng mit KünstlerInnen, Theatern, Produktionshäusern und Festivals und stehen zugleich im Austausch mit der aktuellen Theater- und Tanzwissenschaft sowie den Performance Studies. Als Plattformen zwischen Praxis und Theorie haben diese Studiengänge die Möglichkeiten erweitert, abseits des betrieblichen Theateralltags über Dramaturgie nachzudenken. Das heutige Interesse für die Dramaturgie reagiert daher nicht allein auf ein neues Verhältnis des Theaters zu Texten und Partituren. Vielmehr gilt es, weitere aktuelle Veränderungen in den Künsten mit zu gestalten: die Problematik des erhöhten ökonomischen Drucks, die aktuellen Medien-umbrüche, die zunehmende Internationalisierung sowie die Herausforderung anderer Produktionsformen.

Aktualität mit dunklen Schatten

Zum neuen Selbstverständnis der Dramaturgie liegt bereits eine beachtliche Reihe von Publikationen vor. Neben der britischen Monografie Dramaturgy and Performance (Behrndt/Turner 2008) entstanden Sammelbände und Anthologien zu allgemeinen Fragen der Dramaturgie (Gritzner/Primavesi/Roms 2009, Stegemann 2009, Behrndt/Turner 2010, Roeder/Zehelein 2011, Trencsényi/Cochrane 2014, Hansen/Callison 2015), zur Tanzdramaturgie (Georgelou/Theodoridou/Protopapa 2017) oder Mediendramaturgie (Eckersall/Grehan/Scheer 2017) sowie Auseinandersetzungen mit der Geschichte des Fachs (Danan 2011, Deutsch-Schreiner 2016). Der vorliegende Band, der aus einer Arbeitsgruppe der Gesellschaft für Theaterwissenschaft hervorgegangen ist und Ergebnisse einer Tagung an der Universität Gent präsentiert, eignet sich gut, um den Diskussionstand zu resümieren. Das Buch nimmt eine dezidiert transeuropäische Perspektive ein, indem es Positionen aus unterschiedlichen Theatertraditionen versammelt, wobei die Hälfte der AutorInnen in Belgien und den Niederlanden arbeitet, andere in Frankreich, Österreich, Großbritannien und Deutschland. Auch wenn der Plural der Dramaturgien betont wird, so wird als Schwerpunkt deutlich, die hergebrachte kritische Funktion der Dramaturgie angesichts der Theaterformen des „New Milleniums“ zu reformulieren. Dramaturgie kommt dort (erneut) ins Spiel, wo anstelle der ehemals leitenden traditionellen dramatischen Kategorien wie Plot oder Charakter, nach neuen Prinzipien für die Organisation der performativen Darstellung gefragt wird und zugleich Kriterien für deren Reflexion und Bewertung gedacht werden. Ein großer Teil des Dramaturgie-Diskurses ist daher mit jenen aktuellen Reflexionen verwandt, die nach dem Gesellschaftlichen und Politischen im zeitgenössischen Theater fragen und letztlich dessen kritisch-emanzipatorische Qualitäten herauszuarbeiten versuchen.

Zu Beginn des Buches präsentiert Patrice Pavis jedoch einen Ansatz, der Dramaturgie weitgehend von den formalen Aspekten her bestimmt. Die klassische Dramaturgie versteht er als Ermittlung einer zugrunde liegenden Struktur, ein „skeleton of a mise en scène, its invisible structure“ (19), die entziffert werden könne. Die unterschiedlichsten Praktiken seit den 1970er Jahren, die er in seinem Panorama neuer Dramaturgien erfasst – z.B. devised theatre, postnarrative, visual oder dance dramaturgy – führt er letztlich auf ein ähnliches Kriterium zurück: „the formal structure of the piece, its internal order, the logic of the signifier and of the sensation“ (25). Diese sei eine „dramaturgy of the signifier“ (24) und, im Unterschied zu früher, weniger auf die Semantik, den Inhalt oder eine Botschaft ausgerichtet. Stattdessen heißt es mit Blick auf Alan Platels Wolf jedoch, die unterschiedlichen Komponenten seien „integrated into a coherent whole, in a fusion of different intensities“ (25). Ist die Wiederkehr der Dramaturgie mit dem Wunsch verbunden, die sich oftmals dem Begreifen entziehenden postdramatischen Prozesse auf eine Ganzheit zu beziehen oder einen ‚stimmigen’ Zusammenhang zu finden? (Ähnliches vertritt auch Marianne van Kerkhoven, wenn sie Dramaturgie als „the mastering of structures, the achievement of a global view“ versteht, zit. nach 99). Die in Pavis’ Text am Rande aufscheinenden Ansätze, die Dramaturgie vom Entdecken und Testen sowie vom situativen Ausprobieren her zu denken, scheinen produktiver als die traditionelle Betonung eines zugrunde liegenden oder zu findenden Deutungsnarrativs, das es letztlich aufzudecken oder gar von der Regie zu übersetzen gelte.

Angesichts dessen wird deutlich, wie wichtig es ist, den Begriff der Dramaturgie sowohl theoretisch als auch historiografisch durchzuarbeiten. Evelyn Deutsch-Schreiner zeigt exemplarisch auf, wie stark die Geschichte der Dramaturgie mit totalitärer Politik verstrickt ist. Sie erinnert mit Blick auf Lessings und Schillers praktische Theaterarbeit daran, dass die Dramaturgie in Deutschland als ein Instrument der Aufklärungszeit entstand. Jene Idee der moralischen Institution wurde im Faschismus missbräuchlich gewendet, indem die Reichsdramaturgie dem Propagandaministerium unterstellt wurde. Während zuvor nur wenige DramaturgInnen an den Staats- und Stadttheater angestellt waren, wurden diese Häuser in der NS-Zeit flächendeckend mit DramaturgInnen bestückt. Die breite Versorgung mit DramaturgInnen, die einst also dem Zwecke von Zensur und Kontrolle diente, blieb den Theatern nach 1945 erhalten. Ähnlich propagandistisch wie die NS-Dramaturgie schätzt Deutsch-Schreiner die offiziellen dramaturgischen Aufträge in der DDR ein. Hier wurden die Produktionsdramaturgie und die öffentliche Diskussion um Regie-Konzepte sehr gefördert, jedoch standen diese allzu oft im Dienste politischer Direktiven und der Überwachung, etwa wenn offizielle Erläuterungen zum Regiekonzept oder Proben-Notate von staatlicher Seite eingefordert wurden. Den oppositionellen Charakter Brechts sowie von Vertretern der neuen Generation wie Heiner Kipphardt, Peter Hacks, Heiner Müller hebt Deutsch-Schreiner hervor; dennoch stellt sie die ideologische Instrumentalisierung durch die Parteiführung ins Zentrum ihrer Darstellung der DDR-Zeit. Das erzieherische Ideal der Dramaturgie droht aus dieser Sicht stets zu entgleiten: „[T]he role of the dramaturge as censor and suppressor in the service of an authoritarian state is the ‚dark side’ of the labour of the Enlightenment dramaturge, educating people to become free individuals.“ (55) An dieser Stelle fehlte bei Deutsch-Schreiner eine vertiefende Differenzierung zwischen den Praktiken des NS-Staates und denen in der DDR. Wie weit waren jeweils die Spielräume für Verweigerer der Doktrin? Dennoch ist ihr zuzustimmen, dass jede Fortentwicklung der Dramaturgie deren Missbrauch in autoritären Systemen mitdenken muss. Dies macht es nötig, die Praktiken kritisch zu sondieren sowie andere Genealogien zu denken.

Social turn

Viele der folgenden New Dramaturgy-Konzepte lassen sich so verstehen, dass sie versuchen, dem ‚polizeilichen‘ Erbe entgegenzuarbeiten. Eine zentrale Strategie besteht darin, Dramaturgie als einen offenen Prozess zu verstehen, dessen Inhalte von niemandem vorab bestimmt oder normativ gesetzt werden, sondern sich als ein kollektiver Prozess in der Produktion erst entwickeln. Katharina Pewny diskutiert Grundzüge einer solchen „relationalen Dramaturgie“ anhand von Arbeiten, die sich vom Prinzip einer alleinigen Autorschaft abheben: In der Eröffnungsveranstaltung des Hamburger Choreografischen Zentrums K3 Veronika Blumstein – Moving Heads kommen eine Vielzahl von ChoreografInnen und PerformerInnen zusammen, deren Arbeiten um eine fiktive Figur namens Veronika Blumstein kreisen, indem sie z.B. Choreographien aufführen, die diese angeblich geschaffen hat. Das niederländische Theaterkollektiv Wunderbaum reflektiert mit Looking for Paul! ihr Verhältnis zum kalifornischen Künstler Paul McCarthy. Beide Inszenierungen sind als ein „collective embodiment“ entwickelt – ein Verfahren, das sich als Arbeitsweise und Thema in vielen der Beiträge findet, etwa in der Analyse von dramaturgischen Methoden am Theaterhaus Jena nach 1989, mit der Franziska Schößler und Hannah Speicher zeigen, wie der Dramaturg als „field-researcher“ (63) wirkt. Die relationalen Ästhetiken werden dabei als gelungene Praktiken beschrieben, wenn sie sich, wie Pewny verdeutlicht, einer Aneignung des Anderen verweigern, „challenging the very possiblity of formulating a coherent narrative“ (84).

Ein solcher ethischer Ansatz ist auch leitend, wenn Partizipation als eine dramaturgische Strategie hervorgehoben wird. Cathy Turner und Stephen Hodge erläutern die Prinzipien ihrer Arbeit mit der britischen Gruppe Wrights & Sites, die ortsspezifische walking art mit einem partizipatorischen Ansatz produziert. Bekannt geworden ist ihr Exeter Mis-guide (2003), anhand dessen die TeilnehmerInnen ‚performative Spaziergänge’ durch Teile der Stadt unternehmen, die sonst zumeist verborgen bleiben. Daran anknüpfend wurden die KünstlerInnen eingeladen, Programm-Formate zu entwerfen, durch die lokale BewohnerInnen und KünstlerInnen ermuntert werden, eigene Stadttouren im Sinne der Mis-Guides selbst zu initiieren. Ihr Artikel ist eine Auseinandersetzung mit dem Thema ‚Teilhabe‘ anhand ihrer Projekte für die Wiener Festwochen, für das Belluard Bollwerk International Fribourg und das belgische Sideways-Festival. Während Partizipation hier als Resultat der dramaturgisch-kuratorischen Praxis verstanden wird, analysiert Synne Behrndt die ästhetischen Prozesse einzelner Kunstwerke. Der Kern der dramaturgischen Arbeit besteht für sie darin, „conditions for exploring“ zu schaffen, „which one cannot know yet […] for something to happen“ (130). Darin ähneln sich der Prozess der Stückentwicklung im devising theatre, von der Behrndt ausgeht, und die Struktur einer Performance, die individuelle Assoziationsräume ermöglichen möchte. Überhaupt sind viele Beiträge mit der Frage befasst, ob Dramaturgie nicht letztlich weitgehend eine Sache der Zuschauerinnen und Zuschauer ist. Angesichts von Behrndts Analyse neuerer Arbeiten Tobias Rehbergers, Tino Seghals und Olaf Eliassons wird jedoch klar, dass die Aufgabe der Dramaturgie darin bestünde, zu diskutieren, wie weit die Offenheit des performativen Prozesses wirklich reicht, in welchem Umfang die Teilnahme der Zuschauenden kalkuliert oder frei ist.

New critique

Über die Historiografie und den Fokus auf das Soziale hinaus, erscheinen jene Ansätze daher als besonders wichtig, die Dramaturgie als Instanz der Kritik zu erneuern suchen. Jeroen Coppens unterzieht den seit dem 1990er Jahren gebräuchlichen Diskurs der „visual dramaturgy“ einer eingehenden Analyse. Sie sei als intermediale Praxis des „in-between“ zu begreifen, die eine Reflexion der Visualität anstößt und zugleich die persönliche Perspektive der Zuschauerinnen und Zuschauer ins Spiel bringt, was er anhand von Vincent Dunoyers Choreografie The Princess Project entwickelt. ‚Dramaturgie‘ fungiert in diesem und anderen Beiträgen als ein Begriff, der weniger deskriptiv ist, als dass er einen kritischen, mitunter auch ethischen Anspruch wach hält. So entfaltet Kati Röttgers eine Programmatik für die „Dramaturgy of the Future“, die sich der umfassenden Ökonomisierung in Kunst und Wissenschaft entgegensetzt. Die von ihr vertretene transnationale Dramaturgie betont das Theater als Ort der Öffentlichkeit und arbeitet, als ein „non-hierarchical sharing and transmitting of knowledge“ (186), an Kriterien für eine Gesellschaft der Gleichheit und Diversität. Ein wesentlicher Ansatz ihres Beitrages besteht darin, das aristotelische Konzept der Peripetie zu erneuern, welches sie als Moment der Krise und Potentialität beschreibt, an dem die Handlung stagniert und das hergebrachte Wissen kollabiert. So öffnet sich an dieser Stelle gerade die Möglichkeit für „multiple stages, perspectives and distributations of times, spaces, and bodies“ (196).

Die Kritik am „new spirit of capitalism“ ist ein leitender Ansatz auch für Peter Boenischs Dramaturgiebegriff, der das Spezifische der aktuellen Prozesse von der historischen Arbeit her erfasst. Dramaturgie ist daher nicht als die Analyse formaler Architekturen zu verstehen. Sie kann nur emanzipatorisch wirken, wenn sie ihre Aktualität und Praxis von ihren Wurzeln her neu entwirft und also die „uncanny dark side of bourgeois englightment“ (205) aufarbeitet. Boenisch unternimmt dies, indem er, mit Ranciére und Lacan, den ‚anderen Schiller’ aufspürt, der über die Forderung nach einer moralischen Anstalt hinausgeht. Dessen Chorkonzept in Die Braut von Messina reflektierte das Fremdartige und sucht damit die Erfahrung einer „immanent difference of the thing from itself, where the thing is no longer identical to itself“ (209). Dramaturgie hat einen politischen Wert, indem sie an der „partition of the sensible“ arbeitet, die Wahrnehmung und die Verhältnisse zur Wirklichkeit verändert.

Auflösung und Neubildung

Ist es signifikant, dass in diesem abschließenden Argument anhand der Schiller-Analyse die mit der Dramaturgie traditionell verbundene Arbeit am Text wiederkehrt? Bei manchen Beiträgen, die verständlicherweise darauf verzichten, entsteht der Wunsch, die Spezifik von ‚Dramaturgie’ stärker pointiert oder theoretisch gefasst zu sehen. Die Flexibilität des erweiterten Begriffs hat zur Folge, dass zuweilen der Eindruck aufkommen mag, als könnte man den Begriff Dramaturgie substituieren durch „Theater“, „Inszenierung“, „Ästhetik“. Um die Spezifik des Begriffs zu wahren, wäre eine nähere Auseinandersetzung mit der Kategorie der ‚Wirkung’, die von Aristoteles über Lessing bis Brecht zentral für die dramaturgischen Überlegungen waren, wünschenswert. Zum einen wird dazu, wie erwähnt, im Buch verschiedentlich der Topos aufgegriffen, dass heute an der Stelle vorfabrizierter Wirkungsabsichten die freie subjektive Assoziation der Zuschauerinnen und Zuschauer stehe. Hierzu müsste jedoch differenziert werden, wie sich diese Offenheit von Beliebigkeit unterscheidet. Zum anderen wird die klassische Kategorie der Wirkung durch viele Beiträge im Rahmen von Überlegungen zum Politischen oder Ethischen fortgedacht, wobei aber die Frage entsteht, inwiefern diese spezifisch dramaturgisch sind.

Der Eindruck, dass sich die Dramaturgie als ein eigenes Fach auflöst und entdifferenziert, dass eigentlich alles, was sie wissen und können muss, auch für RegisseurInnen, SchauspielerInnen, SzenografInnen etc. gilt, ist zugleich ein Signum unserer Zeit. Rein pragmatisch gesehen bedarf die Theaterpraxis im Produktionsprozess jedoch weiterhin einer herausgehobenen Instanz der Reflexion und Begleitung. Von dieser Seite her betrachtet, könnte die Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Theorie und Praxis verstärkt reflektiert werden. Der Beitrag von Christel Stalpaert bringt diese auflösende-restituierende Ambivalenz auf den Punkt, wenn sie von Meg Stuarts improvisatorischem Tanzprojekt Auf den Tisch! berichtet, in dem die Dramaturgin Myriam Van Imschoot als Performerin teilnimmt und alle anderen (PerformerInnen, TänzerInnen, ZuschauerInnen) gemeinsam mit ihr eine „dramaturgy in the moment of performing“ (97) gestalten. Exemplarisch verlässt die Dramaturgin hier die Position als „onlooker“, „theoretical outsider“ oder „outside-eye“, um stattdessen ein „outsidebody“ zu werden, „trying to put feeling into knowledge along an aesthetic of intensities“ (102).

Stalparts „ethics of corporeal dramaturgy“ lenkt den Blick auf die konkrete Praxis einer zwischen den Stühlen sitzenden (und performenden) Person. Für die zukünftige Forschung zur Dramaturgie wäre es wichtig, mehr über die Probenarbeit zu wissen, über das Arbeitsgefüge und die Methoden. Fanne Boland liefert dazu wichtige Ansätze, wenn sie von praktisch-experimentellen Workshops mit Masterstudierenden der Dramaturgie in Amsterdam, Gent und anderswo berichtet und auch die institutionelle und ökonomische Situation des Dramaturgen/der Dramaturgin reflektiert. Auf diese Art könnten weitere Fallstudien entstehen, um die Erforschung der Dramaturgie an die aktuell viel diskutierte Frage nach der Probenarbeit, die bislang fast ausschließlich an der Regie orientiert ist, rückzubinden. Was heißt es z.B. konkret, wenn André Lepecki von seiner Dramaturgie für Meg Stuart berichtet und behauptet: „Dance Dramaturgy implies the reconfiguration of one’s own whole anatomy, not just the eyes. […] I enter to find a (new) body“ (24)?

Ob zukünftige Untersuchungen nun von der ‚Feldforschung’ ausgehen, historiografisch verfahren oder aktuell herausfordernde Beispiele analysieren, sie werden an der theoretisch-systematischen Reflexion des Dramaturgie-Begriffs nicht vorbeikommen. Der Band Dramaturgies in the New Millennium ist dafür ein ausgezeichneter Ausgangspunkt, zeigt er doch das Spektrum der aktuellen Tendenzen auf und schafft es verschiedentlich, die aktuelle Theoriebildung in Theaterwissenschaft und Performance Studies fruchtbar zu machen auf dem Weg zu einem neuen Verständnis der Dramaturgie für unsere Zeit.

Dramaturgies in the New Millennium. Relationality, Performativity and Potentiality, hg. von Katharina Pewny, Johan Callens, Jeroen Coppens, Tübingen: Narr 2014, 216 S.

Literatur

Behrndt, Synne/Turner, Cathy: Dramaturgy and Performance. Basingstoke, 2008.

Gritzner, Karoline/Primavesi, Patrick/Roms, Heike (Hg.): “On dramaturgy”, in: Performance research, Vol. 14, No. 3, 2009.

Stegemann, Bernd (Hg.): Dramaturgie. Lektionen 1. Berlin 2009.

Behrndt, Synne/Turner, Cathy: “New Dramaturgies”, Contemporary Theatre Review, 20, 2, 2010.

Danan, Jospeh: Qu’est-ce que la dramaturgie? Paris 2011.

Roeder, Anke/Zehelein, Klaus (Hg.): Die Kunst der Dramaturgie: Theorie – Praxis – Ausbildung ; Schauspiel, Musiktheater, Tanz, Performance, Raumkonzeptionen, Medientheater, Hörspiel, Site Specific Theatre, Studiengänge Dramaturgie. Leipzig 2011.

Trencsényi, Katalin/Cochrane, Bernadette: New dramaturgy. International perspectives on theory and practice. London 2014.

Hansen, Pil/Callison, Darcey (Hg.): Dance dramaturgy. Modes of agency, awareness and engagement. London 2015

Deutsch-Schreiner, Evelyn: Theaterdramaturgien von der Aufklärung bis zur Gegenwart. Wien 2016.

Georgelou, Konstanina/Theodoridou, Danae/Protopapa, Efrosini (Hg.): The Practice of Dramaturgy. Working on Actions in Performance. Amsterdam 2017.

Eckersall, Peter/Grehan, Helena/Scheer, Edward (Hg.): New media dramaturgy. Performance, media and new-materialism. London 2017.

Rezension | Theaterdenken jenseits der Mangelökonomie

Sebastian Kirsch untersucht „Das Reale der Perspektive“

„Das Reale der Perspektive“ ist, wie man zusammenfassend zunächst sagen könnte, eine Studie zur Gegenwart des Barock. Ihr Prinzip lässt Sebastian Kirsch beiläufig erahnen, wenn er mit Bezug auf Walter Benjamins Trauerspielbuch an einer Stelle auf dessen „zur Perfektion entwickeltes Verfahren“ hinweist, „sich der Struktur des dargestellten Gegenstands anzuschmiegen und ihn beschreibend zu wiederholen“ (32). Es ist ein den Gegenstand in die Form seiner Betrachtung übertragendes Buch über den Barock, eine Untersuchung, welche die „Schwellenzeit“ um 1600 mit derjenigen des gegenwärtigen Übergangs vom 20. zum 21. Jahrhunderts verknüpft, wobei Kirsch methodisch sich vor allem auf Lacan und Deleuze stützt, inhaltlich zwei Fragen- oder Problemkomplexe thematisiert, die sein Buch ins Zentrum gegenwärtiger kritischer Theaterforschung mit ihrer neuerlichen Befragung des Raumes und der ödipalen und patriarchalen Strukturen von Theater und dramatischer Literatur rückt: die Frage der neuzeitlichen Zentralperspektive und diejenige nach der „Figur des Vaters“ und dem mit ihr verbundenen „Diesseits und Jenseits genealogischer Abfolgen“ (11). Die Studie ist dabei erkennbar nicht nur in der Wahl ihres Themas, sondern auch in der Art seiner Bearbeitung stark durch eine von Deleuze/Guattari aufgeworfene Frage geprägt, die man ganz allgemein als diejenige nach der Möglichkeit bezeichnen könnte, einem Denken in der Struktur der Mangelökonomie zu entkommen, mithin nach der Möglichkeit eines wahrhaft agnostischen Denkens, das nicht länger Trauerarbeit über den Tod Gottes betreibt. Setzt das erste Kapitel, allgemein gesprochen, die Barock-Lektüren von Benjamin und Deleuze einander gegenüber, so geht das zweite Kapitel dem Umbruch auf dem Gebiet des Sehens nach, der sich zu Beginn des 16. Jahrhunderts vollzieht und das neuzeitliche Subjekt begründet – einen Umbruch, den vor Kirsch bereits Ulrike Haß in ihrer Studie Das Drama des Sehens beleuchtet hatte. Mit Lacans Schemata untersucht Kirsch die Ablösung eines „geometralen“ durch ein „visuelles“ Dreieck, die Spaltung von Auge und Blick und die Figuren der Anamorphose und des Spiegels. Im Mittelpunkt des dritten Kapitels steht entlang einer Lektüre von Shakespeares Maß für Maß die Untersuchung zweier verschiedener Typen der Souveränität, der „historischen und epistemologischen Gegebenheiten des elisabethanischen Theaters und seiner Bühnenform“ (109, vgl. S. 119-124), die dramaturgische Analyse des Stückes, die Erfindung der doppelten Buchführung und vor dem so herausgebildeten Hintergrund dann die Krise der Genealogie, wie sie sich in der Figur Angelos manifestiert und in der Gegenwart wiederkehrt. Das vierte Kapitel widmet sich den Körperbildern und ihren Diskursen um 1600, mithin dem Thema der „Zerstückelungen und Entstellungen“. Kirsch spürt ihnen bei Quevedo und Rabelais nach, wobei er sich von Bachtin, aber auch von den Ausführungen von Deleuze und Guattari zum organlosen Körper leiten lässt. Im darauf folgenden fünften Kapitel gilt das Interesse dem Wortbarock, konkret dem Trauerspiel, das in Beziehung zum Sprechen im Traum und dessen Grammatik gesetzt wird, wobei Lohensteins Agrippina in Bezug zur Traumdeutung Freuds gesetzt und Lacans Vorschlag der Übersetzung von Verschiebung und Verdichtung in die rhetorischen Begriffe der Metonymie und der Metapher diskutiert wird. Das sechste Kapitel gilt dem Thema des Raumes im 17. Jahrhundert unter der Maßgabe einer Untersuchung zur Selbstähnlichkeit. Dabei werden frühneuzeitliche Raumkonzepte und Bühnenbauten, das Raumdenken von Leibniz und schließlich an zentraler Stelle des gesamten Buches Shakespeares King Lear als Untersuchungsgegenstände herangezogen. Es folgen zwei „Postscriptum“ genannte Fortführungen, die sich mit Benthams Panopticon und der Wiederkehr des Barock im 20. Jahrhunderts beschäftigen. Diese Wiederkehr spürt Kirsch bei Brecht auf, speziell in dessen Mann ist Mann und im Brotladen-Fragment, deren barocke Züge er in der Sterbethematik, in der Wiederkehr der Entgegensetzung von Visuellem und Geometralem im Verhältnis von Masse und Individuum sowie in einem „niemals substantialisierbaren Rest“ (348) festmacht, der dem cartesianischen Subjekt in Lacans Lesart gleiche.

Kirschs Studie besticht durch die Art und Weise, wie er Theorie und historische Arbeit am einzelnen rätselhaften Phänomen, genaueste Detaillektüren und übergreifende Strukturierungen miteinander verknüpft. Die Theorie erlaubt es Kirsch, die Gegenstände – sowohl sehr bekannte und viel erforschte wie auch überraschende wie die „doppelte Buchführung“ oder Brechts Brotladen-Fragment – neu zu sehen. Die Gegenstände erlauben es ihrerseits, die Gültigkeit und Reichweite der an sie herangetragenen, auf sie projizierten Theorie zu prüfen. Deutlich und zum Teil auch durchaus dem Lesen hinderlich stehen dabei Lacan, Deleuze und bis zu einem gewissen Grad Benjamin im Vordergrund. In ihrem intensiven Studium, so merkt man, hat Kirsch das Denken gelernt. Doch die Arbeit profitiert auch von einem großen theater- und kulturgeschichtlichen Hintergrund, der Theatergeschichte im engeren Sinne in eine Mediengeschichte im weiteren Sinne einzuordnen erlaubt. Zu erwähnen wären dabei speziell die Berücksichtigung der Schriften von Hubert Damisch zur Erfindung der Perspektive und von Michel Foucault zu den Umbrüchen des Wissens im 18. Jahrhundert. Die Theater- und Medienwissenschaft findet hier einen Denker am Werk, der wie wenige andere die Theoriebildung beider Wissenschaften produktiv zu verknüpfen vermag. Aus theaterwissenschaftlicher Sicht stellen dabei Kapitel wie dasjenige über die Bühnenform des „Globe-Theatre“ oder das zu den barocken Räumen Texte dar, die zur Standardlektüre in Einführungskursen werden sollten. Überhaupt ist es die große Qualität dieser Studie, dass sie bei aller Verankerung ihrer Lektüren und Analysen in Großtheorien extrem materialhaltig ist, das Ergebnis eines selbst barock zu nennenden Lesehungers. Man kann die sich manchmal in Einzelauseinandersetzungen mit bestimmten Ansichten und Behauptungen verlierenden Ausführungen für zum Teil unökonomisch ansehen, gleichwohl wird man dem Buch als Ganzem kaum den Respekt verweigern können. Es ist ein Buch, das die Mühe der Lektüre mit einer Fülle von originellen Verknüpfungen und Entdeckungen belohnt und dabei vorführt, wie das Verhältnis von Theorie und Gegenständen im besten Fall aussehen kann.

Sebastian Kirsch: Das Reale der Perspektive: der Barock, die Lacan’sche Psychoanalyse und das ‚Untote‘ in der Kultur. Berlin: Theater der Zeit 2013, 394 S.