Darstellen ‚nach Auschwitz’

Was heißt es, ‚nach Auschwitz’ Theater zu machen, einen Film zu drehen, zu schreiben? Diese Frage, die im Mittelpunkt von zahlreichen Debatten der vergangenen Jahrzehnte stand, beschäftigte im Sommersemester 2008 ein von mir geleitetes Seminar am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen unter diesem Titel zunächst allgemein, dann ganz konkret mit Blick auf solche Arbeiten, die sich auf die eine oder andere Weise mit den Konzentrations- und Vernichtungslagern und ihrer Darstellbarkeit beschäftigen. Unter den Stichworten des Ausnahmezustands und der Erschütterung der Axiome lasen wir Texte von Walter Benjamin, Hannah Ahrendt, von Horkheimer/Adorno und Adorno selbst [1]: Texte, die nahelegen, dass wir es hier mit einer jede noch so weit entfernte Kulturäußerung betreffenden Zäsur im abendländischen Denken zu tun haben – um es in Anlehnung an die von Philippe Lacoue-Labarthes geprägte, Hölderlin zitierende Formulierung zu sagen.[2] Mit Blick auf Primo Levis Roman IST DAS EIN MENSCH und dessen Diskussion bei Giorgio Agamben beschäftigten wir uns mit der Frage, wie überhaupt zu sprechen sei und wer vom oft als Unsagbares oder Undarstellbares bezeichneten Zusammenhang Zeugnis abzulegen in der Lage sei.[3]

Doch Darstellen ‚nach Auschwitz’ umfasste auch und zunächst die Versuche kollektiven oder ein Kollektiv organisierenden Erinnerns, wie wir sie in Zusammenhang mit Eisenmanns Denkmal für die ermordeten Juden Europas und Libeskinds Jüdischem Museum, aber auch mit Blick auf die Dauerausstellung in der Gedenkstätte des KZ Buchenwald diskutierten. Nicht zuletzt war der Besuch des Konzentrationslagers ein wichtiger Teil unserer gemeinsamen Recherche – wobei es keine Vorgaben dafür gab, wie man sich dort je individuell mit dem auseinandersetzen sollte oder wollte, was das Lager an Spuren der Vergangenheit wie auch ihrer vielfältigen, je anders geprägten historischen Aufarbeitung enthält. Weitere Stationen der gemeinsamen Arbeit im Seminar waren dann die Filme TO BE OR NOT TO BE von Ernst Lubitsch, NUIT ET BROUILLARD von Alain Resnais und SHOAH von Claude Lanzmann sowie die Essays BILDER TROTZ ALLEM von Georges Didi-Huberman, DER NAZI-MYTHOS von Jean-Luc Nancy und Lacoue-Labarthe und DAS DARSTELLUNGSVERBOT von Nancy.[4]

Es wäre verfehlt, hier, zumal in einer kurzen Einführung, eine Synthese des Diskutierten und Gesehenen, des gemeinsam und in kleinen Gruppen oder Zwiegesprächen Erörterten und dabei vielleicht Gefundenen zu versuchen. Es scheint mir aber doch wichtig, zu betonen, dass die große Menge an Texten, Filmen und Diskussionspunkten ausdrücklich dem Drängen des Seminars folgte – eines Seminars, das auf eine Weise in vielerlei Hinsicht den Rahmen dessen sprengte, was ich bis dahin an Seminaren kannte. Ganz offensichtlich haben wir uns mit einem Gegenstand beschäftigt, der nicht einfach ein Thema unter anderen ist. Ich hatte bei der Vorstellung des Seminars erwähnt, dass es Themen im Rahmen eines Studiums der Angewandten Theaterwissenschaft oder einer anderen Disziplin im Rahmen der Theater-, Medien- oder Geisteswissenschaften gibt, mit denen man sich beschäftigen kann oder nicht, dass es daneben aber solche gibt, mit denen man sich – alleine oder im Zusammenhang eines Seminars – irgendwann einmal beschäftigt haben sollte, wenn man daran geht, auf die eine oder andere Weise die Öffentlichkeit mitzugestalten – und dass mir dieses Thema, zumindest wenn man im deutschsprachigen Kontext oder als Deutscher arbeitet, dazuzugehören scheint. Was ich zu diesem Zeitpunkt aber nicht gewusst hatte, war, dass dieses Thema, wie unsere Diskussionen gezeigt haben, bewusst oder unbewusst jede und jeden der SeminarteilnehmerInnen schon lange beschäftigt hatte: Es ist in die Familien- und Generationengeschichten eingegangen, hat dort – individuellen Traumata vergleichbar – seine Spuren hinterlassen, über die Generationen weitergegebene, auf die eine oder andere Art verarbeitete oder nicht verarbeitete Reste von Entsetzen, Schuld, Angst und Scham. Es sind Spuren, mit denen sich letztlich jeder anders und jeder in erster Linie für sich allein auseinandersetzen muss, und dies, ob er oder sie es will oder nicht. Zugleich sind es, in der Pluralität, die sich im Verlauf des Semesters zeigte, Ausgangspunkte für eine Auseinandersetzung, die in jeder Generation von neuem stattfinden muss und in jeder anders verläuft und verlaufen wird. Es war dieser Grund, der mich vorschlagen ließ, dass am Ende dieses Seminars eine Diskussion von Arbeiten, die aus ihm hervorgegangen sind, stehen sollte und wenn möglich auch deren Publikation: Wie immer gelungen, verlangt und verdient die Suche neuer Generationen nach einer eigenen Positionierung zu den hier gegebenen Fragen Öffentlichkeit.

Die nachfolgenden Beiträge stellen einen Teil der im Kontext des Seminars erarbeiteten und in einem ihm folgenden studentischen Symposium vorgestellten Auseinandersetzungen dar. Es kamen auf Wunsch und Einladung der Studierenden Beiträge von Ronald Hirte und Susanne Winnacker sowie von weiteren Studierenden des Gießener Instituts hinzu. Für ihre Mitarbeit an diesem Projekt ist an dieser Stelle zu danken: Katharina Kellermann, Daniel Franz und Johanna Manzewski, die die Publikation vorbereitet und durch ihr Engagement auf den Weg gebracht haben; Mayte Zimmermann und Elise von Bernstorff, die zusammen mit mir das Lektorat der Beiträge übernommen haben; Anna Teuwen ist für ihre Korrektur der Beiträge zu danken, Daniel Franz für das Einrichten der Texte für die Veröffentlichung in THEWIS. Besonderer Dank geht schließlich an Helga Finter, Heiner Goebbels und Gerald Siegmund vom Institut für Angewandte Theaterwissenschaft in Gießen, das als herausgebendes Institut diese Publikation in THEWIS ermöglicht hat, sowie das ZMI – Zentrum für Medien und Interaktivität der Justus-Liebig-Universität Giessen, welches dieses Projekt finanziell unterstützt hat.

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  1. Vgl. Adorno, Theodor W./Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, Frankfurt a. M. 1997, Adorno: „Ist die Kunst heiter?“, in: ders.: Noten zur Literatur, Frankfurt a. M. 1981, S. 599 – 606; ders.: „Kulturkritik und Gesellschaft“, in: Kiedaisch,Petra (Hg.) Lyrik nach Auschwitz? Adorno und die Dichter, Stuttgart 1995, S. 27 – 49; ders.: „Versuch, das Endspiel zu verstehen“, in: ders.: Noten zur Literatur, S. 281 – 321; Arendt, Hannah: „Die vollendete Sinnlosigkeit“, in: dies.: Israel, Palästina und der Antisemitismus, Berlin 1991, S. 77 – 94; dies.: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1998; dies.: Ich will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 1997; Benjamin, Walter: „Über den Begriff der Geschichte“, in: ders.: Gesammelte Schriften, Frankfurt a. M. 1980, Bd. I, 2, S. 693 – 703.
  2. Lacoue-Labarthe, Philippe: Die Fiktion des Politischen, Stuttgart 1990, S. 53 – 86.
  3. Levi, Primo: Ist das ein Mensch?, München 1998; Agamben, Giorgio: Homo sacer, Frankfurt 2006; ders.: „Lebens-Form“, in: Vogl, Joseph: Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M. 1994, S. 251 – 257; ders.: Was von Auschwitz bleibt: das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a. M. 2005.
  4. Didi-Huberman, Georges: Bilder trotz allem, a. d. Frz. V. Peter Geimer, München 2007; ders./Nancy, Jean-Luc: „Der Nazi-Mythos“, in: Weber, Elisabeth/Tholen, Georg Christoph (Hg.): Das Vergessen(e): Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997, S. 158 – 190. Nancy: „Das Darstellungsverbot“, in: ders.: Am Grund der Bilder, Zürich/Berlin 2006, S. 51 – 90; ders.: „Ein Hauch/Un souffle“, in: Berg, Nicolas/Jochimsen, Jess/ Stiegler, Bernd (Hg.): Shoah. Formen der Erinnerung. Geschichte – Philosophie – Literatur – Kunst, München 1996, S. 122 – 129; ders. (Hg.): L’Art et la mémoire des camps. Représenter exterminer, Paris 2001.

Naivität als Möglichkeit: Überlegungen zur Undarstellbarkeit der Holocaust-Realität

‚Hölle‘ ist nur ein Wort
Ob wir uns denn das Konzentrationslager nicht als Hölle vorzustellen hätten, wird György Köves, der Protagonist aus Imre Kertész’ ROMAN EINES SCHICKSALLOSEN, nach seiner Rückkehr aus Buchenwald von einem Journalisten gefragt:

„Haben wir uns denn“, fragte er, „das Konzentrationslager nicht als Hölle vorzustellen?“, und ich sagte, während ich mit dem Absatz ein paar Kreise in den Staub zeichnete, jeder könne es sich vorstellen, wie er wolle, ich meinerseits könne mir nur das Konzentrationslager vorstellen, denn das kenne ich bis zu einem gewissen Grad, die Hölle aber nicht.[1]

Und dann unternimmt György, aufgefordert von dem Journalisten, der das verstehen will, dennoch einen Versuch, ihm das Lager zu erklären. Alles Erlebte, das ganze Ausmaß des Schreckens sei ihm nur allmählich, „Stufe um Stufe“[2] klar geworden. Würde sich all dieses sukzessive Begreifen auf einmal einstellen und „über uns ergießen“[3], so wäre es nicht auszuhalten gewesen: Man hätte es weder körperlich noch geistig verkraftet – so ungefähr müsse man sich das vorstellen, fügt György hinzu, ohne zur Sprache zu bringen, was genau er eigentlich erlebt hat. Doch der Journalist versteht immer noch nicht: „‚Nein, das kann man sich nicht vorstellen‘, und ich meinerseits sah das auch ein. Ich dachte bei mir: nun, das wird es wohl sein, warum sie stattdessen lieber von Hölle sprechen, wahrscheinlich.“[4]
Hölle ist nur ein Wort, ein religiöses Konzept der Bestrafung, ein Jahrtausende altes und entsprechend assoziationsreiches Symbol – etwas, das man sich vorstellen und das man darstellen können muss, weil es nur dadurch existiert, dass man es sich vorstellt und dass man es darstellt. Konzentrationslager dagegen sind eine Realität. Nur wer sie am eigenen Leib erlebt hat und sich erinnern kann, kann eine Vorstellung davon haben, wenn überhaupt. Die Vorstellungen aller anderen müssen scheitern; Versuche der Darstellung, welche ein größtmögliches Maß an Authentizität anstreben, sind mindestens anmaßend. Doch wenn wir nicht vergessen wollen, müssen Vorstellungen wach gehalten, Darstellungen gewagt werden. Das ist die Hypothese, der hier nachgegangen werden soll: Es kann keine angemessene Darstellung der Realität der Konzentrationslager geben; es gibt aber durchaus Künstler – Imre Kertész ist einer von ihnen –, denen es gelungen ist, Formen der Darstellung zu finden, die sich dadurch auszeichnen, dass sie die eigene Unangemessenheit reflektieren und ihre Naivität ausstellen.
Mimesis und Kitsch
Ende der 1990er Jahre kommt der Film DAS LEBEN IST SCHÖN des italienischen Regisseurs und Schauspielers Roberto Benigni in die Kinos. Benigni, politisch engagiert und weit über Italien hinaus vor allem als komischer Darsteller bekannt, kreiert damit etwas, was als ‚Holocaust-Komödie‘ heftige Diskussionen in den Feuilletons der Zeitungen auslöst. Vor allem in Deutschland und Israel bewegt die Frage: Darf Begnini das – ein nazi-deutsches Vernichtungslager in einem komischen Zusammenhang darstellen?
Im November 1998 bittet der Kulturteil der ZEIT auch Imre Kertész um seine Meinung zu dem Thema. Anlässlich der umstrittenen Komödie reflektiert der ungarische Schriftsteller und KZ-Überlebende über eine mögliche Antwort auf die titelgebende Frage „Wem gehört Auschwitz?“[5], auf welche Weise und von wem Auschwitz dargestellt werden darf. Dass dargestellt werden muss, ja Darstellungen ganz unvermeidlich sind, ist für ihn dabei eine Prämisse. Eine Stilisierung, wie er es nennt, fand in dem Moment statt, als der Holocaust – selbst schon eine begriffliche Stilisierung brutalerer Ausdrücke wie Vernichtungslager oder Endlösung – Teil des europäischen öffentlichen Bewusstseins wurde. Stilisierung fängt da an, unweigerlich, wo Erinnerungen mitgeteilt werden – in der sprachlichen Symbolisierung. Auch für Kertész ist also die Frage nicht, ob dargestellt werden darf, sondern welche Weise der Darstellung die am wenigsten unangemessene ist. Seine Antwort hierauf ist deutlich: Unangemessen sei eine jede Darstellung, in der der Holocaust den Menschen entfremdet wird. Es geschähe häufig,
 

daß man den Holocaust seinen Verwahrern entwendet und billige Markenartikel aus ihm herstellt. Oder daß man ihn institutionalisiert, ein moralisch-politisches Ritual um ihn errichtet und einen – oft falschen – Sprachgebrauch konstituiert; Wörter werden der Öffentlichkeit aufgenötigt und lösen beim Hörer oder Leser fast automatisch den Holocaust-Reflex aus: Auf jede mögliche und unmögliche Weise wird der Holocaust den Menschen entfremdet.[6]

Es gibt zahlreiche Darstellungen, die diese Entfremdung herbeiführen, und für alle findet Kertész einen Oberbegriff: Er bezeichnet sie als Kitsch. Für Kitsch hält Kertész jede Darstellung, „die nicht die weitreichenden ethischen Konsequenzen von Auschwitz impliziert und der zufolge der mit Großbuchstaben geschriebene MENSCH – und mit ihm das Ideal des Humanen – heil und unbeschädigt aus Auschwitz hervorgeht“[7]. Darstellungskonventionen wie das happy end kommen somit nicht mehr in Frage; genauso wenig der am Ende siegreich hervorgehende oder zumindest mutig überlebende und ungebrochene Held, oder die auf den Punkt gebrachte eine Lehre, die aus den Geschehnissen zu ziehen sei. Kitschig sei weiterhin jede Darstellung, die den Holocaust als etwas Einmaliges und der menschlichen Natur grundsätzlich Fremdes mystifizieren würde; Darstellungen, die Auschwitz als Angelegenheit nur zwischen Juden und Deutschen degradieren; Darstellungen, die Auschwitz als Erfahrung der unmittelbar Betroffenen abstempeln. „Darüber hinaus“, so schließt Kertész ebenso apodiktisch wie tautologisch, „halte ich alles für Kitsch, was Kitsch ist.“[8]
Mit diesem Kitsch, der Kitsch ist, spielt Kertész auf einen bestimmten Film an – nämlich SCHINDLERS LISTE –, auf dessen Regisseur – nämlich Stephen Spielberg – und auf eine bestimmte Mode, der sich filmische Darstellungen, vor allem aus Hollywood, aber mittlerweile weit darüber hinaus, häufig unterwerfen. Die Rede ist von dem Versuch möglichst authentischer Abbildung der erlebten, der erinnerten Realität. Mimetischer Realismus zeigt sich so als die unangemessenste aller Darstellungsweisen: Ein symbolisches System wird konzipiert, welches die genauso kühnen wie geschmacklosen Behauptungen des So war es und des So sah es aus aufstellt und auf eben diese Weise jeglichen Unterschied zwischen Dargestelltem und Darstellung negiert. Dies aber ist eine Vereinfachung, die an der Sache vorbei geht: Die Schwierigkeiten, ja die Unmöglichkeit der vollständigen symbolischen Einholung des als traumatisch erlebten Realen in einen Film, ein Theaterstück, eine Erzählung, welche immer wieder im Zusammenhang der Versuche, den Holocaust darzustellen, erwähnt werden, werden so ignoriert. Was – angeblich restlos – symbolisch dargestellt wird, kann in letzter Konsequenz auch scheinbar nachvollzogen, verstanden, betrauert, verarbeitet werden. Und genau damit verlöre selbst der Holocaust irgendwann seinen Schrecken. Unangemessen und kitschig sind also eben diese Darstellungen, die jenen Rest negieren und dem bereits zitierten vernunftgewöhnten MENSCHEN in Großbuchstaben hier in Gestalt des Zuschauers oder Lesers vielleicht zu Momenten der Betroffenheit, aber zugleich zu Stunden gesunden Schlafes verhelfen, da alles Irrationale von ihm fern gehalten wird.
Doch damit nicht genug: Denn einher mit der mimetischen Darstellung geht konventionellerweise oft eine Tendenz, auf die Slavoj Žižek in einem Artikel hinweist, der sich ebenfalls mit der Debatte um DAS LEBEN IST SCHÖN auseinandersetzt[9]. Es geht um die Tendenz der Psychologisierung. Auch Žižek zieht SCHINDLERS LISTE als negatives Beispiel heran und macht das anhand einer Szene aus dem Film deutlich. Darin sieht sich ein Lagerkommandant zwiespältigen Empfindungen ausgeliefert, als er sich von einer jüdischen Gefangenen erotisch angezogen fühlt und es doch nicht schafft, seinen Antisemitismus zu überwinden und diesen Gefühlen nachzugeben. Diese Psychologisierung des Zwiespalts des Kommandanten, ja diese Humanisierung, wie Žižek sie nennt, hält er für den grundsätzlich falschen Ansatz:
 

[W]hat is so thoroughly false is the way the scene tries to render the ‚mind of the Nazi‘ […] as his direct psychological self-experience: a deceptive ‚humanisation‘ in that it is wrong to assume that Nazi executioners experienced the contradictions of their racist attitudes in the form of psychological doubt.[10]

Der psychologisierenden Darstellung setzt Žižek das Brechtsche Darstellungskonzept der Verfremdung entgegen, als in seinen Augen einzig angemessene Herangehensweise – eine, die letztlich ebenfalls scheitern muss, aber dieses Scheitern von vorne herein einräumt und in vollem Bewusstsein dessen funktioniert. Nur auf diesem Weg ließe sich die „Banalität des Bösen“[11] in der Darstellung begreiflich machen, eine Wendung, die er von Hannah Arendt übernimmt: Denn wenn man einen Nazi-Verbrecher, einen Hitler oder Eichmann auf psychologische Weise darstellt, wird deren Verhalten lesbar, nachvollziehbar und verständlich; jeder monströse, irrationale Rest wird negiert: „[H]is psychological profile gives us noe clue to the atrocities he executed.“[12] Und wenn mimetischer Realismus und humanisierende Psychologisierung so sehr in die Irre führen, so schließen sowohl Žižek als auch Kertész: warum dann nicht der Holocaust-Komödie eine Chance geben?
Naivität-trotz
Was aber ist es, das es zum Beispiel komödiantischen Formen eher ermöglichen mag, Darstellungsweisen für die Schrecken des Holocaust zu finden? Was können sie leisten, das dem psychologischen Drama oder einem Film, welcher sich dem Realismus verschrieben hat, nicht möglich ist? Es ist nicht Ziel dieses Essays, einen Komödienbegriff festzulegen, aber es soll der Fokus auf einen Darstellungsaspekt gelenkt werden, der sich mit der Komödie in Verbindung bringen lässt und der eine mögliche Antwort auf die Frage Wie Auschwitz darstellen? bereit hält – der zumindest verdeutlicht, welche künstlerische Strategien Benigni anwendet in DAS LEBEN IST SCHÖN, Strategien, die aber auch in nicht-komischen Genres wie bei Kertész selbst im ROMAN EINES SCHICKSALLOSEN vorkommen: auf den Aspekt der Naivität bzw. der markierten Naivität. Das mag zunächst stutzig machen, gilt doch das Adjektiv naiv im allgemeinen Sprachgebrauch für wenig schmeichelhaft, da es denjenigen bezeichnet, der die Dinge nicht ganz zu Ende gedacht hat, dazu vielleicht gar nicht in der Lage ist, denjenigen, der zu blauäugig oder gutgläubig ist, um zu begreifen, was wirklich vor sich geht. Jemand, der sich dem Vorwurf der Naivität ausgesetzt sieht, wird als kindlich und einfältig kritisiert – als jemand, der nicht alle Voraussetzungen kennt, um ein Geschehen durchschauen zu können. Und dennoch soll hier der Vorschlag unterbreitet werden, Naivität als eine Art Kunstton zu entwickeln und sie auf diese Weise einer behaupteten Abgeklärtheit entgegenzusetzen.
Auch dazu lässt sich wieder Kertész als Gewährsmann heranziehen. Zwar wendet er selbst den Begriff der Naivität in dem zitierten Artikel nicht an. Doch eben das, was ich hier mit einer sich als naiv markierenden Darstellungsweise beschreiben möchte, praktiziert er in seinem eigenen Versuch einer Darstellung der Konzentrationslager. Als einfältig, wenigstens als jemand, der das, was geschieht und zu geschehen droht, nicht annähernd durchschauen kann, lässt sich jedenfalls auch György Köves bezeichnen, der Ich-Erzähler aus dem ROMAN EINES SCHICKSALLOSEN. Erst am Ende der Erzählung, vielleicht noch nicht einmal dann, kann sich der jugendliche Györgi ein Bild davon machen, was passiert ist, und wie und warum. Es gelingt ihm nicht, das zu begreifen oder gar begreiflich zu machen – und wer könnte das auch von sich behaupten. Als „kuriose Geschichte“[13] bezeichnet György die Abläufe jenes Tages, an dem er und die anderen jüdischen Fahrgäste gezwungen werden, den Bus zum Arbeitsplatz außerplanmäßig zu verlassen, um anschließend versammelt und schließlich interniert zu werden. Von der ‚Verpflegungsordnung‘ in Auschwitz, welche schlichtweg das Aushungern der Lager-Insassen zum Ziel hatte, ist György nach eigener Auskunft „einigermaßen befremdet“[14]. Auch von den allgegenwärtigen Prügeln habe er seinen Teil abbekommen, „versteht sich“[15], wie György überhaupt immer wieder bereit ist einzuräumen, dass die Misshandlungen durch die KZ-Aufseher ja irgendwie nachvollziehbar seien, irgendwie verständlich, fast entschuldbar. Diese Haltung Györgys, immer wieder eine ihm unbekannte Nachvollziehbarkeit hinter all den konkreten Gräueltaten, die ihm widerfahren, anzunehmen, nenne ich naiv. Sie ist zugleich vielleicht die einzige Möglichkeit, der Verzweiflung, die Folter, Hunger und Tod auslösen, nicht vollständig zu erliegen. György überlebt den Schrecken, lebt mit dem Schrecken, da er sich immer nur einem möglichst kleinen Anteil von ihm stellt, Schritt für Schritt und indem er auf das unmögliche Vorhaben verzichtet, alles begreifen zu wollen. Er legt sich eine naive Haltung zu, aus reinem Selbstschutz.
Kertész‘ ROMAN EINES SCHICKSALLOSEN ist an keiner Stelle komisch. Allein jener Aspekt der naiven Darstellung erinnert an Komödien wie beispielsweise Benignis DAS LEBEN IST SCHÖN, wo es wieder ein Junge, der kleine Giosué, ist, dessen Fähigkeit und Bereitschaft zur Naivität es seinem Vater ermöglicht, die Ereignisse im Lager als ungefährliches Spiel zu behaupten. Zu glauben, dass es das sein könnte, ein ungefährliches Spiel, ist ebenso naiv wie Györgys stetiger Versuch, das Verhalten der KZ-Aufseher als nachvollziehbar anzunehmen. György stellt seine Erlebnisse, die auf den Erinnerungen Kertész‘ beruhen, auf naive Weise dar, weil er sie anders nicht darstellen kann. Sowohl er als auch Giosué sind naiv, weil es anders gar nicht geht; beide begreifen ihre Lage nicht vollständig – aber wie könnten sie auch? Angesichts der Schrecken der Konzentrationslager sind wir alle naiv. Doch gerade diese große Diskrepanz zwischen der im Ton der Naivität entwickelten Darstellung und der Ahnung von dem tatsächlichen, inkommensurablen Schrecken macht aus der Naivität der Darstellung eine markierte Naivität.
Ganz ähnlich ist diese Vorstellung einer die Darstellung bestimmenden naiven Haltung aus Selbstschutz der Idee der „protective fictions“[16], auf welche Žižek bei der Analyse von DAS LEBEN IST SCHÖN das Augenmerk lenkt. Die Lüge des Vaters, der seinem Sohn die Realität des Konzentrationslagers als Spiel weismachen will, als Wettbewerb, dessen Sieger am Ende mit dem ersten Preis, einem waschechten amerikanischen Panzer, belohnt würde, droht immer wieder aufzufliegen und der Zuschauer wird Zeuge der vielfältigen raffinierten Bemühungen des Vaters, seine Geschichte glaubhaft zu halten. Die schützende Lüge gerät besonders in jenem von Žižek als Schlüsselszene beschriebenen Moment in Gefahr, an dem der Sohn Giosué die Lust an dem anstrengenden Spiel verliert und das Lager verlassen möchte – ein Entschluss, der, wie er nicht wissen kann, sicher seine Erschießung zur Folge hätte. Statt ihn davon abhalten zu wollen, stimmt der Vater zu, weist jedoch zugleich auf die hämische Freude hin, die die angeblichen anderen Kombattanten angesichts dieser Entscheidung empfinden müssten, da sie so ihrem Sieg einen Schritt näher gekommen seien. Daraufhin überdenkt Giosué seinen Entschluss und ‚spielt‘ weiter mit. Der Vater hat ihm, so Žižek, den trügerischen Eindruck vermittelt, eine Wahl zu haben, die es dem Sohn ermöglicht, sich scheinbar freiwillig für das Unvermeidbare zu entscheiden. In kindlicher Naivität fällt Giosué ein weiteres Mal auf die protective fiction seines Vaters herein, glücklicherweise, denn das rettet sein Leben: „The fantasmatic protective shield is the benevolent fiction that allows the son to come to terms with reality: the father doesn’t insulate his son from reality, he just provides the symbolic fiction that renders it bearable.“[17]
Die wohlmeinende, rettende Fiktion und die ihr entgegengebrachte naive Haltung gehen Hand in Hand: Die verharmlosende Symbolisierung kann nur fruchten, wenn sie naiv aufgenommen wird, und Naivität ist die einzige Möglichkeit, sich von ihr blenden zu lassen. Die angeführten Beispiele zeichnen sich dadurch aus, dass sie eben diese Relation zwischen protective fiction und Naivität deutlich machen – und dabei gleichzeitig jene Ahnung, dass alles viel schlimmer, unfassbar schlimmer war, dennoch gegenwärtig halten. Auf diese Weise wird aus bloßer, dennoch notwendiger weil schützender Naivität eine auch als solche in der Darstellung markierte Naivität, welche in einem Spannungsverhältnis zu dem Schrecklichen steht, das eben nicht dargestellt werden kann. Die erwähnten Leerstellen des Realen tun sich genau in diesem Spannungsverhältnis auf, außerhalb der Darstellung, aber von ihr impliziert, ahnbar gemacht.
György und Giosué sind nicht bloß naiv; sie sind es, obwohl alles in ihrer Situation danach schreit, begriffen werden zu wollen. Es handelt sich um eine Naivität-trotz; eine Naivität, die ahnt, dass sie nicht sein sollte, die aber einfach keine Alternative kennt. Immer ist klar: Was beschrieben ist, kann nur andeuten, was geschehen ist. Die Wirklichkeit ist so unfassbar, dass sie nicht mit Worten wiedergegeben werden kann. Kertész‘ und Benignis Erzählweisen umkreisen permanent zwangsläufig offen gelassene Leerstellen, in denen das allzu Reale sitzt, allzu real, um symbolisiert werden zu können.
Schützende Distanz
Die protective fiction ist eine Form der Verfremdung. Sie stellt etwas sinnvoller, erträglicher dar, als es tatsächlich ist, um auf diese Weise ein sukzessives Begreifen zu ermöglichen und zu verhindern, dass sich nicht auf einmal alles ‚über uns ergießt‘. Eine gewisse, naive Bereitschaft, ihr Glauben zu schenken, ein suspense of disbelief ist oft notwendig, damit sie funktionieren kann. Auf der übergeordneten Darstellungsebene nun kann aus dieser Naivität dann eine markierte Naivität werden, indem das Spannungsverhältnis zum Undarstellbaren, welchem sich die Fiktion nur notdürftig annähern kann, dargelegt wird. Diese Darstellung der Naivität selbst ist dann nicht mehr naiv, sondern sie reflektiert über ihr Dargestelltes; zugleich diskreditiert sie jene von ihr dargestellte Naivität aber auch nicht, sondern verdeutlicht ihre existentielle Notwendigkeit in der beschriebenen Situation. Was einen Moment lang naiv und komisch gewirkt haben mag, zeigt sich nun als gar nicht lachhafter und eher ernst zu nehmender Versuch, sich dem Darzustellenden zu nähern, als jede angestrebte Detailtreue bei SCHINDLERS LISTE und anderswo – selbst auf dem Werbetext auf einem DVD-Cover zu Benignis Film wird sie noch versprochen.
Wie schwierig das ist, dieses Spannungsverhältnis zu inszenieren, wird deutlich, wenn man sich die Verfilmung von Kertész‘ ROMAN EINES SCHICKSALLOSEN anschaut, welche verwirrenderweise denselben Titel (FATELESS – ROMAN EINES SCHICKSALLOSEN) trägt und 2005 als deutsch-ungarisch-englische Koproduktion in die Kinos kam. Aus der tentativen Naivität und traurigen Ironie des Romans wurde hier unter der Regie von Lajos Koltai eine opulente Ästhetisierung des Grauens der Konzentrationslager, die sich dennoch durchgängig einem mimetischen Realismus verpflichtet sieht. Die Filmmusik von Hollywood-Routinier Ennio Morricone leistet ihr Übriges und übertüncht Verzweiflung und Unfassbarkeit mit Pathos und Melodram.

[W]ie ich so über den sanft in der Abenddämmerung daliegenden Platz blicke, über die vom Sturm geprüfte und doch von tausend Verheißungen erfüllte Straße, da spüre ich schon, wie die Bereitschaft in mir wächst und schwillt: ich werde mein nicht fortsetzbares Dasein fortsetzen. […] [U]nd auf meinem Weg, das weiß ich schon jetzt, lauert wie eine unvermeidliche Falle das Glück auf mich. Denn sogar dort, bei den Schornsteinen, gab es in den Pausen zwischen den Qualen etwas, das dem Glück ähnlich war.[18]

Mit diesen Sätzen endet Kertész‘ ROMAN EINES SCHICKSALLOSEN. Angesichts der mit schützender Distanz geschilderten Geschehnisse in den Kapiteln des Buchs kann man diese Aussage nur relativierend lesen – nur aus der Perspektive Györgys ist sie verständlich, denn so etwas wie Glück hat er nicht einen Moment lang erlebt. In der Verfilmung aber, in der dieser Text ebenso den Schlussmonolog bildet, unterlegt allerdings von rührig-schmalziger Morricone-Musik, in einer Sprechhaltung des Off-Erzählers, die alles andere als distanziert ist, kann man das durchaus vergessen. Hier geht György in Gestalt des großbuchstabigen MENSCHEN durch eine zerstörte Straße seiner Heimatstadt Budapest dem wunderbar ausgeleuchteten Horizont entgegen, fast wie der siegreiche Held im Western.

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  1. Kertész, Imre: Roman eines Schicksallosen, Berlin 1996, S. 391.
  2. Ebd., S. 392.
  3. Ebd.
  4. Ebd., S. 394.
  5. Kertész: „Wem gehört Auschwitz?“, in: DIE ZEIT, 48/1998 (vgl. http://www.zeit.de/1998/48/Wem_gehoert_Auschwitz_).
  6. Ebd.
  7. Ebd.
  8. Ebd.
  9. vgl. Žižek, Slavoj: „Camp Comedy“, in: Sight & Sound, April 2000 (vgl. http://www.bfi.org.uk/sightandsound/feature/17/).
  10. Ebd.
  11. Vgl. Arendt, Hannah: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München 1964.
  12. Žižek, „Camp Comedy“.
  13. Kertész: Roman eines Schicksallosen, S. 66.
  14. Ebd., S. 191.
  15. Ebd., S. 267.
  16. Žižek: „Camp Comedy“.
  17. Ebd.
  18. Kertész: Roman eines Schicksallosen, S. 412f.

Die Wunde in der Darstellung

Im Zentrum des nachfolgenden Artikels stehen Überlegungen zum Zusammenhang von Shoah und Darstellung. Mit Emmanuel Lévinas, Jean-Luc Nancy und Giorgio Agamben möchte ich drei theoretische Positionen einer Ethik der Undarstellbarkeit bzw. Unsagbarkeit vorstellen, in deren Kern das Paradox steht: man kann nicht darstellen, muss aber darstellen. W. G. Sebalds AUSTERLITZ und Art Spiegelmans MAUS möchte ich anschließend auf ihre Strategien hin untersuchen, mit diesem Paradox umzugehen.
I. Vom Selben zum Anderen
„Was immer wir tun: es ist immer auch ‚Darstellung’.“[1] Auch wenn (vor allem der frühe) Emmanuel Lévinas sich nicht als Darstellungstheoretiker versteht,[2]so kann dennoch die These Christiaan Hart Nibbrigs als ein Schlüssel zu seinem gedanklichen Gebäude dienen: Vor dem Hintergrund der Katastrophen des 20. Jahrhunderts begreift Emmanuel Lévinas[3] das humanistische Subjekt als ein dem Anderen gegenüber tendenziell gewalttätiges, da es diesen nur aus einer Perspektive der Identifizierbarkeit (= Darstellbarkeit) heraus betrachtet. Während die abendländische Philosophie den Menschen als Grundprinzip alles Seienden bestimmt, versteht Lévinas die Stellung des Menschen im Sein als Wille, als Sein-Wollen.[4] Sinnbild einer solchen Weltzuwendung ist für Lévinas Odysseus, der trotz all seiner Fahrten in die Fremde doch immer nur zu seiner Geburtsinsel zurückkehrt. Sein, In-der-Welt-Sein ist für Lévinas in Wahrheit er-fassen, be-greifen, wahr-nehmen, also An-eignung. Lévinas’ Philosophie versucht demgegenüber, das Subjekt nicht länger aus einer Ordnung der Ontologie, sondern aus einer Ordnung der Ethik heraus neu zu denken:

Gibt es ein Bedeuten von Bedeutung, das nicht auf die Verwandlung des Anderen in das Selbe hinausläuft? […] Die heteronome Erfahrung, die wir suchen, wäre eine Haltung, die sich nicht in kategoriale Bestimmungen konvertieren kann und deren Bewegung zum Anderen hin sich nicht in der Identifikation wiedergewinnt, eine Bewegung, die nicht zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt.[5]

Lévinas bedient sich des Begriffs der Spur, um den Unterschied zwischen einer dem Ich wahrnehmbaren Welt und einer unbegreiflichen Transzendenz zu beschreiben. Um die Spur aus der Fixierung auf begreifbare Phänomene herauszulösen, grenzt Lévinas sie vom Zeichenbegriff ab. Eine zeichenvermittelte Erkenntnis wird durch einen vertrauten, konventionalisierten Verweisungszusammenhang hergestellt, in dem man etwas durch etwas anderes zu verstehen meint. Zeichen, die solchermaßen einer dem Ich vorgängigen Welt angehören, stehen vor allem im Dienste von Mitteilungen. Zeichen funktionieren somit im Sinne einer ‚Philosophie des Selben’, welche den oder das Andere aus der Perspektive der Identifizierbarkeit heraus betrachtet. Sie überführen das Abwesende (Signifikat) qua Repräsentation (Signifikant) in Anwesenheit und machen es damit dem Erkenntnishorizont in der Perspektive des Selben verfügbar. „Alles Wissen um das Hier ist schon Wissen für mich, der hier ist.“[6] Mit Lévinas gedacht kann der Andere zwar als Zeichen gelesen werden, er begegnet uns darüber hinaus und vor allem aber immer als Spur. Während das Zeichen das Abwesende in die Immanenz überführt, bedeutet die Spur jenseits des Seins, sie führt zu nichts hin, das identifizierbar, erkennbar oder verstehbar wäre.
Der Andere, „der erreicht wird, ohne sich als berührt zu erweisen“[7], zeigt sich als Bedeuten jenseits von Bedeutsamkeit, als Antlitz. Darstellungstheoretisch ist dieser Begriff spannungsgeladen, bezeichnet er einerseits das menschliche Gesicht und wird bei Lévinas doch gerade als „dem eigenen Bild entkleidet“[8] verstanden. Kraft seiner Epiphanie als Antlitz hört der Andere auf, eine wahre Vorstellung, ein Zeichen zu sein, über welches das Identitätsprinzip des Bewusstseins zu verfügen in der Lage wäre. Was sich im Antlitz ausspricht, ist kein Bedeuten im Sinne einer Bezeichnung, sondern die Sterblichkeit und Verletzlichkeit des Anderen, die mich angeht (me regarde)[9]und eine ethische Bewegung im ‚Ich’ auslöst. Das Lévinas’sche Antlitz beschreibt also etwas Undarstellbares, das zugleich Fundament aller ethischen Beziehungen ist und der Darstellung nicht nur stets eingeschrieben bleiben muss, sondern sich ausschließlich als deren Anderes zeigt – und zugleich noch anders bleibend.
II. Pas Perdu
Vor diesem Hintergrund möchte ich nun die Erzählung[10] AUSTERLITZ von W. G. Sebald auf ihre Darstellungsstrategie hin untersuchen. Erzählt werden die Begegnungen eines namenlosen Ich-Erzählers, der zum fast stummen Zuhörer und Chronisten der sich langsam enthüllenden Lebensgeschichte von Jacques Austerlitz wird: Als kleines Kind wird dieser von seinen Eltern aus Schutz vor dem Einmarsch der Nazis in Prag auf einen Kindertransport nach England geschickt, wo er aufwächst, ohne sich seiner ‚wahren’ Identität zu erinnern. Erst nach mehreren Zusammenbrüchen beginnen ihn Bruchstücke seiner Erinnerung auf die Spur seiner Vergangenheit und in die Gegenwart von Prag, Theresienstadt und Deutschland zu führen. Auf formaler Ebene stellt sich AUSTERLITZ als Konglomerat vieler teleskopisch gestaffelter Teilgeschichten heraus, die alle aus der Ich-Perspektive erzählt werden und gleichberechtigt nebeneinander stehen, ja nicht einmal durch Anführungszeichen voneinander abgehoben sind, so dass sich beim Lesen immer wieder Zweifel darüber einstellt, wer gerade ‚Ich’ sagt und die Geschichte erzählt. Sebald beschreibt das Verhältnis seines Erzählers zu den Erzählfiguren, aber auch zu sich als Autor als ein „Gefälle, das eigentlich aus seinen schwindelnden Übergängen heraus produktiv werden sollte“[11]. Mit dem Begriff des Schwindels rekurriert Sebald an dieser Stelle nicht nur auf das Oszillieren der erzähltheoretischen Instanzen (er betreibt kein „raffiniertes Verwirrspiel“[12]), sondern er bedient sich bewusst eines Verfahrens, das Topoi wie Wahrheit oder Ontologie entgegengesetzt ist. Unter Bezugnahme auf Lévinas könnte man davon sprechen, dass die Ich-Aussagen in Sebalds Texten keine kohärenten Identitäten erzeugen, die als ‚Selbstheiten’ verstanden werden können. Während der Ich-Erzähler kaum jemals von sich selbst spricht, ist die infinite Suche nach seinem ‚Selbst’ gerade Austerlitz’ Geschichte. Diese impliziert die Auflösung eines vermeintlich stabilen ‚Ich’ gegenüber einem ‚Du’, welches nach dem Prinzip des Selben erschlossen werden könnte. Dies mag eine Begründung dafür sein, warum die zweite Person Singular in der Erzählung nicht vorkommt, nicht vorkommen kann.[13] Die Sebald’schen Figuren sind Selbst-los, greifen ineinander, oszillieren zwischen ‚Ich’ und dem Anderen. Gleichzeitig ist Sebalds poetologisches Verfahren nicht als Einebnung des Abstands zwischen den Figuren zu verstehen. Vor diesem Hintergrund muss das Verfahren verstanden werden, in dem der Ich-Erzähler penibel über Ort und Art seiner Treffen mit Austerlitz Auskunft gibt. Sebalds Annäherung an Geschichte bzw. an Geschichten geht es immer auch um die Reflexion der letztlich nicht überbrückbaren Distanz zwischen dem Selbst und dem Anderen. Deswegen muss der Erzähler in AUSTERLITZ seine Funktion als Chronist auch nicht verschleiern – es ist vielmehr diese Funktion, die verhindert, den Ort des Anderen zu usurpieren und damit letztlich zu verfehlen.

Das Verhältnis zum Anderen […] ist ein spezifisches, auf keinerlei Reziprozität zurückzuführendes Geschieden-Sein, jedoch als solches nicht ein desinteressiertes Nebeneinander-Sein, sondern […] ein souveränes Uneins-Sein, das ‚mehr ist als das Eins-Sein’, denn ‚gerade dieses Zu-Zweit-Sein’ mit dem Anderen ‚ist das Menschliche’ […]. Nicht im Erkennen, nicht im Benennen des Anderen, auch nicht in der ‚Verschmelzung’ mit ihm, schon gar nicht in der Gewaltsamkeit des Wollens oder Habens wird das Ich dem Du gerecht; der Andere ist niemals zu besitzen, man muss vielmehr von ihm ‚besessen’ sein […].[14]

Eine so gedachte Ethik geht von der Unmittelbarkeit aus, mit welcher der Andere auftritt. Dieses Unmittelbare der Beziehung ist nach Lévinas die Rede, das Sagen. Für Lévinas steht fest, dass das Verhältnis von ‚Ich’ und ‚Du’ allein zu transzendieren ist, indem man den Anderen „ohne Antwort zu erwarten, in die Diachronie des Dialogs einbezieht als den, der einem vorgeordnet ist, als den, der einem vorangeht und lediglich durch seine Spur sich ausspricht“[15]. Dies ist nach Lévinas die eigentliche Subjektivation (Unterwerfung, aber auch Subjekt-Werdung): Nicht In-Der-Welt-Sein, sondern Infragegestellt-Sein. Positiv gewendet: Zum-Antworten-aufgefordert. In dem Moment des Angesprochen-Seins durch den Anderen ist jedes ‚Ich’ in seiner Antwort, seiner Verantwortung unvertretbar und unersetzbar.
Bereits die erste Begegnung des Erzählers mit Austerlitz stellt das Prosawerk AUSTERLITZ unter das Signum dieser Verantwortung: Die Reisenden im Wartesaal der verlorenen Schritte (Salles des pas perdus) scheinen dem Erzähler „irgendwie verkleinert“[16], so, als wären sie „die letzten Angehörigen eines reduzierten, aus seiner Heimat ausgewiesenen oder unter-gegangenen Volkes. […] Eine der in der Salle des pas perdus wartenden Personen war Austerlitz“[17]. Wenn der Erzähler schließlich an Austerlitz herantritt, so in dem Bewusstsein, „daß Alleinreisende in der Regel dankbar sind, wenn sie, nach manchmal tagelang nicht unterbrochenem Schweigen, eine Ansprache finden“[18]. Lévinas zufolge ist Sprache nicht Bedingung für die Kommunikation der Menschen untereinander, sondern entsteht aus dem Kontakt mit dem Anderen. Entsprechend seiner Unterscheidung von Zeichen und Spur differenziert er auch zwischen einer Sprache, die eins ist mit den Vorstellungen, und einer Sprache, die als die Möglichkeit bezeichnet wird, „unabhängig von jedem den Gesprächspartnern gemeinsamen Zeichensystemen in Beziehung zu treten“.[19] Diese Sprache ist Nähe oder Berührung. Die Antwort des Ich-Erzählers auf Austerlitz ist sein Eintritt in den Dialog, der nur vermeintlich monologisch strukturiert ist und dessen Ziel kein informativer Austausch ist, sondern eine Nähe, in welcher Austerlitz sich aussprechend als Anderer anerkannt wird. Der Antwerpener Bahnhof Salle des pas perdus wird damit (in der zweiten Bedeutung seines Namens) auch zum Ort der nicht Verlorenen
Dieses Darstellungsverfahren setzt Sebald über die in den Text eingelassenen Photographien fort. Bereits in der oben geschilderten Episode erfahren die LeserInnen, dass die Photographien von Austerlitz „zum Andenken“[20] an den Ich-Erzähler übergeben und von diesem in seine Geschichte eingewebt worden sind. Die Photos mögen zwar als Auslöser einer Erinnerungsarbeit von Protagonist und LeserInnen dienen (dem Patience-Spiel Austerlitz’ ähnelnd, während dem sich immer neue Korrespondenzen zwischen den Bildern auftun), ihnen wohnt jedoch eine „Gegenströmigkeit“[21] inne. Den Motiven scheint keineswegs die Vorstellung inhärent, man könne durch sie etwas erfassen: Die verschlossenen Türen von Theresienstadt mögen am deutlichsten zeigen, dass Sebalds Photographien die Einsicht versperren und stattdessen einer dem Anderen nachspürenden Lektüre stattgeben.

„Die Dinge affizieren uns als von Anderen besessen. […] Die Dinge als Dinge beziehen ihre erste Unabhängigkeit aus der Tatsache, daß sie mir nicht gehören – und sie gehören mir nicht, weil ich in einem Verhältnis zu den Menschen stehe, von denen sie kommen.“[22]

Austerlitz überantwortet dem Erzähler zum Abschied seine Bilder, „die als einziges übrig bleiben würden von seinem Leben“[23]. Doch schon während der Erzähler ihre erste Begegnung schildert, erzählt er davon, dass er die Bilder „von den inzwischen ganz verdunkelten Spiegeln“[24], die Austerlitz im Salle des pas perdus aufnimmt, im Bildernachlass nicht auffinden kann. Die Bilder blinder Spiegel, die das Ab- und Vorbild des Selbst verweigern, die nur als Zäsur im Andenken an Austerlitz gedacht werden können, sind dennoch nicht verloren.
Aus dem Nachlass von W. G. Sebald. Notizbuch mit einem „zum blinden Spiegel verblichenen Foto“.
Bildnachweis: Marbacher Literaturarchiv (Hg.): Wandernde Schatten. W. G. Sebalds Unterwelt.
AUSTERLITZ nimmt die LeserInnen mit auf eine Reise, die niemals beim Anderen ankommt, aber auch nicht zu sich selbst zurückführt. Die Erzählung endet in der Fremde, in Breendonk, bei den „letzten Nachrichten“[25] von zu Tode gekommenen Gefangenen der Deutschen in eroberten russischen Festungen im Jahr 1944. Unter diesen „Max Stern, Paris, 18.5.1944“[26]. Die von Lévinas formulierte Furcht, „im Da meines Daseins* einem anderen den Platz zu rauben“[27], die den Kern seiner ethischen Subjektkonzeption bildet, findet hier ihren Ausdruck: Max ist der Rufname von Sebald, der 18.5.1944 sein Geburtstag. AUSTERLITZ lässt spüren, wie untrennbar Begegnungen mit der Vergangenheit und dem Anderen miteinander, aber auch mit unserer eigenen Position, unserem Selbstverständnis verwoben sind. Der Erzählung ist der ethische Appell inhärent, den Zugang zur Welt nicht nach dem Modell der Aneignung zu betreiben, sondern sich auf die Suche nach Spuren zu begeben, deren Botschaft nie Ontologie ist, sondern immer schon Schwindel.
III. Das Darstellungs-/ge-/verbot
Die Frage der Darstellung wird von Jean-Luc Nancy ins Zentrum (s)einer Auseinandersetzung mit der Shoah gestellt. Das jüdisch-christliche Darstellungsverbot ist für ihn Referenz für eine genealogische Untersuchung der Unrechtmäßigkeit einer Darstellung von Auschwitz. Nancys Ausleuchtung taucht dieses Verbot in ein neues Licht: Die ikonoklastische Auslegung des Darstellungsverbots übersieht nämlich, dass das Verbot nur eine bestimmte Lesart des Bildes verurteilt: das Götzenbild, welches nicht als Darstellung eines Gottes funktioniert, sondern hergestellter Gott ist und damit eine in sich abgeschlossene, vollendete Präsenz. Zulässig hingegen sind Bilder, welche ihre Wahrheit nur im Entzug ihrer Präsenz darbieten, als Absens (eine Wortschöpfung, die zwischen Nicht-Sinn und Abwesenheit changiert). Als ‚Bühne’ dieser Problematik beschreibt Nancy nach dem Christentum auch die Kunst seit der Renaissance. Die Geschichte der Repräsentation ist von einer Spaltung durchzogen: einer Absenz des Dings (Problem der Reproduktion) und einem Absens im Bild (Problem der Repräsentation). Die Repräsentation ist nicht als Reproduktion des Dings zu verstehen, sondern als Darstellung im Verhältnis zu Absenz und Absens, welche die Präsenz begründen und gleichermaßen aushöhlen. Vor diesem Hintergrund muss das Dogma der Undarstellbarkeit der Shoah zunächst zwischen verschiedenen Formen der Darstellung differenzieren und zugleich thematisieren, wie der „Erfolg der Lager“[28] in den Kern der Darstellbarkeit selbst zielt. Nancy beschreibt die Shoah als „letzte Krise der Darstellung“[29]. Dabei geht es ihm nicht um darstellerische Verfahren oder Techniken, sondern er versteht Darstellung als Synonym für „die Anordnung, […] die gewöhnlich Abendland genannt wird“[30], welche im nationalsozialistischen System der Über-Repräsentation ihre Vollendung findet. Dass Darstellungsfragen im ideologischen und praktischen Dispositiv des Nationalsozialismus’ eine ausschlaggebende Rolle spielten, kulminiert im Begriff der ‚Weltanschauung’[31]. Die nationalsozialistische Kultur erzeugt eine Vision von Welt, die bruchlos, restlos und in Gänze vor Augen gestellt werden kann. Am Ursprung dieser Anschauung steht der Arier als Übermensch, der die Natur jener sich selbst erschaffenden Menschheit ist. Der arische Körper ist mit der Idee einer restlosen Präsenz identisch, ist totale Verkörperung der nationalsozialistischen Idee und damit Kulturbegründer par excellence. Diesem Typus (als Verkörperung des rassisch kodierten Nazi-Mythos) gegenüber wird der Jude nicht einmal als Anti-Typus, vielmehr als die grundsätzliche Abwesenheit von Typus überhaupt konstruiert. Der NS-Ordnung als integralen Präsenz, die auf nichts verweist als auf ihre Anwesenheit und Unmittelbarkeit, steht der Jude als Kulturzerstörer gegenüber, der keine eigene Anschauung hat und damit die authentische Präsenz des arischen Volkskörpers fraglich werden lässt. Die Konzentrations- und Vernichtungslager dienen der Verwirklichung der authentischen Präsenz durch die Vernichtung der „Fraglichkeit der Darstellung[32].
Die Welt (= Lager)-An-Schauung, das Schauen als Institution, die das Sein formt, wird als Blickstrahl konzipiert, der nur sich selbst sieht – Nancy begreift das Lager als „Bühne“ und die „Dramaturgie“ der Lager als reine Selbst-Darstellung. Im Zentrum der Lager siedelt Nancy den Chiasmus zweier Gesichter an: Das Gesicht des lebendigen Toten (der Muselmann) und das mit einer Totenkopfmaske bedeckte Gesicht der SS. Im Willen, das zu präsentieren, was außerhalb der Präsenz liegt, den Tod nämlich, ergötzt sich die SS an der (Ent-/Ge-)Sichtung[33] der unzähligen Toten, als könne sie den Blick in den Tod richten. Der Tod als Nicht-Anzueignendes wird „geraubt“[34] – dies setzt voraus, dass der Tod nicht mehr in die Darstellung einzubrechen vermag, was Nancy unter Rückgriff auf Améry beschreibt: Das Sterben war zwar allgegenwärtig, aber der Muselmann[35] kann seinen eigenen Tod nicht mehr fassen. Seiner Darstellungsmöglichkeit, seiner Anschauung (als Ideen- oder Bildordnung) beraubt, wird der Muselmann zu einer „eingemauerten Präsenz“[36] vor dem Henker. Das Opfer hat keinerlei Darstellungsraum mehr, der Henker nur das Ziel der Vernichtung dieses Darstellungsraums:

In Auschwitz wurde der Darstellungsraum zerdrückt und auf die Präsenz eines Blickes verkürzt, der sich den Tod aneignet, indem er sich vom toten Blick des anderen imprägniert – ein Blick, der mit nichts anderem gefüllt ist als einer dichten Leere, in welcher die vollständige Weltanschauung implodiert.[37]

Die Frage einer Darstellbarkeit von und ‚nach’ Auschwitz muss mit Nancy vor dem Hintergrund der Hinrichtung (als restlose Ausrichtung wie Erschöpfung) der Darstellung stattfinden. Es ist unmöglich, das zu zeigen, was jede Möglichkeit des Bildes tötet, es sei denn, man wiederholt die Geste des Mordes. Zu denken bleibt eine in Frage gestellte Darstellung, die die Anwesenheit dessen sichtbar macht, was die Präsenz spaltet und auf ihre eigene Absenz hin öffnet. Nancys erstes ethisches Axiom besagt also, dass es notwendig ist, Darstellung als etwas zu denken, was offen und unvollständig ist, dass dieser Spalt der Repräsentation jedoch nicht als Objekt gezeigt werden darf, sondern der Darstellung selbst eingeschrieben sein muss.
IV. My Father Bleeds History
Der zweiteilige Comic MAUS (1978 – 1991) von Art Spiegelman gewann 1992 den Pulitzer Preis. In den beiden Teilen MY FATHER BLEEDS HISTORY[38] und AND HERE MY TROUBLE BEGAN erzählt Vladek Spiegelman, der 1944 mit seiner Frau Anja nach Auschwitz deportiert wurde, seinem Sohn, dem Comic-Zeichner Artie, Ende der siebziger Jahre in mehreren Gesprächen die Geschichte seines (zufälligen) Überlebens. Besonders im zweiten Band reflektiert Artie das Verhältnis zu seinem Vater, aber auch die Frage der Darstellung und sein Verhältnis zum publizistischen Erfolg des ersten Bandes.
Zwei Charakteristika des Comics erscheinen mir bemerkenswert. Zum einen ist die Simultanität zweier Zeitebenen von Bedeutung: Die Gegenwart des Erzählens als vermeintliche Autobiographie des Sohnes und die Vergangenheit des Erzählten als Zeugnis des Vaters. In MAUS wird Geschichte geschrieben, indem das Zeugnis des Vaters durch den Sohn bebildert wird. Augenscheinlichstes Merkmal dieser Bebilderung ist die Tatsache, dass alle Figuren in MAUS als Menschenkörper mit Tierköpfen dargestellt werden, wobei es sich genau genommen um Tiermasken handelt, die als Schlüssel zu der Frage begriffen werden können, wie MAUS die Frage einer Darstellbarkeit von und nach Auschwitz verhandelt. Die Kritik hat MAUS vorgeworfen, Spiegelmans Tiermetaphern (die Juden als Mäuse, die Nazis als Katzen, die Polen als Schweine) würden den Rassismus der Nazis affirmieren oder die Shoah zu einem quasi ‚natürlichen’ Ereignis machen – Katzen fräßen nun mal Mäuse. Betrachtet man die Tierköpfe in MAUS jedoch genauer, fällt auf, dass sie höchst schematisch gezeichnet sind und im eigentlichen Sinn keine Gesichter darstellen, weil man die Figuren nicht mit ihrer Hilfe auseinander halten kann. Dies findet seine Fortsetzung in der Entdeckung, dass in manchen Szenen die Tierköpfe tatsächlich aufgrund eines Verschlussmechanismus’ als Masken zu erkennen sind: Während Vladek immer wieder davon berichtet, dass er sich als Pole ausgegeben hat (und folglich mit einer Schweinemaske über seinem Mäusekopf gezeichnet wird), erscheint Arties Mausegesicht in mehreren Szenen als Maske, hinter der Haare und ein unrasierter Bart erkennbar werden. Die vermeintlichen Tiergesichter sind also Masken, die auf ein ‚Dahinter’ verweisen, dass sie allerdings niemals enthüllen. Was also wird durch die Masken (im Sinne eines ‚davor’) vorgestellt? In DER NAZI-MYTHOS[39] bezeichnen Nancy und Philippe Lacoue-Labarthe den Nazismus als Mythos des Mythos, d. h. als Mythos von der schöpferischen Kraft des Mythos’. Die mythische Kraft ist wie die der Projektion eines Bildes (z. B. der Arier), mit dem man sich identifiziert. Der Mythos ist also eine Fiktionierung, dessen Rolle es ist, Modelle oder Typen vorzuschlagen, durch deren Nachahmung das Individuum sich selbst fassen und identifizieren kann. Der Typus, indem sich der Mythos verkörpert, ist zugleich das Modell der Identität und seine gegebene, wirklich geformte Realität.[40] Die Funktion dieses mythischen Identifizierungsapparats erfüllen die (immer wieder unsichtbaren) Tiermasken in MAUS. Während Bachtin oder Caillois kultische Masken als Öffnungen des Körpers beschreiben, sind die Masken in MAUS vielmehr regulative, abgrenzende Identifizierungen, die immer wieder unsichtbar werden, d. h. ihre Existenz als Masken nicht zu erkennen geben, sich als Identität naturalisieren. Gleichzeitig macht MAUS dieses Verfahren in seiner Darstellungsweise ansichtig: Statt der Frage eines ‚wahren’, ontologischen Dahinters zu verfallen, also die Tiermasken abzuschaffen, wirft Spiegelmans Comic vielmehr die Frage nach den Kräfteverhältnissen auf ihrer Oberfläche auf. So kann in MAUS die weltanschauliche Strategie der Nazis zum Ausdruck gebracht werden, ohne dass Spiegelman sie reproduzieren würde: Die Masken erscheinen im Nancy’schen Sinne als Bilder, welche von ihrem Grund abgehoben und entbunden sind.
Dieser Spalt in der Darstellung wird auch im Erzählen des Comics thematisiert. MAUS wird als Ergebnis eines Zeugenberichts vorgestellt (Vladek), das jedoch durch Artie bebildert wird. Ein-Bildungskraft (zwischen sich einbilden und bebildern) als Voraussetzung jeder Darstellung wird bei Nancy nicht als die Fähigkeit begriffen, Abwesendes darzustellen, sondern vielmehr als die Kraft, die Form aus der Abwesenheit in die Präsenz zu ziehen, also in die Vorstellungskraft. Dabei geht es nicht darum, dem Ereignis seine Realität zu nehmen, sondern die Verhandlung dieser Realität als eine diskursive und die Vermittlung als eine Frage von Darstellung zu bestimmen – immer wieder thematisiert Artie im Comic die Suche nach einer geeigneten Darstellungsform. Das Verhältnis von Bildern und Gewalt wird nicht nur für die historische Situation, sondern auch für die konkrete Comic-Zeichnung u. a. in jener Episode thematisiert, da Vladek seinem Sohn von den Selektionen in Auschwitz berichtet.
„Gesicht nach links“ zitiert Vladek und demonstriert seinem Sohn, wie er seinen Körper vor der SS von allen Seiten präsentieren musste. Dabei dreht er sich entgegen dem Uhrzeigersinn quasi in der Zeit zurück: Im letzten Bild steht er nackt und abgemagert nicht länger vor seinem Sohn, sondern vor Dr. Mengele und einem SS-Offizier. Diese (verstörende) Parallelisierung der Position von Artie und den Nazis darf aber nicht als Gleichstellung missverstanden werden. Vielmehr handelt es sich um eine aufzeigende Assoziation, durch die Spiegelman seine einbildende Machtposition gegenüber dem Zeugnis des Vaters aufzeigt. Durch diese Strategie wird in MAUS die Geschichte des Vaters nicht als in sich abgeschlossene Realität präsentiert, sondern die Fraglichkeit der Darstellung bleibt der Darstellung eingeschrieben.
V. Was bleibt von Auschwitz?
Dem Diktum der Undarstellbarkeit der Shoah setzen W. G. Sebald und Art Spiegelman Darstellungsstrategien entgegen, in deren Kern eine Lücke wie eine offene Wunde klafft. Diese Wunde lässt sich mit Giorgio Agamben als Zeugnis bestimmen. Mit dem dritten Band seiner HOMO SACER-Reihe fragt er danach, „was von Auschwitz bleibt“ und möchte eine „ethische und politische Bedeutung der Vernichtung“[41] erarbeiten. Im Zentrum dieser neuen Ethik situiert er das Zeugnis, die Aporie von Auschwitz: Die Überlebenden legen Zeugnis für etwas ab, das nicht bezeugt werden kann. Im Kern des Zeugnisses klafft eine Lücke. Doch nur durch diese Lücke wird es konstituiert, unterscheidet sich das Zeugnis vom Wissen. Diejenigen, die bis heute auf der Unsagbarkeit / Undarstellbarkeit von Auschwitz insistieren, aus Auschwitz eine absolut von der Darstellbarkeit getrennte Realität machen, zerstören die Möglichkeit des Zeugnisses. Der Andere ist uns nach Lévinas jedoch nicht einfach (dualistisch gedacht) entzogen, er ist schon immer Ausgangspunkt der Konstruktionen unseres Selbst und der Ordnung, in der wir leben. Der Weg von der Lagererfahrung über das verschwundene Lager, die Spurensuche im Raum und am Körper münden im Zeugnis als Akt einer Autor-Funktion (Agamben) oder Ein-Bildung (Nancy), in welchem die Pflicht zur Vergangenheitstreue und die Notwendigkeit der Vorstellungskraft sich im gleichzeitigen Zeugen und Bezeugen synthetisieren. AUSTERLITZ und MAUS zeigen, dass der Umgang mit Nazismus und Shoah nicht von der Prämisse einer abgeschlossenen Vergangenheit ausgehen kann, sondern mit Blick auf die Gegenwart und ihre Verflechtung in die Geschichte gedacht werden muss. Um mit Claude Lanzmanns Film SHOAH zu formulieren: „Die Handlung beginnt in unseren Tagen …“[42].

(Hg.): Politische Archäologie, S. 31 – 46.

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Hart Nibbrig, Christiaan: Was heißt Darstellen?, Frankfurt a. M. 1994, S. 7.
  2. Während Lévinas zunächst eher eine kritische Einstellung zu Kunst und Ästhetik hat, findet der späte Lévinas den Anspruch des Anderen auch im Kunstwerk auf besondere Weise hör- und sichtbar gemacht. Vgl.: Esterbauer, Reinhold: „Schattenspendende Moderne. Zu Lévinas Auffassung von Kunst“, in: Freyer, Thomas/Schwenk, Richard (Hg.): Emmanuel Lévinas – Fragen an die Moderne, Wien 1996.
  3. Emmanuel Lévinas kam 1940 in deutsche Kriegsgefangenschaft, seine gesamte Familie wurde in Litauen Opfer der nationalsozialistischen Ausrottungspolitik.
  4. Lévinas, Emmanuel: Zwischen uns: Versuche über das Denken an den Anderen, München [u. a.] 1995, S. 26.
  5. Lévinas: Die Spur des Anderen: Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie, Freiburg (Breisgau) [u. a.] 1999,S. 214.
  6. Lévinas: Zwischen uns, S. 40.
  7. Lévinas: Spur, S. 216.
  8. Ebd., S. 222.
  9. Im Französischen entsteht hier mit der Formulierung me regarde die schöne Doppelbedeutung von der mich angeht und der mich ansieht.
  10. Sebald wehrte sich immer wieder (aus gutem Grund, wie ich zu zeigen beabsichtige) gegen die Bezeichnung Roman (vgl. z. B.: Radisch, Iris: „Der Waschbär der falschen Welt“, in: DIE ZEIT 15/2001). Daher verwende ich die Bezeichnungen Prosawerk oder Erzählung.
  11. Sebald, W. G.: Die Beschreibung des Unglücks. Zur österreichischen Literatur von Stifter bis Handke, Salzburg 1985, S. 151.
  12. Niehaus, Michael: „W. G. Sebalds sentimentalische Dichtung“, in: Niehaus, Michael/Öhlschläger, Claudia (Hg.): W. G. Sebald: Politische Archäologie und melancholische Bastelei, Berlin 2006, S. 173 – 188, hier S. 179.
  13. Die einzige Ausnahme ist der Besuch von Austerlitz in Prag, wo Vera ihm mit den Worten „Das bist du, Jacquot“ (Sebald: Austerlitz, Frankfurt a. M. 2003, S. 266) ein Kinderbild überreicht. Diese Episode ist nun aber gerade geeignet, die Unmöglichkeit des Du zu bestätigen, weil mit dieser Anrede eine Identität behauptet wird, deren Unzugänglichkeit gerade das Schicksal der Figur Austerlitz ist.
  14. Lévinas: Eigennamen. Meditationen über Sprache und Literatur, München 1988, S. 117.
  15. Lévinas: Eigennamen, S. 118.
  16. Sebald: Austerlitz, S. 14.
  17. Ebd., S. 14.
  18. Ebd., S. 14.
  19. Lévinas: Spur, S. 287.
  20. Sebald: Austerlitz, S. 361.
  21. Vgl.: Tischel, Alexandra: „Aus der Dunkelkammer der Geschichte. Zum Zusammenhang von Photographie und Erinnerung in W. G. Sebalds Austerlitz“, in: Niehaus/Öhlschläger
  22. Lévinas: Zwischen uns, S. 29.
  23. Sebald: Austerlitz, S. 414.
  24. Ebd., S. 15.
  25. Ebd., S. 421.
  26. Ebd., S. 421.
  27. Lévinas: Zwischen uns, S. 181.
  28. Nancy, Jean-Luc: „Das Darstellungsverbot“, in: ders.: Am Grund der Bilder, Zürich/Berlin 2006, S. 51 – 89, hier S. 62.
  29. Ebd., S. 63.
  30. Ebd., S. 65.
  31. Es gab sogar eine offizielle Weltanschauungsbehörde.
  32. Nancy: Darstellungsverbot, S. 73.
  33. Vgl.: Nancy: Darstellungsverbot, S. 82.
  34. Ebd., S. 79.
  35. Eine ausführliche Begriffserklärung findet sich bei Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt: Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a. M. 2005. Im Allgemeinen bezeichnet Muselmann einen KZ-Häftling, der zwar noch nicht tot ist, aber auch nicht mehr lebendig wirkt.
  36. Ebd., S. 81.
  37. Ebd., S. 83.
  38. Der Titel des ersten Teils ist sehr unglücklich mit Mein Vater kotzt Geschichte aus ins Deutsche übersetzt worden.
  39. Vgl.: Nancy/Lacoue-Labarthe, Philippe: „Der Nazi-Mythos“, in: Weber, Elisabeth/Tholen, Christoph (Hg.): Das Vergessen(e): Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997, S. 158 – 190.
  40. Die rassistische Ausprägung des Nazi-Mythos’ erklären Nancy und Lacoue-Labarthe durch ein historisches Identitätsproblem der Deutschen.
  41. Agamben: Was von Auschwitz bleibt, S. 7.
  42. Lanzmann, Claude: Shoah. Eingangssequenz. Claude Lanzmann: Shoah, DVD, 566 Minuten, Frankreich 1985.

Am Ende bleiben Touristen: Robert Thalheims AM ENDE KOMMEN TOURISTEN und Giorgio Agambens WAS VON AUSCHWITZ BLEIBT

In Robert Thalheims Film AM ENDE KOMMEN TOURISTEN aus dem Jahr 2007 absolviert der deutsche Abiturient Sven Lehnert seinen Zivildienst in der Mahn- und Gedenkstätte Auschwitz in Oświęcim, einer Kleinstadt in Polen. Der Film eröffnet mit Svens Ankunft in Oświęcim und begleitet ihn bei seinen Aufgaben in der Jugendbegegnungsstätte und bei seinen Aktivitäten außerhalb der Gedenkstätte. Während seines Aufenthalts wird er mit den unterschiedlichen Lebensrealitäten konfrontiert, die mit Auschwitz und Oświęcim zusammenhängen: mit dem Moralverständnis des deutschen Leiters der Jugendbegegnungsstätte, Klaus Herold, der die Jugendlichen in pädagogischen Gesprächsrunden anleitet; mit den Zukunftsvisionen der in Oświęcim geborenen Ania Lanuszewska, die für das Museum als tourist guide arbeitet, sich aber eine Perspektive außerhalb von Oświęcim wünscht; und mit den Schwierigkeiten ihres Bruder Krysztoff, der in einer örtlichen Heavy Metal Band der Leadsänger ist und kürzlich von den örtlichen Chemiewerken entlassen wurde. Im Mittelpunkt aber steht die Konfrontation mit Stanislaw Krzeminski, einem ehemaligen Häftling von Auschwitz, der auf dem Gelände der Mahn- und Gedenkstätte lebt und arbeitet und dessen Betreuung und Unterstützung zu den Aufgaben von Sven gehört. Um die Beziehung zwischen diesen beiden Figuren geht es mir in meiner nachfolgenden Überlegung zum Thema des Zeugnisses und speziell des Verhältnisses von Zeugnis-Hörendem und Zeugnis-Gebendem.

Koffer ohne Inhalt
Immer wieder tauchen in AM ENDE KOMMEN TOURISTEN Bilder von Koffern auf. Am Anfang sieht man, wie Sven seinen Koffer bei seiner Ankunft aus der Zugtür trägt. Bei seiner Besichtigung der Mahn- und Gedenkstätte betritt er in einer Szene einen Raum voller Koffer. Und Stanislaw Krzeminski arbeitet die meiste Zeit des Tages in seiner Werkstatt an Koffern, von denen man im Laufe des Films erfährt, dass sie den Selektierten in Auschwitz auf der Rampe abgenommen wurden. Mit großer Sorgfalt ersetzt er Scharniere, leimt gebrochene Leisten und kleidet die Koffer innen neu aus. Es gehört zu Svens Aufgaben innerhalb seines Zivildienstes, dass er die Koffer für Krzeminski zwischen seiner Werkstatt und dem Museum, in dem Gegenstände für die Ausstellung vorbereitet werden, hin und her fährt. In Nebensätzen wird deutlich, dass Krzeminski maßgeblich daran beteiligt war, die konservatorische Abteilung in Auschwitz nach dem zweiten Weltkrieg aufzubauen, und dass er die Arbeit an den Koffern als seine Lebensaufgabe betrachtet. Bei einem seiner Transporte bekommt Sven mit, dass die Wissenschaftler der konservatorischen Abteilung mit Krzeminskis Arbeit nicht zufrieden sind. Sie verbieten Sven sogar, weitere Koffer zu Krzeminski zu transportieren, weil dessen Methoden veraltet seien. Anstatt die Koffer technisch anspruchsvoll zu konservieren, um sie vor dem Verfall zu schützen und für die Ausstellung des Museums zu präparieren, versuche Krzeminski, die Beschädigungen der Koffer zu reparieren. „Er war eben nie auf der Universität“, urteilt einer der Wissenschaftler über Krzeminskis Arbeit.[1] Sven versucht, Krzeminski das Verschwinden der Koffer erst unter einem Vorwand zu erklären. Als er seine Enttäuschung bemerkt, bringt er das aber nicht übers Herz und beginnt dann, die Koffer für ihn zu stehlen. Nachdem die  Wissenschaftler den Kofferschwund entdeckt und Sven und Krzeminski zur Rede gestellt haben, spricht Krzeminski zum ersten Mal direkt zu Sven über seine Zeit in Auschwitz:

Wir hatten nur eine Stunde, um das Gepäck, die Koffer und Dinge der Häftlinge aus der Rampe wegzubringen. Ich habe versprochen. Diese Leute, die Familien, Kinder. Dass sie die Koffer zurückbekommen.[2]

Giorgio Agamben geht bei seinen Untersuchungen zum Zeugnis in WAS VON AUSCHWITZ BLEIBT von einer Lücke aus. Dem Zeugnis wohnt ein Mangel inne, der nach Agamben mit Levis Paradoxzu erklären ist. Die Überlebenden können Zeugnis ablegen, aber nicht vollständig. Agamben hat aus den Zeugnissen Überlebender unter verschiedenen Bezeichnungen für einen kurz vor dem Tode stehenden Häftling die des „Muselmanns“ ausgewählt und verwendet diese Bezeichnung mit ihrer Spezifik, um die Figur des Zeugen zu erklären. Die wirklichen Zeugen, die den Weg bis in die Gaskammer gegangen sind, die „Muselmänner“[3], können kein Zeugnis mehr ablegen. Überlebende von Auschwitz, die wie Primo Levi Zeugnis ablegen, bezeugen demnach vor allem die Unmöglichkeit, Zeugnis abzulegen. Das Zeugnis der Überlebenden wird gleichzeitig zu einer Unmöglichkeit wie auch zur einzig möglichen Repräsentation, es bezeugt seine eigene Unmöglichkeit. Ihr Zeugnis „[beruht in seiner Gültigkeit] wesentlich auf dem, was ihm fehlt; in seinem Zentrum enthält es etwas, von dem nicht Zeugnis abgelegt werden kann, ein Unbezeugbares, das die Überlebenden ihrer Autorität beraubt“[4]. Genauer gesagt: Das Zeugnis ist eine Möglichkeit, die durch die Unmöglichkeit der Toten zu sprechen ihre Notwendigkeit begründet, und gleichzeitig eine Unmöglichkeit, die durch die Möglichkeit zu sprechen gesagt wird.[5] Auf diese fundamentale duale Struktur des Zeugnisses kommt es Agamben an. Es besteht immer eine Spaltung, nicht nur im Zeugnis selbst, sondern auch in seinem Subjekt, das erst in dieser „Differenz und Ergänzung einer Unmöglichkeit und einer Möglichkeit zu sagen“[6] konstituiert wird.

Dies bedeutet es, ‚Subjekt einer Entsubjektivierung zu sein’, deswegen ist der Zeuge – das moralische Subjekt – dasjenige Subjekt, das Zeugnis ablegt von einer Entsubjektivierung.[7]

Das Zeugnis entsteht erst durch die „Einheit-Differenz“[8] von Zeuge und Muselmann und basiert deshalb wesentlich auf einer Unzuschreibbarkeit, einer Intimität sowie einer absoluten Teilung: von Mensch ­– Nicht-Mensch und von Subjektivierung – Entsubjektivierung. Es entsteht eine Lücke, in der etwas übrig bleibt, eine Art Rest zwischen der Sprache und der Nicht-Sprache: „So sind die Zeugen von Auschwitz weder die Toten noch die Überlebenden, […] sondern das, was als Rest zwischen ihnen bleibt.“[9]

Agambens Denkmodell der Einheit-Differenz lässt sich bildhaft auf die Koffer übertragen. Ihnen ist ein doppelter Mangel inhärent, da sie zum einen ihre Funktion als Koffer wegen ihrer Reparaturbedürftigkeit nicht ausüben können, und ihnen zum anderen ein Besitzer fehlt, der sie benutzen kann. Darüber hinaus lässt sich das Paradox der untrennbaren Teilung auch in Krzeminskis Umgang mit den Koffern lesen. Indem er sich immer wieder mit den Koffern auseinandersetzt und sie repariert, verweist er auch immer wieder auf den Mangel, der dieser Arbeit und den Objekten innewohnt: Er kann sein Versprechen, das er den Ankommenden auf der Rampe gab, nicht einhalten, da alle Besitzer der Koffer tot sind. Trotzdem hört er nicht auf, die Koffer mit großer Mühe zu reparieren, im Versuch, das Versprechen doch noch einzuhalten. In seiner Arbeit mit den Koffern scheint sich die Einheit-Differenz von Überlebenden und Toten zu materialisieren. Die nicht zu füllende Leere in den Koffern steht einerseits für das fehlende dazugehörige Leben, andererseits für die trügerische Hoffnung Krzeminskis auf die Wiederkehr desjenigen, dem der Koffer einst gehörte. Die Unmöglichkeit sowie die Notwendigkeit, die die Grundzüge des Zeugnisses ausmachen, lassen sich von seiner Tätigkeit, die ihm das Gefühl gibt, gebraucht zu werden, bildlich ableiten. Der Anstoß für Krzeminski, die Koffer zu reparieren, geht einher mit einem fundamentalen Scheitern. Aber eben dieses Scheitern erhebt den Koffer zum Symbol einer nicht zu schließenden Lücke. Krzeminski stellt diese Lücke immer wieder her.

Eine (Nicht-)Sprache finden
Sven hilft Krzeminski aber nicht nur beim Transport der Koffer, er fährt ihn auch zu seinen Vorträgen. Dort spricht Krzeminski zum Beispiel zu Jugendgruppen oder Auszubildenden im Ort über seine Erfahrungen in Auschwitz. Außerhalb von diesen Vorträgen spricht Krzeminskis aber nicht mit Sven über das, was er in Auschwitz erlebt hat. Ein Austausch über die Vergangenheit geschieht hier eher über Umwege, zum Beispiel, als Sven Krzeminski hilft, eine Glühbirne auszuwechseln und darüber auf Krzeminskis Alter zu sprechen kommt. Der Film zeigt aber, dass es eine Art der Kommunikation gibt, die gerade vermittelt über ein Nicht-Sprechen stattfindet.

Stanislaw Krzeminski wird gebeten bei der Eröffnung des Gedenksteines für die Inhaftierten von Auschwitz-Monowitz als Zeitzeuge zu sprechen. Der Stein wurde von einer deutschen Lehrlingsgruppe des Chemiewerks Rohn Chemie errichtet. Die Szene wird mit einem kurzen Wortwechsel von Sven und Krzeminski eingeleitet, während sie aus dem Auto steigen:

Sven: „Wir sind ein bisschen spät dran. Die anderen warten schon alle.“
Krzeminski: „Sie fangen nicht ohne mich an.“[10]

Krzeminski berichtet in seinem Vortrag von den Selektionen auf dem Appellplatz von Auschwitz-Monowitz, an dessen Stelle die Einweihung stattfindet. Andrea Schneider, ein Vorstandsmitglied des Chemiewerkes, unterbricht ihn plötzlich mitten in einem Satz und fängt an, zu applaudieren. Es folgt eine Naheinstellung auf Krzeminskis Gesicht, sein Mund steht vor Erstaunen oder Fassungslosigkeit etwas offen. Dann sieht man ein kurzes Bild von den applaudierenden Zuhörern, unter ihnen Klaus Herold und Ania, die für die anwesenden Polen übersetzt hat. Darauf eine ähnliche Naheinstellung auf Svens Gesicht, dessen Gesichtsausdruck demjenigen Krzeminskis ähnelt.[11]Würde man diese beiden Einstellungen nebeneinanderlegen, würde es so anmuten, als schauten sich Krzeminski und Sven in diesem Moment an. Beide Gesichter sind in einer Starre gefangen, einer Sprachlosigkeit, der anzumerken ist, dass vor ihr oder nach ihr die Sprache wieder einsetzt. In dieser Starre könnte man einen Ansatz von Bestürzung oder Hilflosigkeit lesen. In ihrem Blick zueinander manifestiert sich die Verbindung des Erzählenden und des Hörenden, des Zeugen und seines Zuhörers. Aber paradoxerweise findet in diesem Moment die Sprache nicht statt. Sie wird vielmehr vermisst.

„Um das Zeugnis überhaupt hervorzubringen […] bedarf es einer zuhörenden Person, die eine Art zweiter Zeugenschaft übernimmt“[12], schreibt Ulrich Baer in seiner Einleitung zu NIEMAND ZEUGT FÜR DEN ZEUGEN. So wie nach Agamben der Zeuge und der Muselmann untrennbar miteinander verbunden sind, bilden auch Zeuge und Zuhörer eine ähnliche Einheit. Nach Dori Laub muss das Zeugnis als Akt begriffen werden, als Wissen, das erst im Prozess von Zuhören und Gehörtwerden hervorgebracht wird.[13] Dabei fungiert der Zuhörer als eine leere Fläche, auf der das Ereignis zum ersten Mal eingeschrieben wird.[14] Somit ist der Zuhörer maßgeblich an dem Hervortreten des Zeugnisses beteiligt. Dadurch, dass das Ereignis in dem Moment zwischen Erzählendem und Hörendem hervorgebracht wird, wird der Erzählende zum Zeugen und der Hörende zum Zeugen des Zeugen. Diese „zweite Zeugenschaft“[15] gibt dem Zuhörer die Gelegenheit

das von anderen erlittene Leid im Verhältnis zur eigenen Geschichte zu sehen und uns somit der eigenen Rolle und Verantwortung in dieser Geschichte und in der Gegenwartbewusst zu werden.[16]

Dabei kann das Bezeugen des Zeugnisses auch eine Überforderung bedeuten:

[Deswegen] brauchen wir Texte und Darstellungsformen, die unsere übermäßige Belastung durch das Empfangen von Zeugnissen zugleich auffangen und umsetzen können.[17]

In AM ENDE KOMMEN TOURISTEN mutet Sven oft als Beobachter, Zuschauer oder eben Zuhörer an. Explizit zum Zeugen des Zeugen wird er in wenigen Szenen; zum einen als Teil der zuhörenden Gruppen bei Krzeminskis Zeitzeugengesprächen oder Vorträgen, zum anderen in der Szene, als Krzeminski ihm in Verbindung zu den Koffern von dem Sonderkommando berichtet, dessen Teil er war. Implizit tritt Sven aber die meiste Zeit als der Zeuge des Zeugen auf. Indem er Krzeminski durch seinen Alltag begleitet, wird er zum Zeugen dessen, was in den eindeutig historischen Zeugnissen fehlt: Nämlich der Auseinandersetzung der Überlebenden der Shoah mit ihrer Vergangenheit in der Gegenwart. Sven nimmt Anteil an Krzeminskis Vergangenheit in alltäglichen Situationen: In der Werkstatt erlebt und unterstützt er Krzeminski bei seiner täglichen Arbeit, mit dem Auto fährt er ihn zu seinen Terminen. Gleichzeitig geben die Koffer in der Werkstatt und die Lieder von Schubert, die Krzeminski im Auto hören möchte, Sven eine Ahnung von Krzeminskis Vergangenheit.

„[Der Zuhörer] sucht nach etwas nicht Vorhandenem: Er sucht nach dem Bericht, der erst noch zu geben ist. […] [Der eigentliche Akt] beginnt damit, dass jemand über etwas Abwesendes aussagt.“[18]

In der beschriebenen Szene ist Sven zunächst einer der Zuhörer. Krzeminski wird im Rahmen seines Vortrags zum Zeugen, der über die Erlebnisse in Auschwitz berichtet. Durch die Unterbrechung des Vortrags gerät das Verhältnis von Zuhörer und Erzähler aus dem Gleichgewicht und das Zeugnis bleibt ungehört. Die Einstellung auf die applaudierenden Gäste, gerahmt von den Nahaufnahmen auf Sven und Krzeminski, stellt die Frage auf: Wer kann den Berichten über die Shoah zuhören, wer spricht hier eigentlich zu wem? Die Gäste in der Szene der Einweihung machen dabei eher den Eindruck, als müssten sie zuhören. Sie bilden den Teil der Gesellschaft ab, der sich verpflichtet fühlt zuzuhören, aber nicht wirklich zuhören will. Für Krzeminski hat das Sprechen über Auschwitz immer mit einem Paradox zu tun: er gibt denen eine Stimme, die nicht mehr sprechen können. In dieser Szene kommt hinzu, dass er zu solchen spricht, die nicht zuhören können oder wollen. Er wird nicht nur durch die Toten seiner Autorität beraubt, den Einzigen, die wirklich Zeugnis abgeben könnten, sondern auch durch die Lebenden, die Menschen in der Gegenwart. Andrea Schneiders Eingriff in den Vortrag steht für die abgebrochene Kette des Bezeugens. Dadurch, dass sie Krzeminski das Wort abschneidet, nimmt sie sich die Macht zu entscheiden, wann das Zeugnis aufhört. Sie, die zunächst einmal keine andere Rolle außer dem Zuhören hat, weist dem Zeugnis Krzeminski seinen Platz zu.

Darüber hinaus steht die Szene für das Paradox nach Primo Levi: Wenn man die Situation im Sinne Agambens weiterdenkt, wird deutlich, dass sie vom Akt des Aussagens gleichsam unabtrennbar ist. In den Bildeinstellungen von Sven und Krzeminski wird über die Filmsprache Zeugnis abgelegt von einer Sprachlosigkeit, vom Nicht-Sein-Können der Sprache. Indem es diesen Anblick oder diese Starre gibt, wird etwas gesagt über das Fehlen des Zeugnisses, seine Abwesenheit. Die Sprachlosigkeit spricht, und zwar vom Verlust der Sprache. Und auch das ist ein Teil des Zeugnisses, tritt aus seiner dualen Struktur hervor.

In der Schnittfolge der beiden Einstellungen auf Sven und Krzeminski offenbart sich außerdem bildlich eine Lücke zwischen dem Zuhörenden und dem Erzählenden. Diese Lücke stellt sich in der Filmsprache als eine räumliche dar, in der zwischen den beiden Figuren die Sprachlosigkeit als müder und braver Applaus ertönt. Liest man diese Lücke auf der theoretischen Folie Agambens, wird deutlich, dass sie dem Zeugnisablegen zugehört, sogar ein wesentlicher Teil davon ist. Wie der sprechende Zeuge vom stummen Muselmann durch eine kategorische Grenze geschieden ist, so ist es auch der Zuhörer vom Zeugen. Dies äußert sich in der Notwendigkeit der Anwesenheit des Hörenden für das Hervortreten des Zeugnisses einerseits und der gleichzeitigen Unmöglichkeit, als Hörender das Bezeugte zu teilen. Er war schließlich nicht dabei und kann das auch nicht nachholen. Die beiden Bildeinstellungen, die ein Verhältnis zwischen Sven und Krzeminski in der Situation aufbauen, sind deswegen so aussagestark, weil hier ein Unvermögen dargestellt wird. Dieses Unvermögen birgt zwei Seiten: Einerseits zeigt es die Beschaffenheit des Zeugnisses, von der Unmöglichkeit Zeugnis abzulegen. Andererseits spricht es von der Unmöglichkeit, Zeugnis abzulegen, aufgrund des Verlusts der Hörenden. Nach Dori Laub ist der Hörende genauso am Akt des Zeugnisablegens beteiligt wie der Sagende. Svens Gesicht vervollständigt somit als Hörender gegenüber Krzeminski die potentielle Möglichkeit des Berichtabgebens und steht gleichzeitig für die Unzulänglichkeit des Hörenden, der niemals nachvollziehen kann, was der andere erlebt hat.

Was am Ende bleibt
Am Ende kommen Touristen: Zunächst steht der Titel des Films für die Szene an seinem Ende. Sven trifft am Bahnhof auf eine desorientierte Schülergruppe, die den Weg zur Jugendbegegnungsstätte sucht. Anstatt wie ursprünglich geplant den nächsten Zug nach Hause zu nehmen, entschließt sich Sven, die Gruppe auf ihrem Weg zur Jugendbegegnungsstätte zu begleiten. Im Bus dorthin hält der Lehrer Sven einen Monolog über dessen „Vorbildlichkeit“[19].

Auf der einen Seite steht also diese Vorbildlichkeit eines jungen Menschen, der seine Arbeitskraft für die Aufgaben der Mahn- und Gedenkstätte Auschwitz zur Verfügung stellt und der durch seine Aufgaben in diesem Rahmen zu einem Begleiter des Zeugen wird und letztendlich auch zu dessen Zuhörer. Auf der anderen Seite steht die Schulklasse stellvertretend für die Touristenmassen, die Tag für Tag durch das Lagertor mit der Aufschrift Arbeit macht frei strömen und Teil eines ‚Gedenkstättentourismus’ werden, innerhalb dessen das jeweilige Anliegen in der Menge nicht mehr auszumachen ist. Der Film vermittelt also das Bild von einem Tourismus, der bestimmten festgelegten Konventionen folgt, in denen die Besucher das Gelände begehen, fotografieren und hinterher in der ‚pädagogischen’ Sitzung mit Klaus Herold über eine Mind Map auch reflektieren können. Demgegenüber steht die individuelle Auseinandersetzung mit Auschwitz als einem Ort der Erinnerung, die bis in die Gegenwart reicht: Das Verhältnis von Sven und Krzeminski steht für eine solche singuläre Auseinandersetzung, in der Sven als Zuhörer und Begleiter in der Gegenwart von Krzeminski mit dessen Vergangenheit und Erinnerungen konfrontiert wird.

Der Titel kann also auch als Frage danach gelesen werden, wie wir uns individuell und gemeinschaftlich heute mit der Shoah auseinandersetzen. Gehören wir zu den ZuhörerInnen oder sind wir Teil der Touristen? Wenn Agamben in seiner Buchüberschrift fragt, was von Auschwitz bleibt, dann lautet Robert Thalheims Antwort zunächst: Am Ende bleiben die Touristen. Und doch kann man die ausschnitthafte Untersuchung des Paradox’ des Zeugnisses anhand der zwei Situationen zwischen Sven und Krzeminski als einen Möglichkeitsraum verstehen, in dem die singuläre Rolle über den Tourismus hinaus begriffen werden kann: als eine des Zuhörens und Gewahrwerdens. Die zu hörende Lücke im Zeugnis bezeichnet nicht nur die Nicht-Sprache in der Sprache, sondern auch die Vergangenheit in der Gegenwart. Die Vergangenheit von Auschwitz reicht dabei nicht nur in die Gegenwart von Auschwitz/Oświęcim, die Vergangenheit von Krzeminski nicht nur in die Gegenwart von Krzeminski und Sven hinein; sie reichen in alle Gegenwarten hinein. Die Shoah kann nicht als ein einzigartiger und einmaliger Fehler in der Vergangenheit betrachtet werden, die Ereignisse in Auschwitz müssen vielmehr auch als Zäsur in der Geschichte gesehen werden, von der aus alle weiteren Diskurse zu denken sind, sei es politisch, ethisch, oder auf der Ebene der Repräsentation.

Was zu lesen bleibt, sind Spuren, Asche, Abdrücke, sprich die Umrisse dessen, was aus der deutschen Sprache und Kultur für immer verloren ist und nun als unwiederbringliche Abwesenheit dieser Sprache und Kultur von innen ihre Form, und möglicherweise ihre Bestimmung für die Zukunft, gibt.[20]

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Thalheim, Robert: Am Ende kommen Touristen, Deutschland 2007 (im Nachfolgenden: AEkT), 00:48:54.
  2. AEkT: 01:11:57.
  3. Die Figur des Muselmanns als Paradigma für den lebenden Toten und den wahren Zeugen zu wählen, ist bei genauerer Betrachtung nicht unproblematisch, wie Agamben auch am Ende des Buchs eingesteht: Es existieren viele Zeugnisse von Überlebenden, die selber während ihrer Inhaftierung physisch und psychisch im Zustand eines Muselmanns waren. Es geht mir hier aber vor allem um die Denkfigur, die Agamben als Levis Paradox bezeichnet.
  4. Agamben, Giorgio: Was von Auschwitz bleibt. Das Archiv und der Zeuge, Frankfurt a. M. 2003, S. 30.
  5. Vgl. ebd., S. 127.
  6. Ebd., S. 131.
  7. Ebd., S. 132.
  8. Ebd., S. 131.
  9. Ebd., S. 143.
  10. AEkT: 00:56:10.
  11. AEkT: 00:59:32 – 00:59:40.
  12. Baer, Ulrich: „Einleitung“, in: ders. (Hg.): „Niemand zeugt für den Zeugen“. Erinnerungskultur und historische Verantwortung nach der Shoah, Frankfurt a. M. 2003, S. 15.
  13. Laub, Dori: „Zeugnis ablegen oder Die Schwierigkeit zuzuhören“, in: Baer (Hg.): Niemand zeugt für den Zeugen, S. 68.
  14. Ebd., S. 68.
  15. Baer: „Einleitung“, S. 15.
  16. Ebd., S. 18.
  17. Ebd., S. 26.
  18. Laub: „Zeugnis ablegen“, S. 68.
  19. AEkT: 01:17:40.
  20. Baer: „Einleitung“, S. 26.

Politik der Scham. Zu Jean Racines „Phädra“ und Heiner Müllers „Friedrich von Preussen“

Es gibt zwei Interpretationen von Racines „Phädra“, eine von Roland Barthes, eine von Jean Starobinski, die das Stück unter einander entgegengesetzten Prinzipien lesen. Ist „Phädra“ für Barthes eine Tragödie des Sprechens, deutet Starobinski sie als Drama des Sehens.

Dies ist insofern bemerkenswert, als in der ideologischen Tradition unserer audiovisuell verfassten Mediendemokratien Sehen und Sprechen verklammert sind, Körperbild und Sprache sich nicht voneinander ablösen lassen.

I

Es gibt zwei Interpretationen von Racines „Phädra“, eine von Roland Barthes, eine von Jean Starobinski, die das Stück unter einander entge gengesetzten Prinzipien lesen. Ist „Phädra“ für Barthes eine Tragödie des Sprechens, deutet Starobinski sie als Drama des Sehens. Dies ist insofern bemerkenswert, als in der ideologischen Tradition unserer audiovisuell verfassten Mediendemokratien Sehen und Sprechen verklammert sind, Körperbild und Sprache sich nicht voneinander ablösen lassen. In der „Phädra“, 1677 entstanden, also vor dem Zeitalter der bürgerlichen Aufklärung, werden beide Aspekte offensichtlich noch getrennt voneinander behandelt. Es darf deshalb auf den folgenden Seiten nicht darum gehen, die beiden Interpretationen zu synthetisieren. Dies würde die historische Bewegung wiederholen.

Vielmehr sollen beide Lesarten auf eine spezifische Weise aufeinander bezogen werden. Sodann möchte ic h mich dem ersten Teil von Heiner Müllers preußischem Greuelmärchen „Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei“ zuwenden, einem zu Unrecht fast vergessene n Stück aus dem Jahr 1979. Sehen und Sprechen, wie sie Racine in der „Phädra“ behandelt, bilden eine wichtige Folie für die Friedrich-Szenen in Müllers Collage, so meine These. Diese Folie soll in ihren ästhetischen und politischen Implikationen kurz skizziert werden.

II

Phädra liebt Hippolytos. Hippolytos liebt Aricia. Aricia kann sich zwar auch für Hippolytos erwärmen, ist aber zugleich die Gefangene von Theseus, dem König von Athen. Als solcher ist es ihr verboten, Kinder zu zeugen, ja, sie darf sich überhaupt keinem Mann nähern. Theseus wiederum ist der Vater von Hippolytos und außerdem mit Phädra verheiratet. So fatal ist die Figurenkonstellation schon zu Beginn des Dramas. Hinzu kommen Önone, die Phädra treu ergebene Amme, und Theramenes, der Erzieher des Hippolytos.
Der König ist verschollen, gilt für tot, damit setzt das Stück ein. Suspendiert ist damit zugleich die souveräne Gewalt, die das Gelten des Gesetzes aufrechterhalten könnte. So kann die Handlung langsam in Gang kommen. Hippolytos, der eigentlich seinem Keuschheitsideal gemäß zu leben versucht, offenbart Theramenes recht verwirrt seine plötzliche Liebe zu Aricia. Lieber aber will er aufbrechen, Theseus zu suchen, als sich dem „Joch“ [1]. Sie trifft auf Hippolytos, kurz nachdem dieser und Aricia sich einander eher zufällig ihre Liebe entdeckt haben. Phädra wagt zunächst nicht, sich klar auszusprechen. Unter einem großen Aufgebot an Rhetorik sucht sie sich Hippolytos verschlüsselt zu offenbaren (!):

PHÄDRA Ja, mein Fürst, ich sehne mich, verzehre mich nach Theseus. Ich liebe ihn, doch nicht, wie ihn die Unterwelt gesehen hat, … Er hatte Eure Haltung, Eure Augen, Eure Sprache, Jene edle Züchtigkeit rötete sein Gesicht.[2]

Hippolytos jedoch weist Phädra zurück, worauf diese zu rasen beginnt, ihm sein Schwert entreißt. Sie sucht sich zu erstechen, wird aber von Önone zurückgehalten und fortgebracht. Hippolytos beschließt zu fliehen. Im dritten Akt nun trifft die Nachricht ein, dass Theseus lebt und in Kürze zurückkehren wird. Damit droht aber auch das Gesetz wieder in Kraft gesetzt zu werden. Doch Önone ersinnt eine List, die Bestrafung Phädras zu verhindern. Sie erzählt dem
heimkehrenden Theseus, Hippolytos seinerseits habe sich in Phädra verliebt und sie zu bedrängen gewagt. Es ist dies die einzige Szene im Kontinuum der Handlung, die dem Zuschauer vorenthalten bleibt. Hier lässt das Drama eine Lücke. Nach dieser Lücke tritt der wutentbrannte Theseus auf, verbannt und verflucht Hippolytos, der aus Scham und Ekel die
Wahrheit zurückhält. Zwar ahnt der König bereits kurz darauf, nach einer Unterredung mit Aricia, dass sein Urteil vielleicht übereilt war, doch es ist bereits zu spät. Hippolytos wird auf der Flucht von einem grässlichen Ungeheuer zerrissen, das Theseus mit seiner Beschwörung Neptuns selbst herbeigerufen hat. Önone stürzt sich ins Meer. Phädra jedoch vergiftet sich und gesteht Theseus sterbend den wahren Sachverhalt.
Tatsächlich mag man schon dieser kurzen Inhaltsangabe entnehmen, dass mit diesem Stück, wie Barthes schreibt, „das Wesen des Sprechens selbst auf die Bühne gebracht“[3] wird. „Sagen oder nicht sagen“ lautet in der Tat die Frage, die sich alle Figuren immer wieder stellen. Und das Sagen drängt hier immer auch zum Handeln, droht immer performativer Akt zu werden, der, einmal vollführt, nicht mehr zurückgenommen werden kann. Eine furchtbare Materialität wohnt dem Sprechen bei Racine inne, die es gefährlich werden lässt.
Auf der anderen Seite steht die Poetik des Blickes, wie sie Starobinski für Racine geltend macht.[4] Denn ebenso entscheidend wie die Frage „Wer sagt wem was (und wann)?“ dürfte in der „Phädra“ die Frage sein „Wer sieht wen (und wo)?“. Dabei ist das Sehen nicht unschuldig, ist immer von einer gefährlichen Mehrdeutigkeit. Wesentlich schürt es das
Begehren. Der reine Anblick des Körperbildes lässt Racines Figuren in wahnwitziger Liebe entbrennen. Der einzige Ausweg scheint zu sein, dass man sich den Blicken der anderen entzieht, sich in der Dunkelheit verbirgt. Aber auch, um nicht als schuldig angeschaut zu werden, gilt es, sich zu verstecken. Denn ähnlich ambivalent ist in seiner Gewalt der
erkennende Blick. Mit König Theseus gibt es eine gesetzgebende Allbeobachterinstanz, die sich selbst lange verborgen hält, sogar, wie wir erfahren, auf einer Mission in die Dunkelheit des Totenreiches hinabgestiegen ist. Der Gott hingegen, von dem Phädra abstammt, ist Helios, ausgerechnet der Sonnengott. Vor seinem Blick wagt Phädra in ihrem „schändlichen“ Begehren sich nicht mehr zu zeigen und sucht die Nacht, das Dunkel, den Tod.
Sprechen und Sehen werden bei Racine zu exzessiv verwendeten Metaphern. Zahllos sind die Redewendungen in der „Phädra“, die aus ihren jeweiligen Wortfeldern hervorgehen. Eine genaue Lektüre erweist indes, dass die Bilder, die den Blick, das Sehen, die Augen betreffen, zu Beginn des Dramas am häufigsten auftauchen. Im Verlauf des Textes nimmt ihre Zahl dann stetig ab, und zum Schluss gibt es kaum noch Wendungen aus diesem Bereich. Umgekehrt nun die Textstellen, die von Wort, Sprechen und Stimme handeln. Sie finden sich zu Beginn des Stückes kaum, werden im weiteren Verlauf aber immer zahlreicher, um am Ende geradezu inflationär gebraucht zu werden. Offensichtlich durchläuft das Drama eine Gegenbewegung, die genauer zu beschreiben ist.[5]
Das Sehen ist zu Beginn maximal. Das hängt damit zusammen, dass die Blick- (und Liebes-) verhältnisse schon am Anfang feststehen, aber noch nicht ausgesprochen sind. Phädra hat Hippolytos gesehen und ihn seitdem ge liebt. Ebenso hat Hippolytos Aricia gesehen und liebt sie seitdem. Diese Blicke liegen vor dem Drama, vor seinem Text. Es sind stumme Blicke, denn sie sind unter dem überwachenden Auge des Königs getauscht worden. So tragen sie ihre Schuld schon im Moment ihres Entstehens. Die „Phädra“ setzt ein aus einer erstarrten Blickkonstellation, in der noch nichts gesprochen worden ist. Erst in dem Moment, da der König und mit ihm das Gesetz verschwinden, sogar als tot gelten, kann das Sprechen (d.h. die Handlung) seinen Lauf nehmen. Das Sehen nimmt dabei immer mehr ab, am Ende erlischt der Blick und bricht. Die letzten Worte der am Gift sterbenden Phädra lauten:

PHÄDRA … Ich sehe nur noch wie durch eine Wolke
Sowohl den Himmel als auch den Gemahl, die meine Gegenwart entehrt,
Und der Tod, der meinen Augen das Licht raubt,
Gibt dem Tag, den sie besudelten, all seine Reinheit wieder.[6]

Die Bewegung des Sehens in der „Phädra“ lässt sich also als Bewegung vom Sehen zum Erblinden beschreiben. Kompliziert wird dieser Sachverhalt dadurch, dass das Erblinden am Schluss gleichzeitig einen potentiellen Raum öffnet, in dem wieder gesehen werden kann. Der Tag erhält durch Phädras Tod die Reinheit wieder, in der neue Blicke möglich werden. Gleichzeitig öffnen ironischerweise erst die Worte Phädras dem König die Augen. Denn er, der als personifiziertes Gesetz doch Allbeobachter sein sollte, ist in all seinen Auftritten vollkommen blind, so verblendet gar, dass er fälschlicherweise seinen Sohn verstößt und seinen Tod heraufbeschwört. Vom Akt zurück zur Potenz, so wäre also der Verlauf des Sehens in der „Phädra“ genauer zu bestimmen. Die Bewegung des Sprechens hingegen scheint umgekehrt von der Potenz zum Akt zu verlaufen. Vom Schweigen zum Sagen, zum immer reineren Sagen. In diesem Sinn hat Roland Barthes die drei Geständnisse der Phädra unterschieden.[7]Das erste Geständnis vor Önone (I,3) ist, wie er schreibt, episch, aber auch narzisstisch. Phädra beichtet gleichsam vor sich selbst. Dieses Sprechen ist noch kein oder nur kaum Handeln, kein performativer Akt. Es ist allenfalls potentielles Sprechen. Auf der Handlungsebene leuchtet unmittelbar ein, dass ein Geständnis gegenüber Önone niemals von der gleichen Materialität sein kann, wie das Geständnis, das Phädra am Schluss Theseus machen wird. Gespiegelt ist dieser Sachverhalt in der Beichte des Hippolytos vor seinem Erzieher Theramenes. Auch sie ist nicht performatives, höchstens potentielles Sprechen.
Performativ würde auch dieses Geständnis erst werden, würde es gegenüber dem ausgesprochen, gegen dessen Gesetz man verstoßen hat: gegenüber Theseus.
Ihr zweites Geständnis legt Phädra vor Hippolytos selbst ab (II,5), kurz nachdem auch dieser vor Aricia seine Liebe zugegeben hat. Beider Geständnisse sind jetzt mit Sicherheit nicht mehr potentiell, doch sind sie auch noch nicht reiner Akt. Reiner Akt ist erst Phädras dritte Beichte vor Theseus (V,7). Sie ist vollkommenes Schuldbekenntnis, als solches freilich auch Anerkennung und Ausführung des Gesetzes, das mit der Abwesenheit des Königs in Frage stand. Darin liegt das eigentlich Tragische der „Phädra“, denn die Tragödie setzt, anders als das Trauerspiel, wesentlich das Gelten eines Gesetzes voraus. Roland Barthes: „Beim dritten Mal beichtet Phädra öffentlich vor dem, der durch sein bloßes Dasein die Schuld begründet hat; ihre Beichte ist buchstäblich, von allem Theaterspiel gereinigt, ihr Sprechen stimmt völlig mit der Tatsache überein, es ist Strafe: Phädra kann sterben, die Tragödie hat sich erschöpft.“[8]

In der Tat sind am Schluss des Dramas Sprechen, Eröffnen und Handeln maximal. Und in dieser Konstellation sein Wort zurückzuhalten, ist ziemlich gefährlich: Hippolytos, der Theseus die Wahrheit verschweigt, nicht zum Wort findet, wird grausam zerrissen, so dass der Augenzeuge Theramenes über ihn sagt:

THERAMENES … Sein Körper ist bald nur eine einzige Wunde[9]

Das Innerste nach außen gekehrt, der Körper gleichsam aufgeknackt – dieses Bild hat nicht nur eine sexuelle, gar pornographische Komponente, die im krassen Kontrast zu der Keuschheit steht, die Hippolytos nachgesagt wird und die er selbst unter allen Umständen zu leben versucht. Ebenso beschreibt es die totale Öffnung dessen, der sich kurz zuvor noch geweigert hatte, sein Inneres preiszugeben. Phädra erfüllt das Gesetz freiwillig, spricht, nimmt selbst das Gift, an dem sie sterben wird. Hippolytos hingegen wird mit aller Härte der exekutiven Gewalt getroffen und zum Sprechen gebracht. Dass es sich hier um einen veritablen Justizirrtum handelt, fällt da kaum ins Gewicht. Die eigentliche Schuld des Hippolytos liegt darin, vor dem Gesetz zu schweigen und es somit in Frage zu stellen.
Ich habe oben ausgeführt, wie das Sehen in der „Phädra“ zu Beginn maximal ist, Akt, der immer weiter abnimmt, am Ende minimal wird, um zum Schluss wieder reine Potenz zu sein.Das Sprechen lässt sich auffallend symmetrisch dazu beschreiben. Es ist zu Beginn Potenz, nimmt dann immer weiter zu, ist am Ende maximal, reiner Akt. Eigentlich hat man es bei der „Phädra“ mit zwei Stücken oder einem Stück in zwei Teilen zu tun. Das erste Stück behandelt vorrangig das Sehen, das zweite das Sprechen. So bekommt auch die Lücke, die das Drama lässt, Gewicht. Die Szene, die dem Zuschauer vorenthalten bleibt, ist diejenige, in der Önone dem Theseus ihre Lügengeschichte auftischt. Diese ausgesparte Szene ist wie ein Vorspiel zum eigentlichen Drama des Sprechens, danach beginnt der vierte Akt. Theseus tritt auf, und seine ersten Worte lauten:

THESEUS Ah! Was höre ich?[10]

Und ab jetzt tauchen vor allem die Bilder auf, die aus dem Wortfeld des Sprechens (und damit auch des Hörens) stammen. Was dem Drama des Sprechens vorausgeht, wird also den Blicken (und den Ohren) der Zuschauer entzogen. Umgekehrt ließe sich sagen, dass auch das, was dem Drama des Sehens vorausgeht, also vor Beginn des Stückes liegt, unseren Ohren (und unseren Augen) vorenthalten bleibt – es existiert schlicht kein Text, den Racine
geschrieben hätte.
Wenn ich die ausgesparte Szene als Vorspiel zum Drama des Sprechens bezeichne, so möchte ich den gesamten dritten Akt am liebsten ein Zwischenspiel nennen, in dem die Ankunft des Königs angekündigt und vorbereitet wird und schließlich auch erfolgt. Auffällig ist, dass die Bilder des Sprechens und des Sehens sich hier einander die Waage halten. Ein Zwischenspiel ist der dritte Akt aber auch deshalb, weil ihm die wichtigste Szene des ersten Teils vorangegangen ist: das zweite Geständnis der Phädra, das Geständnis, das sie vor Hippolytos leistet. Und um diese Szene soll es im folgenden gehen.

III

Wenn es stimmt, dass man Sehen und Sprechen in der „Phädra“ mit zwei linearen Funktionen bezeichnen kann, das Sehen abfallend, das Sprechen aufsteigend, dann ist klar, dass die beiden Linien sich irgendwo kreuzen müssen. Es muss dies die Scharnierstelle sein, an der Sehen zum Erblinden, Schweigen zum Sprechen kippt. Dieser Kreuzungspunkt selbst markiert eine Zone der Ununterscheidbarkeit: „Sprechen oder schweigen“ bzw. „Sehen oder nichtsehen“, diese Fragen dürften hier nicht eindeutig zu beantworten sein.
Das zweite Geständnis der Phädra ist, wie schon angedeutet, ein sehr eigentümliches. Phädra wagt ihre Liebe nicht direkt auszusprechen, sondern spielt Hippolytos vor, in ihm erkenne sie die von ihr so geliebten Züge des Theseus wieder. Roland Barthes schreibt dazu: „Beim zweiten Mal bindet sich Phädra magisch an Hippolytos durch ein Spiel, sie stellt ihre Liebe dar, ihr Geständnis ist dramatisch.“[11] Das ist das entscheidende Stichwort. Dieses zweite Geständnis erfindet offenbar das Dramatische, es wird Theater. Theater freilich, das einen klaren Standort hat: Das dramatische Spiel der Phädra ist nicht mehr potentielles Sprechen, wie im ersten Geständnis vor Önone. Es ist aber auch noch nicht performativer Akt, wie das dritte Geständnis, das Phädra vor Theseus ablegen wird. Es ist im Dazwischen angesiedelt,
zwischen Potenz und Akt. Aber das Dazwischen gilt auch auf der visuellen Ebene. Phädra verbirgt und zeigt gleichzeitig. Dieser Widerspruch hält die Szene in Bewegung, ja, sie ist nichts als Bewegung, lässt sich keinem Ruhepol zuordnen. Ohne Zweifel handelt es sich hier um jenen Kreuzungspunkt der Möglichkeiten, den es zu finden galt. Sehen und Nichtsehen, Sprechen und Schweigen, sie unterbrechen sich im Spiel der Phädra gegenseitig, stellen sich gegenseitig in Frage. Das bedeutet auch, dass sie sich nicht synthetisieren, wie es später im bürgerlichen Theater, im Hollywood-Film und denMassenmedien unserer „Gesellschaft des Spektakels“ (Guy Debord) der Fall sein wird.
Die Gesten Phädras und Hippolytos’ in dieser Szene sind (noch) offen. Sie bewegen sich in einem Immanenzraum, bei dem noch nicht entschieden ist, auf welche Art und Weise angeschlossen werden wird. Das macht die Szene auch zu einer Schlüsselszene für jenes gestisch-politische Theater, wie Walter Benjamin und Bertolt Brecht es Mitte der zwanziger Jahre zu erfinden beginnen und das in seiner theoretischen Weiterführung heute mit Namen wie Giorgio Agamben oder Jacques Derrida verknüpft st. Es ist ein Theater, in dem die Notwendigkeit der Entscheidung und ihre grundsätzliche Unmöglichkeit gleichzeitig hervortreten, in dem die Haltlosigkeit jeder Entscheidung oder Gründung offenbar wird. Ein Theater, in dem das Politische sich eben nicht in der Proklamation klarer politischer Entscheidungen manifestiert, sondern im Gegenteil, in Aufschub, Verzug und Unterbrechung eben jener klaren, pragmatischen Linien entsteht. Als solches schärft es, wie Hans-Thies Lehmann schreibt, „den Sinn für die Ausnahme. Nicht für die bessere politische Regel, nicht für die angeblich oder auch wirklich bessere Moralität, nicht für das beste aller möglichen
Gesetze. Sondern den Blick für das, was in aller Regel die Ausnahme bleibt, für das Liegengelassene, das Unaufgehobene, das, was nicht aufgeht und darum einen Anspruch darstellt: geschichtlich an die Erinnerung, gegenwärtig an die Abweichung.“[12]

Das zweite Geständnis der Phädra markiert den Moment vor dem Paradoxon der unmöglich-notwendigen Entscheidung. Alles ersche int offen, solange Phädra und Hippolytos einander umkreisen, Theater spielen.

HIPPOLYTOS Götter! Was höre ich? Herrin, vergesst Ihr,
Dass Theseus mein Vater ist und Euer Gemahl?
PHÄDRA Woraus schließt Ihr, mein Fürst, dass ich es vergesse?
Sollte ich etwa die Sorge um meine Ehre vollends verloren haben?
HIPPOLYTOS Verzeiht mir, Herrin. Ich gestehe errötend,
dass ich zu Unrecht eine unschuldige Rede verdächtigt habe.[13]

Dieses Spiel ist nichts weniger als ein harmloser Flirt. Es ist ein Spiel, in dem Tabu- und Gesetzesbruch denk- und greifbar werden. Nicht umsonst tauchen gehäuft Worte aus dem juridischen Umfeld auf („Ehre“, „gestehen“, „Unrecht“, „unschuldige Rede“, „verdächtigen“). Das Spiel greift den Kern des Gesetzes selbst an: Das Gesetz ist immer Ge-setztes, als solches immer auch anders möglich. Es ist der Kontingenz unterworfen, endlich und sterblich. Diese Kontingenz sucht das Gesetz selbst zu verdecken, um universellen Anspruch zu formulieren. Darum stellt es sich selbst als natürlich dar – die juristischen Sachverhalte sind hier auch gekoppelt an Naturvorgänge („Ich gestehe errötend“). Die Figuren der „Phädra“ haben diese Ideologie einerseits verinnerlicht, wie ihre körperliche Reaktion zeigt. Andererseits rächt sich
aber genau das von dieser Ideologie Ausgeschlossene. Schließlich ist es der Körper selbst, der das Gesetz in Frage stellt – sei es im unerlaubten Begehren der Protagonisten, sei es in der Sterblichkeit des Königs, der das Gesetz in seinem Anspruch auf Unsterblichkeit repräsentie ren soll.

Das Spiel macht also die Grenzen jedweden Gesetzes sichtbar. In ihm taucht dasjenige wieder auf, was das Gesetz ausschließt. Darin ist es revolutionär. Umso stärker muss die konterrevolutionäre Gewalt sein, die der zurückkehrende König durch seine pure körperliche Anwesenheit ausübt – so stark, dass die meisten Figuren das Ende des Stückes nicht überleben. Doch liegt, wie bereits angedeutet, das eigentlich tragische Moment der „Phädra“ in der Anerkennung des Gesetzes. Als Phädra wenig später das Spiel beendet und Hippolytos ihre Liebe entgegenschreit, weiß sie genau:

PHÄDRA Ich liebe. Glaube nicht, daß in dem Augenblick, in dem ich dich liebe,
Ich mich selber in meinen Augen als unschuldig billige[14]

Dieser Moment, der das Spiel entscheidet, muss unweigerlich in die Katastrophe führen. Ein anderer Schluss wäre nur um den Preis des absoluten Gesetzesbruchs zu haben. Dieser würde zugleich ein neues Gesetz installieren, das einen in einer solchen Situation nicht schuldig spräche. Ob ein anderer allerdings auch ein besserer Schluss wäre, sei dahingestellt.

IV

Ich möchte die oben angeschnittene Theorie der Geste hier nicht weiter ausführen, da dies den gesetzten Rahmen unweigerlich sprengen würde. Stattdessen werde ich einen anderen Begriff bearbeiten, der mir zentral erscheint: den der Scham. Zuvor sei aber noch ein kurzer Hinweis auf eine Figur gegeben, deren Wichtigkeit für die „Phädra“ und ihr Theater auf der Hand liegt. Ich meine die Figur des Gespenstes. Ein Wesen, das immer zugleich ist und nicht ist, körperlos und doch einen Körper besitzt, aus einer anderen Zeit stammt und doch jetzt da ist – ohne Zweifel ist auch das Gespenst ein Grenzgänger zwischen Potenz und Akt. Es liegt nahe, dass ein Theater, wie es hier vorgestellt wird, wesentlich mit dieser Figur zu tun haben muss. Und tatsächlich findet sich in der „Phädra“ eine überaus gespenstische Figur. Es ist der König selbst, Theseus. Nicht nur wird er totgesagt und sucht doch ständig die Köpfe seiner Untergebenen he im. Mehr noch: Er hat sogar das Totenreich besucht und kehrt von dort zurück. Wie soll man ihn anders nennen als einen Wiedergänger? Phädra, zu Beginn ihrer großen Szene vor Hippolytos, erklärt:

PHÄDRA Nicht zweimal sieht man die Gestade der Toten, Herr,
Und da Theseus die finsteren Ufer gesehen hat,
Hofft Ihr vergeblich, daß ein Gott ihn Euch zurückschickt;
Der habgierige Acheron läßt seine Beute nicht los.[15]

Wer wie Theseus die Gestade der Toten dennoch zweimal sieht, ist ziemlich gruselig, keine Frage. Gespenstisch ist aber nicht nur der König. Auch das Gesetz wird in dem Moment gespenstisch, da niemand mehr vorhanden ist, der es repräsentieren könnte. Ob es noch gilt oder seine Geltung eingebüßt hat, ist schwer zu sagen. Nachdem Theseus totge sagt worden ist, glaubt Önone jedenfalls zu wissen:

OENONE Doch dieses neue Unglück schreibt euch andere Gesetze vor.
Eure Lage ändert sich und zeigt ein anderes Gesicht.[16]

Phädra versucht daraufhin, sich dem Hippolytos zu nähern. Der aber sagt ihr:

HIPPOLYTOS … Vielleicht sieht Euer Gemahl das Tageslicht noch immer;
Vielleicht schenkt der Himmel unseren Tränen seine Wiederkehr.
Neptun beschirmt ihn, und diesen schützenden Gott
Wird mein Vater nicht vergeblich anrufen.[17]
Wie also handeln in dieser unheimlichen Situation? Die Antwort ist das Spiel. Wenn ich oben beschrieben habe, wie das Spiel das Gesetz in Frage stellt, so gilt umgekehrt: Das Spiel wird erst in dem Moment möglich, da die gesetzesüberwachende Instanz sich entzieht. Unter der totalen Kontrolle des Königshofes gibt es kein Spiel, nur Schuld. Auf der anderen Seite kann das Spiel nur entstehen, indem es den Kontakt hält zu der gespenstischen Möglichkeit, dass der abwesende Souverän doch wieder erscheinen könnte. Dies dürfte klarmachen, warum es kaum einen besseren Ort als das Theater gibt, um die Frage der Ungleichzeitigkeit in all ihrer politischen Brisanz zu verhandeln. Der Ort des Theaters ist da, wo nicht entscheidbar ist, ob ein Gesetz noch gilt, da, wo es gespenstisch geworden ist.

V

Ich habe oben dargelegt, wie in Phädras zweitem Geständnis die Fragen nach Sehen und Sprechen nicht eindeutig zu beantworten sind. Sehen wird von Nichtsehen unterbrochen, Nichtsehen von Sehen. Sprechen unterbricht das Schweigen, Schweigen das Sprechen. Aber auch untereinander unterbrechen sich Sehen und Sprechen. Phädras erste Worte in besagter Szene lauten:

PHÄDRA zu Oenone Da ist er – alles Blut strömt mir zum Herzen.
Kaum seh’ ich ihn, weiß ich nicht mehr, was ich ihm sagen will.[18]

Wenn es einen Affekt gibt, in dem diese Phänomene gefasst sind, dann ist es die Scham. Wer sich schämt, der senkt den Blick und sucht ihn wieder zu heben. Und Scham ist es auch, die die Rede immer wieder stocken lässt beim Versuch, die Stimme zu erheben. Mehr noch: Die Scham lässt zur Maske greifen. Nur weil Phädra sich schämt, beginnt sie ihr Theaterspiel. Theater ist eine Geburt der Scham, seine Bewegung des Verhüllens und Zeigens beruht auf ihr. Es ist das Gegenteil der Pornographie, jenem Endprodukt der Aufklärung, das schamlos alles zu zeigen vorgibt. (Wobei das Andere der Scham die Erotik ist, die der Pornographie ebenso diametral entgegensteht.) Nicht nur in der „Phädra“ ist dies überdeutlich. Eine parallele Urszene des Theaters, darauf hat Hans-Thies Lehmann hingewiesen,[19]findet sich im alten Testament. Adam und Eva haben vom Apfel der Erkenntnis gegessen. „Da wurden ihnen beiden die Augen aufgetan, und sie wurden gewahr, daß sie nackt waren“. Über ihre Nacktheit schämen sie sich. Sie schneidern sich primitive Kostüme, „flochten Feigenblätter zusammen und machten sich Schurze“ (1. Mose 3,7). Wenig später taucht der Souverän Gott auf, der vorher abwesend war (auch er ein Gespenst, das größte Gespenst vermutlich). Die beiden können ihm nicht mehr in die Augen sehen. Sie suchen sich seinem Blick zu entziehen, verstecken sich „vor dem Angesicht des Herrn unter den Bäumen im Garten“ (1. Mose 3,8). Doch vergeblich. Es kommt zu jener Gerichtsszene, die an den gestischen Slapstick Chaplins gemahnt. Gott beschuldigt Adam, Adam beschuldigt Eva, Eva die Schlange.
Es ist aufschlussreich, dass Gott schon die bloße Scham abstraft. Und in der „Phädra“ ist es die Scham, welche die Möglichkeit des absoluten Gesetzesbruchs erst in greifbare Nähe rückt. Offenbar wohnt ihr ein rebellisches Potential inne, das in ihrer Zweideutigkeit, ihrer Struktur der ständigen Unterbrechung liegt. Die Scham drückt sich, schiebt auf, zweifelt, kommt zu keinem Ergebnis. Dies alles macht sie zur Gefahr für die Macht. Gleich ob sie kapitalistisch oder despotisch, lokal gestreut oder zentralistisch organisiert ist – alle Macht drängt auf brutale Eindeutigkeit. Immer arbeitet sie auf die Auslöschung der Scham hin, auf die Vernichtung ihrer Mehrdeutigkeit, ihrer Vorsicht. Es liegt auf der Hand, dass hier die Frage der medialen Darstellung ins Spiel kommt. Die Synthese von Sehen und Sprechen, gekoppelt mit einem ständigen Bewegungsfluss beider, der keine Unterbrechung zulässt – so sieht das mediale Dispositiv aus, das die Scham unmöglich machen will. Es ist nicht schwer zu erraten, dass es sich hier um jene verschmelzende Hollywoodästhetik handelt, die im Theater des Bürgertums ihren Ausgang nimmt und heute im schamlosen Dauergeplapper der Massenmedien ihren Triumph feiert. In dieser Situation bekommt die Scham umso subversiveren Charakter. Dies ist nichts weniger als esoterisch. 1843, in einer Hochphase der bürgerlichen Ideologie, schrieb Karl Marx: „Der Prunkmantel des Liberalismus ist gefallen und der widerwärtigste Despotismus steht in seiner ganzen Nacktheit vor der Welt Augen. Das ist auch eine Offenbarung, wenngleich eine umgekehrte. Es ist eine Wahrheit, die uns zum wenigsten die Hohlheit unseres Patriotismus, die Unnatur unseres Staatswesens kennen und unser Angesicht verhüllen lehrt. Sie sehen mich lächelnd an und fragen, was ist damit gewonnen? Aus Scham macht man keine Revolution. Ich antworte: die Scham ist schon eine Revolution; sie ist wirklich der Sieg der französischen Revolution über den deutschen Patriotismus, durch den sie 1813 besiegt wurde. Scham ist eine Art Zorn, der in sich gekehrte. Und wenn eine ganze Nation sich wirklich schämte, so wäre sie der Löwe, der sich zum Sprunge in sich zurückzieht.“[20]

VI

Die Analyse der „Phädra“ erweist, warum es für ein politisches Theater fruchtbar sein muss, an jenen Ästhetiken archäologische Arbeit zu verrichten, die vor dem bürgerlichen Zeitalter liegen. Indes ist dies eine Bewegung, die auf dem Theater spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts eingesetzt hat. Walter Benjamin und Bertolt Brecht etwa haben sich bemüht, in einer ganz bestimmten Lesart des Barock ein anderes politisches Theater zu erfinden. Es sind diese Versuche, an die Heiner Müller später angeschlossen hat. Freilich sind diese Ansätze marginal geblieben, den Massenmedien gegenüber ohnehin von verschwindend geringer Kraft. Auf den Bühnen der Stadttheater aber sind sie inzwischen meist zur Unkenntlichkeit verflacht oder im Zuge eines neuen Realismus ganz verschwunden. Auf den Spielplänen taucht auch „Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei“ nicht mehr auf,[21] ein Stück, das in neun Szenen das frühe Bürgertum und die Katastrophe des aufgeklärt absolutistischen Preußenstaates behandelt. Offenbar liegt hier ein Ausgangspunkt unserer heutigen Staatsgebilde und ihrer medialen Selbstdarstellung. Im zweiten Teil des abschließenden Lessing-Tryptichons jedenfalls trifft Lessing auf einem Autofriedhof in Dakota den letzten Präsidenten der USA. Dieser ist ein Roboter ohne Gesicht, der auf dem elektrischen Stuhl stirbt, während Nathans Ringparabel und Texte aus Emilia Galotti rezitiert werden. Hier soll es nur um die ersten Szenen von Müllers Stück gehen. Sie beschäftigen sich auf grotesk-brutale Weise mit der Entwicklung des jungen Friedrich zu jenem Friedrich II., der synonym geworden ist für das frühe Preußen.
Alle Macht drängt auf die Auslöschung der Scham. So habe ich oben geschrieben und dies unter anderem mit der Zweideutigkeit der Scham begründet, die dem brutalen Pragmatismus der Macht entgegensteht. Umso schlimmer muss es für einen König sein, der als Soldatenkönig bekannt ist und derbbrutale Späße liebt, wenn sein Sohn, der den Staat einmal übernehmen soll, sich als verschämtes Bürschchen präsentiert, Theater spielt und sogar latent homosexuelles Interesse an seinem Freund Katte zeigt, also auch die Eindeutigkeit binärer Geschlechterverhältnisse in Frage stellt. Im ersten Teil der zweiten Szene, von Müller „Preußische Spiele“ überschrieben, spielen der junge Friedrich, seine Schwester Wilhelmine und eben jener Leutnant Katte miteinander. Es ist kein harmloses Spiel: Man spielt
Blindekuh. Müller:

Während Katte mit verbundenen Augen herumtappt, tauschen Friedrich und Wilhelmine die Kleidung… Manchmal wird aus der Berührung ein Streicheln, aus dem Wegdrängen eine Umarmung. Katte gerät an Friedrich, hält ihn, tastet seine (Wilhelmines) Kleider ab, die Perücke, Stirn Augen Mund.

KATTE unsicher: Wilhelmine.
Friedrich steht bewegungslos, nur seine Hände zucken. Als er nach Katte greift, ruft
WILHELMINE Falsch, falsch, falsch. Ich bin hier. Läuft von hinten an Katte heran, nimmt
ihm, indem sie sich schwer an ihn lehnt, die Binde von den Augen.[22]

Androgynie, Mehrdeutigkeit, Erotik kennzeichnen das erste dieser preußischen Spiele. Es ist nach dem bereits Gesagten nicht schwer zu erkennen, dass auch hier der Ausgang die Scham ist. Das Blindekuhspiel läuft über Augen und Stimme bzw. über das Unterbrechen des Sehens und Sprechens. Das zweite Spiel der Kinder jedoch lässt an Deutlichkeit nichts mehr zu wünschen übrig. Friedrich und Katte spielen „P hädra“, ausgerechnet jene zweite Veständnisszene, um die es hier so ausführlich ging. Und dies, so meine These, ist ein Kern des Stückes. Durch den Rückbezug auf jene Szene stellt Müller die Scham und die Utopie einer anderen Ästhetik vor, die im Kampf mit bürgerlicher Aufklärung und dem ihr verbündeten preußischen Souveränitätsdenken unterliegt.
Friedrich ist Phädra, Katte Hippolytos. Keineswegs aber endet das Stück diesmal tragisch. Im Gegenteil: Friedrich-Phädra entreißt Katte-Hippolytos zwar das Schwert, doch nicht, um sich selbst zu bedrohen. Vielmehr richtet er/sie es gegen den gesetzgebenden Vaterkönig, der ausgerechnet von Wilhelmine gespielt wird, und zwar nicht als Theseus, sondern gleich als Friedrich Wilhelm. Die Szene kulminiert im Vater- und Königsmord.

Wilhelmine kommt aus ihrer Ecke, eine rohe Friedrich-Wilhelm-Maske vor dem Gesicht, in Gang und Haltung ihres königlichen Vaters und prügelt mit einem Stock auf Friedrich und Katte ein. Friedrich und Katte binden sie mit Fetzen ihrer (Friedrichs) Kleidung an einen Stuhl. Friedrich setzt ihr Kattes Degen zwischen die entblößten Brüste.

FRIEDRICH Stirb, mon cher Papa![23]

Dass solche königs- und vatermörderischen Spiele hochgefährlich sind für die Macht, ist klar. Dementsprechend behandelt Friedrich Wilhelm seinen Sohn.

FRIEDRICH WILHELM Räsoniert Er. Ich werd Ihm das Arschficken austreiben und das
Französischparlieren. Halt er sich grade. Ich will einen Mann aus ihm machen und einen
König. Und wenn ich Ihm alle Knochen im Leib zerbrechen muss dazu.[24]

Der beste Angriffspunkt aber, um aus dem weichlichen Prinzen einen Mann und König zu machen, ist die Scham. Friedrich soll schamlos werden. Immer geht es darum, ihm entweder das Sehen oder das Sprechen zu verbieten, es zu erzwingen oder beide Vorgänge zu synthetisieren. Dass sie sich gegenseitig unterbrechen oder offene Geste bleiben, sucht Friedrich Wilhelm unter allen Umständen zu vermeiden. Diesen Sachverhalt teilt seine Erziehung mit der Mitleids- und Einfühlungsdramaturgie Lessings, die den Grund gelegt hat für die heutige Hollywood-Ästhetik. Dies beginnt in der ersten, der Gundling-Szene. Der historische Gundling war einer jener Gelehrter, die an seinen Hof zu holen und dort zu Tode zu quälen ein Lieblingssport Friedrich Wilhelms war. Gundling, so der Historiker Werner Hegemann, „wurde vom König zum Oberzeremonienmeister, zum Freiherrn, zum königlichen Kammerherrn und Hofnarren gemacht und unter unbeschreiblichen Misshandlungen der menschlichen Würde entkleidet. Der König ließ ihn in einem Fass begraben, auf das er schrieb: Hier liegt in seiner Haut, / Halb Schwein, halb Mensch, ein Wunderding.“[25]In besagter Müller-Szene wird Gundling von Friedrich Wilhelms Offizieren brutal gedemütigt. Der Monarch selbst sieht sich das Scha uspiel zusammen mit seinem Sohn an, dieser soll schließlich lernen, „was von den Gelehrten zu halten“[26] . Die Offiziere überziehen Gundling mit Zoten. Müllers Regieanweisung:

Friedrich Wilhelm hält Friedrich die Ohren zu.[27]

Gundling, noch widerspenstig und darauf aus, sich dem Kasinohumor der Offiziere anzubiedern, will seine Männerehre retten. Er packt seinen Penis aus. Die Regieanweisung:

Friedrich Wilhelm hält Friedrich die Augen zu.[28]

Weder Sehen noch Sprechen dürfen sich hier je zwischen Potenz und Akt bewegen. Stattdessen wird eines der beiden Prinzipien auf null gebracht, das andere maximiert.[29] Die andere Möglichkeit der preußischen Erziehung ist ihre Synthese. Sehen und Sprechen, beide als voller Akt, verbinden sich. Die Szene endet, indem die Offiziere auf den am Boden röchelnden Gundling pinkeln. Friedrich soll teilnehmen am Pissvergnügen, auch dies ist schließlich eine wichtige Lektion in Macht. Der aber schämt sich.

FRIEDRICH Ich kann nicht, Papa.[30]

Zur Strafe wird er degradiert, die Epauletten werden ihm abgerissen. Friedrich weint. Die Offiziere aber deuten seine Tränen um:

OFFIZIER Haha. Er pißt aus den Augen.[31]

Brutaler lässt sich die Synthese von Sehen und Sprechen (das hier als performativer Akt Handlung ist) nicht ausdrücken. In diesem Stil setzt sich die Erziehung des Prinzen fort. Im zweiten Teil der Szene „Preußische Spiele“ lässt Friedrich Wilhelm Katte, den gefährlichen Freund seines Sohnes, erschießen. Friedrich wird mit Augenbinde zum Hinrichtungsplatz geführt, Katte ohne. Friedrich, noch immer nicht vollständig gebrochen, sagt unter seiner
Binde zu Katte:

FRIEDRICH Ich sehe dich.[32]

Friedrich wird die Binde abgenommen, Katte als Delinquent bekommt die Augen verbunden.

FRIEDRICH bedeckt die Augen mit den Händen:
Ich kann dich nicht sehn.
FRIEDRICH WILHELM Zeigt ihm die Bescherung.
SOLDATEN Ich bin der Weihnachtsmann. Reißen Friedrich die Hände von den Augen,
halten ihm die Augen auf. Erschießung Kattes.

FRIEDRICH WILHELM steht auf: Das war Katte.
FRIEDRICH Sire, das war ich.[33]

Damit ist die Erziehung Friedrichs abgeschlossen. Ab jetzt ist er König Friedrich, der seine Soldaten in die Schlacht jagt. Dazu lässt er sich Racine vorlesen, eine pervertierte Erinnerung an die frühere Scham. In der vierten Szene, „Herzkönig Schwarze Witwe“ sucht eine Frau im Witwenschleier den jungen König auf, um ihn um das Leben ihres Mannes zu bitten, der erschossen werden soll. Friedrich beginnt ein infames Spiel mit dem Schleier, bemitleidet sich selbst in seiner Königsrolle.

FRIEDRICH … Weint
Dass ich es sehn muß. Hier. Mit diesen Augen.
Groß
Darf ich die Augen schließen, wenn mein Wort Gewalt wird? Wär ich blind. Ah
Nimmt den Schleier auf und verbindet sich damit die Augen.[34]

Blick und Wort müssen in der Synthese bleiben. Als König untersteht Friedrich „der Geschichte, die ihn keinen Blick lang aus den Augen läßt“[35] . Er weiß genau, dass er jenes Echo an Scham, das in ihm doch noch hörbar sein könnte, umwandeln muss in Zynismus, ins Spiel der Macht. Es ist ein Spiel, das nicht mehr im paradoxen Moment vor der Entscheidung liegt, sondern da einsetzt, wo sie schon gefallen ist. Am Ende bleibt nur mehr ein brutales Kokettieren. Als der Mann erschossen wird, kommt es zu folgender Szene:

FRIEDRICH … Madame, es ist soweit.
Blickt aus dem Fenster/ins Publikum, hält sich die Augen zu
Ich kann nicht hinsehn.
Gestatten Sie.
Verkriecht sich hinter der Sächsin, den Kopf hinter ihr vorgestreckt. Die Sächsin schlägt
den Schleier zurück, starrt mit weit aufgerissenen Augen durch das Fenster/ins Publikum.
Salve. Gleichzeitig springt Friedrich der Frau auf den Rücken.

FRIEDRICH auf der Frau:
Haben Sie gesehn. Das spritzt. [36]

VII

Ich schließe nicht, sondern breche ab. Das zweideutige Potential der Scham trägt in sich noch immer die Aussicht auf ein anderes Theater und eine andere Art der medialen Darstellung. In jedem Fall stellt es eine Gefahr dar für die Brutalität jedweder Macht. Sicher ist nach dem Ende der großen Erzählungen nicht mehr glaubhaft, dass, wie Marx hoffte, eine ganze Nation sich zum großen Löwen machte, der sich zum Sprung zurückzöge, aus Schamgründen (derer
es unzählige gibt). Doch ist es nicht einzusehen, warum man nicht hier und da noch einer kleineren Raubkatze begegnen sollte, Tiere solcher Art, deren Klaue man nach wie vor fürchten, ihrer Grazie aber man sich freuen dürfte. Ich möchte daher ein Wort von Giorgio Agamben an den Schluss stellen. Agamben schreibt:
„Primo Levi … hat uns gezeigt, dass es heute eine ›Scham, Mensch zu sein‹ gibt, eine Scham, von der in gewisser Weise jeder Mensch befleckt worden ist. Es war dies – und ist noch – die Scham über die Lager, dass geschehen ist, was nicht geschehen durfte. Und es ist eine Scham von dieser Art, wie richtig gesagt worden ist, die wir heute gegenüber einer allzu großen Vulgarität des Denkens empfinden, gegenüber bestimmten Fernsehsehsendungen, den Gesichtern ihrer Moderatoren und dem selbstgewissen Lächeln jener ›Experten‹, die ihre Kompetenz frohgemut dem politischen Spiel der Medien zur Verfügung stellen. Wer je diese stumme Scham empfunden hat, Mensch zu sein, hat in sich jede Verbindung mit der politischen Macht, in der er lebt, durchtrennt. Sie nährt sein Denken und ist der Beginn einer Revolution und eines Exodus, deren Ende er kaum erahnen kann.“[37] Ohne allzu viel Hoffnung dabei zu haben: Der Verwüstung dieser Scham in unseren bürgerlichen Gesellschaften gilt es entgegenzuarbeiten.

[[21]]Immerhin gibt es im Müller-Jahr 2004 zwei Neuinszenierungen, eine am Berliner Ensemble, die andere am Staatsschauspiel Dresden.

[[32]]Ebd. S. 15/16[[33]]

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Jean Racine, Phädra, Stuttgart 1995, Vers 60; ich zitiere hier und im folgenden die wörtliche Prosaübersetzung von Wolf Steinsieck
  2. Ebd., Vers 350/fn] . Sie trifft auf Hippolytos, kurz nachdem dieser und Aricia sich einander eher zufällig ihre Liebe entdeckt haben. Phädra wagt zunächst nicht, sich klar auszusprechen. Unter einem großen Aufgebot an Rhetorik sucht sie sich Hippolytos verschlüsselt zu offenbaren (!):PHÄDRA Ja, mein Fürst, ich sehne mich, verzehre mich nach Theseus.
    Ich liebe ihn, doch nicht, wie ihn die Unterwelt gesehen hat,

    Er hatte Eure Haltung, Eure Augen, Eure Sprache,
    Jene edle Züchtigkeit rötete sein Gesicht Ebd. V 634-642
  3.  Roland Barthes, Phädra, in: ders., Sur Racine, S. 101; Artikel übersetzt von Regina Ruhl 1987 für das Programmheft der Schaubühne Berlin in der Inszenierung von Peter Stein (Premiere 25.10.1987); Berlin 1987; S. 101-108
  4. Vgl. dazu Jean Starobinski, Racine und die Poetik des Blickes, in: ders., Das Leben der Augen, Frankfurt a.M. 1984; S. 77-92
  5. Diesen entscheidenden Ausgangspunkt meines Versuches verdanke ich Ulrike Haß.
  6. Racine, Phädra, V 1641-1644
  7. Vgl. Barthes, S. 101
  8. Vgl. Barthes, S. 101
  9. Racine, Phädra, V 1550
  10. Ebd., V 1001
  11. Barthes, S. 101
  12. Hans-Thies Lehmann, Wie politisch ist postdramatisches Theater? , in: ders., Das politische Schreiben, Berlin 2002; S. 19
  13. Racine, Phädra, V 663-668
  14. Ebd., V 673/674
  15. 15. Ebd., V 623-626
  16. 16. Ebd., V 340/341
  17. 17. Ebd., V 619-622
  18. 18. Ebd., V 581/582
  19. 19. Vgl. hierzu Hans-Thies Lehmann, Das Welttheater der Scham; S. 41 in: ders., Das politische Schreiben; S. 39-58
  20. Zit. nach Agamben, Giorgio, In diesem Exil. Italienisches Tagebuch 1992-1994; Anmerkung 78 (S. 123), vollständiges Zitat im Anhang; S. 140; in: ders., Mittel ohne Zweck. Noten zur Politik ;  Freiburg/Berlin 2001; S. 115-132
  21. Heiner Müller, Leben Gundlings Friedrich von Preußen Lessings Schlaf Traum Schrei, S. 14; in: ders., Herzstück, Berlin 1983, S. 9-40
  22. Ebd., S. 15
  23. Ebd.
  24. Werner Hegemann, Das steinerne Berlin, Berlin 1930/1963, S. 108 ff.; hier zitiert nach dem Anhang in Müllers Herzstück; S. 112-117
  25. Müller, Leben Gundlings…, S. 12
  26. Ebd. S. 11
  27. Ebd. S. 11
  28. Dies entspricht auch der Trennung von Oper und Schaubühne.
  29. Müller, Leben Gundlings…, S. 13
  30. Ebd.
  31. Ebd. S. 15
  32. Ebd., S. 21
  33. Ebd.
  34. Ebd., S. 22
  35. Giorgio Agamben, In diesem Exil; S. 123/124

Die Welt als Bild und Vorstellung: Wagners Bayreuth und Ring in Stuttgart 2000

Der Artikel befasst sich mit den Prozessen von kultureller Erinnerung, die im Raum des Theaters mittels intermedialer Bildpraxis produziert, reflektiert und modifiziert werden. Es wird gezeigt, dass Bilder gleichsam als Nomaden in den unterschiedlichsten Kontexten außerhalb und innerhalb des Mediums Theater zur Erscheinung kommen können. Da diese Bilder auch als ‚zu erinnernde Bilder’ aus dem Gedächtnis zu verstehen sind, nehmen wir exemplarisch eine Inszenierung in den Blick, die mit Bildern arbeitet, welche dem Leser potentiell erinnerbar oder vorstellbar sind: die 1998 – 2000 realisierte Stuttgarter Inszenierung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“.

Medien werden zu ‚epistemischen Gegenständen’ erst in dem Augenblick, in dem ein Medium die Bühne der Inszenierung eines anderen Mediums abgibt, welches seinerseits dabei zur ‚Form-in-einem-Medium’ wird. Die Annahme, es gäbe Einzelmedien, ist das Resultat einer Abstraktion.
Sybille Krämer[1]

0. Theater: Bilder zwischen Vollzug und Verkörperung.
In der Auseinandersetzung mit dem Theater fehlt das Bild als eigenständige Kategorie in nahezu jeder Theoriebildung. Mal gerät es als ‚sinnlich-unhinterfragbarer’ Gegenstand zum bloßen Gegenteil von Text-Sinn, mal wird es durch seine Transskription in bedeutungstragende Einzelteile von jeglicher Dimension der Verkörperung und damit vom Vollzug im Theater ausgeschlossen. Das Medium Bild ist im Zusammenhang mit dem, was man im Theater zu sehen bekommt, bislang nur in seltenen Ausnahmefällen ins Gespräch gebracht worden.[2]

Ausgehend von der These, dass das Theater ein Medium ist, das Sehen einrichtet, möchten wir uns mit folgender Frage auseinandersetzen: Wann lässt sich innerhalb der Konfiguration des Sehens, die das Theater auf der Bühne vor den Augen der Zuschauer vornimmt, von Bildern sprechen? Dabei soll der Fokus auf dem wahrnehmenden Subjekt liegen. Dieses ist in seiner physischen Präsenz in keiner Phase der noch näher zu bestimmenden Bildübertragung (Umformung) und Bildzirkulation im Theater als abkünftig zu denken. Die Vorstellung einer idealen Beobachter- oder Seins-Position wird im Rahmen unserer Theoriebildung also nicht in Betracht gezogen. Theater ereignet sich in Vollzug und Verkörperung – und damit nicht zuletzt in Vollzug und Verkörperung von Bildern. In Übertragung und Inkorporation wird der Zuschauer selbst zu einer Art Medium und damit ein Träger von Bildern.[3]

Es wird sich zeigen, dass Bilder gleichsam als Nomaden in den unterschiedlichsten Kontexten außerhalb und eben auch innerhalb des Mediums Theater zur Erscheinung kommen können. Da diese Bilder auch als ‚zu erinnernde Bilder’ aus dem Gedächtnis zu verstehen sind, nehmen wir exemplarisch eine Inszenierung in den Blick, die mit Bildern arbeitet, welche dem Leser potentiell erinnerbar oder vorstellbar sind. Dass die Wahl auf die im Jahr 2000 realisierte Stuttgarter Inszenierung von Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ gefallen ist, liegt über den ‚Bekanntheitsgrad’ des Stoffes hinaus u.a. an der Tatsache, dass in Stuttgart zugleich auch eine Perspektive auf den traditionellen Aufführungsort Bayreuth eröffnet wird. Dadurch wird ein besonderes Distanzverhältnis zum Medium Theater hergestellt, das dieses als Medium sichtbar in Erscheinung treten lässt.
Der Weg, den die verschiedenen Bilder aus dem Kontext des Nibelungenmythos gehen, soll im folgenden in fünf Schritten nachgezeichnet werden. Dabei ist es von entscheidender Bedeutung, dass das Bild als „Mittler“ folgende Diskurse verbindet:

1. Das Medium Bayreuth im Spannungsfeld nationaler Identitätskonstruktion.
2. Kollektive Bilder.
3. Die Relation zwischen Medium und Bilderzeugung.
4. Körper und Trägermedien .
5. Bilder im Theater: Die Aufführung des „Rings“ in Stuttgart 2000.

I Das Medium Bayreuth im Spannungsfeld nationaler Identitätskonstruktion

Nationale Identität gründet sich auf eine kollektive Imagination einer politischen Gemeinschaft, vorgestellt als begrenzt und souverän. Diese These bestimmt die akademische Diskussion über Nation, Nationalismus und Nationalität seit der Veröffentlichung von Benedict Andersons Studie Imagined Communities 1983. Ihr zufolge ist eine Gemeinschaft als nationale deshalb imaginiert, weil ein Bürger selbst der kleinsten Nation seine Mitbürger weder alle direkt kennen, noch treffen, noch sprechen kann. Dennoch existiert in der Vorstellung eines jeden einzelnen das Bild ihrer Gemeinschaft. Dieses Bild vermittelt sich in unterschiedlichen Konzepten und Medien; als gemeinsamer geographischer Raum (z. B. dargestellt auf Landkarten) oder als Simultaneität von Zeit (z. B. durch die Gleichzeitigkeit der Informationsvermittlung in Medien wie Tageszeitung oder Fernsehen).
Diese Prämissen erlauben zwar Schlüsse zu ziehen über Bedingungen der Rezeption sowie die Art von Bildern und Konzepten, über die sich eine Gemeinschaft als nationale definiert, sie sagen aber weder etwas darüber aus, wie sie tradiert werden, noch, wie sie im Laufe der Geschichte einer Nation entstehen, modifiziert und innerhalb einer Gemeinschaft kommuniziert werden.

Mit der Frage der Funktion und Kommunikation von Bildern und Symbolen innerhalb einer nationalen Gemeinschaft hat sich der Politikwissenschaftler Herfried Münkler befasst. Er setzte die Imagination einer Nation in Beziehung zur kulturellen Erinnerung, denn die Erfindung, Aufrechterhaltung und Begründung eines Nationalstaates bedarf einer gemeinsamen Vergangenheit und einer gemeinsamen Zukunft. Münkler verweist auf die symbolische Dimension gemeinsamer Identität als zentrales Element politischer Integration. Wichtiger Bestandteil dieser symbolischen Dimension ist der Mythos; er kommt insbesondere als Gründungsmythos eines Staates zum Tragen, indem er die Gemeinschaft der Gegenwart durch die Erinnerung an Beginn und Geschichte des Staates legitimiert. Nationalität wird somit über den Mythos zu einem wichtigen kulturellen Topos, der durch die wiederholte Aufführung von Bildern, die aus der kollektiven Erinnerung kommen und in diese eingehen, sozusagen am Leben erhalten wird. Die Signifikanz des mythischen Bildes liegt in seiner Wandelbarkeit und Reduktion. Der ursprüngliche Text – wie das Nibelungenepos – verliert mehr und mehr an Bedeutung, einzelne Figuren werden aus dem Kontext gelöst und zu selbständigen Symbolen gesteigert oder zu bestimmten Eigenschaften wie Treue oder Verrat stilisiert. Herausgelöst aus aller Stringenz fungieren die Symbole als frei ausdeutbare Bilder, die jeweils zur Legitimation politischer Entscheidungen herangezogen werden. Kaum ein Stoff wurde auf diese Weise stärker politisch instrumentalisiert und modifiziert wie die Nibelungen. So standen z. B. Siegfried und Hagen, Widersacher im Epos, zur Zeit der Reichsgründung gleichermaßen für das Deutsche Reich und seinen Kanzler. Bismarck wurde zu Hagen, wenn man ihn als treuen Berater darstellen wollte, und gleichzeitig wurde er als Siegfried symbolisiert, der das siegreiche Heer erschaffen hatte.

Bayreuth erhielt erst nach Wagners Tod seine Funktion als „Quelle deutscher Selbstbesinnung“[4], so Münkler. Unter der Direktion von Wagners Frau Cosima, Houston Stewart Chamberlain und Hans von Wolzogen war Bayreuth dazu ausersehen, den kulturellen Widerpart zu Berlin bilden, das die deutsche Mission vergessen zu haben schien. Bayreuth verstand sich von nun an als Hüter der deutschen Idee, als „geheime Waffenschmiede der Nation.“[5]

Entsprechend modifizierten die Inszenierungen jener Zeit den mythologischen Kontext, den Wagner in seinem Ring mit Siegfried als gefallenem Helden und Brünhilde als Hoffnungsträgerin für eine bessere Zukunft jenseits von Staat und Politik geschaffen hatte. Sie reproduzierten die bekannten Nibelungen-Bilder ganz im Sinne einer heroisch konstruierten deutschen Identität.
Wenn nun mit Münkler deutlich wird, auf welche Weise politische Mythen als Bilder zur Erfindung oder Konstruktion von nationaler Identität instrumentalisiert werden können, so sind damit jedoch noch nicht die spezifischen kulturellen Bedingungen geklärt, innerhalb derer es möglich ist, dass Bilder zirkulieren. Dieses Problem erfordert eine genauere Betrachtung der Funktion des kollektiven Gedächtnisses.

II Kollektive Bilder

Der Begriff ist – als mémoire collective – von dem französischen Soziologen Maurice Halbwachs in die Gedächtnisforschung eingeführt worden. Halbwachs definiert das Gedächtnis – und darin besteht seine besondere Leistung – als soziales Phänomen bzw. soziale Konstruktion der Vergangenheit, indem er den gesellschaftlichen Bezugsrahmen herausstellt, innerhalb dessen sich auch jede individuelle Erinnerung konstituiert und manifestiert:
„Wenn überdies das kollektive Gedächtnis seine Kraft und seine Beständigkeit daraus herleitet, dass es auf einer Gesamtheit von Menschen beruht, so sind es indessen die Individuen, die sich als Mitglieder der Gruppe erinnern.“[6]
Diesen Bezugsrahmen, der überdies das Gedächtnis in ein Verhältnis zur Erinnerung setzt, leitet Halbwachs aus der Dimension des Raumes ab. Denn der Raum ist es – und zwar der soziale Raum –, der den Rahmen für die gemeinsamen Bilder der Erinnerung bildet. Indem bestimmte Menschen am selben Ort versammelt sind und diesen Ort im Gedächtnis behalten, behalten sie die Erinnerung an ihre soziale Zugehörigkeit. So gibt es Halbwachs zufolge kein kollektives Gedächtnis, das sich nicht innerhalb eines bestimmten räumlichen Rahmens bewegt.
Von besonderem Interesse für die Frage nach der Zirkulation von Bildern im sozialen Raum ist nun die Tatsache, dass der kollektive Erinnerungsprozess nach Halbwachs an die Materialität des sozialen Raumes gebunden ist, die sich in der Erinnerung in die Sichtbarkeit der Bilder transformiert. Dieses Gedächtnismodell verknüpft das Verhältnis zwischen Bild, Raum und Imagination einer sozialen Gemeinschaft zu einem relationalen Gefüge:
„Eine Gruppe, die in einem bestimmten räumlichen Bereich lebt, formt ihn nach ihrem eigenen Bild um; gleichzeitig aber beugt sie sich und passt sich denjenigen materiellen Dingen an, die ihr Widerstand leisten. Sie schließt sich in den Rahmen ein, den sie aufgestellt hat. Das Bild des äußeren Milieus und der dauerhaften Beziehungen, die sie mit ihm unterhält, tritt in den Vordergrund der Vorstellung, die sie sich von sich selber macht. Das Bild der Dinge hat an deren Trägheit selbst teil. Selbst wenn sie (…) in einer neuen materiellen Umgebung nichts vorfinden, was sie an das Haus oder das Zimmer erinnert, die sie verlassen haben. (…) So erklärt es sich, dass die räumlichen Bilder eine derartige Rolle im kollektiven Gedächtnis spielen.“[7]
Erinnerung, so könnte man also schlussfolgern, wird an den Orten gemacht und geschützt, die Bilder aufführen. Das gilt insbesondere für die kollektive Erinnerung. Dieses Modell führt zurück zur alten ars memoria, eine Anleitung, die „Ortung der Bilder“ nach einem festen Muster zu trainieren, also bestimmte Erinnerungsbilder im Gedächtnis mit zugehörigen Stationen nach Maßgabe eines theatrum memorativa topologisch zu erinnern.
In diesem Sinne kann Theater nicht nur als besonders privilegierter Ort der Aufführung kollektiver Bilder zur Herstellung und dem Erhalt von Erinnerung verstanden werden, sondern darüber hinaus auch als Ort der Übertragung dieser Bilder, also als Medium. Übertragung wird hier verstanden als Prozess, in dem sich Bilder verändern und dennoch nicht verloren gehen, solange sie eine Verständigung innerhalb einer Gemeinschaft stiften: Theater also als Ort, an dem wir äußere Bilder wahrnehmen (empfangen) und innere Bilder erinnern (speichern).[8] So gesehen lässt sich Theater als einen Ort des Austausches von mentalen und physischen, von inneren und äußeren Bildern beschreiben. Denn es ist in der Lage, gleichzeitig den realen Raum des Theaters zu präsentieren und einen imaginierten Raum zu repräsentieren.
III Die Relation von Medium und Bilderzeugung

Wie lassen sich nun die im Theater kursierenden Bilder aus einer theaterwissenschaftlichen Perspektive genauer bestimmen? Um diese Frage beantworten zu können, möchten wir zunächst auf einige grundsätzliche Probleme eingehen, die eng mit den Fragen nach der Möglichkeiten der Bilderzeugung im Medium Theater in Verbindung stehen. Erforderlich ist dies, weil zum Beispiel aus der Perspektive der Kunstgeschichte Bilder per se nur Kunstgegenstände, nie aber inszenierte visuelle Eindrücke sind, die ein Beobachter in einem bestimmten stabilen Rahmen, wie dem Theater, wahrnimmt. Für den Kunstgeschichtler im traditionellen Sinne, so muss an dieser Stelle festgehalten werden, erzeugt das Theater keine Bilder, da Bilder für ihn einer Gegenständlichkeit bedürfen, deren Wert er – sei es ein ästhetischer, sei es ein quantitativer – bemessen kann. Deshalb beziehen wir uns auf theoretische Ansätze, die in Deutschland im Kontext der Bildwissenschaft entstanden sind und neue Möglichkeiten zu einer interdisziplinären Forschung zum Begriff des Bildes eröffnen. Hier ist nicht abwertend von einer ‚Bilderflut’, sondern von einer Kultur der Bilder die Rede.
Den ersten Ansatz für unsere Überlegungen liefert der Philosoph Gottfried Boehm in seinem Aufsatz „Vom Medium zum Bild“.[9] Wie der Titel schon sagt, setzt Boehm sich hier grundsätzlich mit dem allgemeinen Verhältnis zwischen Medium und Bild auseinander. Dabei sind zwei Aspekte besonders aufschlussreich: zum einen die Art und Weise, wie Bilder in Medien entstehen und generiert werden können; zum anderen die Definition von Medien als Träger von Bildern, mittels derer es möglich ist, das Theater als ein bilderzeugendes Medium zu bestimmen.
Zunächst geht Boehm von allgemeinen Medien wie Sand, Licht oder Ton (auch als Geräusch denkbar) aus, die auch als ein „Medium erster Stufe“ bezeichnet werden können.[10] Diese allgemeinen Medien stellen die Grundvoraussetzung für die Entstehung von Bildern dar. Charakterisiert sind sie, so Boehm, „[…] als ein Verteilungszustand mit einem hohen Grad an Auflösung […]“[11]. Allein, eine bestimmte Grenze verhindert, dass sich diese Medien umstandslos miteinander vermischen. Entscheidend dabei ist, dass sie Materialien mit einer ihnen allen gemeinsamen Eigenschaft sind: Sie sind geeignet, zu Trägern von Gestaltung oder zu Trägern von Bildern zu werden, doch sie selbst sind nie Bilder. Einfacher gesagt: Medien sind keine Bilder, sie erzeugen sie.[12]
Von diesem Aspekt ausgehend, richtet Boehm den Fokus seiner Argumentation auf das von ihm so bezeichnete „besondere Darstellungsinteresse“ im Bereich der Kunst, welches auch als „künstlerisches Interesse“ bezeichnet werden kann.[13] Dieses definiert ein Medium erster Stufe rückwirkend, um eine „ikonische Imagination“ hervorzubringen. Notwendige Voraussetzung dafür ist die Arbeit des menschlichen Blicks.[14] Diese Arbeit besteht in der Kunst der „Grenzziehung“, welche unter bestimmten Umständen auch als „Rahmung“ bezeichnet werden kann. Das Ergebnis der Grenzziehung oder Rahmung beschreibt Boehm als Freiraum der Darstellung, welcher von ihm als ausgegrenztes Geschehen gegenüber den ungeordneten oder unspezifischen Erscheinungen definiert wird. Zugleich ist dieses Geschehen ein Medium zweiter Stufe, welches in der Arbeit des Blicks einen Teil kulturellen Handelns ausmacht. (Ein ausgegrenztes Geschehen kann z. B. die leere Fläche einer Leinwand sein.) Dieser Aspekt erweist sich für ein zu bestimmendes Medium ‚Theater der Bilder‘ als bedeutsam. Denn obgleich Boehm sich im folgenden ausschließlich mit Bildern in Flächenmedien auseinandersetzt, lässt sich der Aspekt der Grenzziehung oder Rahmung als Arbeit des menschlichen Blicks problemlos auf das Phänomen Theater übertragen, welches dann als ein kulturell geschaffenes Medium zweiter Stufe betrachtet werden kann.
Diese Überlegung fordert jedoch zu der berechtigten Frage heraus, was im Medium Theater eigentlich ausgegrenzt wird. Eine erste Antwort könnte lauten, dass aufgrund der Repräsentationstechniken, die z. B. das abendländische Theater seit seinen Anfängen besitzt, Raum und Zeit als dargestellter Raum und dargestellte Zeit auf die Rahmenbedingungen des Mediums Theater verweisen. Eine zweite Antwort könnte lauten, dass die Darstellungstechniken im Theater bestimmte visuelle Eindrücke innerhalb der gerahmten Raum-Zeit ausgrenzen können. Sofern innerhalb dieser Rahmung u. a. von erzeugten Bildern gesprochen werden kann (hierbei wäre es allerdings besser, von der Familie der Bilder im Sinne Mitchells zu sprechen)[15], gilt es nun zu bestimmen, welche Eigenschaft diese Bilder besitzen. Sie lassen sich allerdings nur beschreiben, wenn man zugleich auf die Medien erster Stufe zurückgeht, anhand derer im Theater als Medium zweiter Stufe Bilder erzeugt werden.
Zuvor jedoch sollten die bisherigen Überlegungen als vorläufige Definition festgehalten werden. Sofern man Boehms Ansatz folgt, kann sie folgendermaßen lauten:

Theater ist ein Medium zweiter Stufe, welches durch die Ausgrenzung von Geschehen (Raum, Zeit, visuelle Aspekte, Sprache etc.) im Rückgriff auf bestimmte Materialien oder Medien erster Stufe (Licht, Farbe, Körper, etc.) Bilder erzeugt.

IV Körper und Trägermedien

Boehms kritische Untersuchung des Verhältnisses von Medium und Bild setzt sich, wie im vorangegangenen Abschnitt gezeigt wurde, explizit mit der Bilderzeugung auseinander. Vor allem seine Thesen zum ausgegrenzten Geschehen und zum Rahmen bieten dabei eine praktikable Möglichkeit, das Theater als ein bilderzeugendes Medium zu definieren. Allerdings reicht die von ihm entwickelte Perspektive nicht aus, um die Eigenschaften der Bilder im Theater zu erfassen und zu beschreiben. Ein wesentlicher Grund hierfür ist darin zu sehen, dass er sich ausschließlich auf Bilder in unbewegten Flächenmedien bezieht. Insofern muss die weitere Untersuchung von einem Standpunkt aus erfolgen, der sich nicht ausschließlich mit den medialen Vorraussetzung der Bilderzeugung auseinandersetzt, statt dessen aber die Entstehung von Bildern an den Betrachter, den Erzeuger und an den sozialen Raum anbindet.[16]
Einen solchen Ansatz liefert der Kunstwissenschaftler Hans Belting in seiner Schrift „Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft“.[17] Im ersten Schritt geht es ihm darum, den Bildbegriff über die gängigen Definitionsmonopole verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen hinaus zu erfassen. Dazu wählt er einen anthropologischen Ansatz, den er vornehmlich unter zwei Gesichtspunkten behandelt:
1. Die Anthropologie bietet nach Belting die Möglichkeit, einen interdisziplinären Zugang zum Begriff des Bildes zu entwickeln.[18]
2. Der menschliche Körper als „Ort der Bilder“ mit seinen Fähigkeiten zur materiellen Bilderzeugung (physikalische Bilder), wie auch zur geistigen Bilderzeugung (geistige oder mentale Bilder) wird als „missing link“ in die Relation Medium und Bild eingefügt. Er stellt somit das Bindeglied zwischen inneren und äußeren Bildern dar.
Den zweiten Punkt erläutert Belting folgendermaßen:

„Menschen isolieren innerhalb ihrer visuellen Aktivität […] jene symbolische Einheit, die wir Bild nennen. Der Doppelsinn innerer und äußerer Bilder ist vom Bildbegriff nicht zu trennen und verrät gerade dadurch dessen anthropologische Fundierung. Ein „Bild“ ist mehr als ein Produkt der Wahrnehmung. Es entsteht als Resultat einer persönlichen und kollektiven Symbolisierung.“[19]

Diese Ausgangsüberlegung ist für die hier zu verhandelnde Problematik von besonderem Interesse, da Belting nicht nur von der visuellen Aktivität des Menschen als Grundlage für die Entstehung von Bildern ausgeht, sondern zusätzlich den sozialen Raum oder den kulturell geschaffenen Raum als unabdingbare Voraussetzung hinzufügt. Das Theater, so die weiterführende Überlegung, kann explizit als ein solcher kulturell geschaffener Raum beschrieben werden. Denn einerseits kann Theater als Medium Geschehen ausgrenzen und dadurch Bilder erzeugen. Andererseits ist es als kulturelles System in der Lage, als Schaltstelle zwischen inneren und äußeren Bildern, zwischen individuellen und kollektiven Bildern zu vermitteln und diese im sozialen Raum zirkulieren zu lassen.[20]
Im folgenden soll zunächst beschrieben werden, auf welche Art und Weise Bilder in dem von Belting als sozialen Raum beschrieben Rahmen entstehen, wahrgenommen und verarbeitet werden. Im Zentrum dieses bildtheoretischen Ansatzes steht das Dreieck Medium-Bild-Körper. Wesentlich an dieser Relation ist, dass jeder einzelne Teil untrennbar mit den jeweilig anderen Teilen verbunden ist und von ihnen in seinen Eigenschaften mitbestimmt wird. So bedarf das Bild z.B. eines Körpers, der in diesem Prozess zugleich die Funktion eines Mediums einnimmt. Umgekehrt braucht das Bild immer ein Trägermedium, in dem es sich verkörpern kann. Diese Interrelation gilt für innere, wie auch für äußere Bilder. Um diese Transformationsprozesse für unsere Überlegungen nutzbar zu machen, sollen die drei Aspekte Medium-Bild-Körper im einzelnen kurz beschrieben und in ein Verhältnis zum Theater gesetzt werden.

Medium: 
Bilder entstehen nach Belting immer unter technischen Bedingungen. Dies liegt darin begründet, dass Bilder selbst keinen Körper besitzen und insofern immer ein Trägermedium benötigen, in dem sie sich verkörpern können. Im Bereich der physikalischen, also ‚äußeren’ Bilder bieten Medien eine Oberfläche an und bestimmen dadurch zugleich die medialen Eigenschaften oder die Sprachform des Bildes mit. Zusätzlich helfen uns Medien, Bilder so wahrzunehmen, „[…] daß wir sie weder mit echten Körpern, noch mit bloßen Dingen verwechseln“[21]. Damit wir Bilder als solche jedoch überhaupt wahrnehmen können, müssen sie durch den menschlichen Körper vom Trägermedium abgelöst werden. Diese Form der Wahrnehmung ist die bereits beschriebene symbolische Handlung im sozialen Raum. Erst dadurch, so Belting, existiert ein Bild endgültig und kann innerhalb einer Gruppe von Menschen zirkulieren. Als bilderzeugendes Medium kann das Theater als paradigmatisch für den Vorgang der Wahrnehmung und Zirkulation von Bildern gesehen werden. Zum einen grenzt es ein besonderes Geschehen als bildhaftes in Anwesenheit von Betrachtern, also den Zuschauern aus, zum anderen ist es ein technisches Hilfsmittel, um das Dargestellte als inszenierten Vorgang von „bloßen Dingen“ (Vorgängen) unterscheiden zu können. Denn Medien sind nicht nur Träger von Bildern, sondern inszenieren diese zugleich.

Bild: 
Belting unterscheidet in seiner Beschreibung von Bildern zunächst zwischen inneren (mentalen) und äußeren (physikalischen) Bildern. Dabei sind äußere Bilder nicht von Medien und innere Bilder nicht vom menschlichen Körper zu trennen. In Bezug zur Relation von äußerem Bild und Medium spricht er von einer untrennbaren Einheit, die sich wie zwei Seiten einer Münze verhalten, was im vorhergehenden Abschnitt auch als mediale Bedingung des Bildes beschrieben wurde. Wesentlich ist jedoch, dass die äußeren Bilder durch die Wahrnehmung von einem Medium abgelöst und dadurch zu inneren Bildern werden. Belting schreibt zum Akt der Wahrnehmung: „Das ‚Hier und Jetzt’ des Bildes lesen wir an dem Medium ab, in dem es uns vor Augen tritt“.[22] Dadurch werden sie letztlich erst im menschlichen Körper existent und relevant. Einerseits ist der Körper damit zunächst ein „Ort der Bilder“, die wie Nomaden im sozialen Raum zirkulieren, um sich immer wieder neu zu verkörpern. Andererseits arbeitet der Körper konkret an und mit Bildern, die ihn besetzen, was Belting folgendermaßen beschreibt: „Die Bilder der Erinnerung und der Phantasie entstehen im eignen Körper wie in einem lebenden Trägermedium. Diese Erfahrung hat bekanntlich die Unterscheidung zwischen Gedächtnis, als einem körpereignen Bildarchiv, und Erinnerung, als körpereigner Bilderzeugung nahegelegt“.[23] Obgleich aber Bilder letztlich immer im Betrachter selbst erzeugt werden, sei es in der Wahrnehmung oder der eigenen Bilderzeugung, so gibt es dennoch soziale mentale Bilder, die allen Mitgliedern einer Gruppe bekannt sind. Diese Tatsache ist für die Frage nach dem Bild im Theater von besonderer Bedeutung. Denn nur so kann auf der Basis von Inszenierung im Theater zugleich auch von einer Sprache der Bilder die Rede sein. Die Bilder werden dann von den Zuschauern nämlich nicht als unhinterfragbare sinnliche Phänomene erfasst, wie u.a. Simhandl[24] meint, sondern im Gegenteil als wesentlicher Bestandteil einer Inszenierung bewusst wahrgenommen. In einem „Theater der Bilder“ wird zwangsläufig immer auf das Bildarchiv der Zuschauer bzw. einer sozialen Gruppe zurückgegriffen. Dabei ist zentral, dass die transitorische Wahrnehmung im Theater zugleich als Dispositiv für den von Belting beschrieben Vorgang des Wahrnehmens äußerer Bilder angesehen werden kann.

Körper: 
Die Bildwahrnehmung beschreibt Belting als symbolische Handlung in einem kulturell bestimmten Rahmen. Dabei kommt dem menschlichen Körper eine besondere Rolle zu. Als lebendiges Trägermedium und „Ort der Bilder“ ist er es, der im Akt der Animation das „opake Medium“ transparent für das Bild macht, das es trägt. Erst so wird das Bild lebendig für den Betrachter. Der Körper und seine Fähigkeit Bilder wahrzunehmen, kann als Schlüsselstelle für die Frage nach dem Bild im Theater angesehen werden. Denn einerseits kann er im Rahmen des Theaters selbst als Medium und Bild gesehen werden. Andererseits ist der Körper des Zuschauers durch den Akt der Animation in der Lage, das Geschehen als eine besondere Form des Bildes zu erkennen.

Ziehen wir eine Zwischenbilanz:
Das Theater kann auf der Basis von Hans Beltings dreistelliger Relation Bild-Körper-Medium als ein besonderer sozialer Raum beschrieben werden. In diesem besonderen sozialen Raum können im Rahmen eines ausgegrenzten Geschehens oder Ereignisses Bilder erzeugt werden. Zugleich ist das Theater ein Ort der Überlagerung und Überschneidung von äußeren (wahrgenommenen) und inneren (er-innerten) Bildern.[25] Nicht zuletzt deshalb kann das Theater als ein Medium verstanden werden, das aktiv in den Prozess der Übertragung von Bildern innerhalb einer Kultur eingreifen kann, indem es bestimmte Bilder entweder stabilisiert oder auch destabilisiert. Anders gesagt: Das Theater greift über seine Rahmenbedingungen hinaus immer wieder in das Geflecht von kollektivem Gedächtnis durch seine Bildproduktion und Bildmodifikation ein. Bei einer Inszenierung gilt es so gesehen auch immer darauf zu achten, inwieweit zugleich auch auf innere Bilder angespielt wird, die das Publikum, aus anderen Zusammenhängen herausgelöst, in eine Aufführung ‚mitbringt’. Im Hinblick auf die Intermedialität des Theaters ist es dabei von zentraler Bedeutung, dass Bilder aus der hier entworfenen Perspektive immer zwischen Medien vermitteln und vermittelnd sind. Wie diese Aussagen in ihrer Herleitung auch als Phänomene der Praxis des Theaters angesehen werden können, soll der Gegenstand des letzten Abschnittes sein.

V Bilder im Theater: Der Stuttgarter „Ring“ 2000

Innerhalb seiner Inszenierungstradition stand ein Prinzip so gut wie nie in Frage: Der Ring des Nibelungen wurde in der Gesamtheit der vier Teile stets als möglichst einheitliches und geschlossenes Werk aufgefasst und realisiert. Im Stuttgarter Ring dagegen ging man zum ersten Mal konsequent den entgegengesetzten Weg. In einer übergreifenden Konzeption wurde der ganze Ring von vier verschiedenen Regisseuren und Bühnenbildnern erarbeitet: Das Rheingold von Joachim Schlömer und Jens Kilian, Die Walküre von Christoph Nel und Karl Kneidl, Siegfried von Jossi Wieler und Anna Viebrock und Die Götterdämmerung von Peter Konwitschny und Bert Neumann. Dies bedeutete zugleich einen Bruch mit dem von Wagner in „Das Kunstwerk der Zukunft“ formulierten Vision eines ganzheitlichen Kunstwerkes, welches seine Vollendung im Gesamtkunstwerk des Musikdramas finden sollte. Für diesen Perspektivenwechsel zeichnete Klaus Zehelein, Dramaturg und Intendant der Stuttgarter Oper in Personalunion verantwortlich. Auf sein Betreiben wurde im Hinblick auf die nahende Jahrtausendwende das alte Bayreuther Konzept dekonstruiert und zugleich zu einer neuen Erscheinung gebracht. Dass die Entscheidung für dieses Projekt nicht nur von rein ästhetischen Fragen bestimmt war, zeigte sich allein schon daran, dass Zehelein bereits Ende 1997 eine Pressekonferenz einberief, auf der er die Theaterwelt über das Projekt in Kenntnis setzte. Bereits hier machte er deutlich, dass seine dramaturgische Konzeption eine grundsätzliche Neubefragung der Inszenierungstradition und damit die Befragung eines Teiles der Erinnerungskultur im Wiedervereinigten Deutschland beinhalten sollte: „Entscheidend ist also, daß der Blick – etwa in den großen Szenenabschnitten, die in jedem einzelnen Stück des Rings die Vorgeschichte der gerade aktuellen Konflikte rekapitulieren – auf die Totale fällt, und nicht mehr aus der Totalen; d.h. daß keine Perspektive jenseits der aktuellen Szene, kein Standpunkt außerhalb des konkreten Raumes mehr eingenommen werden kann. Hieran schließt sich die Vermutung, daß es in diesen Szenen […] um den problematischen Prozeß des Erinnerns selbst viel eher geht als um die Faktizität des Erinnerten. D.h. der einzelne Regisseur weiß sehr wohl um das Ganze, aber läßt durch dieses Ganze, inwieweit es sich in Kategorien wie Kontinuität und Totalität beschreiben läßt, nicht mehr seine Arbeit determinieren.“[26]
Die folgenden drei Abschnitte werden gleichsam als Schlaglichter zu zeigen versuchen, insoweit dieses Konzept als eine geglückte Umsetzung theoretischer Vorüberlegung in die Praxis anzusehen ist.

Das Rheingold
Ganz zu Anfang gibt der sich langsam hebende eiserne Vorhang den Blick auf eine hell erleuchtete Szenerie frei, deren Bild das zukünftige Geschehen, auf das der Zuschauer wartet, nur scheinbar offen legt. Auf der im Stil des Neoklassizismus gehaltenen Bühne, die von einem großen Thermenfenster, einer darunter liegendenden Galerie an der Bühnenhinterwand und einer im Zentrum der Spielfläche liegenden Brunnenschale (Durchmesser etwa drei Meter) dominiert wird, befindet sich das gesamte Figurenpersonal des Stücks. In Kostümen, die an die Mode der dreißiger Jahre erinnern, blickt diese geschlossene Gesellschaft stumm und  unbeweglich ins Publikum.

Dieser Blick kann seinerseits vom Zuschauerraum aus jedoch nur mit der einfachen Frage erwidert werden: „Wer ist hier Wer?“ Da schließlich niemand handelt oder singt, noch Kostüme oder Requisiten Aufschluss darüber geben, wen man sieht, gerät dieses „who is who?“ im Blick des Zuschauers zu einer Frage, die weniger nach psychologisch motivierten Identitäten einzelner Charaktere als vielmehr nach gesellschaftlicher Zughörigkeit fragt. Durch diesen Eindruck gleich zu Beginn wird das Publikum selbst zum Gegenstand der ‚Anschauung’ und damit als Körperbild zu einem Teil der Inszenierung. Während sich jedoch im Laufe des Geschehens relativ schnell das Verhältnis von Figurenrolle und deren Verkörperung durch einen bestimmten Akteur auf der Bühne klärt, bleibt eine andere Frage zunächst unbeantwortet: Wo spielt das, was es auf der Bühne zu sehen gibt? Denn obgleich das Bühnenbild offenkundig die Halle eines Kurbades darstellt, so lässt diese Beobachtung noch keinen nachvollziehbaren Rückschluss darauf zu, was dieser Ort mit der Handlung oder den Figuren des Rheingoldes zu tun haben könnte – es sei denn man begnügt sich mit der Assoziation ‚Wasser’. Schlüssig wird das auf der Bühne Sichtbare erst, wenn die Götter den Riesen den vom Nibelungen Alberich geraubten Schatz als Lohn für den Bau Walhalls aushändigen. In dieser Szene spielt der Brunnen eine wesentliche Rolle. Wurde er bereits zuvor als Ort des Schatzes gezeigt (eine optische Anspielung auf Fritz Langs Filmversion des Nibelungenmythos von 1924), so wird er nun gleichsam zum Zentrum des Geschehens. Denn nun wird der Schatz, personifiziert durch die Göttin Freia, auf den Brunnenrand gestellt und in die Richtung der auf der gegenüberliegenden Seite stehenden Riesen gedreht. Zeitgleich fällt die Innenseite des Brunnens ins Auge, die offensichtlich einer Roulettescheibe nachempfunden ist. In diesem Augenblick führt die Überlagerung der Bilder den Zuschauer an einen gesellschaftlichen und sozialen Ort, der schon seit Dostojewskis Roman Der Spieler seinen Platzt in der Weltliteratur hat: Gemeint ist das Casino des (nicht nur für jeden Stuttgarter) hinlänglich bekannten Kurortes von Baden-Baden.
Aus den vorangegangenen Beobachtungen lässt sich folgendes schließen: Auf der Handlungsebene wird durch die Drehbewegung des Brunnens als Roulettescheibe die kreisförmig oder zyklisch organisierte Erzählung des Nibelungenmythos versinnbildlicht und in Gang gesetzt. Von nun an wird sich alles um den mit dem doppelten Fluch belegten Ring des Nibelungen Alberich drehen: Von nun an treiben der Verzicht auf Liebe und das Begehren nach Macht und Geld, welches zu Zerstörung und Untergang führt, das Rad der Geschehnisse an.

Dieser Aspekt führt auf der Bildebene direkt auf die Zuschauer im Stuttgarter Theater zurück. Durch die Kopplung des Brunnens mit dem Schatz einerseits und der sich drehenden Roulettescheibe andererseits wird nicht nur auf die gesellschaftliche Schicht angespielt, die man im allgemeinen mit Baden-Baden assoziiert. Zugleich richtet sich der Fokus zwangsläufig auch auf den grünen Hügel in Bayreuth, auf dem alljährlich die aus der Regenbogenpresse bekannten Figuren die Treppe zur Aufführung eines gesellschaftlichen Ereignisses emporschreiten.

Siegfried
Ganz anders als im „Rheingold“, wo der Zuschauer eine relativ stabile Ordnung des Sichtbaren zu Gesicht bekommt, lässt sich „Siegfried“ vor allem durch den virtuosen Umgang Anna Viebrocks mit verschiedenen Räumen und Medien und deren visuellen Überlagerungen im Laufe des Geschehens charakterisieren. Am markantesten zeigt sich dies von jenem Augenblick an, als Siegfried auf den als Wanderer getarnten Wotan trifft. Dabei ist es nicht unwesentlich, dass sich die Begegnung in der Kulisse abspielt, die zuvor das Bild für das Gespräch zwischen Wotan und Erda abgab. Darauf deuten die zehn kleinen verwaisten Kinderkrippen hin, in denen Erda vor langer Zeit die mit Wotan gezeugten Walküren großgezogen haben muss. Es ist fast selbstredend, dass eine von ihnen zerbrochen ist und damit als Verweis auf die von Wotan mit dauerhaftem Schlaf bestrafte Brünhilde dient.
Während sich nun Siegfried mit Wotan auseinandersetzt, erscheint im fast abgedunkelten Bühnenraum an der Bühnenhinterwand ein hell leuchtendes weißes Quadrat. Diesem nähert sich Siegfried alsbald – offenkundig findet sich hier der entscheidende Hinweis auf den Brünhilde umschließenden Feuerring.

Als Wotan sich ihm jedoch in den Weg stellen will, zerschlägt Siegfried dessen Stab, bekanntermaßen das Symbol für die alte Ordnung der Götter. Nachdem sich der Vorhang gesenkt hat, erscheint während des fünfminütigen musikalischen Zwischenspiels, das Siegfrieds Weg zu Brünhilde thematisiert, erneut ein weißes Quadrat vor den Augen des Publikums – diesmal in Aussparung der schwarzen Fläche, die von hinten hell beleuchtet wird. Der räumliche und zeitliche Transformationsvorgang, der mit diesem Bild symbolisiert wird, ist in dem Moment abgeschlossen, in dem das Quadrat erlischt, der Vorhang sich wieder hebt und etwas vollkommen Überraschendes zeigt: einen hellen weißen Raum. Der Fußboden besteht aus matten Plexiglasquadraten, die von unten beleuchtet werden. Auf der vom Zuschauerraum aus gesehenen linken Seite steht ein gewaltiges Bett mit grünem Bezug, im Hintergrund schläft Brünhilde auf einem Stuhl sitzend, Kopf und Arm auf eine Kommode gestützt. Darüber: ein schwarzes Quadrat auf weißem Grund. Der Blick in dieses unbewegte, scheinbar photographische Negativ der vorangegangenen Szene wird erst gebrochen, als Siegfried sich vorsichtig von rechts durch eine Tür in den Raum bewegt.

Er hat soeben den Feuerring durchschritten und wird die Walküre nun aufwecken. Von größerer Bedeutung ist jedoch die Tatsache, dass jeder, der Stanley Kubricks filmisches Meisterwerk „2001: A Space Odyssee“ (1968) gesehen hat, sofort erkennt, dass Anna Viebrock eines der bekanntesten Bilder aus dem Film direkt auf die Bühne gebracht hat: Sie hat exakt den Raum nachbauen lassen, in dem sich der Astronaut Bowman, der letzte Überlebende einer Mission zu einer außerirdischen Existenzform, vor den Augen des Kinopublikums in nur wenigen Einstellungen altern sieht.

An diesen Ort jenseits von Raum und Zeit ist er gleichsam durch einen Sprung in das Innere eines gewaltigen, im Weltraum schwebenden schwarzen rechteckigen Monolithen gelangt.

Zuletzt, im Augenblick seines Todes, blickt er vom Bett aus frontal auf die Fläche einer verkleinerten Ausgabe des schwarzen Monolithen.

Im Viebrockschen Bühnenbild symbolisiert das schwarze Quadrat (hier wird auch auf Malewitschs Ikone der modernen Kunst angespielt) den als Bildfläche ausgegrenzten Raum und die ausgegrenzte Zeit. Damit wird Siegfrieds räumlich-zeitlicher Sprung von Wotans Welt der alten Ordnung in Brünhildes Welt der neuen Ordnung evident sichtbar gemacht. Kombiniert man nun erinnerbares Filmbild und wahrnehmbares Bühnenbild, so verbindet das schwarze Quadrat als flächige Ausgabe des Monolithen zum einen den visionären Blick in eine unbestimmte Zukunft. Es erscheint in der Funktion der abstrakten Ikone, die – der Idee Malewitschs zufolge – nach dem Ende der bürgerlichen Kunstgeschichte die Zukunft darstellt. Damit kristallisiert sich in ihm auch Wagners utopisches Kunstkonzept. Zum anderen wird eine Perspektive in die Vergangenheit eröffnet. Denn der Zuschauer der „Ring“-Inszenierung wird an die historische Zeit erinnert, in der Bayreuth seine problematische Rolle in der deutschen Geschichte antreten sollte. Die verschiedenen Dimensionen von Zeitlichkeit, die sich im Bild des schwarzen Quadrates zusammenfügen, leiten sich aus der symbolischen Zeit-Dramaturgie des Films ab, deren Dreh- und Angelpunkt der schwarze Monolith bildet: Schon zu Beginn des Films ist er es, der primitive Affen mit kulturellem Bewusstsein ausstattet. Dadurch werden sie zugleich mit einem neuen, ‚menschlichen’ Verhältnis zur Zeit versehen. Diese zeitliche Dimension des Monolithen verbindet der Film explizit mit einer medialen Dimension, innerhalb der Zeit, Gedächtnis und Erinnerung transportiert, konditioniert oder aber auch ausgelöscht werden können. Der Filmkritiker Robert Kolker weist in diesem Zusammenhang explizit auf die Bedeutung des Computers HAL hin: „In 2001 sagt Kubrick die digitale Zukunft voraus. […] Die Monolithen sind eine Art HAL der fernen Zukunft […]; sie sind HAL´s Nachkommen, die sich durch die Zeit bewegen und uns ins digitale Zeitalter geleiten. Darauf weist sogar ein Detail im Design des Films hin: die Module, die Bowman aus HAL`s Speicher herausholt, sehen wie Miniatur- und Plexiglasversionen des Monolithen aus“[27].

Durch diese Art der Überlagerung von Bildern aus verschiedenen Medien im Medium Theater wird dem Zuschauer zur Anschauung gebracht, dass er durch und mit dem Medium Theater sieht. Das heißt: er sieht das Theater als Medium, das Bilder (neu) zur Erscheinung bringt. Und gleichzeitig wird das Medium selbst sichtbar. Damit findet sich das bestätigt, was Klaus Zehelein auf der besagten Pressekonferenz als Ziel seines Konzeptes in Filmtermini beschrieb. Da hieß es: „Entscheidend ist also, dass der Blick – etwa in den großen Szenenabschnitten, die in jedem einzelnen Stück des „Rings“ die Vorgeschichte der gerade aktuellen Konflikte rekapitulieren – auf die Totale fällt, und nicht mehr aus der Totalen“. Dass diese Perspektive eine intermediale Dimension vermittelt, versteht sich fast von selbst.
Aus den bisherigen Ausführungen zur Aufführung der Walküre lässt sich ein einfacher Schluss ziehen: Nicht nur die Bildtradition Bayreuths wird hier befragt, sondern auch Wagners utopische Kunst- und Gesellschaftsvision der Zukunft. Diese sollte sich vornehmlich im genuinen Werk, eben im Kunstwerk der Zukunft, und mit einem genuinen Volk, dem Volk der Deutschen verwirklichen. In dem Moment, in dem Viebrock Kubricks „2001“ zitiert, scheint sie einerseits Wagners Utopie mit den Ergebnissen der Moderne zu konfrontieren, andererseits löst sie die ästhetischen Strategien Bayreuths auf und plaziert sie selbst in einer unbekannten Zukunft.

Diese Ebene kündigt sich in der Inszenierung bereits in der Szene an, in der Siegfried unter den Augen Wotans das weiße Quadrat ansieht. Damit wird er gewissermaßen als Museumsbesucher der Moderne antizipiert. Denn für ihn verkörpert es tatsächlich die Zukunft, deutet es doch in die Richtung der Walküre. Doch was sich hier für Siegfried als Verheißung einer unbekannten Zukunft darstellt, ist für den Blick des Zuschauers zunächst nichts weiter als die Inszenierung einer materiellen Oberfläche, einer Leinwand, die von hinten beleuchtet wird. Diese beiden Blickdimensionen werden über den Transformationsvorgang, der durch das reine Lichtquadrat auf dem schwarzen Vorhang symbolisiert wird, schließlich über den Blick auf die opake schwarze Oberfläche des Quadrates zusammengeführt, das sich nun als ikonischer Hinweis auf alle medialen Bildträger herausstellt.

Götterdämmerung
In der Götterdämmerung bietet sich dem Publikum erneut ein vollkommen verändertes Bild. Rückt Viebrock mit ihrer Version des Walkürenfelsens den Zuschauer nahe an das heran, was man im klassischen Verständnis als die Begegnung mit „Erhabenheit“ bezeichnet, so wählt Bert Neuman eine geradezu konträre Ästhetik. Statt in anderen Medien nach einem weiteren objet trouvé in der Qualität von „2001“ – zu suchen, antwortet er mit einer ganz anderen Art von Zeitreise: Mit seinem Walkürenfelsen betreten wir den Fundus Bayreuths und werden Augenzeugen eines Kulissenbildes, welches als deutliche Anspielung auf Wagners Inszenierung der Uraufführung 1876 zu verstehen ist.
Zu sehen ist eine Bühne – oder eher hölzerne Schaubude – auf der Bühne. Die Rückwand dieser ‚Schaubude’ bildet ein Theaterprospekt, dessen Stil zum einen an das romantische Landschaftsmotiv eines Bergsees erinnert, der in der routinierten Malweise der Bildproduktionen des späten 19. Jahrhunderts erscheint. Über einen deutlichen Medienwechsel wird nun die subtile Umformung des Raum-Zeit-Gefüges markiert, das Viebrock am Ende des „Siegfried“ in den Raum stellt. Nach vorne hin wird die Szene durch rote Bänder begrenzt, die auf dem Bühnenboden flattern.

Diese sollen den Feuerring im Sinne der illusionierenden Ästhetik des alten Bühnenzaubers darstellen. Die dem Publikum aus dem 20. Jahrhundert wohlbekannten Techniken der Stilisierung werden somit bewusst außer Acht gelassen. Was der Zuschauer dann während des Aufbruchs Siegfrieds zum Hause der Gibichungen zu sehen bekommt, lässt sich als charmant-ironische Wiederbelebung der spätromantischen Aufführungstradion Bayreuths mit ihrem Hang zur mittelalterlichen Historisierung beschreiben. Nachdem die Walküre Siegfried ihren Harnisch angelegt hat – im wahrsten Sinne des Wortes ein Brustpanzer – bekommt Siegfried ihr Pferd, hier in Form eines Spielzeug-Steckenpferds. Diese Gabe bringt den ohnehin schon vor Freude überschäumenden Held so in Erregung, dass er schließlich – das Steckenpferd hoch erhoben – um den Holztisch herumhüpft, an dem das Liebespaar gespeist hatte. Anschließend schiebt Brünhilde das Prospekt wie einen Vorhang zur Seite, und der Held verschwindet mit Fellschuhen, überdimensionalem Helm und seinen neuen Insignien, um seine Rheinfahrt anzutreten. Brünhilde indes verbleibt mit ausgestreckten Armen vor dem Landschaftsbild, ganz so, als sei die illusionierende Perspektive des Motivs mit einem Mal wieder wirksam und keineswegs nur ein auf Leinwand aufgetragenes Bild. Wenige Augenblicke später – Brünhilde hat, während sich die Szene etwas verdunkelt, wieder am Tisch Platz genommen – gerät die Bühne auf der Bühne in Bewegung.

Erst jetzt kann der Zuschauer erkennen, dass die ‚Schaubude’ die Stirnseite einer großen schwarzen Box darstellt, die sich ihrerseits auf der nun in Aktion getretenen Drehbühne befindet. Erst jetzt bekommt man das Herzstück von Neumans Bühnenkonzept zu Gesicht. Von nun an wird das Publikum mittels der Drehbewegung des Kubus die szenischen Bilder immer wieder in einem Prozess der Umformung des sichtbaren Bildes im Bühnenraum erleben. (Wenn man möchte, kann man die Black Box zugleich als schwarzen Monolithen betrachten, doch fehlende Hinweise in diese Richtung raten es, diese Überlegung nur als Möglichkeit am Rande zu sehen.) Mal wird dieser Kubus diagonal in den Raum gestellt und als Innenraum von zwei Seiten her geöffnet, mal wird er, wie bei Siegfrieds Rheinfahrt, geschlossen und in permanenter Drehung gezeigt. Dabei deuten Nieten auf den Schiffskörper eines Ozeanriesens aus den Anfängen des 19. Jahrhunderts hin, aus dessen Innerem Siegfried dem Publikum fröhlich zuwinkt.

Am signifikantesten zeigt sich der Einsatz der sich drehenden Black Box bei Siegfrieds Tod. Wieder blickt das Publikum auf eine Landwand an der Stirnseite der Box, diesmal aber in ein anderes mediales Zeitalter versetzt. Denn nun sieht man kein gemaltes Motiv, sondern das bewegte Filmbild eines Flusses zwischen grünen Wiesen, auf dessen Wellen Lichtreflexe der tiefstehenden Sonne aufblitzen.

Als dann zum ersten Mal das bekannte, von Bläsern dominierte Motiv des Todes von Siegfried zu hören ist, beginnt sich die während der gesamten Jagdszene stabile Szene erneut zu drehen. Während die Jagdgesellschaft an der Rampe stehend stumm ins Publikum starrt (man erinnere sich an den Beginn des Rheingoldes), fährt das Bild des Flusses als Teil der Drehbühne in kreisförmiger Bewegung in den Bühnenhinterraum (dann ist es spiegelverkehrt zu sehen), um dann wieder in den Proszeniumsbereich zurückzukehren (eine volle Umdrehung dauert etwa eine Minute). Sicher ist dies eines der stärksten Bilder der Inszenierung, ist es doch deutlich mit dem Motiv des Todes verknüpft.
Aus der Erscheinung der permanent in Umformung begriffenen Black Box, die zugleich als ein Symbol für die permanente Umformung von Bildern angesehen werden kann, lassen sich nun derart viele Schlüsse ziehen, dass wir uns hier nur auf einige zentrale Augenblicke der vierstündigen Inszenierung konzentrieren wollen.

Die intermediale Zeitreise vom Bayreuther Bühnenzauber zum Filmbild mittels der Drehbewegung der Black Box lässt gleichzeitig an die Drehbewegung einer Filmrolle denken, mit der nicht zuletzt auch eine symbolische Verknüpfung zwischen dem Festspielhaus Bayreuth und dem Hollywood-Kino hergestellt wird; eine Verbindung im übrigen, auf die bereits u. a. Friedrich Kittler[28] hingewiesen hat. Diese wird durch ein weiteres Bild unterstützt, das die Bewegung der Black Box aufruft. Denn dass die hölzerne Black Box (man denke an die Holzkonstruktion des Bayreuther Festspielhauses) während Siegfrieds Rheinfahrt wie ein Ozeanriese mit einer vernieteten Außenbordwand aussieht, stellt diese Szene in einen filmgeschichtlichen Kontext, der um so offensichtlicher wird, wenn man sich vergegenwärtigt, dass Zehelein das „Ring“-Projekt im selben Monat der Presse vorstellte, in dem der bislang ‚erfolgreichste Film aller Zeiten’ und vielleicht auch symbolträchtigste Film zur Jahrtausendwende in Kinos kam: Die Rede ist von James Camerons „Titanic“. Daraus lässt sich folgern: Nicht nur Bayreuth, sondern auch Hollywood mit seiner schier unendlichen Mythenproduktion ist nun Gegenstand der Aufführung. Auf der Handlungsebene wird dieser Aspekt überdeutlich gespiegelt. Siegfrieds Reise ist die Reise in einen zweimaligen Untergang: sein individueller, und derjenige der Gesellschaft des Hauses Gibichungen. Damit wird diese Szene wiederum – wie bereits bei Viebrock beobachtet – durch die Überlagerung von inneren und äußeren Bildern (Black Box, Schaubude, Festspielhaus, Filmrolle, Titanic) über einen mediengeschichtlichen Kommentar in eine Kritik deutscher Geschichte überführt. Denn die Parallelen zu dem durch die Titanic symbolisierten Untergang der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts werden damit ebenso thematisiert, wie die Ära, die heute als Menetekel des Wagnerschen „Rings“ und Bayreuths gilt und ebenfalls Teil des kulturellen Gedächtnisses geworden ist: Die Zeit der unseligen Verbindung zwischen Winifred Wagner und Adolf Hitler.
Doch belassen es Konwitschny und Neuman nicht bei dieser Perspektive: Nach dem Tode Siegfrieds setzt erneut die Drehbewegung ein und nimmt die zyklische Struktur der Ringerzählung wieder auf. Indem die Rheintöchter am Ende den Ring des Nibelungen zurückerhalten, wird das Ende an den Anfang geknüpft: die ‚Erzählung’ kann von neuen beginnen.

Abschließende Bemerkung

Die intermediale Perspektive, die der in seiner Ästhetik fragmentierte „Ring“ eröffnet, dient keineswegs dazu, ein nationales kulturelles Gedächtnis zu erstellen oder ein vorhandenes zu stabilisieren. Ganz im Gegenteil geht es darum, die mediale Konstruktion von Bildern, die traditionell einer nationalen (und heute nicht minder problematischen) Ikonizität nicht entbehren, sichtbar zu machen und damit in einen kritischen politischen Diskurs einzubinden, um die Erinnerungskultur im wiedervereinigten Deutschland in Bewegung zu bringen.
Dass das Theater in solchen Prozessen der Gesellschaftskritik als Bildkritik eine zentrale Stelle einnehmen kann, ist mithin deutlich geworden. Die Frage ist allerdings, ob die Institution Theater die Möglichkeiten des Mediums Theater zu nutzen weiß.

Artikel ohne Abbildungen (Anm. d. Red.)

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Krämer 2003, S. 85.
  2. Balme weist in seinem Aufsatz „Stages of Vision: Bild, Körper und Medium im Theater“ (2002) explizit auf dieses Desiderat hin. Heeg (2000) legt einen ersten, theaterhistorisch und medienkomparatistisch ausgerichteten Ansatz mit seiner Untersuchung über das Bild der Unschuld und Verführung als Paradigma der Darstellung im bürgerlichen Theater des 18. Jahrhunderts vor.
  3. Zu den Begriffspaaren Übertragung und Inkorporation so wie Vollzug und Verkörperung: Krämer 2003.
  4. Münkler 1988, S. 101.
  5. Münkler 1988, S. 102.
  6. Halbwachs 1985, S. 31.
  7. Halbwachs 1985, 129f.
  8. Belting 2001, 36.
  9. Boehm 1999.
  10. Boehm 1999, 166. Boehm bezieht sich in seinen Ausführungen auf die medientheoretischen Positionen von Niklas Luhmann. Doch während Luhmann sich aus kommunikationswissenschaftlicher Perspektive explizit mit Medium und Form im Bereich von Sprache, Schrift und Information auseinandersetzt, bemüht sich Boehm stärker, das Phänomen Bild über die Kategorien von Mitteilung und Verstehen hinaus zu erfassen. Weiterführend zu Luhmanns systemtheoretischer Unterscheidung von Medium und Form siehe Krämer 2002.
  11. Boehm 1999, 166.
  12. Nach Boehm können allerdings Bilder unter bestimmten Umständen auch wieder als Medien angesehenwerden.
  13. Boehm, 1999, 168.
  14. Boehm 1999, 169
  15. Mitchell 1986, 9 f.
  16. Zugleich treten dadurch Fragen nach den spezifischen Eigenschaften von Medien (flächig oder räumlich) und
    Bildern (bewegt oder unbewegt) in den Hintergrund.
  17. Belting 2001. Zu den folgenden Ausführungen siehe Belting 2001, 11-30.
  18. Belting 2001, 12.
  19. Belting 2001, 11.
  20. Von besonderer Bedeutung für das Theater erweist sich hierbei, wie sich noch zeigen wird, das Verhältnis zwischen dem Gedächtnis als körpereigenem Bildarchiv und der Erinnerung als körpereigner Bilderzeugung. Denn auch hier muss das Theater als Schaltstelle gesehen werden.
  21. Belting 2001, 13.
  22. Belting 2001, 29.
  23. Belting 2001, 13.
  24. Simhandl 1993, 8.
  25. Belting 1998, 36.
  26. Votteler 2000, 218 f.
  27. Kolker 2001, 206. HAL ist der mit Bewusstsein ausgestattete Bordcomputer, der die Astronauten, unter denen sich auch Bowman befindet, zum Ziel ihrer Mission, einem im Weltraum schwebenden Monolithen, geleiten soll. Nachdem der Computer aufgrund von psychischen Störungen alle Astronauten bis auf Bowman getötet hat, entfernt dieser HAL’s Gedächtnis.
  28. Kittler 1987.

Von Auschwitz schweigen: Sprachlosigkeit und Shoah

1. Einleitung
Schweigen erscheint im Diskurs über die Shoah gleichermaßen als Last (nicht sprechen zu können [1] ) wie als Entlastung (nicht sprechen zu müssen, als Selbstschutzfunktion von Tätern und Opfern), als Verbot (die Geschehnisse nicht sprechend zu ent- oder verstellen) wie als Gebot (die Pflicht, das Gedenken sprechend zu aktualisieren). Es erscheint als Wegschweigen, als Leugnung der Existenz von Vernichtungslagern, Unterlassung von Hilfeleistung und Widerstand der Deutschen im dritten Reich; als Sprachlosigkeit der Opfer, die das ihnen in den Lagern zugefügte Leid nicht mitteilen können; als Verweigerung der Täter, die sich aus Schuld, Scham und Angst nicht erinnern, die nicht berichten wollen. Das Schweigen resultiert aus der Vorsicht, die singuläre Katastrophe, das beispiellose Menschheitsverbrechen durch unangemessenes Sprechen zu verharmlosen oder zu verzerren, und ist Symptom des Überwältigt-Seins von den Gräueln des Nazi-Regimes, von der systematischen Ermordung der europäischen Juden. Nicht zuletzt prägt jede Darstellung nach Auschwitz ein tiefes Misstrauen der deutschen Sprache gegenüber, auf der und mit welcher die Nationalsozialisten ihr ideologisches Gebäude errichteten. Deutsches Sprechen und Denken erscheint als unendlich verstrickt in das Verbrechen: Das Vertrauen in Sprache und Logik als Mittel zur Orientierung in der Welt ist erschüttert. Die sprachlichen Register erscheinen durchsetzt von ideologisch kontaminierten Begriffen, die nur mehr ihre verbrecherische Gewaltgeschichte bezeichnen können.

Die vielen Versuche der Darstellung der Shoah scheinen dafür zu sprechen, dass das Argument der Undarstellbarkeit sich nicht auf die Kompetenz zur Darstellung bezieht, sondern auf deren Angemessenheit und die Möglichkeit einer umgreifenden Gesamtdarstellung, welche die Shoah in Gänze fassbar und begreiflich machen könnte. Shoah ist insofern darstellbar, als Aspekte der Shoah sehr wohl dargestellt werden können; die Shoah aber, die Gesamtheit des Phänomens, ist undarstellbar. Wenngleich das für alle historischen Ereignisse angenommen werden muss, gilt es hier in besonderem Maße. Dafür spricht nicht nur die historische Beispiellosigkeit der Grausamkeit der Judenvernichtung als industrielle Produktion von identitätslosen Leichen, sondern auch die Figur des Muselmanns, des lebenden Toten, des alles Menschlichen Beraubten. Der Muselmann, nach Primo Levi der „Nerv des Lagers“ [2] , steht außerhalb der Sprache, seine Erfahrung ist sprachlich nicht einholbar. Der Muselmann bewohnt den Ort, auf den das Leben der Inhaftierten im Lager sich hin organisiert, ein Ort außerhalb der Sprache, den kein Bewusstsein bewohnt, das eine Erfahrung machen, für sich und andere versprachlichen und somit das Geschehen der Shoah bezeugen könnte, so Giorgio Agambens Interpretation.

In diesem Artikel möchten wir zwei Momente des Schweigens im Kontext der Shoah untersuchen: In einem ersten Schritt werden wir die systematische Zerstörung der Sprache der Inhaftierten in den Lagern am Zeugenbericht IST DAS EIN MENSCH? des Auschwitz-Überlebenden Primo Levi nachzeichnen und anhand der Texte WAS VON AUSCHWITZ BLEIBT [3]  von Giorgio Agamben und DAS DARSTELLUNGSVERBOT [4]  von Jean-Luc Nancy diskutieren. In einem zweiten Schritt sollen zwei Versuche dargestellt werden, das Schweigen über Auschwitz zu brechen und eine Sprache zu finden, mit der im Bewusstsein der Mittel von Auschwitz gesprochen werden kann: Das erst in den 80er Jahren in den öffentlichen Sprachgebrauch eingegangene Wort Shoah und das 2005 eröffnete DENKMAL FÜR DIE ERMORDETEN JUDEN EUROPAS werden wir als Versuche lesen, einen Bruch, eine Lücke, ein Schweigen in das Sprechen über und das Erinnern an die Shoah einzulassen.

Um das diskursive Feld zu eröffnen, möchten wir zunächst zwei Ansätze darstellen, mit denen wir mögliche Gründe für das Problem des Sprechens über Auschwitz aufzeigen wollen: Jean-Luc Nancy sieht dieses in einem säkularisierten biblischen Darstellungsverbot verwurzelt; mit Jacques Derrida wollen wir herausstellen, dass jede sprachliche Darstellung ihren Gegenstand ver- und entstellt. Dieser Umstand, der sich prinzipiell auf jegliches Sprechen bezieht, wiegt im Umgang mit der Shoah besonders schwer.

2. Undarstellbarkeit der Shoah als Darstellungsverbot oder Unmöglichkeit der Darstellung, Jean-Luc Nancy und Jacques Derrida

2.1 Darstellungsverbot, Jean-Luc Nancy
In seinem Aufsatz DAS DARSTELLUNGSVERBOT diskutiert Jean-Luc Nancy die im Diskurs über die Shoah verbreitete These von der Undarstellbarkeit der Lager. Er findet die Undarstellbarkeit weniger in der Unmöglichkeit der Darstellung begründet, als vielmehr in ihrer Unrechtmäßigkeit. Im Recht, gegen das die Darstellung verstößt, liest Nancy die säkularisierte Fassung des biblischen Darstellungsverbots. Er weist darauf hin, dass das Darstellungsverbot dort aber keinen Ikonoklasmus begründet. Das biblische Verbot bezieht sich auf die Herstellung von Götzen, nicht von Bildern. Unter Bild versteht Nancy „Bild von etwas“, in seinen Worten die „Präsentation einer offen bleibenden Absenz“ [5] . Während die Götze sich als eine abgeschlossene Präsenz gibt, präsentiert das Bild etwas, das sich nicht unter eine gegebene Präsenz subsumieren lässt. Das Bild ist also eine Darstellung, die ein Abwesendes bedeutet, dieses als Abwesendes vergegenwärtigt, ohne es in sichzu versammeln, sich an dessen Stelle zu setzen. Das Götzenbild hingegen ist ein hergestellter Gott:

Es ist ein Bild, das für sich selbst steht und nichts anderes darstellt, […] das, was in sich selbst eine stehende, eine gewissermaßen reine Präsenz bildet, eine massige Präsenz, die sich auf das Da-Sein beschränkt. [6]

Dem biblischen Darstellungsverbot ist also ein Begriff von Darstellung zu Grunde gelegt, der die Herstellung von Götzen bezeichnet, nicht aber die bildliche Darstellung im Sinn der Repräsentation. Das Darstellungsverbot biblischer Herkunft gebietet also keinesfalls zu schweigen, sondern verbietet es, verschwiegene Götzenbilder herzustellen und das bedeutete Geschehen im Werk versammeln und fest-setzen zu wollen.

In Nancys Beschreibung erscheinen schließlich drei Denkfiguren: das Götzenbild ist eine in sich verschlossene Präsenz; die Repräsentation ist ein Bezug auf ein Abwesendes durch ein Zeichen – hinzu kommt die Figur des Heiligen. Das Heilige zeichnet sich dadurch aus, dass es nur in seinem Entzug gegeben ist, es ist nur anwesend im Bewusstsein seiner Abwesenheit und Unverfügbarkeit. Über das Heilige kann nur die Aussage getroffen werden, dass man über das Heilige keine Aussage treffen kann. Eine rechtmäßige Darstellung der Shoah müsste diesen Denkfiguren folgend also eine Repräsentation sein, die auf eine Abwesenheit verweist; sie darf die Geschehnisse weder als völlig unverfügbar heiligen, noch als in sich abgeschlossene, vollendete Präsenz fixieren. Diesen Gedanken werden wir übernehmen, wenn wir über Formen des Darstellens, Erinnerns, Mahnens – über das Wort Shoah und über das Denkmal für die ermordeten Juden Europas – sprechen. [7]

2.2 Unmöglichkeit der Darstellung, Jacques Derrida
Inwieweit hat die These der Undarstellbarkeit mit der Unmöglichkeit der Darstellung zu tun? Jacques Derrida definiert die Iterierbarkeit des Signifikanten und dessen Verschiebung/Aufschub als wesentliche Momente von Schrift und damit von Sprache. Er fasst beide Momente unter dem Begriff der Différance zusammen. [8]  Die Bezeichnung Iteration geht auf das lateinische Iterum (von neuem) zurück, trägt aber auch itara in sich, was in Sanskrit anders bedeutet: in ihr verbindet sich die Wiederholung mit der Veränderung.

Der These Austins, dass eine Äußerung, wenn sie auf einer Bühne getan wird, uneigentlich sei, weil zitiert, entgegnet Derrida, dass jede Äußerung notwendig ohne Eigentlichkeit sei. Sie müsse, um verständlich zu sein, einen zitathaften Charakter haben. Derrida beschreibt performative Äußerungen – und jede Aussage hat auch performativen Charakter – als „bestimmte Modifikation einer allgemeinen Zitathaftigkeit – einer allgemeinen Iterierbarkeit“ [9] . Weiter noch ist die Sprache dem sprechenden Subjekt durch den je anderen und nie vollständig bestimmbaren Kontext der Aussage enteignet: Der Kontext ist nie stimmig. Durch die notwendige Iterierbarkeit von sprachlichen Zeichen verschieben sich die Bedeutungen von Äußerungen immer wieder und lassen sich nicht vollständig den Intentionen des äußernden Subjekts unterwerfen. Zudem sind die Sphäre der Worte und die der Dinge konstitutiv voneinander getrennt. Das Wort berührt nicht das Ding, sondern andere Worte. Sprachliche Zeichen erzeugen, so Derrida, nur in der Differenz zueinander Bedeutung, nie durch den Bezug auf ein abwesendes Gemeintes. Das Gemeinte ist immer nur als Spur anwesend, es kann immer nur durch andere Worte bezeichnet werden. Die Différance als Ereignis der Schrift und damit aller Sprache enteignet die Erfahrung im Sprechen.

Diese sprachphilosophischen Beschreibungen berühren in besonderem Maße das Sprechen von der Shoah. Zunächst einmal stellt diese Theorie die Frage nach der Möglichkeit von Erfindung in der Sprache, da sie die evolutionäre Entwicklung von Sprache betont. Die nationalsozialistische Ideologie fußte auf Ideen, die seit Jahrhunderten dem deutschen Denken eigneten. Der amerikanische Historiker Raul Hilberg diskutiert im Gespräch mit Claude Lanzmann die Entstehung der nationalsozialistischen Ideologie als spezifisches Verhältnis von Kontinuität und Erfindung:

Sie [die Nazis] haben sehr wenig erfunden, nicht einmal ihr Bild vom Juden, sie haben es aus Texten geborgt, die bis ins 16. Jahrhundert zurückreichen. So haben sie sich sogar in ihrer Propaganda, dem Reich der Vorstellungskraft und Erfindung, auffallend auf den Spuren ihrer Vorgänger bewegt, von Martin Luther bis ins 19. Jahrhundert. Auch da haben sie noch nichts erfunden. Mit der Endlösung hingegen wurden sie zu Erfindern. Das war ihre große Erfindung, und von da an unterscheidet sich die Entwicklung von allem, was es jemals vorher gegeben hatte. Als die Endlösung beschlossen wurde, oder, um es genauer zu sagen, als die Bürokratie sie zu ihrer Sache machte, war das ein Wendepunkt in der Geschichte. Selbst hier würde ich eine logische Entwicklung sehen, die ihre Steigerung erfuhr in dem, was man den Höhepunkt nennen könnte. Denn von den frühesten Zeiten, vom vierten, fünften oder sechsten Jahrhundert an, hatten die christlichen Missionare gesagt: „Ihr könnt unter uns nicht als Juden leben.“ Die weltlichen Herrscher, die ihnen vom Spätmittelalter an folgten, entschieden: „Ihr dürft nicht unter uns leben.“ Und die Nazis beschlossen: „Ihr dürft nicht leben.“ [10]

Dieser Analyse von Hilberg folgend kann die Shoah weder als Unfall der Geschichte noch als unvermeidliche Konsequenz der neuzeitlichen Entwicklung Deutschlands behandelt werden. Weiter ist die Sprache, in der die Shoah entworfen wurde, weitgehend identisch mit der Sprache, die unser Denken und Handeln heute strukturiert. Nicht nur metaphorisch zieht sich eine Spur durch die Geschichte, vom nationalsozialistischen Regime zu uns, sondern auch materialiter in der Sprache.
Die Différance impliziert, dass jede Aussage sich von der Bedeutung der Erfahrung oder Aussage, auf die sie sich bezieht, notwendig entfernt. Jede Schrift – für Derrida eignet jeder sprachlichen Äußerung das Wesen der Schrift – ist ein Überschreiben, das das Bezeichnete, so wie es in vorherigen Aussagen gezeichnet wurde, ent-stellt und ver-stellt. Die Wiederholung verbindet sich also notwendig mit der Veränderung. Sprechen und Schreiben verschieben und schieben auf. Damit lässt sich die Sonderstellung erklären, die im Diskurs über die Shoah die Zeugnisse der wenigen Überlebenden der Lager einnehmen. Ein großer Teil der Publikationen zum Thema lassen die Zeugen sprechen; WissenschaftlerInnen und KünstlerInnen nehmen eine Herausgeberfunktion ein. Dem Zeugnis der Lagererfahrung eignet eine besondere Autorität. Claude Lanzmanns Film SHOAH, in dem Überlebende der Lager vor der Kamera teils erstmals ihr Schweigen von den Lagern brechen und detaillierte Schilderungen von Situationen aus dem Leben dort geben, bezieht seine Aussagekraft aus diesem Umstand. Es herrscht eine große Vorsicht im Umgang mit den Zeugnissen und mit der Behauptung einer zweiten Sprache, die die Dokumente kommentiert und sortiert. Umso mehr sucht der Diskurs die Zeugenaussagen Überlebender als erste Sprache von den Lagern auf. Hierin kann das Bewusstsein vermutet werden, dass jedes Sprechen das Besprochene ver- und ent-stellt und die Vorsicht, die Wahrheit der Lager, wie sie in den Berichten zu uns spricht, nicht durch ein Korsett von starren interpretativen Bezügen festzusetzen und zum Verstummen zu bringen.

Der Aspekt der Iterabilität von Sprache stellt jedoch auch für Überlebende der Lager ein Hindernis dar, Zeugnis abzulegen. Das sprachliche Register stellte keine Worte zur Verfügung, die das, was die Inhaftierten in den Lagern erlebten, ausdrücken könnten. Gäbe es die Worte, so könnte niemand ihren Sinn verstehen. Sprache setzt bis zu einem gewissen Grad einen gemeinsamen Erfahrungshorizont der Sprecher voraus. Eine singuläre Erfahrung kann nicht bezeichnet werden, denn das Wort zur Bezeichnung muss prinzipiell vorgängig sein. Das Beispiellose ist nicht verbalisierbar. Diese allgemeinen sprachphilosophischen Betrachtungen von Jacques Derrida haben eine besondere Brisanz im Diskurs über die Darstellung der Shoah: Die Schwierigkeit, vor welche die Iterabilität der Sprache diejenigen stellt, die über die Shoah sprechen, hängt mit der zu Recht immer wieder betonten Einzigartigkeit des Geschehens zusammen. Dass die Shoah als singulär aus der Menge der Genozide und historischen Menschheitsverbrechen herauszustellen ist, wird begründet mit dem schieren Ausmaß des Verbrechens, der bürokratischen Systematik, mit der der Völkermord verübt wurde, aber auch mit der Funktionslosigkeit der Shoah in Bezug auf die Kriegsführung, die die Annahme nahe legt, dass sich das deutsche Reich in der Vernichtung seiner Opfer jeder Vielheit entledigen wollte, um sich im arischen Volkskörper universal selbst zu begegnen. [11]  Beispiellos scheint auch die systematische Auslöschung des Menschlichen in den Deportierten, die vorzeitige Tötung des Lebendigen in den noch Lebenden, ein Morden, das den Tod nicht als solchen in Erscheinung treten lässt, das den Tod selbst zerstört. Wie also lässt sich ein Geschehnis bezeichnen, das singulär erscheint? Inwiefern dafür das sprachliche Register im Diskurs der Shoah um Fremd-Worte wie Holocaust oder Shoaherweitert wird, werden wir in Kapitel 4.1 noch genauer untersuchen. Auch die Bezeichnung Auschwitz ist in diesem Zusammenhang zu nennen, der Name eines einmaligen Ortes, der nun für sehr viel mehr steht, als für eine bestimmte Kleinstadt in Polen.

3. Die systematische Zerstörung der Sprache in Auschwitz, Primo Levi
Primo Levi, Sohn einer jüdischen Familie aus Turin, schließt sich im Herbst 1943 einer antifaschistischen Partisanengruppe an und wird bald darauf von der faschistischen Miliz gefangen genommen. Am 11. Februar 1944 wird er nach Auschwitz deportiert. Er überlebt das Lager. IST DAS EIN MENSCH? [12] , ein „autobiografischer Bericht“ über sein Leben und Überleben in Auschwitz, erscheint 1947. Im Folgenden möchten wir anhand dieses Textes diskutieren, wie und inwieweit in Auschwitz durch die Zerstörung der Sprache jede menschliche Regung der Deportierten ausgelöscht wird, um die Inhaftierten dann einem beiläufigen Tod zu überlassen. Primo Levi beschreibt das Lager als eine „Welt der Verneinung“ [13] , als Ort „eines geometrisch konzipierten Irrsinns und eines fremden Willens, uns zunächst als Menschen zu vernichten, um uns dann einen langen Tod zu bereiten“ [14] .
Auschwitz kann Levi zufolge als eine technische Apparatur zur systematischen Auslöschung von Sprache und Bewusstsein der Inhaftierten – von Repräsentation also – beschrieben werden. Dieser Auslöschung folgt das Leben in einer Sphäre außerhalb der Repräsentierbarkeit. Durch die fast vollständige Vernichtung der Sprache der Opfer und der anwesend-ausführenden Täter hat nur eine Sprache vom Lager die Lager überlebt: die instrumentelle Sprache, in der die Shoah entworfen wurde. Die wenigen Zeugnisse der Überlebenden, die vom Lager berichten, bilden die Ausnahme. Aus ihnen lässt sich ablesen, dass das, was die inhaftierten Opfer in den Lagern erleben mussten, nur schwer bezeichnet werden konnte, da sie kaum Bewusstsein hatten, das aus dem Erlebten eine Erfahrung synthetisieren könnte, und die Täter sich gegen jede menschliche Regung immunisiert hatten, indem sie die Opfer als Nicht-Menschen erschufen und sich als Unmenschen.

3.1 Eingliederung
Der „Eingliederungsprozeß“ [15]  beginnt bereits mit der Deportation, die die Deportierten aus den gewohnten Zusammenhängen des alltäglichen Lebens gewaltsam herausreißt und in einen gesonderten Bereich versetzt, gesondert von dem sie umgebenden Leben außerhalb der Waggonwand und des Zauns, gesondert von Humanität und Recht. Die Metamorphose des Deportierten in einen KZ-Häftling geht systematisch vonstatten. Die Deportierten werden der Merkmale beraubt, die im Alltag eine Person bezeichnen, die Distinktionen zwischen Menschen erlauben, etwa Alter, Klasse, Aussehen, auch Herkunft und Sprache: die Kleidung wird durch einheitlich gestreifte Anzüge ersetzt, die Haare werden geschoren, alles Eigentum genommen – binnen kürzester Zeit verändert sich die Physiognomie der durch dauerhafte Unterernährung, Durst, Schlaflosigkeit und physische Überforderung ausgezehrten Körper und Gesichter, bis nicht einmal das Alter der Person am äußeren Anschein ablesbar ist. Bereits am Ende der Prozedur zur äußerlichen Vereinheitlichung der Inhaftierten bemerkt Levi:

Es gibt nichts worin wir uns spiegeln könnten, und doch haben wir unser Ebenbild vor Augen, es bietet sich uns in hundert leichenblassen Gesichtern dar, in hundert elenden und schmierigen Gliederpuppen. So sind wir nun in ebensolche Gespenster verwandelt, wie wir sie gestern abend gesehen haben. [16]

Worte wie Gliederpuppe und Gespenst weisen darauf hin, dass mit der Individualität der menschlichen Person das Selbstempfinden als Person und Mensch ausgelöscht wird. Die Prozedur der „Eingliederung“ zerstört systematisch das menschliche Antlitz, dem gegenüber die deutschen Bürokraten, Schänder und Mörder Scham oder Mitgefühl hätten empfinden können.

3.2 Name und Nummer
Auch der Name, Vermächtnis der Eltern und Träger einer komplexen kulturellen Semantik, wird durch ein Lageräquivalent ersetzt: die fortlaufende Nummer. Levi beschreibt: „Mein Name ist 174517: wir wurden getauft und unser Leben lang werden wir das tätowierte Mal auf dem Arm tragen.“ [17]  Wie in der Taufe markiert auch dieser Benennungsritus die Auslöschung des alten und den Beginn eines neuen Seins, das einem anderen Gesetz unterworfen ist.

Die im Eigennamen transportierte kulturelle Heimat seines Trägers und damit eine Logik, die der Welt außerhalb des Lagers entstammt, wird ausgelöscht. Die Nummer, die ihn ersetzt, spricht von der instrumentellen Logik des Lagers. Sie bezeichnet den Moment des Eintritts in die Lager-Logik und greift so, im Medium der Tätowierung, auf den Körper und die Identität des Inhaftierten zu. Der Inhaftierte kann seine Nummer nicht verschweigen, denn sein Körper ist mit dem Faktum und Datum seiner Eingliederung in die instrumentelle Techno-Logik des Lagers beschriftet. Die Körper der Inhaftierten sind Medium und Gegenstand der menschenverachtenden bürokratischen Schrift des Lagers. Die Identifikation des Inhaftierten mit der Nummer erfährt jeden Tag im morgendlichen Appell ihre Aktualisierung. Die Inhaftierten müssen antreten, um sich zählen zu lassen, eine Prozedur, die oft mehrere Stunden dauert. Die Verwaltung des Lagers macht in der bürokratischen Bezeichnung und Behandlung keinen Unterschied zwischen den Inhaftierten und unbelebten Instrumenten im Dienst des Arbeitslagers. Levi bemerkt im Hinblick auf die Buna-Fabrikstadt: „Ihre Straßen und Bauten werden mit Zahlen oder Buchstaben benannt wie wir, wenn sie nicht unmenschliche und unheilvolle Namen tragen. […] Nichts lebt hier, nur Maschinen und Sklaven: und jene mehr als diese.“ [18]
Eine grausame Ironie liegt in dem Umstand, dass die Inhaftierten den Klang ihrer Nummer in deutscher Sprache schmerzhaft lernen müssen, obschon Inhaftierte aller Sprachen die Ziffern gleichermaßen lesen können.

3.3 Fremd-Sprache im Lager
Die Ankunft des Deportationszugs am Bahnhof Auschwitz beschreibt Levi wie folgt: „Die Tür wurde krachend aufgetan, das Dunkel hallte wieder von fremden Befehlen, jenem barbarischen Gebell kommandierender Deutscher, die sich eines jahrhundertealten Ingrimms zu entledigen schienen.“ [19]  Augenblicklich müssen die Inhaftierten lernen, Befehle zu befolgen, die sie nicht verstehen. Die SS spricht ausschließlich Deutsch, für die italienischen Deportierten eine völlig unverständliche Sprache; ein Inhaftierter übersetzt, allerdings nur in eine Richtung: aus dem Deutschen ins Italienische. Die Deportierten empfangen Sätze, ihre werden nicht gehört. Sie müssen gehorchen – horchen auf Befehle in Fremdsprache, auf Worte, die ihren Sinn in sich verbergen, nichtsdestoweniger gesetzeskräftig sind. Das Gesetz ist in unverständlicher Sprache erlassen, Nichtbefolgung wird grausam bestraft. Die Inhaftierten erlernen deutsche Worte, die ihnen nichts bedeuten; ihre Bedeutung erfahren sie erst, wenn überhaupt, nach dem Verstoß gegen das unerklärte Gesetz, durch die Strafe. Levi schreibt:

[D]ie Sprachverwirrung gehört zu den Hauptbestandteilen der Lebensweise hier unten; man ist von einem fortwährenden Babel umgeben, wo sie alle in niemals zuvor gehörten Sprachen Befehle und Drohungen schreien, und wehe dem der nicht im Flug begreift. Keiner hat hier Zeit […] und keiner hört dich an. [20]

3.4 Unzulänglichkeit und Nutzlosigkeit von Sprache und Sprechen
Die Sprachlosigkeit in Auschwitz ist nicht nur Ergebnis einer Aphasie aufgrund physischer Schwäche oder eines traumatischen Sprachverlusts, wie sie für die Schwächsten der Lager, die sogenannten Muselmänner, beschrieben wird, sondern auch Ergebnis der Nutzlosigkeit von Reflexion und Kommunikation. Die Reflexion des Erlebten wird ausgezehrt durch die Monotonie, in der das Lagerleben sich abspielt. Aus der ewigen Wiederholung des Immergleichen lässt sich ein Erlebnis nicht als Erfahrung isolieren und in der Erinnerung, unterschieden von anderen Erfahrungen, ablegen. Levi beschreibt das Ende eines Tages im Lager:

Auch dieses Heute, das uns in der Frühe noch unüberwindlich und ewig schien, haben wir Minute für Minute hinter uns gebracht; jetzt liegt es abgeschlossen da, wird augenblicklich vergessen, ist schon kein Tag mehr, hat bei keinem eine Spur von Erinnerung hinterlassen. Wir wissen, daß der morgige Tag geradeso sein wird wie der heutige. [21]

Ein Überleben im Lager ist nur möglich, indem sich der Inhaftierte so weit als möglich gegen alle Gefühle immunisiert und ausschließlich darauf konzentriert bleibt, sein Leben zu bewahren. Jede Erinnerung wäre eine Spur, an der sich ein Bewusstsein über die beschämende Wirklichkeit des Lagerlebens würde aufstellen können. Momente des Schmerzes oder der Trauer stören diese Effizienz und stellen eine Gefahr für das Leben dar.

Die Schwierigkeit der Darstellung gründet weiter, folgt man Primo Levi, in der Unzulänglichkeit des bestehenden Vokabulars – die bekannten Worte sind in der anderen Welt des Lagers unzutreffend. Zum Schluss des Kapitels über die Ankunft in Auschwitz bemerkt Levi: „Da merken wir zum erstenmal, daß unsere Sprache keine Worte hat, diese Schmach zu äußern, dieses Vernichten eines Menschen.“ [22]  Es hätte einer neuen Sprache bedurft, um das Lagerleben zu beschreiben, denn das Erleben in den Lagern ist ein viel härteres als das Erleben draußen, das die bestehenden sprachlichen Register prägte:

Ebenso wie unser Hunger nicht mit der Empfindung dessen zu vergleichen ist, der eine Mahlzeit verloren hat, verlangt auch unsere Art zu frieren nach einem eigenen Namen. Wir sagen „Hunger“, wir sagen „Müdigkeit“, „Angst“ und „Schmerz“, wir sagen „Winter“, und das sind andere Dinge. […] Hätten die Lager länger bestanden, wäre eine neue, harte Sprache geboren worden. [23]

3.5 Entindividualisierung
Primo Levi schildert einen weiteren kollektiven Traum, den alle Inhaftierten träumen:

Wir sind das, grau und identisch, klein wie Ameisen und groß bis zu den Sternen, einer an den andern gepreßt, ungezählte bis über die ganze Ebene bis zum Horizont; manchmal zu einer einzigen Substanz gefügt, zu einem entsetzlichen Mengsel, in dem wir uns verklebt und erstickt fühlen, manchmal im Kreis marschierend, ohne Anfang und Ende, in rasendem Taumel und einer Aufwallung von Übelkeit, die uns von der Herzgegend zum Halse aufsteigt; bis der Hunger, die Kälte und die volle Blase unsere Träume in die üblichen Bahnen lenken. [24]

Der Prozess der Eingliederung zeigt sich als Auslöschung von den Differenzen, die die Inhaftierten als individuelle Persönlichkeiten hervortreten lassen. Der Traum imaginiert die Deportierten als unterschiedslose Masse; was das Subjekt wieder zu sich kommen lässt, sind „der Hunger, die Kälte und die volle Blase“, Bedürfnisse, die der Körper stellt. An verschiedenen Stellen des Textes bezieht sich Levi auf die Inhaftierten in diesem Zustand als auf Tiere oder Maschinen, die auf äußere Reize ohne merkliche Intervention eines Bewusstseins reagieren. Die Inhaftierten werden mit ihren Bedürfnissen identisch und dadurch alle gleich: „Das Lager ist der Hunger. Wir selber sind der Hunger, der lebende Hunger.“ [25]  Was die „Eingliederung“ überlebt, ist das schiere körperliche Bedürfnis. Dieses ist in der Wirklichkeit der Lager nicht individuell.

3.6 Grauzone
In seltenen Fällen gelangen auch Inhaftierte zu Macht und regieren ihren Machtbereich mit eiserner Hand, schon aus Angst, ihr Privileg wieder zu verlieren. Levi beschreibt das Lagerleben als „Kampf des Einzelnen gegen alle“ [26] . Angesichts der indifferenten Feindschaft aller, von wenigen Freund- und Komplizenschaften abgesehen, angesichts der Schwierigkeit, Gruppen und ihr Verhältnis zueinander zu bestimmen, beschreibt der Autor das Lager als „Grauzone“. Levi schreibt: „Sklaven und Herren, und auch die Herren sind Sklaven; die einen treibt die Angst, die anderen treibt der Haß, darüber hinaus schweigt jede andere Macht. Alle sind Feinde oder Rivalen.“ [27]  Giorgio Agamben weist darauf hin, dass sich die Täter nach Kriegsende unter Anklage als Opfer darstellten, ein Begriff von Adolf Eichmann stellt eine grausame Parallele zu den Leiden der Opfer her. Agamben betont:

Die Henker wiederholten übereinstimmend immer wieder, daß sie nicht anders handeln konnten, als sie es taten: daß sie also überhaupt nicht konnten – sondern einfach nur mußten. Handeln, ohne handeln zu können, nennt sich: Befehlsnotstand. Sie übten „Kadavergehorsam“, wie Eichmann sagte: gehorchten wie Leichen. [28]

Wo Levi die Gemeinschaft der Inhaftierten als identitätslose Masse beschreibt, inszeniert sich die SS der Benennung ihrer Dienstgrade nach als „Rotte“ oder „Schar“. In ihrem Abstand zum humanistischen Bild vom Menschen ähneln sich für Levi Täter und Opfer:

Die hier beschriebenen Personen sind keine Menschen. Ihr Menschentum ist verschüttet, oder sie selbst haben es unter der erlittenen oder den anderen zugefügten Unbill begraben. Die schändlichen, dummen SS-Leute, die Kapos, die Politischen, die Kriminellen, die großen und kleinen Prominenten, bis hinunter zu den unterschiedslosen versklavten Häftlingen, alle Abstufungen dieser ungesunden von den deutschen gewollten Hierarchie: sie sind durch ihre einheitliche innere Verödung auf paradoxe Art miteinander verbrüdert. [29]

Ein besonders grausamer Fall sind die jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau: Sie bestanden aus jüdischen Häftlingen des Vernichtungslagers, die dazu gezwungen wurden, die Ermordung der Deportierten vorzubereiten und die Opfer auszuplündern und zu verbrennen. Damit keine Zeugen der Vernichtung überlebten, erschoss die SS regelmäßig die Sonderkommandos, die immer wieder durch Inhaftierte ersetzt werden sollten.

3.7 Muselmann, Giorgio Agamben
Als Muselmänner werden in der Sprache einiger Lager die Schwächsten bezeichnet; Inhaftierte, die in völliger Apathie und Aphasie leben, die nicht auf Schmerz oder Hunger oder Kälte reagieren, die keinen sichtbaren Überlebenswillen haben und ihren Tod nicht zu fürchten scheinen. Kein Ausdruck einer menschlichen Regung ist in ihren eingefallenen Gesichtern zu erkennen, Levi erwähnt sie als „Gegenwart ohne Antlitz“ [30] . In der Figur des Muselmanns verschärfen sich die Züge, die das Lagerleben den Inhaftierten aufzwingt, aufs Grausamste. Der Muselmann ist einsam in dem radikalen Sinn, dass er auf keine Reize der Umwelt mehr reagiert, nicht einmal auf grausamste Gewalt. Der Muselmann ist gesichtslos in dem radikalen Sinn, dass weder Inhaftierte noch SS ihn als sprachbegabtes Wesen betrachten und ein Wort an ihn richten. Levi zeichnet ein entsetzliches Bild von ihrem Schicksal:

Mögen sie auch eingereiht sein in die zahllose Menge von ihresgleichen, die sie rastlos mit sich zieht, sie leiden doch und schleppen sich dahin in grauer, innerer Einsamkeit; und sterben oder verschwinden in Einsamkeit, ohne eine Spur von Erinnerung zu hinterlassen. [31]

Der Autor weist den Muselmännern einen besonderen Platz in der Wirklichkeit der Lager zu:

Sie, die Muselmänner, die Verlorenen, sind der Nerv des Lagers; sie, die anonyme, die stets erneuerte und immer identische Masse schweigend marschierender und sich abschuftender Nichtmenschen, in denen der göttliche Funke erloschen ist, und die schon zu ausgehöhlt sind, um wirklich zu leiden. Man zögert, sie als Lebende zu bezeichnen; man zögert, ihren Tod, vor dem sie nicht erschrecken, als Tod zu bezeichnen, weil sie zu müde sind, ihn zu erfassen. [32]

Der Muselmann ist keine Randfigur des Lagerlebens, sondern dessen Fluchtpunkt. Er ist, was den Inhaftierten geschieht, wenn sie ihren unbedingten Lebenswillen unter dem unmenschlichen Druck des Lagers aufgeben: „Alle Muselmänner, die im Gas enden, haben die gleiche Geschichte, besser gesagt, sie haben gar keine Geschichte; sie sind dem Gefälle gefolgt bis in die Tiefe, ganz natürlich, wie die Bäche, die schließlich im Meer enden.“ [33]

Giorgio Agamben folgt Levi in diesem Punkt und findet den Muselmann im Zentrum seiner Analyse des Lagers. Er schreibt „die entscheidende Funktion der Lager im System der nationalsozialistischen Biopolitik […] der Produktion des Muselmanns“ [34]  zu. Schon in den Rassengesetzen findet er den Beginn der systematischen Verwandlung: „So wird der Nichtarier zum Juden, der Jude zum Deportierten (‚umgesiedelt’, ‚ausgesiedelt’), der Deportierte zum Häftling, bis die biopolitischen Zäsuren im Lager ihre Grenze erreichen. Diese Grenze ist der Muselmann.“ [35]  Der Muselmann ist eine Erscheinung, die das philosophische Denken des Menschen in Aporien führt:

Er zeigt sich einmal als der Nicht-Lebendige, als das Wesen, dessen Leben nicht wirklich Leben ist, und ein andermal als der, dessen Tod nicht Tod genannt werden kann, sondern nur „Fabrikation von Leichen“; als Einschreibung einer toten Zone in das Leben und einer lebendigen Zone in den Tod. [36]

Der Muselmann verwischt die Grenze zwischen Leben und Tod, die nun als Schwelle erscheint. Er räumt die Grenze aus, von der aus Leben und Tod zu bestimmen, zu unterscheiden sind; „der Muselmann [bedeutet] gewissermaßen die bewegliche Schwelle, an der der Mensch in den Nichtmenschen […]überging“ [37] .

In Agambens zugespitzter Lesart ist der Muselmann aber der einzige, der das Menschheitsverbrechen Shoah bis ins Letzte hat erleiden müssen und es somit bezeugen könnte. Allerdings stehe er daher außerhalb der Sprache: [38]

Die „wirklichen“ Zeugen, die „vollständigen Zeugen“ sind diejenigen, die kein Zeugnis abgelegt haben und kein Zeugnis hätten ablegen können. Es sind die, die „den tiefsten Punkt des Abgrunds berührt haben“, die Muselmänner, die Untergegangenen. Die Überlebenden – Pseudo-Zeugen – sprechen an ihrer Stelle als Bevollmächtigte: sie bezeugen ein Zeugnis, das fehlt. [39]

Auch Levi sieht in der Produktion des sprachlosen, bewusstlosen, nach humanistischen Kategorien unmenschlichen Menschen die Erfüllung der nazistischen Herrschaftspolitik, die den Deutschen auch nach der kriegerischen Niederlage noch einen Sieg bescherte: „Wir lagen in der Welt der Toten und Larven. Um uns und in uns war die letzte Spur von Zivilisation geschwunden. Das Werk der Vertierung, von den triumphierenden Deutschen begonnen, war von den geschlagenen Deutschen vollbracht worden.“ [40]

3.8 face-to-face der Totenköpfe, Jean-Luc Nancy
Jean-Luc Nancy entwickelt seine Beschreibung der Lager in eine ähnliche Richtung. Auch er sieht das Lager als Maschinerie zur Herstellung von Sprachlosigkeit. Ihm zufolge

geht es genaugenommen darum, zu verstehen, daß der Erfolg der Lager zuallererst in der Ausmerzung der Darstellung oder besser der Darstellbarkeit selbst bestand, so daß diese Ausmerzung entweder auf keinerlei Weise mehr dargestellt werden kann oder aber die Darstellung auf den Prüfstand ihrer selbst gestellt wird: wie kann etwas ins Da, in die Präsenz gestellt werden, was nicht unter die Ordnung der Präsenz fällt? [41]

Nancy bezieht allerdings das nationalsozialistische Selbstbild, die Idee des arischen Körpers, mit ein und findet hier die Entsprachlichung gleichermaßen – so dass sich schließlich in Muselmann und SS-Soldat zwei sprach- und bewusstlose Präsenzen gegenüber stehen. Nancy beginnt mit dem Ideologem des arischen Menschen: „Der Gedanke des arischen Körpers ist mit dem Gedanken der Präsenz identisch, oder mit der restlosen Präsenz eines Gedankens: ziemlich genau das, was das Abendland seit Jahrhunderten als Götzenbild, als Idol auffaßte.“ [42]  Die nationalsozialistische Ideologie, die Weltanschauung – als ein substantiviertes universalisiertes Anschauen der Welt – wird im arischen Körper anwesend gemacht. Der arische Körper ist absolute Idee und absolutes Medium der Ideologie, „der absolute Repräsentant der Repräsentation“ [43] . Das Bezeichnete ist im Zeichen-Körper anwesend, der auch der Körper des bezeichnenden Subjekts ist. In diesem Sinn ist der Arier göttlich – er erschafft sich selbst aus dem Nichts –, aber ohne Heiligkeit; er ist nicht durch und in seinem Entzug gegeben, sondern in sich restlos präsent. Für die SS, die sich unter das Totenkopf-Abzeichen stellt, stellt Nancy fest: „Der abgehärtete Vernichter ist sein eigener Sinn, ein regloser Sinnblock, dessen Behauptung und dessen Triumph sich stillschweigend ereignet.“ [44]  Und dessen Funktion und Werk betreffend: „[I]n Wirklichkeit ist die Erfüllung der Aufgabe bereits unmittelbar dort, in den Leichenhaufen, oder im Rauch und in der Asche.“ [45]  Die grausame Gewalt der Lager ist demzufolge nicht Mittel zu einem Zweck, sondern Mittel und Zweck in sich.

Die nazistische Ideologie besorgt die Selbstimmunisierung der SS gegen menschliche Regungen wie Scham oder Mitleid. Sobegegnet der SS-Mann dem verstummten und apathischen Opfer der Gewalt im Lager.

Das Lager als Darstellungsdispositiv stellt also zwei Gesichter einander gegenüber, deren beider Augen den Tod in sich bergen: das Gesicht des Toten oder des lebendigen Toten (des „Muselmanns“, ein jedenfalls ewig bloß aufgeschobener Tod) und das mit einer Totenkopfkappe bedeckte Gesicht. Der SS-Offizier stellt sich als Tod dar und er gibt für sich selbst die Darstellung des Todes als sein eigenes Werk wieder. [46]

Der Muselmann ist des Todes beraubt, wie Agamben feststellt; der Tod findet außerhalb der Sprache statt, kann nicht im Leben symbolisiert werden. Von ihm kann als von einem Tod nicht gesprochen werden. Der Sterbende verlässt bereits vor seinem Tod den Bereich des Lebens und ihm werden bereits im Leben die Attribute des Menschlichen genommen. Für Nancy steht das Vernichtungswerk der SS gleichermaßen außerhalb der Sprache:

Der Vernichtete ist folglich derjenige, der – vor seinem Tod und um seines Todes zu sterben, die der Vorstellung des Vernichters entspricht – selbst der Darstellungsmöglichkeit beraubt wird, also letztlich der Möglichkeit von Sinn. Er wird, mehr noch als zu einem Objekt (das nicht mehr Mensch ist, sondern nur Objekt für ein Subjekt), zu einer weiteren, in sich eingemauerten Präsenz vor dem Henker. Ein face-to-face der zwei reinen Dichten, die sich gegenseitig widerspiegeln, wie sich der Tod selbst in sich widerspiegelt. Ein Gegenüberstehen von zwei Götzen oder zwei leeren Massen, weder Ding noch Atem, eher eine doppelte Verdickung, die in zwei in sich beschädigten Präsenzen gerinnt. [47]

4. Sprechen von/nach Auschwitz, der Begriff Shoah und das DENKMAL FÜR DIE ERMORDETEN JUDEN EUROPAS in Berlin

Zum Abschluss dieses Artikels sollen nun zwei Beispiele für eine Darstellung von/nach Auschwitz aufgezeigt werden, welche die oben diskutierten Probleme in sich reflektieren. Das Wort Shoah und das DENKMAL FÜR DIE ERMORDETEN JUDEN EUROPAS stellen Versuche der Bezeichnung, des Verweises, des Bezugs dar, denen ein Bruch, eine Lücke, ein Schweigen eingelassen ist. Sie sind Repräsentationen, also Darstellungen, die Abwesendes bedeuten, dieses alsAbwesendes vergegenwärtigen ohne es in sich zu versammeln, sich an dessen Stelle zu setzen.

4.1 Zerstörung des Ganzen in den Lagern
Jean-Luc Nancy zufolge ist in den Lagern die Realisierung eines Darstellungsdispositivs zu sehen, das die Darstellung auslöscht, oder zumindest auf den Prüfstand stellt. Wie das Geschehene darstellen? Wie sich sprachlich darauf beziehen? Die Ideologie, die den arischen Körper als Idee entwirft und restlos in sich anwesend macht, die den arischen Körper zur Götze des ihn Anbetenden macht, bezeichnet Nancy als „Regime der ‚Überrepräsentation’“ [48] . In derselben Bewegung wird der als jüdischbezeichnete Körper, der die „Überrepräsentation“ durch seine Anwesenheit stört, im Raum der Repräsentation ausgelöscht. Der Jude ist das Ausgeschlossene des nazistischen Regimes; auf diesem Ausschluss gründet und stärkt sich die nationalsozialistische Ideologie. Nancy sieht in der Idee des Ganzen, der Gesamtheit ein Ideologem, das nach dem Geschehen der Lager verworfen werden muss. In UN SOUFFLE/EIN HAUCH schreibt er:

Künftig liegt der Schatten auf allem, verfinstert alles, ist Dunkelheit des Ganzen als solchem: der ganzen Menschheit, des ganzen Menschen und des Ganzen der Welt. Die Lager wurden errichtet im Namen einer Weltanschauung – ihr Rauch verfinstert alle Anschauungen eines Ganzen. Die Worte der Weltanschauung zerstörten: ihr Gebrüll hat auf alle Zeit alle Worte taub und jede Totalität des Sinns zweifelhaft gemacht. [49]

So kann es keinen sprechenden Begriff geben, der die Gesamtheit der Shoahbezeichnet. Das Paradox des vorigen Satzes umgeht Nancy, indem er Shoahnicht als einen Signifikant beschreibt, sondern, wie er in dem gleichnamigen Text ausführt, als einen „Hauch“. Die Geste des Bezeichnens, die kein stabiles Gemeintes bezeichnet, ist ein Hauch; kein Stummsein und kein Sprechen, sondern dessen Unterbrechung, Lücke, Zäsur.

Als Beispiele für ein solches Sprechen möchten wir eben jenen Begriff der Shoah und – als Ausgangspunkt einer kritischen Diskussion – das Mahnmal der europäischen Juden in Berlin diskutieren.

4.2 Das Fremd-Wort Shoah
Das Wort Shoah ist hebräisch und bedeutet AbgrundVernichtungDunkelheitgroße KatastropheUnheilUntergang. Es wird dem Begriff des Holocaustzunehmend vorgezogen, der eine problematische Nähe zu religiösen Opferriten herstellt. Auch Shoah wird als Begriff, vor allem wegen seinen Anklängen an Naturkatastrophen, kontrovers diskutiert. Während in der hebräischen Sprache der Begriff Shoah im Zuge der langen Geschichte der Judenfeindlichkeit und der damit verbundenen Pogrome schon vorher gebraucht wurde (er steht auch in der Unabhängigkeitserklärung Israels von 1948), war er im Sprachgebrauch der deutschen Öffentlichkeit vor der Veröffentlichung des Filmes SHOAH von Claude Lanzmann kaum geläufig. Eben die Tatsache, dass Shoah zunächst ein Fremdwort ist, ein Wort, dessen Bedeutung nicht bekannt oder eindeutig konnotiert ist, ein Wort also, das zugleich ein Nicht-Wort ist, scheint es dazu zu befähigen, das Singuläre zu bezeichnen. Auf die Frage eines Journalisten, was das Wort Shoah für ihn auszeichne, antwortet Claude Lanzmann:

Es ist kurz. Es ist dunkel. Es ist opak. Es ist andrerseits robust wie ein Atom, es ist unzerstörbar. Ein Wort mit all diesen Qualitäten brauchte es, um das Unbenennbare zu benennen. Wir suchten nach einem Wort für etwas, dass es in der Geschichte der Menschheit zuvor noch nie gegeben hatte, für das gar kein Wort existieren konnte! […] Entscheidend war, dem Film einen Namen zu geben, den die Menschen erst lernen mussten, um ihn zu begreifen. [50]

Nancy schreibt in UN SOUFFLE/EIN HAUCH: „Shoah. Für mich ist es kein Name, selbst wenn man es mir übersetzt hat. Für mich ist es kein Wort, selbst keines, das aus einer anderen Sprache stammt. Ich vernehme es wie einen Hauch, ich werde sagen, es ist ein Hauch.“ [51]  Vor dem Hintergrund des Diskurses, der Aussagen und des Geredes von der Vernichtung, in der Reden und Schweigen gleichermaßen unangemessen seien, schätzt Nancy Shoah als Nicht-Begriff, eben keine Ansammlung von Worten über, sondern ein Hauch zwischen zwei Worten, ein ersticktes Wort, ein verschwiegenes, zerbrechliches, zerbrochenes Wort.

4.3 DENKMAL FÜR DIE ERMORDETEN JUDEN EUROPAS
Das DENKMAL FÜR DIE ERMORDETEN JUDEN EUROPAS besetzt ein 13.100 mgroßes Feld im Zentrum Berlins mit 2711 rechteckigen Stelen von bis zu fünf Metern Höhe. Außerdem finden sich 41 Bäume auf dem Gelände. Unterirdisch befindet sich das Museum Ort der Information. Das Bauwerk geht auf die Entwürfe des Architekten Peter Eisenmann und des Bildhauers Richard Serra zurück. Der Bildhauer verlässt das Projekt, als sich abzeichnet, dass das Denkmal nur in verkleinertem Maßstab realisiert werden kann. Der ursprüngliche Entwurf nimmt eine weit größere Fläche ein. Der Architekt hat den Ort wiederholt als place of no meaning bezeichnet. Tatsächlich findet sich kein Schild, keine Plakette, die das sogenannte Holocaust-Mahnmal als einen Ort des Gedenkens an die Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden bezeichnet.

Nichtsdestoweniger ist der Ort unter genannter Bezeichnung zu großer Bekanntheit gelangt. In Nachbarschaft des Reichstags, des Brandenburger Tors, der Straße Unter den Linden und des Potsdamer Platz liegt das Denkmal in der prominentesten Gegend Berlins und ist als touristischer Spot bestens in die Umgebung integriert. Als Bauskulptur inszeniert sich das Denkmal aber als Unterbrechung, als Zäsur in der urbanen Grammatik des Viertels. Zwar sind urbane Denkmäler wie das Brandenburger Tor nicht weit, doch bemüht sich das Mahnmal eben nicht, wie diese mit der lauten Symbolik politischer Repräsentation den Besucher zu adressieren, sondern sich gerade im Rückzug aus der politischen Symbolsprache zu Gesicht zu bringen.

Das Stelenfeld erinnert an Sarkophag-Gräber auf jüdischen Friedhöfen, an Soldatenfriedhöfe oder Kriegerdenkmäler. Das Denkmal präsentiert sich als Ort des Gedenkens an die Toten. Die Stele aber, Äquivalent des Grab- oder Gedenksteins, ist unbezeichnet. Es fehlen Name und Geburts- sowie Todestag des Verstorbenen, bzw. der Name des historischen Geschehnisses, das durch den Stein zu Bewusstsein gebracht werden soll. Hier weist die Architektur Merkmale auf, die Jean-Luc Nancy an der Götze analysiert hat. Allerdings steht die Sprachlosigkeit der Säule nicht für sich ein, sondern ermöglicht dem Besucher eine ästhetische Erfahrung mit Immanenz und Verschwiegenheit. Im Bewusstsein von der Bedeutung des Orts organisiert sich die Erfahrung auf das Gedenken der Shoah hin.

Im unterirdischen Museum befindet sich der so genannte Raum der Namen. Der Raum ist schwarz ausgekleidet, vier Videobeamer projizieren auf die vier Wände. Dort erscheinen in ständigem Wechsel Name, Geburts- und Todesjahr der ermordeten europäischen Juden. Eine Stimme verliest die Kurzbiographie der ermordeten Person. Der Raum stellt sich also in die Tradition abendländischer Bestattungsriten. Am bezeichneten Grabstein des Verstorbenen werden an die wichtigsten Daten des verschiedenen Lebens erinnert. Im Unterschied zum Grabstein sind die Wände hier nur flüchtig mit Namen und Daten beschriftet, und der Besucher sieht sich nicht einem Steinblock gegenüber, sondern ist von Projektionen nach allen Seiten umgeben. Wo das Stelenfeld die Namenlosigkeit des Sterbens in den Lagern ins Bild setzt, versieht der Raum der Namen die Ermordeten mit Name und Geschichte. Er kann als Versuch beschrieben werden, den Toten Individualität im öffentlichen Bewusstsein zu geben.

Begibt man sich in das Stelenfeld, erscheinen die Stelen als massige und hoch aufragende Gegenwarten. Der Ort wird dem Rezipienten zur Gegenwart, die alle Sinne bedrängt und darin weniger auf Abwesendes als auf die schiere Anwesenheit verweist. Diese Erfahrung aber wird durch die Bestimmung des Ortes semantisiert. Wer um die Bestimmung weiß und mit historischem Wissen an den Ort herantritt, wird das Denkmal lesen, wer nicht weiß oder nicht wissen will, wird das Denkmal benutzen. Der Ort steht in der Kritik, sich gleichermaßen als Spielplatz für Gruppen von Schulkindern zu eignen. Aufseher sollen das Problem lösen.

Das Denkmal inszeniert sich nicht als von der urbanen Landschaft getrennt, so sehr es seine Fremdheit und Andersartigkeit in Bezug zum umgebenden Stadtraum anzeigt. Die Stelen sind an den Rändern des Feldes niedrig bzw. in den Boden eingelassen wie Intarsien; im Bürgersteig der Ebertstrasse treten sie etwa als Unterbrechung des Pflasters auf. Das Mahnmal franst in den umgebenden städtischen Raum aus, es ist nicht scharf umrandet. Die Grenzen sind unsicher. Dieser Eindruck wird durch die 41 Bäume bestärkt, die den nahen Tiergarten in das Stelenfeld zitieren.

Das DENKMAL FÜR DIE ERMORDETEN JUDEN EUROPAS inszeniert die Geste der Bezeichnung, ohne jedoch zu bezeichnen. Die Stelen ragen als schweigende Signifikanten hoch auf, sind aber nicht beschriftet. Das stumme Denkmal wird durch den Besucher zum Sprechen gebracht, der erkennt, in welche ikonographische Tradition der Ort sich stellt, und der sich mit historischem Wissen und im Bewusstsein der Shoah in das Stelenfeld begibt. In sich eingemauerte Präsenzen – Götzen – sind die Stelen dem, der sie nicht liest. Allerdings sind sie auch diesem Götzen ohne Ritus, denn es existiert keine Liturgie für den Dienst an diesen Götzen. Anders als bei konventionellen Denk- und Mahnmählern gibt es für den Besuch des Denkmal für die ermordeten Juden Europas keine vorgeschriebene Rhetorik, die den Ort im gewohnheitsmäßigen Aufsuchen zum Verstummen bringt; der Besucher muss sich eine eigene Passage durch das Denkmal suchen.

Fußnoten    (↵ zurück zum Text)

  1. Die wenigen Überlebenden der Shoah stehen den traumatischen Erfahrungen mit sprachlosem Entsetzen gegenüber. Vom Versuch der Opfer das Schweigen zu brechen, hat Claude Lanzmann mit seinem Film Shoah ein beeindruckendes Dokument vorgelegt. Vgl. Claude Lanzmann: Shoah, DVD, 566 Minuten, Frankreich 1985.
  2. Primo Levi: Ist das ein Mensch?, München 1992, S. 108.
  3. Giorgio Agamben: Was von Auschwitz bleibt, Frankfurt a. M. 2003.
  4. Jean-Luc Nancy: „Das Darstellungsverbot“, in: ders.: Am Grund der Bilder, Berlin 2006, S. 51 – 91.
  5. Nancy: „Das Darstellungsverbot“, S. 61.
  6. Nancy: „Das Darstellungsverbot“, S. 56f.
  7. Vgl. Kapitel 4 dieses Aufsatzes
  8. Vgl. Jacques Derrida: „Die différance“, in: ders.: Die différance. Ausgewählte Texte, Stuttgart 2004, S. 110 – 150.
  9. Derrida: „Signatur Ereignis Kontext“, in: ders.: Die différance, S. 68-109, hier S. 98.
  10. Lanzmann: Shoah, Transkription in: Lanzmann: Shoah, Düsseldorf 1986, S. 101.
  11. Vgl: Nancy/ Lacoue-Labarthe, Philippe: „Der Nazi-Mythos“, in: Weber, Elisabeth/Tholen, Christoph (Hg.): Das Vergessen(e): Anamnesen des Undarstellbaren, Wien 1997.
  12. Levi: Mensch.
  13. Levi: Mensch, S. 147.
  14. Levi: Mensch, S. 58.
  15. Levi: Mensch, S. 30.
  16. Levi: Mensch, S. 27f.
  17. Levi: Mensch, S. 29.
  18. Levi: Mensch, S. 85.
  19. Levi: Mensch, S. 18.
  20. Levi: Mensch, S. 42.
  21. Levi: Mensch, S. 159.
  22. Levi: Mensch, S. 28.
  23. Levi: Mensch, S. 149.
  24. Levi: Mensch, S. 73.
  25. Levi: Mensch, S. 87.
  26. Levi: Mensch, S. 110.
  27. Levi: Mensch, S. 47.
  28. Agamben: Auschwitz, S. 68.
  29. Levi: Mensch, S. 147.
  30. Levi: Mensch, S. 108.
  31. Levi: Mensch, S. 106.
  32. Levi: Mensch, S. 108.
  33. Levi: Mensch, S. 107.
  34. Agamben: Auschwitz, S. 75.
  35. Agamben: Auschwitz, S. 74.
  36. Agamben: Auschwitz, S. 71.
  37. Agamben: Auschwitz, S. 40.
  38. Die Muselmänner als „lebende Tote“ zu bezeichnen, greift zu kurz. Agamben präpariert diese Denkfigur als einen Fluchtpunkt für die Auseinandersetzung der Zerstörung der Sprache in Auschwitz. Er lässt dafür außer Acht, dass es Fälle von sogenannten „Muselmännern“ gab, die das Lager überlebten, ihr Schweigen brachen und einen Zeugenbericht ablegten. Als Infragestellung der eigenen Systematisierung lässt er am Ende seines Buches ehemalige Muselmänner zu Wort kommen. Vgl. Agamben: Auschwitz, S. 145 – 150.
  39. Agamben: Auschwitz, S. 30.
  40. Levi: Mensch, S. 205f.
  41. Nancy: Darstellungsverbot, S. 63.
  42. Nancy: Darstellungsverbot, S. 70.
  43. Nancy: Darstellungsverbot, S. 71.
  44. Nancy: Darstellungsverbot, S. 76.
  45. Nancy: Darstellungsverbot, S. 76.
  46. Nancy: Darstellungsverbot, S. 78.
  47. Nancy: Darstellungsverbot, S. 81.
  48. Nancy: Darstellungsverbot, S. 70.
  49. Nancy: „Un Souffle/Ein Hauch“, in: Berg, Nicolas/Jochimsen, Jess/Stiegler, Bernd (Hg.): Shoah – Formen der Erinnerung. Geschichte, Philosophie, München 1996, S. 122-129, hier S. 125.
  50. Lanzmann im Interview mit Max Dax: „Unzerstörbar, dunkel, opak“, in: SPEX, #313 März/April 2008, S. 68 – 81.
  51. Nancy: Hauch, S. 125.

Editorial

Zu dieser Ausgabe
Die Beiträge der neuen Thewis-Ausgabe théôria, der ersten seit 2010, sind aus einer studentischen Tagung am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen (ATW) hervorgegangen. Damit folgt auch diese Ausgabe dem Ziel, das die Online-Zeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft seit ihrer Gründung im Jahr 2004 verfolgt: Thewis soll ein Forum für die Beiträge des theaterwissenschaftlichen Nachwuchses sein, für fortgeschrittene Studierende und Doktoranden, die über den Kontext von Seminaren hinaus eine Öffentlichkeit für ihr Nachdenken über das Theater suchen.

An einem Institut, an dem die künstlerische Praxis des Theaters einen zentralen Teil der Lehre darstellt, gehören die künstlerischen Präsentationen der Studierenden seit vielen Jahren zum festen Bestandteil der institutsinternen und öffentlichen Auseinandersetzung. Auf dem jährlich stattfindenden Festival Theatermaschine und bei Präsentationen der Szenischen Projekte zeigen die Studierenden ihre Aufführungen, Installationen, Hörstücke, Videos und anderen künstlerischen Formate, geben Einblick in ihre Projekte, erproben und diskutieren neue Perspektiven für das Theater. Mit der Tagung théôria, die am 12. Juli 2013 stattfand, sollte auch der bisher weitgehend unsichtbaren wissenschaftlichen Arbeit der Studierenden eine Plattform gegeben und Sichtbarkeit verliehen werden, um sie zur Diskussion zu stellen und einen neuen Impuls für den theoretischen Austausch zu setzen. Hervorgegangen aus einem Kolloquium, präsentierten die Studierenden ihre Fragestellungen und Thesen zum Theater der Gegenwart. Für die vorliegende Thewis-Ausgabe verschriftlichten die Studierenden ihre Tagungsvorträge, sodass ihre sieben Beiträge nun einer weiteren Auseinandersetzung zugänglich sind. Die Beiträge sind redaktionell überarbeitet worden.

Das vorbereitende Kolloquium vermied es, in irgendeiner Form inhaltliche Vorgaben zu machen. Es wurde weder eine gemeinsame Problemstellung noch ein Leitbegriff oder ein bestimmter Gegenstandsbereich der Theaterwissenschaft gewählt. Im Gegenteil war jede und jeder Studierende dazu angehalten, ihre oder seine je individuellen theaterwissenschaftlichen Forschungsinteressen vorzustellen. Wie schon die Tagung gibt deshalb auch die vorliegende Zeitschrift einen Überblick über die Vielfalt der studentischen Ansätze, die derzeit in der wissenschaftlichen Arbeit an der ATW verfolgt werden und nicht unter einem Begriff zusammengefasst werden können. Der Titel théôria dient als Name für diese Offenheit und fungiert als inhaltlich offene Klammer für die Verbindung von Theater und Theorie.

théôria verweist im Kern auf die bekanntermaßen gemeinsame Wurzel von Theater und Theorie, thea, die Schau – in der auch theos, Gott, seine Spuren hinterlassen hat –, die auf das zu Schauen geben von Dingen abzielt. Im 5. und 6. Jahrhundert vor Christus beschrieb das Konzept der Theorie zugleich eine körperliche Praxis, die darin bestand, das ausgewählte reiche Bürger einer Polis aufbrachen, durchs Land reisten, um an einem anderen Ort Theateraufführungen oder religiösen Ritualen beizuwohnen. Dort debattierten sie über das Gesehene und Gehörte, fällten ein Urteil oder fanden zu einer Beschreibung der Ereignisse, bevor sie schließlich in ihre jeweiligen Städte zurückreisten, um in einem formalen Akt von den Ereignissen zu berichten, die sie geschaut hatten. Theorie diente zum Bezeugen einer Aufführung. Im Begriff Theorie verbanden sich die Wahrnehmung – aisthesiseines Schauereignisses mit einer geteilten Praxis des Beschreibens und Urteilens. Die Zuschauer als Zeugen und die Phänomene, die sie wahrnahmen und beschrieben, waren in einer gemeinsamen Praxis miteinander verbunden. Reisen, Sehen und Sprechen waren mithin eine theoretische Praxis, eine Praxis der und als Theorie. Eric Méchoulan formulierte diesen Zusammenhang 1997 in seinem Buch The Time of Theory folgendermaßen: „Theory was the act of legitimizing aesthetics, a social and collective witness to the occurence of an event, or more precisely, an occurence as an event.“ Bevor Platon und Aristoteles die Theorie ein Jahrhundert später auf die geistige Schau, die Schau von Ideen oder das Studieren von physikalischen und metaphysischen Konzepten einengten, findet sich also ein offener Begriff von Theorie als einer körperlichen Praxis des Sehens, Sprechens und Wahrnehmens. Theorie nicht als Gegensatz zur aisthesis aufzufassen, sondern sie als deren Bestandteil zu begreifen, ist ein Kerngedanke, den das Gießener Institut in seiner Verbindung von wissenschaftlicher und künstlerischer Praxis aufzugreifen versucht. Er durchzieht auch die Beiträge dieser Ausgabe – teils indem die Studierenden explizit auf ihre eigenen Projekte verweisen, teils durch Fragestellungen, die aus den eigenen künstlerischen Erfahrungen hervorgehen, teils durch eine Sensibilität für den Gegenstand, die sich aus der eigenen szenischen Praxis speist.

In der Zusammenschau der Beiträge lässt sich allerdings nicht nur dieses geteilte methodologische Grundverständnis ausmachen, sondern darüber hinaus auch eine inhaltliche Gemeinsamkeit. Ob implizit oder explizit, die Reflexion über das Theater rekurriert vielfach auf Debatten um das Konzept der Mimesis, das seit Platon und Aristoteles das Theater geradezu definiert. In dieser Wiederbelebung eines überholt geglaubten theatralen Grundbegriffs zeigt sich nicht nur die Leistungsfähigkeit eines Denkens der Mimesis für ganz verschiedene Aspekte, Formen und Typen des Theaters, sondern auch dessen Virulenz für Auseinandersetzungen um ein zeitgenössisches Theater und um aktuelle Forschungsfragen in veränderter medialer Landschaft. Dass sich die Interessen der jungen Theaterwissenschaftler ausgerechnet an diesem alten Begriff des Theaters festmacht, ist eine zugleich verwunderliche und begrüßenswerte Entwicklung, die durch das Fehlen einer inhaltlichen Vorgabe sichtbar wurde. Dennoch bleibt letztlich die Diversität der Beiträge zu betonen, denn in ihrer Vielschichtigkeit bleiben sie unvereinbar und geben Auskunft über mehr als einen einzigen aktuellen Impuls der Forschung. Mit der Frage der Mimesis verbunden oder von ihr losgelöst, beschäftigen sich die Studierenden etwa ebenso mit der Rolle von Fiktion und Als-Ob oder von Politik und dem Politischen im Theater der Gegenwart.

Zu den einzelnen Beiträgen. Tilman Aumüller und Ruth Schmidt gehen der Frage nach, wie man sich in einem zynisch gewordenen gesellschaftlichen Umfeld heute überhaupt noch als kritischer Künstler platzieren kann. Aufhänger ihres Beitrags ist eine Werbekampagne der Bild-Zeitung, in der sie eine besonders perfide zynische Appropriation künstlerisch-subversiver Strategien vermuten, die zur Frage drängt, wie sich die zeitgenössische Kunst und das Theater in einem solchen Umfeld politisch verhalten kann. Eine tour de force durch die Begriffs- und Diskursgeschichte des Zynismus und der Mimesis, bei der sie sich Schützenhilfe von Peter Sloterdijk und Slavoj Žižek holen, führt sie zu der Annahme, dass eine künstlerische Antwort auf den zeitgenössischen Zynismus in dem Rückgriff auf den ihm voraufgehenden Kynismus und auf den affirmativen Einsatz der Lüge, des Als-Ob im Leben selbst bestehen könnte.

Die Mimesis direkt thematisierend, fragt Georg Döcker nach deren Verfasstheit im Theater als zeitbasierter Kunst. In Anlehnung an Philippe Lacoue-Labarthe untersucht er die wohl berühmteste Poetik der Schauspielkunst, Denis Diderots Paradoxe sur le comédien auf jene Komplizierung der Mimesis, die mit der Flüchtigkeit der Schauspielkunst einhergeht und das Paradox des Schauspielers noch einmal entscheidend verschärft. Anhand einer Relektüre bisher eher unbeachteter Stellen von Diderots Dialog kommt Döcker zu dem Schluss, dass das Paradox nicht nur darin besteht, dass der Schauspieler nichts sein muss, um alles spielen zu können, sondern darin, dass er sich umbringen muss, um unsterblich zu sein, um also die Flüchtigkeit seiner Kunst zu transzendieren und in jeder Aufführung alles sein zu können.

Um die Mimesis von Bild und Körper in der Gegenwartskultur geht es Kathrin Ebmeier in ihrem Beitrag. Sie analysiert die Fernseh-Castingshow Germany’s Next Top Model in Bezug auf die mediale Subjektivierung der angehenden Models. Ob die Kandidatinnen in die jeweils nächste Runde des Wettbewerbs kommen, hängt davon ab, ob sie am Schluss jeder Sendung ein Foto von sich selbst von Heidi Klum überreicht bekommen. Das Foto ihres Körpers macht sie zum Model – oder nicht. Ebmeier versteht dieses Moment als Kristallisationspunkt einer Subjektivierungsmaschine, die in der Show im Gang ist, um mit Schaulaufen und Fotografien einen bestimmten Subjekt-Typus zu schaffen, den sie im Rekurs auf die Autoren-Gruppe Tiqqun Jungen-Mädchen nennt, einer Gruppe, von der Ebmeier im Übrigen auch den formalen Ansatz ihres offen, thesenhaft formulierten Textes ableitet. Die Jungen-Mädchen sind in Bezug auf Körper und Geschlecht absolut uneigentliche, wandlungsfähige Subjekte, die sich situationsbedingt neu erfinden, um das Ideal eines neoliberal-postfordistischen Arbeiters zu performen.

Jan-Tage Kühling stellt Überlegungen zum postkolonialen Subjekt auf der Bühne an. In einer Aufführungsanalyse von Jérôme Bels Pichet Klunchun and myself widmet er sich insbesondere einer Szene, in der Bel eine Bewegungsphrase des thailändischen Khon-Tänzers Klunchun nachzuahmen versucht. Kühling eröffnet einen Blick auf diese Situation als Verhandlung der (un-)möglichen Repräsentation des postkolonialen Subjekts. In dem Moment, dass Klunchun vom exotisch angeblickten Subjekt zum Vorführer eines Tanzes wird, vermutet Kühling einen Bruch in der Repräsentation. Klunchun wird zum bloßen Repräsentanten einer Tanzordnung, zur Funktionsstelle einer symbolischen Ordnung, und damit als individuelles Subjekt unsichtbar. Derart sieht Kühling in Pichet Klunchun and myself eine (un-)mögliche Exponierung des Anderen als subalternes Subjekt als politischer Aktion.

Das Politische des Theaters steht auch im Zentrum des Aufsatzes von Michael McCrae. Ausgehend von der Besetzung der Bühne des Maxim Gorki Theaters durch Gießener Studierende, an der er selbst aktiv teilnahm, stellt er die Frage nach der Möglichkeit von politischer Intervention des Theaters heute. Aus den Erfahrungen der Besetzung des Gorki Theaters leitet er ab, dass das politische Potential des Theaters in einer Herausforderung seiner fiktiven Verfasstheit besteht. Nur wenn das Theater sein Als-Ob aufs Spiel setzt und die Grenze des Lebens zum Flirren bringt, sodass man, wie im Fall der Besetzung geschehen, nicht mehr weiß, ob es sich um Kunst oder Realität, also eine reale politische Aktion handelt, kann das Theater eine Verunsicherung bewirken, die politisch genannt werden kann. McCrae fundiert diese These durch den Bezug auf die politische Theorie von Walter Benjamin, belegt sie in der Folge auch an einem Aufführungsbeispiel von Christoph Schlingensief und bindet sie schließlich in den aktuellen politischen Diskurs der Theaterwissenschaft ein.

Das mimikry-hafte Aufgehen in einem künstlichen Habitat als Bühne auf der Bühne beleuchtet Bettina Rychener. Das soziologische Experiment Mars500, in dem ein einjähriger Aufenthalt von Astronauten auf dem Mars simuliert wird, um deren Verhalten in einer solchen Lage wissenschaftlich auszuwerten, dient ihr als Ausgangspunkt für die Behandlung von fiktiven, immersiven Raumsettings, in denen die Beteiligten so sehr von der Situation absorbiert werden, dass ihre Wahrnehmung an der Grenze zwischen Realität und Fiktion oszilliert. Habitat nennt Rychener, Allan Kaprow zitierend, diese speziellen Räume, um mit diesem Begriff schließlich eine neue Perspektive für die Analyse solcher Räume im Theater zu eröffnen. Anhand von Rimini Protokolls Situation Rooms zeigt sie auf, dass man unter dem Habitat eine Anordnung verstehen kann, in der nicht nur die Performer, sondern auch die Zuschauer in eine fiktive Welt eingeladen werden, um sich in ihr zu verhalten.

Tessa Theisen schließlich versucht den Rand des Mimetischen auszumessen, indem sie fragt was passiert, wenn der Mensch keine Bilder von sich nachahmt und herstellt. In einem Impuls-Text, der von ihrer eigenen künstlerischen Praxis ausgeht, widmet sie sich aktuellen Diskursen des Posthumanen und bringt sie in Verbindung mit dem Begriff des Monströsen. Das Monster ist für sie eine Figur, die sich nicht nur der Signifikation entzieht, sondern ein Eigenleben jenseits jeglicher menschlicher Wahrnehmung hat, das sich aber paradoxerweise dennoch indirekt, nämlich affektiv erfahren lässt. Ein posthumanes Theater wäre demnach eines, das den Menschen mit dem Unmenschlichen zu konfrontieren versucht, auch wenn es immer nur menschlich erfahren werden kann.

Analog zur Prämisse, keine thematische Vorgabe zu machen, sind die Beiträge in ihrer stilistischen und formalen Unterschiedlichkeit und zum Teil auch in ihrer Offenheit und Vorläufigkeit belassen (auch die Frage der geschlechter-sensiblen Schreibweise blieb den Autoren überlassen). Ebenso wenig wie es ein Theater der Gegenwart gibt, gibt es eine Art, schreibend darüber zu reflektieren.

Unser Dank gebührt abschließend all jenen, welche die Tagung und diese Thewis-Ausgabe möglich gemacht haben. Die Ausrichtung der Tagung wäre nicht möglich gewesen ohne die finanzielle Unterstützung der Hessischen Theaterakademie. Besonders zu danken ist Melchior Hoffmann für die Mitarbeit bei Vorbereitung und Durchführung der Tagung, des Weiteren  Hendrik Borowski, Caroline Creutzburg, David Rittershaus und Lea Schneidermann, die im Team die Licht-, Ton- und Videotechnik der Tagung betreut haben. Ohne die wunderbare Moderation von Dr. Lorenz Aggermann, Eva Holling und Dr. Philipp Schulte hätte den Vorträgen deren Rahmung und fundierte Diskussion gefehlt. Und weder Tagung noch Zeitschrift wären zustande gekommen ohne die Beiträge aller Autoren, denen hiermit noch einmal herzlich gedankt werden soll. Die Einrichtung der Beiträge als Online-Ausgabe schließlich wurde technisch von Jost von Harleßem unterstützt.

Gießen, im Januar 2014

Impressum

Herausgeber:
Georg Döcker (Gießen)
Gerald Siegmund (Gießen)

Redaktion:
Georg Döcker, Gerald Siegmund

Kontakt:
Georg Döcker, g.doecker[at]gmx.at

Verantwortlich i.S.d.P-R. für die aktuelle Ausgabe:
Prof. Dr. Gerald Siegmund
Institut für Angewandte Theaterwissenschaft
Justus-Liebig-Universität Gießen
Karl-Glöckner-Str. 21 A
35394 Gießen
Tel.: 0641/99 312 20
Fax: 0641/99 312 29

Die Kunst mit der Wirklichkeit betrügen

1. Bild dir deine Meinung

Man muss wohl davon ausgehen, dass die, die den Spruch Bild dir deine Meinung erfunden und ausgewählt haben, um die Ironie des Satzes wissen. Und er verfehlt seine Wirkung nicht. Er beweist Selbstironie und in seiner Ironie Reflektiertheit und Witz. Die erste Reaktion ist Erleichterung: endlich ist die Bild-Zeitung mal ehrlich, endlich ist sie selber ehrlich mit dem, was sie tut. Paradoxerweise ist sie es gerade dort, wo sie neue Leser zu überzeugen sucht, in der Werbung, wo sie sich diese Selbstentlarvung offensichtlich leisten kann. Das erscheint zuerst absurd, erklärt sich vielleicht aber daraus, dass sie auf diese Weise ziemlich präzise mit dem wirbt, was alle von ihr erwarten und weshalb sie gekauft wird,: mit Aberglauben.

Octave Mannoni (in Pfaller 2002, 47ff.) unterschied zwischen einem Glauben, zu dem man sich bekennt, und einem Aberglauben, von dem man sich selbst distanziert und den man anderen zuschreibt, der aber nicht weniger wirksam ist. Die Bild-Zeitung erzählt Halbwahrheiten, jeder weiß davon, keiner glaubt diese, aber genau deshalb wird sie gekauft; genau so manipuliert sie.

Die Lust und das Lachen, das diese Werbung auslöst, ist komplex: Ich lache, aber es ist kein erleichtertes Lachen darüber, dass wir alle aufgeklärt sind und die Wahrheit über die Bildzeitung wissen. Denn ich weiß zwar, wir wissen alle, dass die Bild-Zeitung Lügen verbreitet, aber dennoch oder gerade deshalb bildet sie Meinung. Die Bild-Zeitung wirkt, sie macht Politik. Zu meinem distanzierenden, intellektuellen Vergnügen gesellt sich ein anerkennendes Mitlachen – über den Witz und die Anderen, die ihn vielleicht doch für Ernst nehmen – und gleich schon eine schamlose Freude, mitlachen zu können, bei der ich von meiner eigenen politischen Haltung absehen kann. Auf der anderen Seite lache ich, resigniert über die Wirksamkeit dieses zynischen, schlechten Witzes,  auch ein verzweifeltes, sardonisches Lachen. Die Unterschiede im Lachen sind von einander kaum zu trennen und diese Ambivalenz macht die Faszination aus. Aber seit wann genießen wir auch, wenn uns widerstandsloser Zuspruch abgefordert wird? Ästhetischer Genuss entsteht mit der Nichtzustimmung in der Zustimmung. Die Sache wird auf die Spitze getrieben, weil durch die Ehrlichkeit, die sich hinter der Ironie dieser Werbung verbirgt, eine Ambivalenz der Gefühlsregungen gegenüber dem Satz entsteht, welche die Merkfähigkeit verstärkt und so im Dienst der Werbung steht, die zur Verkaufssteigerung für die Bildzeitung führt.

2. Von Kynismus und Zynismus
Was soll man davon halten? Auf der einen Seite ist da die Faszination für dieses Phänomen, in dem Unerträgliches und Geistvolles eine Einheit bilden, Sympathie, wie man sie für ein gewitzt ausgeführtes Gaunerstück hegt. Auf der anderen Seite ist da aber auch eine Sprachlosigkeit angesichts der Dreistigkeit, die ja alles selbst offenlegt und hier mit der Wahrheit lügt, was an Oscar Wilde erinnert: Politiker und Juristen haben einen Fehler, sie begründen ihre Lügen. Eine Lüge muss nicht begründet werden, sie ist ihr eigener Beweis – was will man mehr als KünstlerIn? Doch im Beispiel der Bild-Zeitung ist das besondere Vorrecht der Kunst, nämlich mit einer Lüge die Wahrheit zu sagen, ergaunert und auf eine perfide Weise verdreht, sodass mit der Wahrheit gelogen wird.

Wie reagiert man darauf als KünstlerIn? Ohne dass man ihr irgendeine, und sei es eine noch so kleine und symbolische Möglichkeit zur Besserung zutraut, ist Kunst nicht denkbar, auch solche nicht, die nicht explizit kritisch ist, will sie nicht reine Erbauung, Erholung oder Therapie sein. Abgesehen von neueren Ansätzen, die den Unterschied zwischen Kunst und Nichtkunst gänzlich nivellieren und von ihr einen direkten Nutzen für die Gesellschaft erwarten, denkt man das utopische Potential der Kunst als ein indirektes. Es liegt in ihrer symbolischen Wirkung, in ihrem reflexiven und selbstreflexiven Vermögen, in ihrem subversiven Potential oder ihrer kathartischen Wirkung. Das Beunruhigende an dem Werbespruch der Bild-Zeitung, der stellvertretend für ähnliche Phänomene steht, ist, dass dieser Werbespruch sich  auf dieses utopische Potential beruft, es zugleich aber gegen es selber wendet und durchstreicht. Diese Bewegung, in der etwas zitiert, aber gegen sich selber gewendet wird, erinnert an die situationistische Technik der Entwendung. Die Situationisten erfanden das detournement als ein letztes künstlerisches beziehungsweise anti-künstlerisches Mittel, den Feind zu entlarven, indem sie seine eigenen Worte benutzten und ihn sich so selbst offenbaren ließen.

Der Zynismus der Bild-Zeitung erschreckt, weil er sich als Entwendung dieser Entwendung zeigt. Subversion und Entwendung sind selbst entwendet, subvertiert und gegen das gerichtet, was Kunst nicht preisgeben kann, ohne zur leeren Hülle zu werden. Diese Verschiebung drängt zur Ahnung, dass Kunst vielleicht selber nur ein Aberglaube ist, an den irgendjemand glaubt, und wir haben uns zynisch darin eingerichtet. Ist Kunst zur Farce verkommen?

Aus Faszination für dieses Phänomen und seine Randbereiche, versuchen wir uns in diesem Text der Frage zu nähern: Was passiert in dieser Entwendung der Subversion beziehungsweise der Entwendung der Entwendung und warum ist es so schwer, hier Position zu beziehen? Und welche Kunst oder Nicht-Kunst soll, kann und will man angesichts dieser Farce eigentlich machen? Als Ausblick ist dabei im Prozess die vorsichtige These entstanden, dass im Zynischen, das im Folgenden genauer untersucht werden soll, ein Grundwiderspruch aufbricht, der auch Kunst immer mit-konstituiert. 

Kynismus
Peter Sloterdijk (1983, auch für das Folgende) beschreibt diese Bewegung, die die Subversion entwendet, in seiner Analyse Kritik der zynischen Vernunft als eine vom Kynismus zum Zynismus.

Diogenes von Sinope ist der erste berühmte Kyniker. Er ist Zeitgenosse Platons, der in seiner esoterischen Philosophie die erste große Trennung von Welt und Reflexion vornimmt. Platon postuliert eine Welt der Ideen, die getrennt ist von der Welt hier, die nur Abbild der Ideen ist. Die Ideen existieren in einem radikalen Außen, einem jenseitigen Ort. Dieser kann nur durch ein radikales Innen, nämlich den kontemplativen Verstand gesehen werden. Diese Trennung beinhaltet ein Wertigkeitsgefälle: der Geist wird zum Instrument der Wahrheit, während Körper und Welt in einer falschen, minderwertigen Seinsweise existieren. Zudem wird ein Machtgefälle erzeugt zwischen solchen, die sehen, also die Wahrheit schauen können und dadurch wissen, und solchen, die das nicht können. Der alte Anspruch der Philosophie, Lebensweisheit zu sein, nämlich eine Praxis, in der man seine Theorien auch verkörpert, wird damit aufgehoben. Dieses Ideal ist aber – und das verkompliziert die Sache – in Platons Dialogen in der Figur des Sokrates noch gegenwärtig, die Platon verwendet, um seine Lehre der Dualität zu verbreiten. Sokrates schreibt nicht, lebt und wirkt noch auf dem Marktplatz und stirbt schließlich für seine Lehre.

Gegen diese platonische Art zu denken und Welt und Geist teilen wendet sich Diogenes. Da Platon, wie er anhand seiner Figur Sokrates eindrücklich vorführt, argumentativ nicht zu schlagen ist, hat Diogenes eine andere Art des Argumentes gegen ihn, die uns durch den Biographen Diogenes Laertius überliefert ist.

Als Platon die Definition aufstellte, der Mensch ist ein federloses zweifüßiges Tier, und damit Beifall fand, rupfte er [Diogenes] einem Hahn die Federn aus und brachte ihn in dessen [Platons] Schule mit den Worten: „Das ist Platons Mensch“; infolgedessen ward der Zusatz gemacht: „Mit platten Nägeln“. (Diogenes Laertius 1967, 314)

Diogenes setzt sich nicht der unbezwingbaren sokratisch-platonischen Rede aus,  sondern er argumentiert, indem er das, was von Sokrates als völlig von der Welt getrennt gedacht wird, nämlich die Ideen, das Denken, das, was mit dem Verstand wahrzunehmen ist, einfach zurückinkarniert. Diese satirische Methode wiederholt zunächst nur, was Platon sagte: Hier ist dein Mensch, das ist Platons Mensch. Er wiederholt die Aussage des Gegners, aber nimmt sie wörtlicher beziehungsweise körperlicher als es Platon recht ist. Er tut das, was nach Platons Lehre verboten ist, er führt eine absurde umgekehrte Mimesis durch. Dein Mensch ist ein Huhn. Diese Art der subvertierten Mimesis, die Nachahmung des Wortes durch die Welt, bejaht die Aussage des Gegners, indem sie sie wiederholt, aber sie überführt sie zugleich in eine andere Kategorie. Ein Teil der nach Platon sekundären, von den Ideen abgeleiteten Welt, wird zum materiellen Argument, zum Teil des Denkens. Indem Diogenes auf diese Weise das wieder ins Denken hineinnimmt, was Platon abtrennt und ausschließt, kann er Platons Trennung kritisch vorführen. Das gerupfte Huhn, das Diogenes als Übersteigerung dieser Trennung präsentiert, spricht für sich selbst.

Die Geschichte geht weiter, aber das gehört schon zum zynischen Teil: Sokrates diagnostiziert daraufhin, Diogenes könne die Ideen leider nicht sehen, weil er eben keinen Verstand habe. Auch der Nachsatz, den Diogenes Laertius berichtet, wonach Platon die materialistische Argumentationsweise des Kynikers unschädlich macht („mit platten Nägeln“), deutet die Entwendung an, die passieren wird.

Diogenes von Sinope war auf diese Weise Meister eines unlauteren Argumentierens, das den Gegner nicht dort packt, wo er vorbereitet ist, sondern mit Satire und Frechheit das zum Spiel macht, was nicht Teil des Spiels ist. Er wendet sich nicht nur gegen die Trennung von Körper und Geist und die Abwertung von Lust und Welt, sondern auch gegen die Art Macht, die entsteht, wenn jemand nicht mehr mit seinem Körper für sein Denken einstehen muss. In seiner Argumentation wird das, was nicht Teil des Denkens ist, zum Feld der geistigen Auseinandersetzung. Sloterdijk weist darauf hin, dass diese Art zu argumentieren einem Argument ad personam ähnelt, das sich auf scheinbar unfaire Weise gegen die Person wendet, die spricht (1983, 58). Ein Argument ad personam sucht die Widerlegung einer Aussage, indem es die Aussage mit ihrem eigenen Kontext kurzschließt, indem sie den, der da spricht und aus welcher Position und warum er spricht, mit in den Blick nimmt. Etwas, das eigentlich nach den Spielregeln des Geistes nicht dazugehört, etwas der Aussage nicht Bewusstes, ein Nicht-Denken, das was nicht gesagt werden soll, wird in das Argument hereingeholt.

Sloterdijk beschreibt, wie aus dieser frechen materiellen Argumentation des Plebejers Diogenes‘ bürgerliche Techniken materialistischer Ideologiekritik wurden. Ähnlich der kynischen Praxis des Diogenes beziehen der Marxismus genauso wie die Psychoanalyse gerade jene Teile als Denken mit ein, die zuvor in den Bereich des Nicht-Denkens fielen, wie das Unbewusste und die im Fetisch verkannten ökonomischen Beziehungen, und zwar um Aufklärung zu betreiben.

Zynismus
Auf der einen Seite institutionalisiert sich die kynische Frechheit auf diese Weise –  und zugleich wechselt die materialistische Frechheit des Diogenes in mehreren Schritten die Seite und verändert schließlich in den Händen der Macht ihren Charakter. An den Umschlagpunkten stehen Zwischenphänomene; Sloterdijk nennt sie nach einem Wort von Nietzsche „Cynismen“ (1983, 10). Nietzsche, de Sade und auch Mephistopheles sind solche Figuren, die sich gegen überkommene Moralvorstellungen wenden, indem sie sich zynisch zum Bösen bekennen, und dadurch in kynischer Tradition die Herrschaft des (einen) Geistes, des Christentums, über den Körper bekämpfen.

Im modernen Zynismus wechselt dieser wache Blick von einer plebejischen Kritik zu einer Frechheit der Macht selbst. Sloterdijk konstatiert: Der Zyniker hat die Kritik des Kynikers verstanden. –  Aber die kynisch geforderte Aufhebung der Trennung zwischen Denken und Handeln tritt nicht ein. Ganz im Gegenteil: Die Parodie der Trennung, wie sie Diogenes vorführt, um sie als Machtgefüge zu kritisieren, dreht der Zyniker um und macht aus ihr eine Affirmation dieser Trennung. Damit nimmt er der Parodie das fordernde, kritische Potential. Er entwendet die Technik des Kynikers und entwickelt seine eigene Sprache der Sprachlosigkeit, die schlicht auf die Faktizität selber verweist: „So ist es eben“. Von dieser Ergebenheit an die Tatsachen führt kein Weg mehr zur Veränderung. Dass mit Denken das Handeln beeinflussbar wäre und andersherum, wird dadurch illusorisch, weil der qualitative Unterschied zwischen Denken und Handeln geleugnet wird. Der Zyniker ist einer, der aus der Frechheit des Kynikers einen frechen Konformismus macht und das tut, was eben getan werden muss, auch wenn er die Kritik des Kynikers verstanden hat. Im Fall der Bild-Zeitung wissen die Macher, dass ihre Zeitung gefährlich ist, aber sie produzieren sie dennoch und bewerben sie mit diesem Slogan. Der Zyniker weiß und handelt dennoch, als ob er es nicht weiß. Sloterdijk schreibt, dass im Zynismus

etwas von der Trauer um die „verlorene Unschuld“ [ist] – von der Trauer um das bessere Wissen, gegen das alles Handeln und Arbeiten gerichtet ist.“ Zynismus ist das „aufgeklärte falsche Bewusstsein […], an dem Aufklärung zugleich erfolgreich und vergeblich gearbeitet hat. (1983, 37).

In seinem frühen Text The Sublime Object of Ideology, in dem er auf Sloterdijk Bezug nimmt, radikalisiert Slavoj Žižek diese Formel des Tuns trotz besseren Wissens, das „ich weiß es, aber dennoch…“ (1989, auch für das Folgende; hier 24ff). Er untersucht den Freudschen und Marxschen Fetisch-Begriff, der sich in dieser Formel niederschlägt, und kommt zum Schluss: Dass wir etwas wissen und dieses Wissen verkennen und anders handeln, beschreibt – anders als Marx und Freud annehmen – unsere Wirklichkeit, in der wir systematisch im Tun unser Wissen verkennen. Als ein Beispiel dient Geld: Wir wissen, dass Geld sich abnutzt, seine Gestalt verändert, das Material ausgetauscht wird, aber wir handeln so, als ob es eine ewige Substanz hätte. Im Tun müssen wir uns regelmäßig so verhalten, als ob wir nicht wüssten. Wir handeln nach einer Illusion, die wir durchblicken, aber im Tun verkennen (25).

Marx beschreibt Fetischisierung ebenfalls als einen Prozess der Verkennung; Eigenschaften, die wir den Dingen selber zuschreiben, sind eigentlich Ausdruck eines sozialen Gefüges, das den Dingen diese Eigenschaften verleiht. Ein falsches Bewusstsein von der Welt, in der wir leben, entsteht. Wenn man sich diese ideologische Verdrehung bewusst macht, kann man laut Marx etwas an den herrschenden gesellschaftlichen Zuständen ändern.

Genau diese Emanzipation von den Illusionen ist für Žižek nicht möglich, weil die Illusionen für ihn gerade im Handeln liegen –  und nicht hinter einem falschen Wissen, wie es ein klassischer Ideologiekritiker behaupten würde. Ideologie ist kein falsches Bewusstsein, von dem man sich emanzipieren könnte und hinter dem die Wirklichkeit liegt. Es gibt kein Hinter der Illusion. Die Illusionen sind unsere Wirklichkeit, indem wir ihnen gemäß handeln; sie sind das Gewebe, aus dem unser Zusammenleben gemacht ist, sie sind sinn- und gemeinschaftsstiftend. Sie öffnen einen gesellschaftlich relevanten Raum des Als-Ob.

Was eigentlich immer schon Eigenschaft von Ideologie war, zeigt sich, so Žižek, im gegenwärtigen Kapitalismus offen: Es muss nicht mehr vorgeblich an Werte geglaubt werden, um ein Handeln scheinbar zu begründen, weil im Grunde doch jeder weiß, dass niemand daran glaubt. Die Einheit von Wissen und Handeln wird erst gar nicht mehr versucht zu behaupten. Ideologie ist mechanisch, grundlegend ironisch, äußerlich: sie ist das, was man nach außen vollzieht, während man im Innern denken kann, was man will. Die Formel „ich weiß zwar, dennoch…“ wird nun zu einer unüberwindbaren Trennung zwischen Wissen und Handeln.

Eine solche These der radikalen Trennung von Wissen und Handeln, vielleicht stärker als sie bei Platon je war, könnte man als zynische Antwort auf Marx kynisch-bürgerliche Kritik begreifen. Der Trennung wird uneingeschränkte und unveränderliche Gültigkeit eingeräumt; damit fällt Žižeks Gedanke mit der Performanz des Zynischen zusammen. – Wenn man auf diese Art weiß, kann man dann anders Theorie machen, als so, dass sie automatisch latent zynisch wäre? Die zur Farce werden würde, weil sie den aufklärerischen Auftrag, der ihr innewohnt, zugleich durchstreicht? Das Beispiel der Bild-Zeitung nötigt, genauer hinzusehen, wie es wäre, wenn das stimmte.

Die Vorstellung einer Illusion, die gesellschaftskonstituierend ist, weil Menschen gemeinsam danach handeln, diese Vorstellung von einem Als-Ob, das als solches erkannt wird, aber dennoch Wirklichkeit zeitigt, erzeugt, wenn es plötzlich auffällig wird, ein unwahrscheinlich erscheinendes Durcheinander von Wirklichem und Unwirklichen. Die ganze Tragweite dieses Durcheinanders zeigt sich vielleicht in den Momenten, die man erschrocken als Farce bezeichnet. Wenn man damit nicht eine Gattung dramatischer Literatur für das Theater meint, sondern im Leben ausruft, „Das ist doch eine Farce!“, oder wenn eine Zeitung schreibt, etwas verkomme zur Farce, wird ein Moment im profanen Leben mit einer theatralen Form gleichgesetzt. Aber man sagt nicht etwas ist eine Farce, weil es so leicht und schön wie im Theater wäre, sondern weil es schrecklich ist, dass etwas so unwirklich ist wie im Theater, aber dennoch wirkt. Das Geschehen ist nur ein Als-Ob-Geschehen. Aber weil alle danach handeln und es dadurch intersubjektiv gültig machen, ist es dennoch wirklich. Weil es sich dabei nicht um ein falsches Wissen handelt – das man nur erkennen müsste und der Spuk wäre vorbei –, erscheint die ganze Situation unglaubwürdig und unwirklich. Man ist offensichtlich Teil eines Theaters, es sind offene Lügen, jeder weiß darum, aber dennoch sind sie nicht weniger wirksam.

Durch diese Ununterscheidbarkeit von Theater und Welt, gerät die Welt aus den Fugen. Wenn Wissen und Handeln nicht mehr in einem Zusammenhang stehen, erscheint das, was geschieht, unmotiviert. Schreckliches wird nicht mehr als in begründete Zusammenhänge integriert erfahren, und nicht integriert ist das Schreckliche sinnlos. Die intuitive Einheit zerfällt, in der man das, was tatsächlich geschieht, immer auch als wahr erfährt; man hat das Gefühl, in einer lügenhaften Welt zu leben. Žižek zitiert in diesem Zusammenhang den Türwärter aus Kafkas Prozess: „»Man muß nicht alles für wahr halten, man muß es nur für notwendig halten.« »Trübselige Meinung«, sagte K. »Die Lüge wird zur Weltordnung gemacht.«“ (Kafka 1960, 160).

3. Mimesis und Als-Ob
Die umrissenen Phänomene, die Zynismen und das Gefühl der Farce zeichnen sich dadurch aus, dass in ihnen die geordnete und unserem Leben Sinn gebende Aufteilung von Als-Ob und Nicht-Als-Ob durcheinander geraten ist; dass diese Sortierung, die wir intuitiv vornehmen, nicht zu halten ist. Mit der Unmöglichkeit, in diesen Phänomenen Illusion und Wirklichkeit klar zu trennen, wird noch etwas anderes problematisch, das auf eben der Aufteilung beruht: Die aristotelische Idee von Kunst als einer guten Lüge.

Während bei Platon Nachgeahmtes noch unter einen politisch-ethischen Blick fiel und die Kunst deshalb als Lüge verdammt wurde, konnte Aristoteles der Lüge ein utopisches, heilendes Potential zuschreiben, gar die Fähigkeit das Schlimme ins Gute zu verkehren, gerade weil er eine Trennlinie zog zwischen der Lüge in der Polis und der Lüge auf der Bühne, zwischen Ethischem und Ästhetischem, zwischen Als-Ob und Nicht-Als-Ob. Mit der Erfahrung der Farce, in der Als-Ob und Nicht-Als-Ob ineinander verschlungen sind, wird nichts weniger fraglich als diese aristotelische Unterscheidung; die Demarkationslinie, die Aristoteles in Reaktion auf Platon eingezogen hatte, ist wieder offen.

Wirkung der Nachahmung: platonische Ansteckung, aristotelische Heilung
Die Unterscheidung zwischen einem Als-Ob und der Wirklichkeit, diskutieren Aristoteles und Platon in ihrem Nachdenken über Mimesis und kommen zu unterschiedlichen Schlüssen. Für Platon birgt Nachahmung, obwohl sie doch nur Abbild der Ideen ist, immer die Gefahr, wirksam zu werden. Denn je weiter man die Abbild-Hierarchie hinabsteigt, umso loser wird das Band, das die Weltdinge ans Original der Idee bindet, und umso größer ist die Möglichkeit, dass etwas außer Rand und Band gerät, seinen Platz verlässt und die gerechte Ordnung des Seins stört. Deshalb ist bei Platon nie sicher, ob Nachahmung nicht plötzlich zur Produktion von etwas Neuem wird an einem Ort, wo es nicht hingehört, und dadurch das Potential hat, die festen Positionen durcheinander zu bringen, die zwischen Ideen und ihren Abbildern bestehen. In einem Staatsmodell, in dem die vollkommene Handlung die Kontemplation ist, in der alle herkömmlichen Merkmale des Handelns stillgestellt sind, birgt Nachahmung die Möglichkeit von Veränderung. Sie ist deshalb gefährlich, anarchisch und hässlich und Platon verbannt sie – mit Ausnahmen – aus seinem Staat (1957, Bd. 3).

Aristoteles (2006) verbannt die Nachahmung auch, aber nicht aus dem Staat. Er domestiziert eine bestimmte Klasse von Nachahmungen, indem er ihr einen Ort zuweist, der in seinem kategorischem Außerhalb überraschend an den jenseitigen Ort der platonischen Ideen erinnert: es ist der Ort der Kunst. Wir können das Hässliche im Gemälde als Schönes genießen, weil es nachahmt, aber nur in Farbe und nicht echt. Der Unort der Bildoberfläche oder der Theaterbühne gewährleistet, dass das Nachgeahmte im Als-Ob bleibt. Es gibt diese Nachahmungen überhaupt nur im Modus des Als-Ob, weil sie so einen Ort haben, an dem sie nicht mit der Wirklichkeit verwechselt werden können.

So klar im Als-Ob verortet, kann Aristoteles der Mimesis zwei wichtige Aufgaben zubilligen: Einerseits heilt sie, indem sie Schrecken aussetzt, sublimiert; Aristoteles spricht von katharsis. Weil etwas noch einmal ist, aber ohne das Schreckliche noch einmal zu vollziehen, ohne wirklich zu sein, entsteht Signifikation: Etwas nicht Benenn- und Verdaubarem wird in der Wiederholung selbstständig eine Form gegeben, die sich begreifen lässt. Als solches gewendetes Schreckliches kann die Nachahmung andererseits im Als-Ob, in einem Raum, der nicht gestört werden kann, Welt zu einem sinnvollen Ganzen zusammenfügen, wie es im Nicht-Als-Ob nicht in dieser verdichteten und zusammenhängenden Weise erfahrbar ist. So schafft Nachahmung durch die Idee von wahrscheinlicher Fiktion einerseits und poiesis andererseits eine Verknüpfung, wodurch Narration, Verstehen und Sinn entstehen.

Beide Aspekte gehören untrennbar zusammen, da nur in der Form der Nachahmung sinnvoll poiesis stattfinden kann. Sie gewährleisten auch, dass Bewusstsein und Denken möglich sind und Sinn hergestellt werden kann. Diese erstaunliche Fähigkeit, durch selbst aufgeführtes Schreckliches eine Ordnung zu etablieren, die das Abwesende mit dem Anwesenden verbindet und so das Schreckliche ins Schöne (und damit das Gute) verkehrt, führt in späteren Vorstellungen von Kunst zur dialektischen Spannung zwischen Schönem und Schrecklichem.

Aus psychoanalytischer Sicht (Freud 1982) ist dieser Vorgang der Wiederholung im Als-Ob nicht nur Bewusstmachung, sondern auch erste Bewusstwerdung. Im Fort-Da Spiel macht sich nach Freud das Kind zum Akteur, indem es das Schrecklich-Traumatische, die Abwesenheit der Mutter, nachahmend objektiviert. Die wiederholte Nachahmung bearbeitet zunächst ein Trauma und schafft zugleich Signifikation und Distanz. Ob es die Spannung des Schrecklichen im Schönen ist oder das Fort-Da-Spiel, das die Abwesenheit ins Anwesende setzt – diese dialektischen Konstruktionen beruhen auf der Idee, dass Nachahmung oder Wiederholung des Peinigenden dieses zu heilen vermag. Mehr noch, dass das eigentlich Schreckliche, durch Wiederholung in einem Raum des Als-Ob umgewendet, zum Guten wird. Dabei darf man aber nicht übersehen, dass diese Nachahmung des Schrecklichen ursprünglich gerade nicht im Als-Ob stattfand. Die weit verbreitete Vorstellung der Entstehung des Theaters aus dem Opferkult deutet darauf hin. Was im Fort-Da-Spiel, was im Theater schon eine Inszenierung im Als-Ob ist, stellt sich im Opferkult umgekehrt dar.

Im Opferkult (für das Folgende Türcke 2008), einer der frühesten menschlichen Praktiken, wird Peinigendes wiederholt, von einem Kollektiv kontrolliert aufgeführt, damit es in der Wiederholung vertrauter wird und schließlich vergeht. Das Kollektiv wiederholt das Schreckliche an einem Mitglied seiner Gemeinschaft, um den Schrecken los zu werden. Objektiv ist die Opferung die Wiederholung des Schrecklichen, aber indem der neue Schrecken als der alte aufgeführt wird, wird dieser fassbar. In diesem Heilungsversuch, der selber schrecklich ist, sind Als-Ob und wirklicher Vollzug nicht zu trennen, sie teilen sich denselben Moment. Offensichtlich wird der Schrecken wiederholt und dadurch vermehrt, aber genau das mindert ihn.

Diese Verkettung, in der das Opfer den Schrecken bedeutet, aber zugleich die Wiederholung und Vermehrung des Schrecklichen ist, führt zu einem traumatischen Wiederholungszwang, der selber durch eine Reihe von Sublimierungen und Konstruktionen besänftigt werden musste. Das Menschenopfer wurde später durch Tiere oder Gaben substituiert und schließlich nur noch symbolisch im Als-Ob vollzogen. Erst durch diese Ersetzung entsteht eine klare Trennung, auf deren Grundlage Aristoteles die Nachahmung in der Kunst von der im Staat unterscheiden konnte. Bei Platon ist dieses alte Wissen von einer Mimesis, die jederzeit Unruhe stiften kann und nicht in einem eigenen Raum verortet ist, die selber noch keinen Raum geöffnet hat, noch präsent.

Was in der historischen Idee von Aufklärung zur mehr oder weniger realistischen Projektion in die Zukunft wird, in der sich die Dinge wirklich bessern sollen, wenn man sich nur seines Verstandes bediene, und die sich an der Wirklichkeit messen muss, zeigt sich in seinen älteren Schichten als eine Praxis, die, indem sie nachahmt, selber schon Verbesserung ist und gleichzeitig Bewusstsein schafft, auch wenn sich objektiv vielleicht nichts ändert. Die reine Nachahmung dessen, was ist, ist schon eine Veränderung – wenn auch eine des Geistes, der Bewusstwerdung, der Emanzipation. Dass diese Bewusstwerdung genauso keine wirkliche Besserung, sondern ein Gutlügen, eine Veränderung im Als-Ob ist, ist der Grundkonflikt, in den der Kyniker seinen Finger legt. Sein Argument ad personam gleicht diese heilsame Lüge mit der Wirklichkeit ab und verwischt die scharfe Grenze zwischen Als-Ob und Nicht-Als-Ob.

Zynisch-aufgeklärte Nachahmung
Die zynische Aufgeklärtheit, die das kynische Wissen annimmt, aber den Glauben des Kynikers an eine mögliche Aufklärung verspottet, stellt sich in die aristotelische Tradition der Nachahmung, allerdings in verdrehter Weise, in der die Mimesis eher zu einer Art Mimikri von Nachahmung funktionalisiert wird.

Allein das Aussprechen dessen, was ist, („wir manipulieren Meinung“ – sicherlich unter der hinzukommenden ironischen Gegenteilsbehauptung) scheint im Fall der Bild-Zeitung die Situation schon zu heilen. Es entsteht ein Gefühl von Bewusstheit und Wahrheit. Aber zugleich steht dieses vorgeblich heilende Als-Ob im Dienste dessen, das geheilt werden soll: es manipuliert tatsächlich Meinung. Die Bild-Zeitung ahmt nicht nur eine Technik der Kunst nach; sie tut letztendlich nur so, als ob es ein Als-Ob gäbe. Das Als-Ob mitsamt seinem Anspruch auf Besserung ist nur vorgespielt; was als Maske ausgegeben wird, entpuppt sich doch als angewachsen, als das wirkliche Gesicht. Die Nachahmung ist nur nachgeahmt, besser gesagt findet eine Mimikri von Nachahmung statt. Denn tatsächlich fällt das Als-Ob mit dem zusammen, was durch das Als-Ob geheilt werden sollte und verschärft es dadurch sogar. Wenn die Bild-Zeitung mit ihrem Slogan nahelegt, dass sie Meinung manipuliert, verliert dieses Aussprechen jeden heilenden Charakter, jedes Potential zur Veränderung, weil diese Äußerung direkt dazu beiträgt, Meinung noch besser zu manipulieren, gerade weil sie mit dem utopischen Potential und der Heilung spielt. Durch diese Verstärkung gibt es nur noch die fatalistische Bejahung dessen, was ist, einer unveränderbaren Faktizität, und ein nur gespieltes Als-Ob, das aber dennoch irgendwie nicht seine Wirkungskraft verloren hat. Es ist das zutiefst Beunruhigende an diesem Zynismus gerade aus ästhetischer Sicht, dass er das, was als besondere Kraft der Kunst gilt, auslöscht, aber zugleich zu seinem eigenen Vorteil in pervertierter Weise am Leben hält. Zynisch wird es verwendet und zugleich durchgestrichen. Es funktioniert und zugleich nicht. Die Idee von Aufklärung und die Praxis der Mimesis werden gegeneinander ausgespielt und dabei gänzlich entleert und parodiert. Letztendlich bleibt eine Welt, in der die Differenz von Als-Ob und Nicht-Als-Ob nur noch vorgegaukelt (im Als-Ob) gedacht werden kann.

Wenn man auf diese Zynismen wie das Beispiel der Bild-Zeitung blickt, muss man sich allerdings erinnern, dass dieses Zugleich-Vorhandensein von Als-Ob und Nicht-Als-Ob, ja sogar das Vorgaukeln eines Als-Ob immer schon die Praxis der Mimesis war, dass im Opferkult das Vorspielen der Heilung der Beginn der Heilung ist. Was mit dem Opfer am Anfang dieser emanzipierenden Bewegung offensichtlich wird, wird mit dem „aufgeklärten falschen Bewusstsein“ (Sloterdijk 1983, 37) in einem Abstand wissender Distanz wieder erstaunlich aktuell.

Klassische Kunst-Zynismen thematisieren diese Ambivalenz und Doppeldeutigkeit der Mimesis: Nero ist in der Legende eine Karikatur eines Künstlers, malt er doch den Brand Roms nicht in Farbe, sondern brennt seine eigene Stadt wirklich nieder, genießt dieses Schauspiel aber aus sicherer Distanz, um es als tragisch zu besingen. Die Ambivalenz der Katastrophe, die man aus der Ferne genießt, beziehungsweise noch mehr das ungläubige Erstaunen und Erschrecken, dass man das, was eigentlich doch genossenes Trugbild ist, plötzlich als Bild einer wirklichen Katastrophe geliefert bekommt, ist spätestens seit dem Attentat auf das World Trade Center eine viel besprochene Erfahrung. Für die Behauptung Stockhausens, hierin das größte Kunstwerk aller Zeiten zu sehen, mag es eine Rolle gespielt haben, dass die Phantasmen sich mit einem Mal spukartig als die Wirklichkeit entpuppten; dass die Lüge also doch auf verwirrende und perfide Weise eingetreten ist.

4. Die Ambivalenz des Als-Ob als Möglichkeit
Das grundlegend ironische Gesicht der Ideologie im (demokratischen) Kapitalismus ist selbst super-subversiv. Selbst schon untergraben und untergrabend, ironisch, ahnt man, dass Ideologie immun ist gegen jegliche Subversionsversuche (Žižek 1989, 25). Aus einem extremen Blick – man könnte ihn zynisch nennen – heraus, bleibt nichts als eine Mechanik übrig, nämlich genau jene Illusionen, nach denen wir handeln. Und weil man darum weiß, ist Wissen ironisiert, beziehungsweise auf eigenartige Weise mit dem, was sowieso ist, identisch, wodurch ein von diesem Wissen abgekoppelter und deshalb sinnloser Wiederholungszwang herrscht. Das lässt Zynismen verschiedenster Form entstehen und führt dazu, dass Gesten der Subversion, die auf Unterlaufen von Ideologie beruhen, genau diesen Verhältnissen in die Hände spielen. Sie können nur noch ironisch sein und ändern am grundlegenden Zynismus nichts.

Eine Antwort auf dieses Problem wäre eine Kunst, die sich klar in den Rahmen des Als-Ob zurückzieht und die Dinge wieder in aristotelischer Tradition sortiert. Aber dem Problem, das gerade auf dieser strikten Trennung beruht, weicht man damit nur aus. Wenn man es mit einer zynischen Unverbundenheit von Denken und Handeln zu tun hat, lässt eine Subversion, die sich klar im Feld des Als-ob verortet, die Mechanik, nach der wir handeln, unberührt. Die kynische Forderung ist gerade dann aktuell. Gerade weil unsere Realität durch Illusionen strukturiert ist, die im Handeln liegen, müssen wir eine Weise finden zu Handeln, ganz unzynisch zu etwas zu stehen.

Wahrscheinlich berührt diese Frage, was man denn angesichts solcher Zynismen als KünstlerIn noch tun kann, einen Grundwiderspruch, den Kunst im Allgemeinen berührt. Traditionell will Kunst etwas sinnlich Erfahrbares und zugleich Denken sein, und sie soll darum diese Verbindung nicht nur bedeuten, sondern auch sein. In langer Tradition wird Kunst als etwas verstanden, das zwischen Idee und Wahrnehmung vermittelt. Selbst in modernen Formen der Verneinung einer harmonischen Einheit schimmert diese Forderung nach Einheit noch durch. Weil Kunst aber dieses Doppelte, Denken und Welt, sein will, geht es ihr auch immer schon darum, das Als-Ob, das sie ist, zu überschreiten und mehr zu sein als Kunst. In Diogenes verbildlichter Forderung an den Philosophen Sokrates, nicht zu trennen, kann man so eine Tradition der Kunst vorformuliert sehen, welche die Kunst in der Nicht-Kunst sucht.

Diderot sagt, dass man einen Fehler im Theater auf keinen Fall begehen darf, nämlich die Kunstlüge durch etwas Echtes zu ersetzen. Die Folge wäre dann nämlich nicht eine bessere Repräsentation, sondern im Gegenteil: Jegliche Würde und Sinnhaftigkeit ginge verloren, eine Posse oder Farce entstünde. Dieses Verbot erinnert an die Übertretung des Diogenes durch seine umgekehrte Mimesis, mit der er die Idee Platons reinkarnierte. Es erinnert an das kynische Argument ad personam, das etwas in den Bereich des Denkens aufnimmt, das ausgeschlossen wurde, um die Aussage überhaupt möglich zu machen, sozusagen das Unbewusste der Aussage. In der Tradition der Übertretung dieses Verbotes kann man weit verbreitete und durchaus verschiedene Techniken der Bildenden Kunst seit Dada und Duchamp sehen. Aspekte des Dada kann man als kynische Bewegung beschreiben, die eine verdeckte enorme Indiskrepanz zwischen den Produkten einer Kultur und der gleichzeitigen politischen Entwicklung wahrnahm und diesem latenten Zynismus antwortete. Das wurde erreicht, indem man zum Beispiel nicht mehr ein Wort hören ließ, sondern nur noch die Laute selber. Was heute zu einer kodifizierten Praxis der Kunstproduktion geworden ist, hat damals das Publikum gespalten: Die Kunst wurde mit der Wirklichkeit betrogen. Weil unklar blieb, ob es sich um ein Als-Ob handelte, war eine hoch emotionalisierende Situation geschaffen, die bei der einen Hälfte des Publikums das Gefühl eines direkten Angriffs hervorrief – sie hatten ja schließlich Kunst erwartet, und bekamen sinnlose Wirklichkeit – die andere Hälfte genoss es  genau deshalb.

Heute erzeugt Damien Hirst eine ähnliche Situation des geteilten Publikums, indem sein Leben, der Verkauf seiner Werke und ihre Wertsteigerung als Teil einer großen Performance rezipierbar werden, die einen kynisch-materiellen Blick auf das in vieler Kunst gerade nicht Thematisierte wirft. In seiner Lebensweise schließt Damien Hirst die Objekte, die er produziert, mit dem Kontext zusammen, der sie wertvoll macht. Er ist selbst das Argument ad personam. Aber die verkörperte Repräsentation führt in diesem Fall zu Reproduktion: Hirst verdient mit seinem kynischen Blick auf den Kunstmarkt viel Geld. Auf einer Auktion für wohltätige Zwecke sagte U2-Sänger und Ko-Initiator Bono  „Rechnet das doch mal aus – eine Skulptur für 100.000 Dollar, ein 1,5-Millionen-Gemälde – das ist eine ganze Menge Medizin für eine Menge Leute in Afrika, die sich die Medikamente nicht leisten können, die wir in jeder Drogerie bekommen. Ich muss das erst mal sacken lassen.“ Und Damien Hirst versprach: „Ich werde für eine ganze Weile nicht mehr zynisch sein.“ (zit. n. Bosetti 2008). Der Spaß an dieser Performance, die bewusst macht, was sonst als latenter Zynismus verschwiegen wird, ähnelt allerdings in ihrer Klarsicht dem distanziert-wissenden Genuss, den man an der Bild-Werbung hat. Das Zynische ist nur einen winzigen Schritt vom Kynischen entfernt.

Wenn es einen Unterschied gibt, wo liegt er genau? Man könnte darüber nachdenken, in welcher Weise der Körper von Diogenes und der Körper von Damien Hirst jeweils als Argument ad personam zu ihrem Werk treten. Der Eine ist Verkörperung der zynischen Spaltung, der Andere ein asketisches Bild der Einheit. Man könnte darüber nachdenken, welche Rolle der Ort spielt, den diese Körper einnehmen – der eine als Hedonist und erfolgreicher Künstler, der andere Asket und Plebejer.

Damien Hirsts kynisch-zynische Performance macht die sonst ausgeklammerte kapitalistische Ebene bewusst. Aber – das führt sein Werk genauso eindrücklich vor – gerade dieses Wissen ändert nichts, wenn man es mit einem aufgeklärten (falschen) Bewusstsein zu tun hat, in dem Wissen und Handeln getrennt sind.

Wenn Als-Ob und Nicht-Als Ob auf eine Weise so dialektisch miteinander verbunden sind, dass gerade im Emanzipiertesten, im Sublimiertesten, da, wo die Trennung am striktesten ist, das Traumatische zurückkehrt, nötigt das zum Gedanken, die Hoffnung nicht nur in der aristotelischen Sublimation zu suchen, sondern zugleich in der staatsgefährdenden Doppelnatur der Lüge, wie sie Platon fürchtete. Die Praxis der Nachahmung galt Platon als verbietenswert, wenn sie am falschen Ort und ohne Berechtigung Wirklichkeiten zeitigte und so eine verwirrte Welt zu produzieren drohte. Offensichtlich falsche Behauptungen und Lügen, die aber trotzdem wirklich sind, weil die Leute nach ihnen handeln (auch wenn sie wissen), erzeugen etwas Spukhaftes; die Vorgänge werden unwirklich-wirklich und man findet sich in einer Welt, in der das, was ist und wirklich ist, nicht mehr als sinnvoll und motiviert erfahren wird. Wenn Kunst, weil unsere Welt zuweilen genau auf diese Weise unglaubwürdig wirkt, selber zur Farce zu verkommen scheint, wie es einem die Werbung der Bild-Zeitung aufdrängt, muss die Antwort vielleicht sein, sich genau dieser Doppelnatur des Lügens zu bedienen. Selber ein Als-Ob zu schaffen, das unverhofft und unberechtigterweise wirklich wird, weil Menschen danach handeln: Im Leben eine Farce aufführen. Es wäre vielleicht in einem sehr traditionellen Sinne die adäquate Darstellung und Nachahmung genau dieses Lebens-Gefühls. Aber zugleich läge in dieser Praxis, die sich von dem entfernt, was traditionell als Kunst bezeichnet wird, die Möglichkeit, Handeln und Wissen für einen Moment zu vereinen.

Man müsste eine Situation schaffen, in der mit einer Lüge, nach der gehandelt wird, Wirklichkeit gesetzt wird. Das mechanische Handeln dieser Lüge gemäß wäre aber von Anfang an mit einem Zweifel versehen, weil von einem unautorisierten Ort aus gesprochen wird. Die Reaktionen und Geschehnisse in der Situation, die so entsteht, ähnelt einem Versuchsaufbau; die Situation wäre eine poiesis, die aber nicht im Als-Ob, sondern in der Wirklichkeit stattfindet. Diese ambivalente Situation, in der reagiert und gehandelt wird, könnte eine Art Maschine sein, in der im Nicht-Denken mit dieser Mechanik gedacht wird. Diesen turn zur Lüge, die wirkt, hat vielleicht auch Damien Hirst vollzogen, wenn das weitverbreitete Gerücht stimmt, dass sich hinter dem Pseudonym Bansky in Wirklichkeit Hirst selbst versteckt, dem sein bisheriges Leben angeblich zu langweilig wurde und der sein Schaffen von seiner Werkstatt fortführen lässt. In seinem Film Exit through the Giftshop zeigt er Kisten voll Falschgeld, von dem er sagt, er hatte vor, es unter die Leute in London zu bringen, wenn es ihm nicht doch schließlich zu brenzlich geworden wäre.

Quellen

  • Aristoteles. 2006. Poetik, hg. von Manfred Fuhrmann. Stuttgart: Reclam.
  • Bosetti, Petra. 2008. „’Ich werde eine ganze Weile nicht mehr zynisch sein’“ Art. Das Kunstmagazin, 15. Februar. http://www.art-magazin.de/kunstmarkt/4068/ benefizauktion_bono_hirst
  • Diogenes Laertius. 1967. Leben und Meinungen berühmter Philosophen. 2. Aufl. Hamburg: Meiner.
  • Freud, Sigmund. 1982. „Jenseits des Lustprinzips.“ In ders. Studienausgabe, Bd. III, hg. von Alexander Mitscherlich, Angela Richards, James Strachey, 213-273. Frankfurt a.M.: Fischer.
  • Kafka, Franz. 1960. Der Prozess. Frankfurt a.M.: Fischer.
  • Pfaller, Robert. 2002. Die Illusionen der anderen. Über das Lustprinzip in der Kultur. Frankfurt a.M.: Suhrkamp.
  • Platon. 1957. Sämtliche Werke, hg. von Friedrich Schleiermacher et al. Hamburg: Rowohlt.
  • Sloterdijk, Peter. 1983. Kritik der zynischen Vernunft. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
  • Türcke, Christoph. 2008. Philosophie des Traums. München: Beck.
  • Žižek, Slavoj. 1989. The Sublime Object of Ideology. London: Verso.

Ruth Schmidt, geb. 1984, studiert nach ihrem Magister in Philosophie an der Universität Leipzig Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Neuere Arbeiten und Veröffentlichungen: „Besprechen von Welt“ (in Inversion. Öffentlichkeit und Privatsphäre im Umbruch, hg. von Frauke A. Kurbacher et al. Würzburg: Königshausen & Neumann, 2012); Big Banana (mit Arne Salasse, Ringlokschuppen Mülheim, 2012). Mit Tilman Aumüller arbeitet sie seit mehreren Jahren zusammen, zuletzt unter anderem für Pocketful of Talents (mit Arne Salasse, Das Festival der jungen Talente!, Frankfurt a. M., 2012).

Tilman Aumüller, geb. 1982, studiert nach Malerei- und Meisterschülerstudium an der Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig Angewandte Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Er interessiert sich für das Verhältnis von Bildern und Sprache und Kontexte künstlerischer Produktion. Mit Ruth Schmidt arbeitet er seit längerem zusammen, zuletzt für: Pocketful of Talents (zusammen mit Arne Salasse, Das Festival der Jungen Talente!, Frankfurt a. M., 2012) Maccia (zusammen mit Jacob Bussmann und Bettina Földesi, Theatermaschine, Gießen, 2013).

 

Mimesis und Wiederholung. Zu Lacoue-Labarthes Lektüre von Diderots Paradox.

I Eine Frage der Probe

„Et savez-vous l’objet de ces répétitions si multipliées?“ (Diderot 1996, 1389) Kennen Sie den Zweck der vielen Proben? – das ist eine der vielen Fragen aus dem Paradoxe sur le comédien, das Denis Diderot zwischen 1770 und 1773 verfasst hat. Der Erste stellt sie seinem Gegenüber, dem Zweiten, und wie so oft in diesem Dialog der ungleichen Gesprächspartner wartet der Erste nicht auf eine Antwort des Zweiten, er hatte ohnehin keine Antwort mehr erwartet. Denn die Dynamik des Gesprächs ist an dieser Stelle, nach etwa fünfzehn Seiten im Text, bereits bestens etabliert:

das formal als Dialog ausgewiesene Sprechen ist von Anfang an mehr ein Monolog des Ersten mit sich selbst, der Zweite ist der argumentativ stets unterlegene Konterpart, oft nur Stichwortgeber oder Aufbereiter der Ausführungen des Ersten – auch wenn es einige wenige Stellen gibt, an denen die Anmerkungen des Zweiten den Ersten doch auf ungeahnte Weise herausfordern und auf das Ungelöste in dessen Rede hinweisen, ich werde darauf am Ende des Textes noch einmal zurückkommen.

Die Dominanz des Ersten hat Kommentatoren dazu bewegt, in ihm den Autor selbst, Diderot, zu sehen, der das Paradox spricht, und es gibt tatsächlich mehrere Textstellen, die diese Lektüre nahelegen. Dennoch muss man wohl darauf beharren, dass der Erste nichts anderes ist als der Erste, und auch der Zweite nichts anderes als der Zweite, das heißt Sprecher, die gerade durch die absolute Namenlosigkeit ihrer Namen, durch die Leere der Ziffern sprechen können. Das zumindest müsste man aus Philippe Lacoue-Labarthes Frage nach der Autorschaft des Paradoxes folgern, mit der er seine Lektüre beginnt: „Qui énonce le paradoxe?“ (1986b, 15) Lacoue-Labarthe wird seine Analyse beenden, ohne darauf eine Antwort zu geben, denn es kann, wie er sagt, darauf keine Antwort geben. Die Unmöglichkeit einer Antwort jedenfalls kann man in der Namenlosigkeit vom Ersten und vom Zweiten verorten. Es kann wohl niemand sein, es kann nur ein Niemand oder können nur zwei Niemande sein, nur zwei Figuren, die nichts sind außer die leere Hülle der theatralen Form des Dialogs, die vom Paradox sprechen können.

Und damit ist nur eine von einigen formalen wie inhaltlichen Vielschichtigkeiten angesprochen, die Diderots Text so rätselhaft, wenn nicht geheimnisvoll machen, dass er sich jeder eindeutig signifizierenden Lesart immerzu entzieht. Die Unabschließbarkeit des Textes bleibt damit der Horizont jeder Auseinandersetzung mit dem Paradox, will man es nicht seiner eigenen Verfasstheit berauben. Wie Marian Hobson es so lapidar wie unumgänglich festgehalten hat: „Le Paradoxe sur le comédien est un paradoxe.“ (Zit. n. Heeg 2000, 99) In diesem Sinn will ich mich der Frage des Ersten nähern, „Et savez-vous l’objet de ces répétitions si multipliées?“ – nicht um diese Frage zu beantworten, sondern um mit ihr eine weitere Facette des Paradoxes als Paradox erahnbar zu machen.

Die Frage nach dem Zweck der vielen Proben ist in einer spezifischen Passage eines längeren Monologs situiert, in dem der Erste von der Problematik des Zusammenspiels mehrerer Schauspieler spricht. Er sieht die Lösung des Problems in den Proben und wartet wie gesagt nicht auf eine Antwort des Zweiten, er gibt sie sich sogleich selbst. Die vielen Proben, sagt er, „[c]’est d’établir une balance entre les talents divers des acteurs, de manière qu’il en résulte une action générale qui soit une;“ (Diderot 1996, 1389) Dass da nämlich, einfach formuliert, nicht nur ein Schauspieler auf der Bühne steht, sondern oft mindestens zwei, und dass diese beiden in irgendeiner Weise sich zu einander verhalten müssen, ist sicherlich eine große Aufgabe für jede Theaterpraxis und bedürfte einer genauen Untersuchung. Ich glaube aber, dass die Frage nach dem Ziel der vielen Proben über die spezifische Stelle und Thematik hinausweist, in der sie auftaucht. Die Frage wird auch an mehreren anderen Stellen in Diderots Paradox implizit verhandelt und an diesen anderen Stellen wird ihre gesamte Tragweite offenbart, die zutiefst das Paradox berührt. Denn mit der Frage nach den Proben steht viel mehr auf dem Spiel als das Zusammenwirken der Akteure. Diderot hebt so stark wie wohl kein anderer die Schwierigkeit hervor, von der die Praxis und das Konzept der Probe bestimmt ist. In seinem Text ist ein unglaublich luzides Bewusstsein für das Problem vorhanden, auf das die Probe reagieren soll. Es lässt sich mit folgenden Fragen umkreisen: warum proben wir im Theater eigentlich so viel?, das heißt vor allem mit Blick auf das französische répétition zuallererst: warum wiederholen wir eigentlich so viel? Warum wiederholen wir vor der Aufführung, das heißt in den Proben so oft, was wir in der Aufführung zeigen wollen? Und, darüber hinaus, aber damit verbunden, warum wiederholen wir im Theater auch Aufführungen?

All diese Fragen betreffen nicht nur das schauspielerische Machen, sondern allgemeiner die Zeitlichkeit des Theaters und um die Subjektivität des Schauspielers als wesentlich durch die Zeit des Theaters bestimmte. Es sind darüber hinaus Fragen, die, und deshalb habe ich sie in der Wir-Form gestellt, relevant sind für das Theater der Gegenwart, trotz der historischen Unterschiede zwischen Diderots Probenbegriff und der Probenpaxis der Gegenwart. Mehr noch, nicht nur das gegenwärtige Theater, auch Tanz und Performance sind heute in ihrer Produktion von der Wiederholung bestimmt. Egal, ob Schauspieler, Tänzer oder Performer, sie alle proben heute Wochen oder Monate lang, sie alle spielen die Aufführungen ihrer Projekte mehrere Male. Auszunehmen wären einzig jene Performance-Praktiken, die in der Tradition der Performance Art gerade ohne jede Wiederholung zu arbeiten versuchen und die absolute Einmaligkeit des Aufführungsereignisses behaupten, die aber gerade deshalb ex negativo nur umso stärker auf die Wiederholung und alles, was mit ihr im Spiel ist, bezogen bleiben; auch das ist allerdings ein Aspekt, der gesondert zu behandeln wäre. Die angedeutete Parallele von Diderot und dem Theater der Gegenwart spricht jedenfalls nicht so sehr für die Aktualität Diderots, sondern umgekehrt eher dafür, dass wir heute gewissermaßen sehr alt sind und deshalb immer noch sehr modern, weil wir immer noch mit einer Herausforderung kämpfen, die Diderot als früher Moderner schon gegen Ende des 18. Jahrhunderts so pointiert in eine Frage verpackt hat. „Et savez-vous l’objet de ces répétitions si multipliées?“, das wäre mithin eine Kernfrage für die Produktionsanalyse oder Probenforschung der Theaterwissenschaft. Der Stellenwert der Probe und der Wiederholung sind vielleicht der blinde Fleck in der zeitgenössischen Praxis, der die Ästhetik des Theaters auf unsichtbare Weise so stark prägt wie kaum ein anderer Produktionsmechanismus.

Die volle Dimension der Probe, der Wiederholung und der Zeitlichkeit in Diderots Paradox  wird allerdings erst ermessbar, wenn man jenes ungleich größere Problemfeld des Theaters hinzuzieht, mit dem dessen gesamte Theoretisierung in der Antike begann: das der Mimesis. Und derjenige, der so sehr wie kein anderer dazu beigetragen hat, die Bedeutung der Mimesis für das Paradox zu erhellen, ist natürlich der schon erwähnte Philippe Lacoue-Labarthe. Mit seiner Analyse von Diderots Schrift, die er 1979 in dem Vortrag mit dem programmatischen Titel Paradox und Mimesis entfaltete, werde ich einsteigen, um mich davon ausgehend an die oben gestellten Fragen zu wenden.

II Die Mimesis des Schauspielers
Diderots Paradoxe sur le comédien ist für Lacoue-Labarthe nicht irgendeine Schrift zur Mimesis, sie hat, wie er schreibt, „à bien des égards” zu gelten als “le texte «matriciel» de la moderne réélaboration de la question de la mimèsis.” (1986a, 10, Herv. i. O.). Denn Lacoue-Labarthes These lautet, dass die Logik des Paradoxes nichts anderes ist als die Logik der Mimesis selbst. Die herkömmliche Auffassung vom Paradox, die etwa Jens Roselt folgendermaßen zusammenfasst: „Schauspieler können Gefühle auf der Bühne nur dann glaubhaft vermitteln, wenn sie dabei emotional völlig unberührt, also kalt bleiben“ (2009, 134f.), eben diese Lesart des Paradoxes greift nach Lacoue-Labarthe zu kurz, weil sie nur den Effekt des tatsächlich zugrundeliegenden Paradoxes der Mimesis ausdrückt. Die Aufgabe des Schauspielers, des „grand comédien“ (erstmals Diderot 1996, 1378) besteht nämlich zuallererst nicht darin, auf der Bühne Empfindungen oder Empfindsamkeit nachahmen zu können, sondern darin, eine Rolle zu spielen, das heißt, einen anderen zu spielen als denjenigen, der er selbst ist. Darüber hinaus hat er die Aufgabe, nicht nur einen anderen zu spielen, sondern potentiell jeden Menschen nachahmen zu können, kurz: alles spielen zu können, was sich nur spielen lässt. Um dies zu erreichen, muss der Schauspieler paradoxerweise sich selbst negieren, er muss selbst nichts werden, muss vollkommen substanzlos, essenzlos, uneigentlich werden, um alles sein zu können. “Le paradoxe tient donc en ceci”, schreibt Lacoue-Labarthe: “pour tout faire, tout imiter – pour tout (re)présenter ou tout (re)produire, au sens le plus fort –, il faut n’être rien par soi-même, n’avoir rien en propre, sinon une «égale aptitude» à toutes sortes de choses, de rôles, de caractères, de fonctions, de personnages, etc.“ (1986b, 27, Herv. i. O.)

Lacoue-Labarthe belegt seine These unter anderem anhand folgender Textstelle, die besonders eindrucksvoll ist: der Zweite resümiert, wieder einmal, was der Erste gerade eben gesagt hatte: „A vous entendre, le grand comédien est tout et n’est rien.“ Darauf der Erste: „Et peut-être est-ce parce qu’il n’est rien qu’il est tout par excellence, sa forme particulère ne contrariant jamais les formes étrangeres qu’il doit prendre.“ (Diderot 1996, 1401) In dem Momentum, alles sein zu können, liegt ein qualitativer Sprung in der Mimesis, denn die Möglichkeitsbedingung des Vermögens, alle möglichen Rollen hervorbringen zu können, liegt in der Kraft begründet, die Hervorbringung selbst hervorbringen zu können. Der große Schauspieler ahmt nicht mehr ausschließlich die Phänomene der Natur nach, sondern das Prinzip der Natur selbst, ihre Kraft zur Schöpfung der Phänomene. Lacoue-Labarthe schreibt, der Schauspieler wird

don de rien, si ce n’est de l‘«aptitude» à présenter, c’est à dire à se substituer à la nature elle-même, à se faire (la) nature, pour, à l’aide de sa force et de son pouvoir propres, suppléer à son incapacité et mener à terme, effectuer ce qu’elle ne peut mettre en œuvre – ce à quoi son énergie, sans relais, ne peut suffire. (1986b, 28, Herv. i. O.)

Was Lacoue-Labarthe allerdings zu wenig akzentuiert, ist, dass es zur Vervollkommnung der Natur noch eines weiteren Elements bedarf. In der Gabe der Kraft liegt zwar das Potential zur Perfektion der Natur, damit es realisiert wird, muss allerdings die Einsetzung dessen hinzutreten, was Diderot das „modèle idéal“ nennt (erstmals 1380): kein Abbild der Natur, sondern ein Inbild der Natur, das der Schauspieler mit seiner Einbildungskraft entwirft, das heißt kein natürlich gegebenes, sondern ein menschliches, ein künstliches, rational geschaffenes Ideal; wobei man, wie etwa Günther Heeg ausgeführt hat, dieses modèle idéal nicht platonisch verstehen darf, denn Diderot versteht das Ideal zunächst als die Summe aus der Beobachtung aller empirisch bestehenden Naturphänomene und ihrer Eigenschaften (2000, 112ff). Führt der Schauspieler jedenfalls die schöpferische Kraft diesem idealen Modell zu, dann vollendet er die Natur. Im Paradox ist damit, wie Lacoue-Labarthe schreibt, ein unüberhörbares Echo jenes Paradigmas der Mimesis vernehmbar, das von Aristoteles ausgeht und nach dem die téchne die physis nicht nur nach nachahmt, sondern sie zugleich vervollkommnet (1986b, 23).

Was hat all das nun mit der Frage nach dem Zweck der vielen Proben zu tun? Erstaunlicherweise streift Lacoue-Labarthe in seiner Lektüre des Paradox die Fragen von Probe, Wiederholung und der Zeitlichkeit höchstens, wenn auch auf bedeutende Weise, und zwar mit dem Begriff des Gegenwärtigens. Er legt damit eine erste Fährte: die Zeit der Mimesis ist eine Zeit der Vergegenwärtigung – das wird auf Diderot, wie ich zeigen möchte, in einem ganz bestimmten Sinn zutreffen. Mehr allerdings erfährt man darüber in Lacoue-Labarthes Text nicht. Man kann über dieses Schweigen Lacoue-Labarthes zur Bedeutung von Wiederholung und Zeit bei Diderot nur mutmaßen, es ist jedenfalls insofern verwunderlich, als Lacoue-Labarthe bei einem anderen modernen Denker der Mimesis die Zeitlichkeit geradezu im Zentrum der Angelegenheit annimmt, und zwar in seiner Beschäftigung mit dem eigentlichen Helden seines Mimesis-Projekts, dem tragischen oder besser: nicht mehr tragischen Helden dieses Projekts, nämlich Hölderlin. Auch wenn ich auf Lacoue-Labarthes Hölderlin-Rezeption an dieser Stelle nicht weiter eingehen kann, möchte ich erwähnen, dass sie mir den Horizont dessen eröffnet hat, was ich im Folgenden zu Diderot zu entwickeln versuche.

III Die Wiederholung der Mimesis
Noch einmal zurück zum Anfang von Diderots Text. An einer bekannten Stelle, gleich nachdem der Erste zum ersten Mal artikuliert hat, dass der Schauspieler über gleiches Vermögen für alle möglichen Rollen verfügen muss, spricht er indirekt an, was die vielen Proben notwendig macht. Er sagt:

Si le comédien était sensible, de bonne foi lui serait-il permis de jouer deux fois de suite un même rôle avec la même chaleur er le même succès? Très chaud à la première représentation, il serait épuisé et froid comme un marbre à la troisième. Au lieu qu’imitateur attentif et disciple réfléchi de la nature, la première fois qu’il se présentera sur la scène sous le nom d’Auguste, de Cinna, d’Orosmane, d’Agamemnon, de Mohamet, copiste rigoureux de lui-même ou de ses études, […].“ (1996, 1380)

Auch hier ist die Frage der Empfindsamkeit nur der Effekt eines anderen Problems, das ungleich grundlegender für das Theater ist und zugleich ungleich einfacher: der Schauspieler muss nicht nur eine Aufführung, sondern viele Aufführungen ein und derselben Inszenierung spielen. Dass eine einzige Aufführung nicht ausreicht, dass sich das Theater immer mehrmals zeigen muss, ist auf die zeitliche Verfasstheit des Theaters zurückzuführen, denn das Theater ist schließlich im wahrsten Sinn des Wortes eine Kunst der Zeit: die einzige Zeit, in der es sich präsentiert und für das Publikum wahrnehmbar wird, ist die Gegenwart. Es existiert nur in der Aufführung als einem flüchtigen, ephemeren Gegenstand.

Diese Exklusivität der Theaterzeit lässt sich zweifach akzentuieren, wobei die zwei Akzente in ihrem Inneren verbunden sind, und zwar durch ein gewissermaßen selbst paradoxes Verhältnis. Zum einen ist das Theater aufgrund des Modus seines Erscheinens der prädestinierte Auftrittsort der Unmittelbarkeit, der Präsenz. Nachdem es nur im Moment sichtbar wird, ist es in diesem Moment voll gegenwärtig und erfahrbar. Zum anderen aber ist diese Unmittelbarkeit wiederum nur möglich durch das immer simultan sich ankündigende Verschwinden der Gegenwart. Nur weil der Moment, so wie er da ist, auch schon wieder weg ist, kann er als gesteigerte Erfahrung der Zeit fungieren. Nur weil die Aufführung, sobald sie endet, auch schon unwiederbringlich vergangen ist, erhält der Moment ihres Erscheinens retrospektiv den Glanz der Präsenz. Letztlich ist die Möglichkeitsbedingung der Unmittelbarkeit also nichts weniger als die radikale Bezogenheit auf das Ende der Zeit, den Tod. Die Gegenwart, die Zeit selbst wird erst durch ihr absolutes Außen konstituiert, den selbst nie gegenwärtigen Tod. Damit ist die absolute Anwesenheit im Moment nie als solche vorhanden, sondern immer schon selbst gespalten durch die Abwesenheit, die sie bedingt.

Die Konsequenz für das Theater ist deshalb so simpel wie tiefgreifend: die Aufführung muss, weil nicht sie von Dauer ist, wiederholt werden, um immer wieder sichtbar zu werden, und sie muss, weil sie in ihrer Gegenwart schon von der ihrem Ende durchzogen ist, geprobt werden, um wiederholbar zu sein – das ist letztlich der Kontext, in dem die Frage des Ersten nach dem Zweck der vielen Proben ihre volle Bedeutung entfaltet.

Das Subjekt, das mit dieser Komplexität der Theaterzeit zu kämpfen hat und in dem sie sich verkörpert, ist niemand anderer als der Schauspieler. Der Schauspieler ist gewissermaßen das paradigmatische Subjekt der Endlichkeit, weil alles, was dieses Subjekt macht und was es ausmacht, verloren ist, sobald es aufhört zu spielen. Die gesamte Kunst des Schauspielers hat keinen Bestand über die Zeit seines Machens hinaus und ist auf die absolute Endlichkeit seiner Aktivität und seiner Subjektivität bezogen. Dennoch soll und kann in Diderots Paradox niemand anderer als der Schauspieler selbst es zustande bringen, gerade diese Endlichkeit seiner Verfasstheit zu überwinden. Er soll seine Leistung, wie der Erste sagt, nicht nur einmal zufällig in einer Aufführung abrufen, sondern in vielen Aufführungen, immer und immer wieder, letztlich also in jeder Aufführung, die er spielt. In der radikalsten Konsequenz wird deshalb von ihm verlangt, dass er jederzeit, zu jedem beliebigen Zeitpunkt, wann auch immer eine Aufführung stattfindet, das unmögliche Kunststück vollbringen kann, in dem das Paradox besteht. Er soll immer und jederzeit nichts werden können, um alles spielen zu können und zu einem idealen Modell der Natur zu werden.

Auf diese Weise sind die Problemfelder der Mimesis und der Zeitlichkeit in Diderots Paradox verbunden: die Mimesis ist nicht nur eine Zeit des Gegenwärtigens, wie Lacoue-Labarthe sagt, mehr noch ist sie eine Zeit des immerwährenden Gegenwärtigens, es ist eine Zeit der absoluten Gegenwart ohne Ende, eine Zeit der ungebrochenen Präsenz. In dem unbedingten Streben, der Flüchtigkeit des Theaters zu begegnen, entwirft der Erste eine Zeit, die sich gewissermaßen selbst abschafft, weil sie nicht mehr vom Tod determiniert ist. Das zeitliche Phantasma des Paradoxes ist deshalb nicht weniger, als dass der Schauspieler seine eigene Endlichkeit transzendiert, dass er letztlich unendlich, ja unsterblich wird.

Die vielen Proben, das strenge Studium und die oftmalige Wiederholung sollen das Verfahren für die Überschreitung der Endlichkeit darstellen. Wie groß das Ausmaß der notwendigen Proben sein kann, erwähnt der Erste in einer weniger bekannten Passage in der Mitte des Textes. Er erzählt dort von einem Fall, bei dem sechs Monate Proben zum Erfolg nötig waren:

Il [ein neapolitanischer Dichter] exerce ses acteurs pendant six mois, ensemble et séparément. Et quand imaginez-vous que la troupe commence à jouer, à s’entendre à s’acheminer vers le point de perfection qu’il exige? C’est lorsque les acteurs sont épuisés de la fatigue de ces répétitions multipliées, ce que nous appelons blasès. De cet instant les progrès sont surprenants, chacun s’identifie avec son personnage; et c’est à la suite de ce pénible exercice que les représentations commencent et se continuent pendant six autres mois de suite, […]“ (1416. Meine Herv.)

Dieses Beispiel einer Theaterproduktion führt zum Kern des Paradoxes in seiner zeitlichen Dimension. In den vielen Proben ist, dem Beispiel folgend, ein doppelläufiger Prozess am Werk: durch die sechs Monate lange Wiederholung stumpft der Schauspieler ab, er erschöpft sich, das heißt er löscht sich aus und aktiviert zugleich das Potential, alles zu sein. Er lernt  dieses Potential einem idealem Modell zuzuführen, das er schließlich, wie es heißt, in jeder Aufführung für weitere sechs Monate abrufen kann. Aus dieser Dynamik lässt sich der entscheidende Punkt ableiten. Denn wenn Lacoue-Labarthe sagt, dass das Paradox darin besteht, dass der Schauspieler nichts werden muss, um alles sein zu können, dann lässt sich diese Aussage nun in Hinblick auf die Zeitlichkeit der schauspielerischen Subjektivität zuspitzen. Das Paradox lautet dann, und das ist meine These: der Schauspieler muss sich töten, um unsterblich zu sein. Er muss seine Endlichkeit überwinden, indem er den Tod radikal bejaht und dadurch überwindet. Nur wenn er tot ist, nur wenn er also dauerhaft nichts ist, kann er immer alles sein. Nur wenn er nicht mehr nach jeder Ausführung das mimetische Potential, alles zu sein, an die Gegenwart verliert, sondern unendlich behält, nur dann kann er jederzeit, in jeder Aufführung das Potential hervorrufen und in dem Ideal der Natur aktualisieren. Der Schauspieler muss also tot sein, um nicht dem Problem seiner Praxis ausgesetzt zu sein, dass sie nur in der Gegenwart existiert. Und die vielen Proben sind das Mittel, mit dem dieser Tod herbeigeführt werden soll. Proben heißt bei Diderot demnach sterben lernen, sterben lernen, um unsterblich zu werden. Das Paradox gehorcht in diesem Sinn einer zutiefst spekulativen Logik, beziehungsweise muss man sagen, dass vielmehr umgekehrt, wie Lacoue-Labarthe herausgearbeitet hat, die Spekulation ihre Logik aus der Struktur der Mimesis erhalten hat, aber ich kann darauf nicht näher eingehen, sondern will das Argument noch etwas vertiefen.

Inwiefern kann man bei Diderot tatsächlich vom Tod sprechen, von einem toten Schauspieler, und inwiefern von Unsterblichkeit? Der Schauspieler als Leiche fungiert als absolute Grenze dieser Vorstellung, wird aber von Diderot nicht aufgegriffen. Der Schauspieler tötet sich in den langen Proben in dem Sinn, dass er seine Empfindsamkeit durch etliche Wiederholungen vollkommen abstumpft, seinen Körper vollkommen erschöpft und damit zu einer Marionette ohne jedes Eigenleben macht. Diderot bringt den Begriff selbst ins Spiel: über die Schauspielern Clairon, das wenn man so will paradox gelebte Ideal des großen Schauspielers, schreibt er etwa, dass sie „l’âme d’un grand mannequin“ ist (1381). Die Seele, das ist eben das ideale Modell, das als Zielpunkt der Verwandlung zur Marionette fungiert. Der Schauspieler versucht seine leblosen Glieder an diesem idealen Modell auszurichten und sie identisch mit ihm zu machen, sodass der Marionetten-Körper schließlich einem Modell dient, das, weil ideal, weil rational geschaffen, auch unsterblich ist. Die Identität mit dem Modell steht als absoluter Garant für die Unsterblichkeit ein, denn das Modell ist von der Empfindsamkeit des Körpers unabhängig, existiert autonom und ist im Geist jederzeit abrufbar, das heißt, in jeder Aufführung abrufbar. In dieser Hinsicht überschreitet Diderots ideales Modell übrigens letztlich doch die Natur und die Summe ihrer Eigenschaften, denn die vollkommene Natur besiegt im Paradox auch das Gesetz der Endlichkeit. Auf die Identität mit dem Modell müssen sich jedenfalls alle Anstrengungen des Schauspielers ausrichten, denn nur in diesem Einswerden ist die Loslösung von der Sterblichkeit des Körpers in Aussicht. Es lässt sich zusammenfassen: der große Schauspieler des Paradoxe sur le comédien ist eine Gliederpuppe, die von einem Geist regiert wird.

In der Aufführung aber soll von den vielen Proben letztlich nichts mehr zu sehen sein, stattdessen soll der Schauspieler Illusion herstellen. Es ist nicht nur die Illusion, ein anderer zu sein oder die Illusion, ein Ideal darzustellen, sondern in zeitlicher Hinsicht die Illusion der Präsenz, der Unmittelbarkeit. Die Wiederholung ist demnach ein Mittel der Produktion, das sich selbst in der Aufführung, die wiederum nur eine weitere Wiederholung ist, unsichtbar machen muss, um für die Rezeption den Schein der vollkommenen Gegenwart zu produzieren. Die Gemachtheit der Unmittelbarkeit, die Mimesis als téchne muss verdeckt werden, um als bloße physis zu erscheinen.

IV Unmöglich scheitern
Diderot entwirft den Schauspieler letztlich als ein eigenmächtiges Subjekt, ein Subjekt, das  am Schluss seiner Verwandlung in ein Modell idealerweise kein Subjekt mehr ist, weil es sich nicht unterwirft, sondern alles sich unterwirft. Der Schauspieler ist omnipotent und omnipräsent, er kann jederzeit alles sein. Seine Mimesis ist eine aktive, vollkommen selbstbeherrschte. Was damit auch in Hinblick auf die Politik des Theaters auf dem Spiel steht, benennt wiederum Lacoue-Labarthe eindeutig: es geht um die Souveränität des Subjekts. Lacoue-Labarthe schreibt, „le génie impassible que décrit Bordeu dans Le Rêve de d’Alembert en des termes rigoureusement identiques «régnera sur lui-même et sur tout ce qui l’environne. Il ne craindra pas la mort» (1986b, 34). Und man kann nach dem bisher Gesagten hinzufügen: es wird den Tod nicht mehr fürchten, weil es sich selbst tötet und dadurch unsterblich wird. Die Formel lautet: Souveränität durch Unsterblichkeit.

Allerdings, die Unsterblichkeit des Schauspielers ist zumindest stets prekär. Sie wird von zumindest zwei Seiten bedroht: einmal vom Körper und seiner Empfindsamkeit. Wie Heeg schreibt, ist der Schauspieler eben nicht Skulptur, ist nicht „toter Stein“ (2000, 117), sondern immer noch Körper, der als widerständiges Material im Spiel bleibt, so sehr man auch probt, zum idealen Modell zu werden. Der Körper und seine Empfindsamkeit eröffnen eine andere Mimesis, eine Mimesis, die der Erste des Dialogs fürchtet, weil sie nicht kontrollierbar ist: es ist eine passive Mimesis, in welcher der Schauspieler vom Gefühl, von der Begeisterung, vom Enthusiasmus hinfortgerissen wird und auf diese Weise ein anderer wird. Sie lässt sich nicht jederzeit beliebig wiederholen, sie lässt sich nicht vom Subjekt beherrschen, denn sie gehorcht nur dem Eigenleben des Körpers. Die Gefahr droht aber nicht nur vom Körper, der nicht ganz tot zu kriegen ist, sondern auch von innen, vom idealen Modell selbst. Der Erste hat ein genaues Bewusstsein davon, denn er nennt das ideale Modell auch ein „grand fantôme“ (Diderot 1996, 1381), und sagt an einer bekannten Stelle, dass der große Schauspieler, hat er sich dem idealen Modell größtmöglich angeglichen, nicht mehr selbst handelt, sondern es handelt in ihm „l’esprit d’un autre qui le domine.“ (1415) Was hier droht, ist nichts anderes als eine weitere Passivität, nämlich der Wahnsinn: das Phantom kann sich verselbstständigen, es kann der Gewalt des Schauspielers entwischen, den Geist des Schauspielers und ebenso die Aussicht auf Kontrolle und Wiederholbarkeit seiner Aktivität hin fortnehmen.

Zuletzt muss äußerst fraglich bleiben, ob die Unsterblichkeit des Schauspielers überhaupt je erreicht werden kann, ob sie nicht vielmehr selbst ein unmögliches Ideal ist – und eben deshalb ein Paradox. Anders gesagt: nur als unmögliches Paradox kann die Unsterblichkeit des Schauspielers bestehen. Im Dialog gibt es auch davon mehr als nur eine Ahnung. Einmal sagt der Erste, „qu’ils“, die Laute eines Schauspielers,

ne satisfont à toutes les conditions requises que par une longue étude; qu’ils sont concourent à la solution d’un problème proposé; que pour être poussés juste, ils ont été répétés cent fois, et que malgré ces fréquentes répétitions, on les manque encore; (1383f., meine Herv.)

Nicht nur, dass selbst mehr als hundert Wiederholungen nicht ausreichen, um sicherzustellen, dass nicht doch in einer Aufführung die Mimesis misslingt; was sich in dieser Stelle andeutet ist, dass die Wiederholung selbst ist kein sicheres Verfahren ist, dass die Wiederholung selbst scheitern kann. Die Wiederholung ist also nicht so sehr nur Mittel zur Herstellung der Unsterblichkeit, sie ist zugleich immer der Ausweis dafür, dass es sich dabei um ein endloses Projekt handelt, das immer in der Schwebe bleiben muss. Man könnte im Übrigen auch die Performativität von Diderots Text selbst als Beleg dafür geltend machen: denn warum muss der Erste eigentlich immer und immer wieder seine These wiederholen, warum ist also die Wiederholung selbst ein bedeutendes Prinzip des Textes, wenn nicht deshalb, weil sich das Ideal des großen Schauspielers eben immer nur unabschließbar als Paradox umkreisen ließe.

Endgültig als unmögliches Paradox pointiert wird das Programm des Ersten schließlich durch eine ganz einfache, kurze Replik des Zweiten gegen Ende des Dialogs. Es handelt sich hier, wie zu Beginn angedeutet, um einen von jenen Momenten, in denen der ansonsten so zweitrangige Zweite mit einer simplen Frage die Unmöglichkeit des Ausführungen seines Gegenübers offenlegt.

LE SECOND. – Il ne me reste qu’une question à vous faire.
LE PREMIER. – Faites.
LE SECOND. – Avez-vous vu jamais une pièce entière parfaitement jouée?
LE PREMIER. – Ma foi, je ne m’en souviens pas… Mais attendez… Qui, quelquefois une pièce mediocre, par des acteurs médiocres. (1421)

Dass also das Paradox immer paradox ist, stellt der Text selbst augenscheinlich aus, und er kann das insbesondere durch das Format des Dialogs. Nur im Dialog, so scheint es, kann sich das Paradox artikulieren.

Vor allem in seiner Paradoxie ist das Paradox für die zeitgenössische Praxis bedeutsam: nicht nur, dass Diderot die Flüchtigkeit und Endlichkeit des Theaters so einzigartig zum Thema macht, mit der sich jedes aktuelle Theaterprojekt, egal ob Schauspiel, Tanz oder Performance gezwungenermaßen beschäftigen muss. Nicht nur dass jeder Schauspieler, jeder Tänzer, jeder Performer sich fragen muss, ob er sich in den Proben ein imaginäres Vorbild schafft, wie er spielen oder tanzen will, um dieses Vorbild in den Aufführungen möglichst genau umzusetzen – und wenn nicht, welches andere Verhältnis von Geprobtem und Gezeigtem er dann umzusetzen sucht. Nicht nur, dass sich jeder Theatermacher fragen muss, ob er in der Aufführung die Proben reflektiert und damit die Gemachtheit des Theaterabends ins Spiel bringt. Darüber hinaus muss sich jeder Akteur dem stellen, was das Paradox ausdrückt: die Möglichkeit des Scheiterns der Mimesis, des Scheiterns der Aktivierung der Kraft, die Möglichkeit des Einbrechens der Endlichkeit, der Abwesenheit in die Aufführung. In der Akzeptanz des möglichen Scheiterns und im spielerischen Umgang damit liegt wohl ein Aspekt einer anderen Politik des Theaters. Einer Politik, die nicht im Zeichen der Umsetzung von Souveränität steht. Einer Politik, die sich der Furcht annimmt, die nach Lacoue-Labarthe den sozio-politischen Hintergrund von Diderots Paradox ausmacht, nämlich der Furcht vor „le mouvement panique de la dissolution du lien social“ (1986b, 34). Denn mit der Mimesis ist nicht zuletzt immer schon die Frage nach der Gemeinschaft gestellt – und ob das Scheitern, die Endlichkeit, der Tod darin Platz haben oder nicht.

Quellen

  • Diderot, Denis. 1996. „Paradoxe sur le comédien.“ In ders. Œuvres, Tome IV, Esthétique – Théâtre, hg. von Laurent Versini, 1377-1426. Paris: Robert Laffont.
  • Heeg, Günther. 2000. Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts. Frankfurt a.M.: Stromfeld.
  • Lacoue-Labarthe, Philippe. 1986a. „Avant-propos.“ In ders. L’imitation des Modernes. Typographies 2. 9-11. Paris: Galilée.
  • Lacoue-Labarthe, Philippe. 1986b. „Le paradoxe et la mimésis.“ In ders. L’imitation des Modernes. Typographies 2. 15-36. Paris: Galilée.
  • Roselt, Jens. 2009. „Schauspieler mit Verstand – Denis Diderot.“ In Seelen mit Methode. Schauspieltheorien vom Barock- bis zum postdramatischen Theater, hg. von demselben, 134-136. 2. Aufl. Berlin: Alexander Verlag.

Georg Döcker, geb. 1988 in Wien, ist derzeit MA-Student am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen, wo er zuletzt auch als studentische Hilfskraft und Tutor tätig war. Mit Prof. Dr. Gerald Siegmund gründete und leitete er 2013 die studentische Tagung theôría, aus der die vorliegende Ausgabe von Thewis hervorging. Neben dem Studium unter anderem künstlerischer Mitarbeiter und Produktionsassistent von Laurent Chétouane und Martin Nachbar. Aktuelle Arbeitsschwerpunkte: Räumlichkeit, Zeitlichkeit und Subjektivität in Tanz und Theater der Gegenwart, Antonin Artaud, Mimesis, Dramaturgie, Probenforschung und Produktionsästhetik. Im Erscheinen: „Eine andere Grazie. Zur Aktualisierung der Diagonale in Laurent Chétouanes Tanzperformance horizon(s).Bühne: Realität, Geschichte und Aktualität raumbildender Prozesse. Hgs. Norbert Eke, Irina Kaldrack, und Ulrike Haß. München: Fink.

“Ich habe heute leider kein Foto für dich”- Gedanken zu GNTM, Jungen-Mädchen, Subjekten und Fotos

Der folgende Text ist als Vortrag entstanden. Ich habe mich dazu entschieden, den mündlichen Sprachgestus beizubehalten. Die Beschäftigung mit dem Themenkomplex Bilder, Fotografie und Subjektproduktion im 21. Jahrhundert wird die Basis für meine Abschlussarbeit. Für Rückmeldungen, Ergänzungen und Kritik bin ich dankbar. Schreiben Sie mir gerne: kathrin.ebmeier@gmail.com.

Einer der Impulse für diesen Vortrag war ein Satz/Sprechakt/Urteil aus der ProSieben-Produktion Germany’s Next Topmodel: „Ich habe heute leider kein Foto für dich“ und das Pendant „Hier ist dein Foto“ bezeichnen die Logik und Auswahlstruktur der Castingshow, sind die dramaturgischen Rituale jeder Episode. Ausgehend von dieser Metapher stelle ich Überlegungen dazu vor, was ein Mädchen sein könnte, was ein Foto sein könnte, was ein Subjekt sein könnte und wie diese Fragen in unserer zeitgenössischen Umgebung zusammenhängen könnten. Weiterlesen →

Subalternität als Notwendigkeit – Jérôme Bels Pichet Klunchun and myself

Theater und Postkolonialismus

Theater- und Tanzproduktionen, die sich zuweilen als interkulturell, zuweilen als multikulturell bestimmen, sind immer in mindestens doppelter Weise an das Problem der Repräsentation gekoppelt: zum einen im Rahmen des Theaters als Repräsentationsmaschine, die nicht nur repräsentiert, sondern diese Repräsentation zugleich vorführt, und zum anderen im Sinn der Repräsentation fremder, das heißt für unser Verständnis: außereuropäischer Kulturen. Der Begriff des Postkolonialismus verschiebt hierbei den Fokus von der bloßen Beschreibung der Berührung oder Vermischung von Kulturen – einem Ansatz, der mit den problematischen Begriffen des Inter- und Multikulturalismus verbunden ist (Lehmann 1999, 453) – hin auf die Analyse der Strukturen einer solchen Begegnung. Postkolonialismus soll demnach für das Theater heißen, die gegenwärtigen Möglichkeitsbedingungen dieser doppelten Repräsentation zu thematisieren. Der Begriff soll helfen, die „noch heute wirkenden Langzeiteffekte des Kolonialismus“ (Kerner 2012, 9f.) zu thematisieren. Dabei spielen ökonomische, soziale und kulturelle Faktoren eine Rolle, aber auch eine Tradition von Denk- und Blickweisen auf das (Post-)Kolonialisierte, die Machtverhältnisse und Hierarchien impliziert. Eine postkoloniale Betrachtung des Theaters muss dieses historische Gewicht der Repräsentation immer mitdenken (Regus 2008, 11).

Die Geschichte des Kolonialismus ist implizit immer auch an theatrale Kategorien gebunden, wird doch hier wie da die Frage nach der Repräsentation des Fremden verhandelt (Fischer-Lichte 1995). Die Modi des Umgangs mit dem Fremden in der jüngeren Theatergeschichte können kritisch entweder als ästhetischer Eklektizismus oder als Suche nach einem kulturellen Universalismus beschrieben werden. Exemplarisch können Arbeiten der Siebziger- und Achtzigerjahre von Robert Wilson auf der einen, von Tadashi Suzuki, Jerzy Grotowski und Peter Brook auf der anderen Seite genannt werden (Regus 2008, 22ff.). Beide Modi zeigen sich nicht als postkolonialer Umgang mit dem Thema des Fremden. Im einen Fall wird die historische Situation des Fremden vollkommen ausgeblendet und das Fremde zum Materialfundus für die zumeist westlichen Künstler. Im anderen Fall wird dem Fremden die Historizität zugunsten eines utopischen Ideals abgesprochen, das in der westlich fundierten Ästhetik liegt. Der Weg ist der einer Negierung oder der einer utopischen Integration – in beiden Fällen mit dem selben Ergebnis, die Bedingungen der Begegnung mit dem kolonisierten Anderen nicht thematisiert zu haben.

Seit den Neunzigerjahren kann allerdings beobachtet werden, dass sich durch die Kritik dieses Umgangs mit dem Fremden auch dessen Darstellung verändert hat (Regus 2008). Der Umgang mit der postkolonialen Frage hat seinen Platz nicht mehr in der epischen Betrachtung von Kultur als solcher – als bestes Beispiel sei Brooks Mahabraratha genannt (Lehmann 1999, 453) – oder der Auslöschung von Differenz: „Kulturen sind niemals in sich einheitlich, und sie sind auch nie einfach dualistisch in ihrer Beziehung des Selbst zum Anderen“ (Bhabha 2000, 54), schreibt Homi Bhabha über die Notwendigkeit, kulturelle Identität zu überdenken. In diesem Sinn sehe ich den Körper des Performers in seiner je singulären Verflochtenheit in Netze verschiedener symbolischer Ordnungen als Ort, an dem nicht dichotome Bilder von Kultur (re-)präsentiert, sondern Prozesse von theatraler, kultureller und schließlich postkolonialer Subjektivierung auf der Bühne sichtbar gemacht und verhandelt werden.

Pichet Klunchun und Jérôme Bel
Als Beispiel einer solchen Auseinandersetzung wird im Folgenden Jérôme Bels Pichet Klunchun and myself betrachtet, eine Arbeit, die 2004 in Thailand als Lecture-Performance entstand. Diese Tanzperformance scheint eine Gegenüberstellung von Vertretern zweier Kulturen darzustellen, handelt es sich doch um einen Dialog zwischen dem französischen Choreographen Jérôme Bel und dem thailändischen Khon-Tänzer Pichet Klunchun. Es soll allerdings gezeigt werden, wie die beiden Performer sich gerade nicht als binäre Körper voneinander abheben, um sich in Differenz zueinander zu konstituieren, sondern wie diese binäre Anordnung alternative Möglichkeiten der Subjektivierung anbietet. Bel und Klunchun bilden dabei nur funktional eine Opposition, um andere Plätze der Subjektwerdung zu eröffnen. Dualität ist in diesem Fall eine Funktion, die konstitutiv eine Leere bezeichnet. Eine Leere, die einerseits beide Tänzersubjekte, sowohl Bel als auch Klunchun, einholt, und die andererseits speziell den Ort von Pichet Klunchun als unbestimmbar markiert. Damit ist die Frage nach den Möglichkeitsbedingungen der Repräsentation des postkolonialen Subjekts gestellt. Zugleich deutet sich an, welche Folgen diese Unbestimmtheit oder  Unbestimmbarkeit für eine Praxis des postkolonialen Theaters hätte.

Die Analyse von Pichet Klunchun and myself soll drei Aspekte beleuchten, die in je spezifischer Weise das Verhältnis vom Subjekt und den es bestimmenden Ordnungen beschreiben:

1. Den Namen der Performance und damit verbunden das Verhältnis von Autorschaft und Subjektivität.

2. Den Gebrauch des Bühnenraums als Signifikant der Ordnung des Subjekts und die Frage, wie der Bühnenraum die Tänzersubjekte als spezifische Art von Zeichen konstituiert.

3. Die Szene, in der Bel eine von Klunchun vorgegebene Bewegungsfolge wiederholt und beide dann – scheinbar – als Original und Kopie Khon tanzen. Dabei soll die Beziehung von Choreographie und Subjekt Thema sein, wobei zu zeigen ist, dass an dieser Stelle die Frage von Postkolonialität und Subalternität zur Debatte steht, und zwar in der Geste des Abbrechens des Tanzes von Seiten Bels.

Zentren der Autorschaft, Zentren des Blicks
Die Bedeutung der Titel von Jérôme Bels Choreographien wurde vielfach beschrieben (unter anderem: Lepecki 2006, 50ff; Siegmund 2012, 41ff.), ist doch das linguistische Spiel von Signifikation, Repräsentation und Autorschaft grundlegend für Bels Arbeiten und deren theoretische Reflexion. Andre Lepecki schreibt dazu: „Bel’s insistence on the power of naming, on the pervasive rustle of language, on syntagmatic games, is particularly significant for dance studies, for his insistences propose for the dancing body an undeniable linguistic materiality […].“ (2006, 55) Auf die insgesamt dreifache Funktion des Eigennamens geht Gerald Siegmund in Bezug auf jene Performances von Bel ein, deren Titel die Namen der Protagonisten sind (2012, 41). Es handelt sich um Veronique Doisneau, Cedric Andrieux, Isabell Torres, Lutz Förster und schließlich Pichet Klunchun and myself. Alle drei von Siegmund bestimmten Funktionen – das Sprechen der Titelfiguren aus der ersten Person Singular, ihre Begründung als unter Diskurse unterworfene Bühnensubjekte wie auch die Objektivierung dieses Subjekts als Thema der Choreographien – können auf Pichet Klunchun and myself übertragen werden. Jedoch ist zu beachten, dass Pichet Klunchun sich in diese Reihe nur mit einer entscheidenden Auslassung eingliedern lässt, denn der Titel wird durch das für den postkolonialen Ansatz entscheidende and myself ergänzt.

Diese Wendung impliziert zweierlei: In den anderen benannten Titelnerscheint der Eigenname als fast menetekelgleiche Funktion, die unheilvoll noch vor Beginn der Performance kennzeichnet, dass das auf der Bühne zu zeigende Subjekt immer schon qua Sprache und Benennung in die Ordnung von Gesellschaft und Gesetz eingeschrieben ist. Das bedeutet zwar nicht, dass es darum geht, eine Identifikation herzustellen, denn diese Arbeiten kreisen um die Redefinition der Grenze dieser Ordnung, aber es demonstriert, dass man sich immer vor dem Horizont von Gesetz, Name und Sprache bewegt. Darin liegt auch die dramaturgische Funktion im Sinn der Erwartung von Subjektivierung und deren Änderung auf der Bühne.

Bei Pichet Klunchun ist der Fokus anders gelagert. Nicht allein ist es das zu bestimmende Subjekt, das in die Leerstelle von juristischem Namen fällt und gegen diesen sich wehren kann. Pichet Klunchun hat einen anderen, myself, einen Partner wie Referenzpunkt in Beziehung zu dem er die einzunehmende Stelle von Pichet Klunchun bestimmen muss. Subjektivität entsteht hier vor dem Hintergrund des Gesetzes und der Sprache in der Differenz zu diesem anderen im Titel genannten Ich, zu myself. Konstituiert sich der Protagonist als Solist zwischen Struktur, Körper und Publikum, so ist die Achse hier zunächst als Horizontale zu denken, die zwischen den beiden Protagonisten verläuft und diese Bindung innerhalb der Sprache zulässt.

Allerdings impliziert die Signifikanz der benannten Subjektstellen sowohl von Pichet Klunchun wie auch von myself eine Dichotomie, die das horizontale Verhältnis aus der Balance bringt. Es ist eben nicht Cedric Andrieux, Isabell Torres oder Lutz Förster. Es ist Pichet Klunchun. Dies als Titel zu setzen, macht deutlich, dass die auf der Bühne konstruierte Alterität nicht nur auf Körper und Sprache als solche zielt, sondern dass die Perspektive eine außereuropäische, eine globale ist. Der Titel eröffnet der Imagination die Konstruktion von Bildern der Fremdheit. Der Andere ist also a priori durch seinen Namen im Titel der Performance thematisch als Fremder beschrieben. Dazu sei auch auf die ersten Worte der Performance hingewiesen: Jérôme Bel zu Pichet Klunchun: „Okay, first question: What is your name?“

Pichet Klunchun wird letztendlich gerade deshalb als Fremder identifiziert, weil auf der anderen Seite ein Titelsubjekt mit dem Namen myself steht. Dieses myself kann als Stelle bezeichnet werden, an welcher einerseits die Autorfunktion aufscheint: Man denkt an dieser Stelle an Bel selbst. Doch muss der Autor als zu besetzende Leerstelle, als Autorfunktion betrachtet werden. Und damit schon auf eine Verschiebung der Abhängigkeit der Bühnensubjekte hingedeutet wird, ist dieses myself zugleich der Ort, der vom Zuschauer besetzt werden kann: Myself, das bin ich im Lesen oder Sprechen des Titels. Das bin auch ich, der ich mir Pichet Klunchun vorstelle als das Fremde, durch das ich ich selbst werden kann. Doch das Subjekt, dem auf sich selbst über Pichet Klunchun Zugriff geboten wird, greift in die reflexive Leere, denn myself ist auch: mein Selbst. Wo sprachlich schon getrennt wird zwischen mir und meinem Selbst, zerfällt eine reflexive Schließung des Subjekts – das sich einholende Denken wird in das Außerhalb des Selbst gesetzt.  Pichet Klunchun und mein Selbst sind leere Bestimmungen, welche die Schizophrenie des Subjektes als sich im Begreifen Begreifendes artikulieren. Hier gilt was Siegmund analog über den doppelten theatralen Blick schreibt: „[Das Theater] installiert […] ein Subjekt, das sich im begehrten Blick fremd wird, sich aber zugleich entlang dessen Bahn entwirft und verortet. Das Subjekt des Theaters ist ein gespaltenes.“ (2012, 49)

Was verbleibt, sind die binäre Struktur und die Perspektive, die das unbestimmte Subjekt-Autor-Zuschauer-Ich als Ausgangspunkt wählt, von dem aus sich Pichet Klunchun als Fremdbild abzeichnet. Kontextualisiert man das myself als Du-und-ich-westeuröpäischer-Zuschauer und Pichet Klunchun als den Fremden, der außerhalb dieses Kulturkontextes steht, so ist diese Perspektive eine eurozentristische. Das dies jedoch nicht unreflektiert bleibt, sondern als bewusste Setzung deutlich wird, soll im Folgenden gezeigt werden.

Raum der Distanz und Hybridität
Ich möchte nun beschreiben, wie dem Publikum diese eurozentristische Struktur durch die theatrale Raumordnung als Markierung vor Augen geführt wird. Damit möchte ich ein Argument entfalten, das im Folgenden weitergeführt wird, nämlich dass die eurozentristische Position, die in dieser Performance aufscheint, als Konstruktion von Eurozentrismus, sprich: als Konstruktion eines stereotypen Zugriffs auf das Fremde sichtbar gemacht wird. Dies kann einer Kritik an Bels Performance, wie sie etwa Susan Leigh Foster geäußert hat (2011), eine andere Richtung verleihen.

Über die Bedeutung der gegenseitigen Abhängigkeit von Repräsentation und Raum bei Bel schreibt Lepecki: „Two constant elements in Bel´s work: his use of isolated bodies (even in his group pieces, bodies appear as if wrapped in solipsism), and his interrogation of the architecture of the theatre itself as spatial representative of the isolated and isolating interiority of representation.“ (2006, 49). Distanzierte, isolierte Körper auf Bels Bühnen lassen keinen Schluss auf klare Subjekte zu. Tanztechnik als Subjektivierungsmechanismus, eine räumliche Struktur, in der Subjektivierung seinen Platz findet – diese Kategorien werden von Bel hinterfragt. Muster der Repräsentation werden gebrochen, da die Körper in Isolation als zusammenhangslose wie als je besondere erscheinen. So auch hier: Die Entfernung, die Bel und Klunchun zueinander auf der Bühne auf ihren Stühlen einnehmen (schätzungsweise vier Meter), ist nicht die eines gewöhnlichen Zwiegesprächs, obwohl sie über Leben, Arbeit und Tanz sprechen, also Themen, die beiden sehr nahe sind. Wird der Dialog als spontaner verstanden, wie es bisweilen in Kritiken zu lesen war – “there isn’t a sign of interpretation, it all looks fresh and honest, nearly genuine“ (Ziemilski 2006) –, so missversteht man die Theatralität dieses Arrangements. Stattdessen sollte von einer spezifischen Ordnung der theatralen Zeichen gesprochen werden, die durch die große Entfernung den Blick auf andere Aspekte freigibt: auf die Relation zwischen blickendem und angeblicktem Subjekt, zwischen Bühne und Publikum und schließlich zwischen europäisch ausblickendem Zentrum und objektiviertem postkolonialem Subjekt. Das Gespräch wird zur Versuchsanordnung, in der Sprache und Körper als Theaterzeichen gegeneinandergestellt werden und in der auch der eurozentrische Blick thematisiert wird. Dazu noch einmal Lepecki: „Bels pieces constantly indicate that both performers and audiences are coextensivly trapped in those particularly charged representational machines: language and theatre.“ (2006, 49)

Der Raum, der zwischen Stühlen besteht, der Raum, in dem Bel und Klunchun tanzen, kann in diesem Sinn in Anlehnung an Bhabha als „dritter Raum“ oder auch als „hybrider Raum“ (2000, 5) beschrieben werden, in dem die Beziehung zwischen Kolonist und Kolonisiertem (um bei der Begrifflichkeit Bhabhas zu bleiben) zur Verhandlung stehen. Damit wäre der Raum auf der Bühne als Raum der gegenseitigen Durchdringung gekennzeichnet, in der (post-)koloniale Subjektivität zur Disposition steht, und zwar als theatrale Repräsentation, als Zeichen des Zeichens von postkolonialer Subjektivität. Dies wird besonders anschaulich in der schon eingangs erwähnte Szene, in der Bel Klunchuns Khon-Tanz imitiert.

Nachahmen, Verschwinden:
Nachdem die beiden über Biographisches wie auch über Khon-Tanz gesprochen haben, bittet Bel Klunchun, ihm etwas Khon-Tanz beizubringen. Sie stehen nebeneinander, frontal zum Publikum. Klunchun führt Bewegungen aus dem Repertoire des Khon aus, beschreibt diese. Bel macht sie nach, den Blick unsicher-prüfend an seinen Partner geheftet. Nachdem einige Bewegungen von Klunchun auf diese Weise zu Bel übergegangen sind, erklärt Klunchung immer weniger; er führt flüssig eine Sequenz aus und achtet nicht mehr auf seinen Schüler. Bel versucht zu folgen, strauchelt, bricht ab und bedankt sich – mit einer Andeutung von ironischer Höflichkeit – bei Klunchun für diese Lektion. Das Publikum lacht.

Bei der Beschreibung dieser Geste stehen zwei Perspektiven offen: Die eine beschreibt in Bhabhas Sinn diese Nachahmung als produktive Geste. Gabriele Brandstetter sieht hierin „eine der schönsten Szenen“ des Abends. „Differenz“, so Brandstetter, würde hier unmittelbar anschaulich und in diesem Sinn wertvoll und produktiv für die „Verflechtung von Tanzkulturen“ (2008, 17ff.). Die andere Sichtweise wäre, den Akt des Nachahmens als doppelte Aneignung zu bestimmen. Nicht nur erscheint die Darstellung des Khon-Tanzes im Licht des Publikums im Rahmen der Aufführung als exotistisch (Foster 2011), die Nachahmung des Tanzes durch Bel und deren plötzlicher Abbruch aufgrund des Unvermögens, Klunchun weiter zu folgen, verursachen außerdem ein Lachen beim Publikum. Ein Lachen, das von Bel sicherlich nicht nicht intendiert war: Stellt Bel in der Konstellation Pichet Klunchun und myself für das europäische Publikum die Identifikationsfigur dar, muss Bels Körper als der Körper des Publikums gelesen werden. Bel spricht im Übrigen selbst davon, demokratisch tanzen zu wollen, also so, wie es jeder tun könnte, und stellt damit einen Gegensatz zum trainierten Körper Klunchuns dar. Bels Körper ist unserer und damit die Norm, vor der das Fremde als Abweichung, sogar als das Groteske erscheint, welches umso mehr als Exotisches auf die Performance zurückfärbt. Man könnte Foster folgen und konstatieren: „Like the nineteenth century folk dances that fortified classical ballet, revving it up with a veneer of the exotic, Klunchun can only service Bel’s radical artistry.“ (203)

Die Überlegungen aus dem letzten Abschnitt zu Raum und Zeichen aufgreifend, möchte ich diese Beobachtung Fosters aufnehmen, jedoch in eine andere Richtung lenken: Man kann die Wiederholung des Khon-Tanzes durch Bel zwar als Aneignung und damit als Besetzung der Position von Klunchun betrachten, die diesem keine Möglichkeit eröffnet, aus sich selbst heraus zu sprechen. Foster: „The performance as a whole […] makes it impossible to access Klunchun on his own terms.“ (203) Dennoch sollte man dem Abbrechen der Wiederholung  eine andere Bedeutung geben: Dieser Abbruch ist als Einspruch gegen das Regime einer fremden Tanztechnik und Kulturtradition zu lesen, die den Körper auf für uns groteske Weise formt. Versteht man in diesem Fall Choreographie als Repertoire von normierenden Techniken, welche die Unterwerfung unter sowie eine Aneignung und Verschiebung von ihren  Codes erfordern, und ist es Bel, der sich in dieser Szene an eine bestimmte Technik durch Wiederholung annähert, so wird Klunchun als vermittelnde Autor- beziehungsweise Choreographeninstanz, als Funktionsstelle in einer Struktur durchscheinend – unsichtbar.

Indem das Verhältnis von Bestimmung und Unterwerfung umgekehrt wird (Klunchun bestimmt als Norm Bel), verschwindet Klunchun als individuelles Subjekt, und wird zum Inbegriff der symbolischen Ordnung, zum radikal Anderen, der für Bel zur choreographischen Machtinstanz wird. Wir können sagen, er hat also nicht nur keine Möglichkeit, aus sich heraus zu sprechen, sondern mehr noch: er wird tatsächlich abwesend.

Subalternität als Notwendigkeit
Natürlich muss betont werden, dass diese Abwesenheit Klunchuns eine theoretische Volte darstellt, die als Konstruktion sichtbar bleiben sollte. Diese Konstruktion jedoch erlaubt es, einen Blick auf die Diskurse zu werfen, die in der Tanzperformance zur Debatte stehen. Gayatri Spivak schreibt in ihrem Essay Can the subaltern speak? im Rückgriff auf Derrida vom „Problem des europäischen Subjekts, das einen Anderen zu produzieren sucht, der ein Drinnen und damit den eigenen Subjektstatus zu festigen erlaubt.“ (2008, 70) Sie beschreibt das Begehren, „etwas zu bewahren, das paradoxerweise sowohl unaussprechlich als auch nicht-transzendental ist.“ Weiter schreibt sie: „Im Zuge der Kritik an der Produktion des kolonialen Subjekts wird dieser unaussprechliche, nicht-transzendentale (‚historische‘) Ort durch das subalterne Subjekt besetzt.“ (70) Das subalterne Subjekt ist eines, das – wie der Titel ihres Essays andeutet – nicht sprechen kann, genauer: dem die Möglichkeitsbedingung der Artikulation nicht gegeben ist, da es immer nur als das radikal fremde erscheint, das somit keinen Sprechakt in einem gemeinsamen Diskurs durchführen kann.

Pichet Klunchun nimmt – um auf Bels Performance zurückzukommen – diese Position des subalternen Subjekts ein. Er verschwindet als abwesende Struktur hinter dem sich vor diesem Grund als europäisches Autor-Zuschauer-Subjekt konstituierenden Bel. Er ist zwar noch anwesend, das heißt schlicht, dass er auf der Bühne steht, wird aber paradoxerweise abwesend gemacht, wird nicht-sprechend unaussprechlich. In diesem Sinn ist er nicht das unterdrückte Subjekt, das Foster in ihm sieht. Klunchun ist ein subalternes Subjekt, da er außerhalb außerhalb der Möglichkeit seiner Repräsentation steht. Ein Subjekt, das verschwunden ist, während es da war, das abwesend anwesend ist. Dies ist das öffnende, (selbst-)kritische Moment der Aufführung, das die Bedingungen der Abhängigkeit vom Fremden und Eigenen aussetzt und gleichzeitig den Blick auf den Diskurs des Subalternen freimacht. Ganz im Gegensatz zu Foster, die Pichet Klunchun and myself aufgrund seines Exotismus ablehnt, möchte ich behaupten, dass die Wendung über den Exotismus hinaus zur Subalternität der Performance ihren Wert verleiht. Ist das Theater der Ort, der Repräsentation zeigt, so macht es auch die Unmöglichkeit von Repräsentation sichtbar. Das Subalterne hingegen auf der Bühne zur Sprache kommen zu lassen, würde die Mechanismen, die das Subalterne konstruieren, verschleiern. Die Tatsache, dass Pichet Klunchun im Dialog mit Bel immer wieder die Sprache verliert und im eurozentrischen Blick verschwindet, kann somit als Versuch verstanden werden, die Strukturen der Herstellung von Subalternität ästhetisch offenzulegen.

Abschließend ließe sich schlussfolgern, dass interkulturelle Theaterproduktionen immer mit einer gewissen strukturellen Unmöglichkeit konfrontiert sind, das fremde außereuropäische Subjekt zu repräsentieren und es aus dem Blick des Zuschauers zu lösen, der ebendieses Fremde begehrt und es damit exotisiert. Eklektizismus wie Universalismus waren nach Regus Modi, mit dem Fremden umzugehen, welche die Strukturen der (post-)kolonialen Mechanismen nicht hinreichend reflektierten. Das Fremde wurde einer Negierung oder utopischen Integration unterzogen und somit verleugnet wie exotisiert. Durch die Öffnung des Diskurses des Subalternen erscheint die Möglichkeit, ebendiese Strukturen zur Disposition zu stellen. Das Theater kann hierdurch zum Ort werden, an dem die Politik des subalternen Subjekts und die Problematik der Repräsentation des Fremden verhandelt werden können.

Quellen

  • Bhabha, Homi K. 2000. Die Verortung der Kultur. Tübingen: Stauffenburg.
  • Brandstetter, Gabriele. 2008. „Verflechtungen von Tanzkulturen. Pichet Klunchun und Jérôme Bel.“ In Strahlkräfte. Festschrift für Erika Fischer-Lichte, hg. von Christian Weiler, Jens Roselt, Clemens Risi, 16-28. Berlin: Theater der Zeit.
  • Fischer-Lichte, Erika. 1995. „Inszenierung des Fremden.“ In TheaterAvantgarde. Wahrnehmung, Körper, Sprache, hg. von Erika Fischer-Lichte, 156-242. Tübingen: Francke.
  • Foster, Susan Leigh. 2011. Choreographing Empathy. Kinesthesia in Performance. New York: Routledge. 
  • Kerner, Ina. 2012. Postkoloniale Theorien zur Einführung. Hamburg: Junius.
  • Lehmann, Hans-Thies. 1999. Postdramatisches Theater. Frankfurt a. M.: Verlag der Autoren.
  • Lepecki, André. 2006. Exhausting Dance. Performance and the politics of movement. New York: Routledge.
  • Regus, Christine. 2008. Interkulturelles Theater zu Beginn des 21.Jahrhunderts. Ästhetik – Politik – Postkolonialismus. Bielefeld: Transcript.
  • Siegmund, Gerald. 2012. „Theater und Subjekt.“ In Theater und Subjektkonstitution. Theatrale Praktiken zwischen Affirmation und Subversion, hg. von Friedemann Kreuder, Michael Bachmann, Julia Pfahl, Dorothea Volz, 41-55. Bielefeld: Transcript.
  • Siegmund, Gerald. 2006. Abwesenheit. Eine performative Ästhetik des Tanzes. William Forsythe, Jérôme Bel, Xavier Le Roy, Meg Stuart. Bielefeld: Transscript.
  • Spivak, Gayatri Chakravorty. 2008. Can the Subaltern Speak? Postkolonialität und subalterne Artikulation. Wien: Turia & Kant.
  • Ziemilski, Wojtek. 2006. „Jerôme Bel by Pichet Klunchun by Jerôme Bel.“ New Art. Notes on installation art, performance, theater, cinema, painting, sculpture, digital art and more. http://new-art.blogspot.com/2006/06/jerme-bel-by-pichet-klunchun-by-jerme.html. 
  • Die Analyse von Jérôme Bels Pichet Klunchun and myself beruht auf einer Videoaufzeichnung gefunden auf: http://www.ubu.com/dance/bel_pichet.html 

Jan-Tage Kühlung, geb. 1985 in Berlin, studierte Kultur- und Literaturwissenschaft an der Europa-Universität Viadrina in Frankfurt an der Oder (BA), Regie an der Hochschule für Musik und Darstellende Kunst Frankfurt am Main und ist seit 2011 MA-Student am Institut für Angewandte Theaterwissenschaft der Justus-Liebig-Universität Gießen. Wissenschaftliche und künstlerische Interessen: Alterität, Postkolonialismus und Theater, Ökologie des Theaters. Er realisierte neben seinen Studien künstlerische Projekte in Deutschland, Polen und Armenien.

Jenseits des Theaters – (Aktions-)„Kunst“ und die politische Differenz

Einleitung
Ausgangspunkt dieses Textes sind Erfahrungen, die ich im Zuge einer „Kunst“-Aktion Ende März 2013 machen durfte. „Kunst“ möchte ich in diesem Zusammenhang in Anführungszeichen setzen – nicht, weil ein künstlerisches Scheitern oder eine ironische Distanz markiert werden soll, sondern da dieses In-Anführungszeichen-Setzen bereits auf den Kern der theoretischen Auseinandersetzung verweist, die ich im weiteren Verlauf ausführen werde. Doch beginnen möchte ich mit einer Beschreibung dieser „Kunst“-Aktion.

Über den 31. März und 1. April 2013 hatte das Maxim-Gorki-Theater (MGT) zum 6. Osterfestival der Kunsthochschulen nach Berlin geladen. Thematisch eingerahmt wurde die Veranstaltung mit dem Titel Aufstand proben. Die Nachwuchskünstler*innen aus den Kaderschmieden des deutschsprachigen Theaters wurden in der Einladung zum Festival dazu angehalten, in ihren Arbeiten den kommenden Aufstand zu reflektieren und der Frage nachzugehen, wofür man heute auf die Straße gehen würde, um das Wort zu erheben, denn, ich zitiere die Eigendarstellung des Festivals: „Nicht nur in der arabischen Welt, in Griechenland, London und in den USA wird über den kommenden Aufstand geredet. Occupy ist längst auch vor unserer Haustür angekommen.“ (Maxim-Gorki-Theater, 2013) Das Festival wurde damit beworben, den jungen Künstler*innen die Möglichkeit zu bieten, ihre Arbeiten einem breit gefächerten Publikum zugänglich zu machen, und zwar in einem professionellen Rahmen und ohne Druck. Bei genauerem Studium der Ausschreibung wurde allerdings deutlich, dass sich das MGT an keinerlei Kosten beteiligen würde – weder an Produktion, Unterkunft noch an der Anfahrt. Gagen oder zumindest Aufwandsentschädigungen waren ebenfalls nicht eingeplant. Der professionelle Rahmen erschöpfte sich in der Bereitstellung der Bühnen, der Unterstützung von Seiten der Haustechnik und der Möglichkeit, ein renommiertes Stadttheater zu bespielen.

Aus diesen Gründen beschloss die Vollversammlung der Studierenden der Angewandten Theaterwissenschaft im Oktober 2012 fast einstimmig, das Osterfestival geschlossen zu boykottieren. Allerdings wurde die Möglichkeit offen gelassen, dass sich eine Gruppe interessierter Studierender zusammenschließen könnte, um einen kreativen Umgang mit der Situation zu finden und auf die Diskrepanz zwischen politischem Anspruch und ökonomischer Realität des Festivals hinzuweisen. In den folgenden Monaten formierte sich eine Arbeitsgruppe zu der auch ich gehörte, die sich unter anderem mit den Themen prekäre Arbeit, Aufmerksamkeitsökonomie in der Kulturindustrie, aber auch grundlegenden Fragen wie der nach dem Wert und der gesellschaftlichen Relevanz von Kunst auseinandersetzte – immer in Hinblick auf das anstehende Osterfestival und eine Aktion, die man dort durchführen könnte. Ergebnis der Zusammenarbeit war eine Aktion, die, getarnt als 60-minütige und damit den Vorgaben entsprechende Performance, beim Festival angemeldet wurde, und das unter dem etwas sperrigen Titel: Leaving the 21st century – Sozialistische Schauspieler waren schwerer von der Idee eines Regisseurs zu überzeugen (Ist jetzt aber nicht mehr so!). Boycotts are now much easier! Unter dem Vorwand, dass der Bühnenaufbau sehr zeitintensiv sein würde, war es möglich, den Beitrag als Eröffnungsaufführung des Festivals auf der Hauptbühne zu platzieren.

Die Besetzung – Kunst oder politische Aktion?
Was um 15 Uhr am Samstag den 31. März 2013 begann, erschien – zumindest in der ersten halben Stunde – wie eine Performance, welche die eigenen Produktionsbedingungen zum Gegenstand hatte. Neben der Verlesung der Eigendarstellung des Festivals und einer Begriffsdefinition des Boykotts im Allgemeinen erstellten die dreizehn Performer*innen an der Bühnenrückwand jeweils eine individuelle Kalkulation für die Beteiligung an der Aufführung. Dabei wurden unterschiedliche Posten wie „Unterbringung und Anfahrt“ aber auch „Talent“ oder „Selbstmanagement“ in Rechnung gestellt, von denen auch wieder einzelne gestrichen wurden, so dass am Ende jede/r Performer*in 100 Euro veranschlagte. Die Summe der einzelnen Kalkulationen ergab 1300 Euro Produktionskosten, die aber, wie den Zuschauer*innen mitgeteilt wurde, durch eine Förderung der Hessischen Theaterakademie und der Fachschaft der Angewandten Theaterwissenschaft gedeckt wären. Allerdings wurde auf der Kostenseite ein weiterer Posten als „Stück“ vermerkt und mit 1000 Euro veranschlagt. Auf der Einnahmenseite wurde hingegen die nicht vorhandene Unterstützung des MGT mit null Euro angegeben. Die daraus folgende Differenz von 1000 Euro wurde wie folgt erläutert: Eigentlich hatte man eine Performance geplant, in der die Zuschauer*innen die Möglichkeit gehabt hätten, gegen die Performer*innen in Spielen anzutreten, um am Ende die besagten 1000 Euro zu gewinnen. Durch die fehlende finanzielle Unterstützung vom MGT wäre diese Performance nicht durchführbar. Jedoch hätte man sich Gedanken gemacht und wäre zu einer Alternative gekommen: Anstatt gegen die Performer*innen anzutreten, könnten die Zuschauer*innen nun gemeinsam mit den Performer*innen gegen das Maxim-Gorki-Theater um das Geld spielen.

Zu diesem Zweck würde die Trennung von Zuschauer- und Bühnenraum aufgehoben. Um 15.33 Uhr wurde die Bühne als besetzt erklärt und die Zuschauer*innen darauf hingewiesen, dass sie allein aufgrund ihrer weiteren Anwesenheit Teil der Aktion wären. Doch erst als die Besetzung die vorgegebenen sechzig Minuten für die Performance immer deutlicher überschritt, wurde endgültig jedem klar, dass die Programmplanung des Festivals nicht durchführbar sein würde – die nächste Performance auf der besetzten Bühne war auf 17 Uhr angesetzt. Bis 23 Uhr wurde die Hinterbühne des Maxim-Gorki-Theaters von durchschnittlich siebzig bis neunzig Personen besetzt, wobei das Vorgehen im Plenum von allen Anwesenden – Unterstützer*innen wie Kritiker*innen – basisdemokratisch entschieden wurde. Die Aktion entwickelte enorme Sprengkraft. Übergreifend auf alle Beteiligten des Festivals entbrannte eine Diskussion darüber, inwieweit die Besetzung gerechtfertigt wäre, welchen Wert Kunst hätte und ob dieser überhaupt ökonomisch messbar wäre. Die Institution Stadttheater zeigte die Zähne, verschloss sich der Verhandlung über die Forderung der Besetzer*innen und versuchte durch verschiedene Aktionen eine Ende der Besetzung zu erzwingen. Der geprobte Aufstand hatte sich in einen realen verwandelt.

An dieser Stelle könnte genauer auf den Umgang des MGT mit der Aktion eingegangen werden, um ein Schlaglicht auf die Institution Stadttheater zu werfen und der Frage nachzugehen, inwieweit dessen Strukturen es zulassen, politisch Theater zu machen. Auch wäre es möglich, über prekäre Arbeit und neoliberale Arbeitsmodelle in der freien Szene beziehungsweise in der Kulturindustrie zu referieren. Doch soll hier ein anderer Aspekt der Aktion beleuchtet werden, der bereits angeklungen ist und die Unterscheidung zwischen realem und geprobtem Aufstand in den Fokus rückt. Dafür möchte ich auf zwei bemerkenswert widersprüchliche Aussagen verweisen, die während der Besetzung wiederholt als Kritik gegenüber der Aktion geäußert wurden:

Besonders in den ersten Stunden der Besetzung wurde behauptet, die Aktion wäre nicht Kunst, sondern in erster Linie politisch und es wurde die Frage gestellt, ob man als Theaterschaffende nicht in der Lage gewesen wäre, die Kritik am Festival künstlerisch zu thematisieren.

Als entschieden wurde, die Besetzung um 23 Uhr mit dem Feierabend der Bühnentechniker zu beenden, obwohl der – aus einer fiktiven Kalkulation entstandenen – Minimalforderung von 1000 Euro nicht nachgekommen worden war, äußerten diverse Personen (auch solche, die am Anfang der Aktion den ersten Punkt angebracht hatten) die Kritik, dass man ja doch nur Kunst gemacht hätte und gar nichts hätte verändern wollen.

Augenscheinlich hatte das Theater seinen ästhetischen Rahmen gesprengt und sich mit einer politischen Aktion verknüpft, der es allerdings an Konsequenz fehlte. Dies führte bei vielen Zuschauer*innen zu deutlicher Verunsicherung. Die Ununterscheidbarkeit zwischen Kunst und Politik ließe sich leicht als Schwäche der Arbeit abtun, was auch von unterschiedlichen Seiten als Kritik an die Initiator*innen herangetragen wurde. Doch im Gegensatz dazu möchte ich an dieser Stelle ansetzen, um zu fragen, ob nicht genau diese Verunsicherung als Ergebnis einer künstlerischen Strategie zu fassen ist, welche produktives Potential für das Denken eines politisch gemachten Theaters bieten könnte.

Die politische Differenz
Untersucht man den kunstpolitischen Diskurs der letzten Jahre, lässt sich nach dem Ende des 20. Jahrhunderts eine Dringlichkeit in Theorie und Praxis hinsichtlich neuer Artikulationsformen des Politischen in der Kunst konstatieren. Zahlreiche Künstler*innen – ob in den Bereichen Performance, Theater oder bildende Kunst – entwickelten diverse Strategien, die weniger politische Inhalte als vielmehr die Verfasstheit der Kunst selbst und deren politisches Potential in den Fokus rückten. Ob Lars von Trier im Film, Performancekollektive wie das Nature Theatre of Oklahoma und Rimini Protokoll oder die russischen Kunstaktivist*innen von Voina, all diese Beispiele vereint die Reflexion über die eigenen Ausdrucksmittel.

In der kunsttheoretischen Auseinandersetzung lässt sich, trotz der Unterschiedlichkeit der jeweiligen Versuche, eine zentrale Denkfigur dieser heterogenen künstlerischen Strategien identifizieren: die politische Differenz. Diese unterscheidet zwischen Politik und dem Politischen (etwa Müller-Schöll, Schallenberg und Zimmermann 2012 oder Deck und Sieburg 2011).

Diese Denkfigur entstammt der politischen Philosophie und bildete in letzten Jahrzehnten  den Kern diverser Ansätze, die ein Denken des Politischen versuchten – so zum Beispiel in den Arbeiten Jean-Luc Nancys, Alain Badious, Giorgio Agambens oder Jaques Rancières. Sie lassen sich als Reaktionen auf eine postfundamentalistische historische Konstellation begreifen, die besonders mit dem Zerfall des real existierenden Sozialismus 1989 und der aktuellen Finanzkrise ein Ende oder zumindest ein Brüchigwerden der Gewissheiten beschreibt, auf denen sich Gesellschaft gründete. Trotz ihrer jeweiligen Eigenständigkeit führen all diese Ansätze die politische Differenz ins Feld, um die Abwesenheit des Sozialen für politisches Denken produktiv zu machen. Vereinfacht formuliert steckt dahinter die Idee, dass gerade durch die Abwesenheit einer Letztbegründung für Gesellschaft eine Leerstelle entsteht, die einen stetigen Kampf um zumindest temporäre Neugründungen notwendig macht (Marchart 2010, 7ff.).

Wie kann das Begriffspaar Politik und das Politische, die beiden Seiten der politischen Differenz unterschieden werden? Wie Oliver Marchart in seinem Überblickswerk Die politische Differenz schreibt, sagte Pierre Rosanvallon, ein Schüler Claude Leforts, bei seiner Inauguralrede für den Lehrstuhl der modernen und zeitgenössischen Geschichte des Politischen am Collège de France über das Politische:

Sich auf das Politische und nicht auf die Politik beziehen, d.h. von Macht und von Gesetz, vom Staat und der Nation, von der Gleichheit und der Gerechtigkeit, von der Identität und der Differenz, von der citoyenneté und Zivilität, kurzum: heißt von allem sprechen, was ein Gemeinwesen jenseits unmittelbarer parteilicher Konkurrenz um die Ausübung von Macht, tagtäglichen Regierungshandelns und des gewöhnlichen Lebens der Institutionen konstituiert. (zit. n. Marchart 2010, 13)

In dieser Aussage erscheint das Politische in Abgrenzung zur Ausübung von (Staats-)Macht, von Institutionen und Regierungshandeln – kurz: von Politik. Es manifestiert sich in der zivilgesellschaftlichen Verhandlung, einem Gemeinwesen, das sich aus dem Sprechen über die Voraussetzungen von Politik speist. Es steht vor und fragt nach einem Konsens hinsichtlich der richtigen Politik – es besitzt somit eine ethische Dimension und lässt sich, im Sinn eines postfundamentalistischen Denken, nur als steter Prozess fassen. Denkt man diese Figur weiter, wird deutlich, dass die politische Differenz das Politische nicht nur von der Politik unterscheidet, sondern dass das Politische und die Politik sich gegenseitig ermöglichen, im Sinn einer sich kontinuierlich neubegründenden Gesellschaft. Denn während Politik institutionalisierend, rechtssetzend und –erhaltend wirkt, befragt das Politische kontinuierlich diese Strukturen hinsichtlich ihrer ethischen Voraussetzungen, wirkt somit entsetzend und ist zugleich der Ort zivilgesellschaftlicher Konsensfindung, die wiederum Voraussetzung von Politik ist.

Kunst und die politische Differenz
Welche Konsequenzen lassen sich aus einem Denken der politischen Differenz für politisch gemachte Kunst beziehungsweise speziell für politisch gemachtes Theater ziehen? Und in welchem theoretischen Verhältnis steht die Sphäre der Kunst zur Sphäre des Politischen?

Hans-Thies Lehmann schreibt in seinem Aufsatz „Wie politisch ist Postdramatisches Theater?“ über das Theater: „Das Politische ist ihm eingeschrieben, durch und durch, strukturell und ganz unabhängig von seinen Intentionen.“ (2011, 32) Zwar sei es nicht direkt politisch, da es aufgrund seiner Produktionsweise zu langsam sei, um auf die Tagespolitik Einfluss zu nehmen, es sei „aber doch in der Praxis seiner Entstehung und Produktion, seiner Darbietung und seiner Rezeption durch die Zuschauer eine eminent soziale, eine gemeinschaftliche Sache.“ (32) Die Analogie zum Politischen, das als ein vorinstitutionelles Übereinkommen und die Konstitution eines Gemeinwesens jenseits von Machtausübung beschrieben wurde, scheint offensichtlich. Natürlich lässt sich einwenden, dass Theater-Machen in einem Verhältnis zur Institution Theater steht und als Praxis nicht immer unabhängig von zum Beispiel Hierarchien ist. Das Osterfestival der Kunsthochschulen im Maxim-Gorki-Theater ist ein Beleg dafür. Doch möchte ich vorerst einen weiteren theoretischen Exkurs wagen, der die Einschreibung des Politischen in den Strukturen des Theaters erhellen soll.

In seinem geschichtsphilosophischen Aufsatz „Zur Kritik der Gewalt“ untersucht Walter Benjamin das Verhältnis von Recht und Gewalt (1965). Dabei konstatiert er, dass das moderne Staatswesen sich auf dem Rechtsvertrag gründe. Die Bürger des Staates gingen mit diesem  einen Vertrag ein, in dem sie ihr natürliches Recht auf Gewaltausübung an das Gewaltmonopol des Staates abgäben, der ihnen dafür den Anspruch und den Schutz ihrer bürgerlichen Rechte garantiere. Doch in der weiteren Analyse schlussfolgert Benjamin, dass „eine völlig gewaltlose Beilegung von Konflikten niemals auf einen Rechtsvertrag hinauslaufen kann“ (45), mit welchen friedfertigen Absichten er auch geschlossen sei. Jeder Rechtsvertrag beruhe nämlich darauf, dass einer vertragsbrüchigen Partei Konsequenzen drohen – in Form von Gewalt. Und nicht nur der Effekt, sondern auch der Ursprung jedes Rechtsvertrags beinhalte Gewalt. Denn die Macht, die ihn garantiere, sei ebenfalls gewaltsamen Ursprungs, da sie sich erst aus der Möglichkeit von Gewaltausübung speise. Auch Institutionen gründeten so – da sie Ergebnis beziehungsweise Agenten rechtssetzender und rechtserhaltender Praxis seien – auf Gewalt (46). Dabei seien rechtssetzende beziehungsweise rechtserhaltene und damit gewaltsame Mittel immer Mittel zum Zweck. Zum Beispiel dienten die Befugnisse der Polizei dem Erhalt von Ordnung und Sicherheit; oder die Kontrollfunktion eines Verfassungsgerichts dem Erhalt des den Staat konstituierenden Rechtsvertrags selbst (29ff.).

Anhand dieser Beispiele lässt sich eine Analogie zum Denken der Politik innerhalb der politischen Differenz ziehen. Wenn Politik die Ausübung von Macht, das Handeln von Institutionen oder die Konkurrenz von Parteipolitik beschreibt, kann sie der Sphäre des Rechts und somit einem gewaltsamen Ursprung zugeordnet werden, deren Mittel immer einem Zweck dienen. Politik will Recht setzen und erhalten, ist angewiesen auf Institutionen und versucht diese daher zu verteidigen.

Benjamin stellt den gewaltsamen Mitteln zum Zweck die zweckfreien und gewaltlosen reinen Mittel gegenüber. Diese meint er in „Verhältnissen zwischen Privatpersonen“ zu finden, „wo die Kultur des Herzens den Menschen reine Mittel der Übereinkunft an die Hand gegeben hat“ und gibt dafür einige Beispiele wie „Herzenshöflichkeit, Neigung, Friedensliebe, Vertrauen“, die er als die „subjektive Voraussetzung“ der reinen Mittel benennt (47). Besonders die Unterredung beschreibt er als solch eine Technik der zivilen Übereinkunft. Diese reinen Mittel wirkten rechtsentsetzend, wie er am Beispiel des proletarischen Generalstreiks deutlich macht, den er den reinen Mitteln zuordnet, da er keine sozialpolitischen Forderungen kenne. Seine einzige Aufgabe sei die „Vernichtung der Staatsgewalt“ selbst (51). Der proletarische Generalstreik beinhalte keine sozialpolitischen Reformbestrebungen, da die Parteigänger jede Reform als bürgerlich ansähen. Damit sei der proletarische Generalstreik gewaltlos, da er nicht neues Recht setze, sondern im Gegenteil mit der Vernichtung des Staates das Recht entsetze. Dahinter stehe der Entschluss „nur eine gänzlich veränderte Arbeit, eine nicht staatlich erzwungene, wieder aufzunehmen, ein Umsturz, den diese Art des Streiks nicht sowohl veranlasst als vielmehr vollzieht.“ (51)

Dieses Beispiel des Streiks scheint aus heutiger Sicht schwer nachvollziehbar und kann kritisiert werden, denn es beruht auf einem marxistisch geprägten geschichtsphilosophischen Denken. Außerdem wäre zu fragen, wie ein gewaltloser Streik ohne Forderungen vorstellbar sein könnte. Doch bedenkt man Benjamins Aussagen hinsichtlich der Unterredung als reinem Mittel zur zivilen Übereinkunft, könnte man gerade die Sphäre der Kunst als prädestinierten Ort solch gewaltloser Verhandlung anführen, da diese im Sinn einer Rechtssetzung oder des Rechtserhalts keinem Zweck dient.

Theater und Potentialität
Das Theater verfügt über eine besondere strukturelle Disposition des Entsetzens. Die Potentialität des Theaters beschreibt der Theaterwissenschaftler Nikolaus Müller-Schöll in seinem Text Theater der Potentialität wie folgt:

Das Theater stellt die eigene Theatralität aus und macht so die Suspension des historischen Wissens erfahrbar, auf die die Rede vom Ende der Geschichte in allen ihren Variationen hinweist – eine Suspension im Widerstreit zwischen zwei Polen: Zwischen einer Ereignishaftigkeit, die wir in unserer Darstellung nicht greifen können, auf der einen Seite und einer Produktion von nur fiktiven Erzählungen auf der anderen. (1999, 73)

In dieser Aussage wird der Als-ob-Charakter des Theaters in einen geschichtsphilosophischen Kontext gerückt. Denn selbst wenn die Geschehnisse auf der Bühne auf historische Ereignisse verweisen, können wir letztere nicht wirklich fassen, was uns umso mehr die Fiktionalität des Bühnengeschehens erfahren lässt. Mehr noch: dieser Als-Ob-Charakter birgt ein eigenes Potential der Verhandlungsfähigkeit des Theaters.

Zur Verdeutlichung ein Verweis auf die Sprechakttheorie: Dort kann der performative Akt als schlechthin „absoluter, präkonventioneller, Konventionen und Rechtsverhältnisse allererst setzender“ und somit – nach Benjamin – rechtssetzender Akt gelesen werden, wie Werner Hamacher in seinem Text Afformativ, Streik schreibt (1994, 345). Dazu ein berühmtes Beispiel: Wenn der Standesbeamte erklärt: „Hiermit erkläre ich Euch zu Mann und Frau“, hat das Konsequenzen für den Rechtsstatus der nun verheirateten Personen. Geschieht dieser Sprechakt allerdings auf einer Theaterbühne, entsetzt der Als-Ob-Charakter des Kunstrahmens eben diese Konsequenz. Der Zweck des Sprechakts wird suspendiert und kann – im besten Fall – einen Verhandlungsraum öffnen, der etwa nach der gesellschaftlichen Funktion von Ehe oder der Bevorzugung hetero-normativer Beziehungsmodelle fragt. Lehmann nennt diese Funktion in seinem schon zitierten Aufsatz über das postdramatische Theater die „eigentümliche Charakteristik des ästhetischen Handelns, nicht wirklich Handeln zu sein.“ (2011, 38) Der Unterredung bei Benjamin ähnlich, erscheint das Theater somit als eine Praxis des zweckfreien und gewaltlosen Verhandelns. Doch unterscheidet es sich in einem wesentlichen Punkt von der Unterredung. Während Benjamin letztere als zivilgesellschaftliche Praxis der Konsensfindung versteht, suspendiert der Als-Ob-Charakter des Theaters diese Konsensfindung und stellt diese gleichsam aus.

Theater und das Politische
Die vorangegangen Ausführungen sollten verdeutlichen, wie die Aussage Lehmanns, dass das Politische dem Theater strukturell eingeschrieben sei, zu verstehen sein könnte. Es ist diese besondere Fähigkeit des Entsetzens und der Verhandlung, die Nähe zur Unterredung bei Benjamin, die dem Theater als bestimmter Versammlungsort eigen ist, und somit in einer genuinen Beziehung zum Politischen steht. Es wäre aber unproduktiv zu behaupten, dass aufgrund dieser Verfasstheit bereits das politische Potential von Kunst beziehungsweise Theater per se erfasst wäre. Diese Aussage würde implizieren, dass jede Form von Theater a priori politisch und somit das Theater als Praxis mit der Unterredung bei Benjamin gleichzusetzen wäre. Doch das Politische sei das, was, wie Lehmann schreibt, „von der Sprache bis zu den Gesetzen, Rechten und Pflichten – ein gemeinsames Maß gibt, eine Regel, die Gemeinsamkeit konstituiert, ein Regelfeld für potentiellen Konsens.“ (35) Innerhalb dieses Regelfelds würden aber die Ausnahmen nicht berücksichtigt. Es gäbe Stimmen, die dort nicht angehört würden, da sie nur außerhalb des Konsens hörbar seien, beziehungsweise unter Allgemeingültigkeit subsumiert würden und somit in ihrer Singularität verstummen müssten (35). Hier nimmt das postdramatische Theater für Lehmann eine besondere Stellung ein. Denn im Gegensatz zum politischen Diskurs, dessen Agenten oftmals eine scheinbare Feindschaft, ein Gut gegen Böse inszenierten um zum Beispiel mit Rückgriff auf Moral Entscheidungen der Politik zu rechtfertigen (man denke etwa an den Krieg in Afghanistan und den Hinweis auf die Menschenrechte), kritisiere das politische gemachte Theater diesen moralpolitischen Diskurs, um durch die Unterbrechung des Politischen auf die „schwankende Voraussetzungen des eigenen Urteils“ (37) zu verweisen. Damit schärfe es den Sinn für die Ausnahme. Denn nur die Ausnahme der Regel ließe uns die Regel erkennen (37f.).

Doch wie denkt Lehmann dann ein dezidiert politisches Theater? Welche Strategien bietet er an? Das politisch gemachte Theater definiert er nicht über den politischen Inhalt, sondern die Form, die ein politisches Potential in sich birgt und nicht „übersetzbar oder rückübersetzbar ist in die Logik von Syntax und Begrifflichkeit des politischen Diskurses in der gesellschaftlichen Wirklichkeit“ (35) – ein Plädoyer für das postdramatische Theater.

Verständlich wird dies erst, wenn man berücksichtigt, dass Lehmann letztendlich die Verbindung des Theaters zum Politischen zieht, indem er Guy Debord folgend eine Ausweitung der Sphäre des Ästhetischen in alle Bereiche der Gesellschaft zu erkennen meint. Denn in Debords Gesellschaft des Spektakels ist für den Bürger das gesamte öffentliche Leben zum Schauspiel geworden (1996). Lehmann schlussfolgert daraus: „Insofern nimmt nur ein solches Theater eine genuine Beziehung zum Politischen auf, das nicht irgendeine Regel erschüttert, sondern die eigene; nur ein Theater also, dass das Theater der Schaustellung unterbricht.“ (2011, 35) Die Unterbrechung des Politischen ist in Lehmanns Denken also eine Unterbrechung von ästhetischen Regeln. Er fordert ein Theater, welches das eigene ästhetische Programm angreift. Das Potential für das Politische im Theater könnte man unter anderem folgenden künstlerischen Strategien zuordnen: die Brechung von Sehgewohnheiten, die Verschiebung des Repräsentationscharakters, wenn zum Beispiel Performer*innen keine Figuren darstellen, sondern sich selbst repräsentieren, oder die ästhetische Intervention in das Reale wie es in Formen des site-specific-theatres durchgespielt wird.

Versucht man sich einen Überblick über die Theorien politisch gemachter Kunst beziehungsweise politisch gemachten Theaters der letzten Jahre zu verschaffen, erkennt man die immense Wirkung dieser Überlegungen Lehmanns. Politisch gemachtes Theater wird oft auf dessen Fähigkeit zur ästhetischen Unterbrechung hin untersucht (etwa Müller-Schöll, Schallenberg und Zimmermann 2012 oder Deck und Sieburg 2011). Doch dieser Ansatz kann die Besetzung des Maxim-Gorki-Theaters nur ungenügend fassen. Zwar kann man auch in dieser Aktion eine Unterbrechung des Ästhetischen erkennen, denn die Aktion berührte etwa die Frage nach der Produktionsweise und deren ökonomischen Voraussetzungen und kommt ohne Figuren aus. Doch mit dem Übergang in eine reale Besetzung inszenierte diese Aktion nicht nur Realität, sondern wurde zu einer scheinbar originär politischen Aktion. Denn wenn laut Lehmann ästhetisches Handeln im eigentlichen Sinn kein Handeln ist, wird deutlich, dass die Besetzungsaktion im MGT die Sphäre des Ästhetischen verließ.

Doch findet man bei Lehmann auch Beobachtungen hinsichtlich solcher Öffnungen hin zum Politischen. Er nennt unter anderem die Aktionskunst Christoph Schlingensiefs, „die im besten Fall durch konsequente Ununterscheidbarkeit zwischen Unsinn und politischem Ernst […] eine Verknüpfung von theatralischer Bestimmung und politischer Aktion [herstellt].“ (2011, 34) Lehmann grenzt solche Öffnungen von einem Theater, das einfach nur politische Inhalte vermitteln möchte, klar ab, bezeichnet letzteres gar als im eigentlichen Sinne unpolitisch:

Gegenüber solch riskanten Eröffnungen (deren Gelingen im Einzelnen diskutabel bleiben wird, sogar muss) mit ihren veränderten Wahrnehmungs- und Diskurspotential bleibt die Vermittlung von politischen Ansichten, Einstellungen und Gestimmtheiten der Autoren oder Regisseure in einem genauen Sinn unpolitisch. Und zwar in dem Maße, in dem nicht die Form des Theaters selbst angegriffen wird. (34)

Jenseits des Theaters
Doch wie lässt sich das politische Potential solcherlei Öffnungen erfassen und welche Strategien verknüpfen theatrale Bestimmung und politische Aktion? Zwei Jahre vor Erstveröffentlichung des Aufsatzes „Wie politisch ist Postdramatisches Theater?“ führte Christoph Schlingensief in Wien eine Kunst-Aktion durch, die als paradigmatisch für die von Lehmann beschriebene Öffnung – und meines Erachtens als die vielleicht denkbar radikalste Unterbrechung der Form – gelten kann. Um diese These zu stützen, möchte ich die Aktion Schlingensiefs  kurz umschreiben, sie mit der Aktion im MGT abgleichen und beide Arbeiten auf ihre jeweiligen künstlerischen Strategien hin untersuchen.

Im Jahr 2000 realisierte Christoph Schlingensief bei den Wiener Festwochen die Kunst-Aktion Bitte liebt Österreich – Erste österreichische Koalitionswoche, vielen besser bekannt unter dem Titel Ausländer raus. Eine Woche lang wurden dafür mehrere kameraüberwachte Container auf einem Platz neben der Wiener Staatsoper aufgestellt. In diese Container zogen  zwölf angebliche Asylbewerber. Auf dem Dach eines Containers wurden Flaggen der rechtspopulistischen Freiheitlichen Partei Österreichs (FPÖ), sowie ein Transparent mit der Aufschrift „Ausländer raus“ gehisst. Schlingensief, der selbst während der Aktion als eine Art Moderator auftrat, erklärte den neugierigen Wiener*innen, dass sie nun – ganz ähnlich dem damals sehr erfolgreichen Fernsehformat Big Brother – die Möglichkeit hätten, per Telefon jeden Tag zwei unliebsame Bewohner aus den Containern herauszuwählen. Diese würden daraufhin direkt in ihre Heimatländer abgeschoben werden. Die Ereignisse im Container wurden live ins Internet übertragen. Dem am Ende übrig bleibenden Asylbewerber würden eine Geldprämie und die Möglichkeit auf ein Bleiberecht winken. Letzteres allerdings nur gesetzt den Fall, dass sich eine heiratswillige Einheimische finden würde. In den folgenden Tagen entwickelten sich auf dem öffentlichen Platz turbulente Szenen. Einige Schaulustige stellten öffentlich ihre rassistischen Ressentiments zur Schau, wobei ihnen Schlingensief auch gerne das Mikrophon überließ. Zudem formierte sich eine Protestgruppe aus links-autonomen Aktivisten, die vor Ablauf der Aktion die vermeintlichen Asylbewerber aus ihrer misslichen Lage befreiten (Schlingensief 2000; Poet 2002).

Folgt man Lehmann dahingehend, dass Theater, das nur die politischen Ansichten des Künstlers wiedergibt im eigentlichen Sinn unpolitisch sei, da ein solches nur eine moralische Position innerhalb des politischen Diskurses einnehmen würde, wird deutlich, inwieweit sich Schlingensiefs Aktion einer klaren moral-politischen Position entzog. Hier schien gerade die Behauptung einer – wenn auch aus linkspolitischer Sicht – unmoralischen Position Kern der Aktion zu sein, die nicht rückführbar war auf die Gesinnung des Künstlers. Für eine implizite moralische Wahrheit hinter dem Geschehen bot die Aktion keine Hinweise. Zwar war sie scheinbar moralische Setzung – Ausländer sollten abgeschoben werden – allerdings verblieb hier, im Sinn des entsetzenden Charakters der Kunst, diese Setzung in einer Potentialität. Denn das Setting war derart konstruiert, dass der Kunstcharakter der Aktion nicht gänzlich aufgelöst werden konnte.

Im Falle der Besetzung des MGT erweist sich solch eine Analyse als schwieriger. Denn hier hatten die Künstler*innen die Moral anscheinend auf ihrer Seite. Sie forderten auf einem Festival für junge Künstler*innen, dessen Publikum in erster Linie aus jungen Künstler*innen bestand, eine angemessene Bezahlung für Künstler*innen – eine Forderung, die bei allen Beteiligten also erst einmal zustimmendes Kopfnicken hätte hervorrufen müssen. Jedoch darf man nicht außer Acht lassen, dass es anderen Gruppen durch die Besetzung nicht möglich war, auf dem Festival ihre Kunst zu zeigen. Erst dieser Umstand macht die heftigen Reaktionen auf die Aktion erklärbar. Die Fragen, die aufgeworfen wurden, konnten nicht endgültig durch die Aktion aufgelöst werden: Ist die Forderung der Künstler*innen richtig? Sind die Mittel zur Durchsetzung der Forderung richtig? Ist es richtig oder überhaupt möglich, politisches Theater in diesem Rahmen zu machen? Und wenn nicht, ist es dann nicht auch richtig, die anderen Künstler*innen zu boykottieren? Ganz im Sinne Lehmanns wurden hier anscheinend die Voraussetzungen für ein eigenes Urteil ins Schwanken gebracht.

Doch wieso meine ich in den beiden Beispielen die vielleicht sogar denkbar radikalste Unterbrechung der theatralen Form zu entdecken? Die Beantwortung dieser Frage verweist auf das In-Anführungs-Zeichen-Setzen von Kunst im Titel dieses Textes.

Ich möchte die These aufstellen, dass in beiden Aktionen mehr als eine Unterbrechung innerhalb der ästhetischen Sphäre zu entdecken ist. Vielmehr ist es die ästhetische Sphäre selbst, die suspendiert wird. Während ihr Als-Ob-Charakter das Gezeigte oftmals in Anführungszeichen setzen mag, wird hier die Kunst selbst in Anführungszeichen gesetzt. Zwar mögen sich die Arbeiten in ihren Strategien unterscheiden, doch im Ergebnis sind sie durchaus vergleichbar. Bei Schlingensief war es die Behauptung einer realen Konsequenz – die angebliche Abschiebung der Asylbewerber – die zwar angezweifelt wurde, aber eben nicht endgültig als fiktional aufgelöst werden konnte. Anders ist es nicht zu erklären, dass eine Protestgruppe meinte, die Containerbewohner befreien zu müssen. Im Falle der Besetzung des MGT war es die reale Präsenz der Besetzer*innen auf der Bühne, die das Zeigen anderer Aufführungen unmöglich machte und somit die vorgegebene Festivalstruktur sprengte.

In beiden Fällen wurde der Kunstcharakter, der fiktionale Rahmen selbst, aufs Spiel gesetzt. Ganz aufgelöst wurde er dabei nicht – und darf er hinsichtlich dieser Strategie meines Erachtens auch nicht. Denn wenn die jeweiligen realen Setzungen ihren Behauptungscharakter verlieren, würden die Aktionen wirklich zur Institution oder (partei-) politischen Position im politischen Diskurs werden. Schlingensiefs Container wären dann nichts anderes als ein besonders perverses und reales Abschiebegefängnis. Und die Besetzung des MGT wäre einfach eine politische Aktion, die in ihrer Konsequenz zum Beispiel die Gründung einer Künstlergewerkschaft nach sich ziehen müsste. In diesem Sinn würden beide Arbeiten schlicht auf moralische Positionen zurückgreifen – ohne deren Voraussetzungen ins Schwanken zu bringen. Der Boykott in Berlin, könnte man einwerfen, war ab dem Zeitpunkt der Überschreitung der angesetzten Dauer der Performance nichts anderes als eine Besetzung und somit politische Aktion. Doch möchte ich diesem Einwand entgegen halten, dass die Beendigung der Besetzung an die Forderung von 1000 Euro geknüpft war – eine Forderung, die aus einer fiktiven Kalkulation resultierte. Zudem wurde die Aktion recht inkonsequent um 23 Uhr abgebrochen und im Anschluss in einer Art Kritikgespräch im Foyer des MGT besprochen. Außerdem hatten die Initiatoren für die Dauer der Besetzung Spiele vorbereitet, die eine Rezeption der Arbeit als ausschließlich politische Aktion unterminierte.

Fazit
Politische Aktion oder Kunst – in beiden Beispielen ist eine Unterscheidung nicht möglich. Es kann sogar als Kern der ihnen zugrunde liegenden künstlerischen Strategie gelten, diese Ununterscheidbarkeit zu generieren. Eine Strategie, die im Vergleich mit den verschiedenen Ansätzen eines politisch gemachten Theaters eine besondere Wirkmächtigkeit entfalten kann. Denn diese Strategie umgeht ein grundsätzliches Problem politisch gemachter Kunst, welche die Unterbrechung innerhalb der Sphäre des Ästhetischen sucht. Diese Kunst braucht für ihre Unterbrechungen immer zuerst eine ästhetische Setzung, die sie unterbrechen kann. Doch was passiert, wenn die Strategien der Unterbrechung selbst zu ästhetischen Setzungen geworden sind? Sind die von Lehmann beschworenen Formen des postdramatischen Theaters nicht längst Teil unserer Sehgewohnheiten geworden? Und ist nicht gerade das Osterfestival im MGT ein besonders eindrucksvolles Beispiel für eine Institutionalisierung der politischen Kunst? Frei nach dem Motto: Seid politisch (auch gerne postmodern), aber bitte im Rahmen der Voraussetzungen, die wir euch bieten. Dagegen erzeugt die Unterbrechung der ästhetischen Sphäre eine Ununterscheidbarkeit zwischen dem Als-Ob-Charakter der Kunst und einer realen Konsequenz, was eine Vereinnahmung und damit Konsumierbarkeit doch zumindest stark erschweren sollte.

Des Weiteren kann die Unterbrechung innerhalb der ästhetischen Sphäre den politischen Diskurs, und damit die rechtssetzende Gewalt nach Benjamin, nur dahingehend entsetzen, dass sie die Regelfelder des darunter liegenden moralischen Diskurses offenlegt beziehungsweise brüchig werden lässt. Dagegen verfügt die Unterbrechung der ästhetischen Sphäre selbst über das Potential, sich in ein direktes Verhältnis zu dieser Gewalt zu setzen und diese spürbar zu machen. So war das Maxim Gorki Theater durch die Besetzung gezwungen, sich selbst als Institution zu verteidigen beziehungsweise mussten die anderen Künstler*innen sich fragen, zu welchem Preis und mit welchen Mitteln sie ihr Recht durchsetzen könnten, um das Zeigen ihrer Arbeiten zu ermöglichen. Und die Gewalt von Ausgrenzung und Abschiebung wurde bei Schlingensief nicht einfach nur offengelegt, sondern zugleich als reale Handlung mit deren Konsequenzen erfahrbar.

Berücksichtigt man diese Beobachtungen, erscheinen die heftigen Reaktionen auf beide Arbeiten nicht verwunderlich, da die beschriebene künstlerische Strategie eine einfache Zuschauerposition verhinderte. Denn gerade durch die scheinbare Setzung von moralischen Positionen wurde der moralpolitische Diskurs ausgesetzt, wobei diese Art der Unterbrechung weitere Äußerungen fast zwangsläufig einforderte. Beide Aktionen stehen daher für ein politisch gemachtes Theater jenseits des Theaters, das im besten Sinn politisiert.

Quellen
Benjamin, Walter. 1965. „Zur Kritik der Gewalt.“ In Zur Kritik der Gewalt und andere Aufsätze. Mit einem Nachwort von Herbert Marcuse, 29-66. Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Debord, Guy. 1996. Die Gesellschaft des Spektakels. Berlin: Edition Tiamat.
Deck, Jan, und Angelika Sieburg, hgs. 2011. Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten. Bielefeld: Transcript.
Hamacher, Werner. 1994. „Afformativ, Streik.“ In Was heißt ‚Darstellen‘?, hg. von Christiaan Hart Nibbrig, 346-360. Frankfurt a. M.: Suhrkamp.
Lehmann, Hans-Thies. 2011. „Wie politisch ist Postdramatisches Theater?“ In Politisch Theater machen. Neue Artikulationsformen des Politischen in den darstellenden Künsten, hg. von Jan Deck und Angelika Sieburg, 29-40. Bielefeld: Transcript.
Marchart, Oliver. 2010. Die politische Differenz. Zum Denken des Politischen bei Nancy, Lefort, Badiou, Laclau und Agamben. Berlin: Suhrkamp.
Maxim-Gorki-Theater. 2013. „Aufstand proben. 6. Osterfestival der Kunsthochschulen.“ http://www.gorki.de/spielplan/6_osterfestival_der_kunsthochschulen/
Müller-Schöll, Nikolaus. 1999. „Theater der Potentialität.“ In Theater der Welt. Theater der Welt in Berlin 1999, hg. von Joachim Fiebach, 69-74. Berlin: Theater der Welt.
Müller-Schöll, Nikolaus, André Schallenberg und Mayte Zimmermann, hgs. 2012. Performing Politics. Politisch Kunst machen nach dem 20. Jahrhundert. Berlin: Theater der Zeit.
Poet, Paul (Regie). 2002. Ausländer Raus! – Schlingensiefs Container. Bonus Film, DVD.
Schlingensief, Christoph. 2000. „Bitte Liebt Österreich – Erste österreichische Koalitionswoche.“ http://www.schlingensief.com/projekt.php?id=t033

Michael Neil McCrae, geb. 1985, ist seit 2007 Student der Angewandten Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Vor und neben dem Studium hat er als Assistent in den Bereichen Dramaturgie, Regie und Produktion gearbeitet und eigene Performance-Projekte realisiert.

Habitat: Weltenräume, Spielräume

Unterwegs im Gehäuse

Nach acht Monaten Reise durch das All schwenkt die bemannte Raumkapsel in die Umlaufbahn um den Mars ein. Nun wird das Landungsmodul in Betrieb genommen. Zwölf Tage später wird dieses Modul vom Mutterschiff abgekoppelt. Nach einem kurzen Flug landet es auf der Marsoberfläche. Am 14. Februar 2011 betreten der Russe Alexander Smolejewski und der Italiener Diego Urbina als erste Menschen den Mars. Im Orbiter, der um den Mars kreist, verfolgen die restlichen Teilnehmer der Marsexpedition diesen bedeutenden Schritt am Bildschirm.
Die Euphorie ist groß – und echt. Nicht echt hingegen ist der Mars, den sie betreten. Die beiden Marsonauten, die, in ihre Raumanzüge gehüllt, Gesteinsproben aus dem Boden entnehmen, tun dies in einer Halle in der Nähe von Moskau. Einige Tonnen Sand und ein blinkender LED-Sternenhimmel täuschen nicht darüber hinweg, dass dies noch kein großer Schritt für die Menschheit war.

Diese Marslandung war Teil eines langjährigen Projekts, das am Institut für Biomedizinische Probleme in Moskau durchgeführt wurde. Hauptpartner für das Experiment waren die russische Raumfahrtagentur Roskosmos und die Europäische Weltraumorganisation ESA. Für das Isolationsexperiment Mars500 ließen sich sechs Freiwillige während 520 Tagen in eine Konstruktion aus fensterlosen Containern einsperren und verbrachten dort die Zeitspanne, die ein wirklicher Flug zum Mars und zurück voraussichtlich einnehmen würde. Während diesen anderthalb Jahren, vom 3. Juni 2010 bis zum 4. November 2011, führten sie zahlreiche Experimente durch, sammelten Urin- und Luftproben, bewirtschafteten ein kleines Treibhaus, führten strenge und ausgeklügelte Diäten durch und veränderten durch blaues Licht ihren Schlaf-Wach-Rhythmus. Vor allem aber sollten sie Erkenntnisse darüber liefern, wie eine Gruppe von sechs Leuten mit einer derart langen Isolation umgeht.

Die beiden europäischen Teilnehmer des Experiments, der Franzose Romain Charles und der Italiener Diego Urbina verfassten regelmäßig aufschlussreiche Tagebuch- und Videoblogeinträge. Im Internetarchiv kann man ihre Alltagsprobleme mitverfolgen, die interkulturellen Schwierigkeiten, die schönen Momente, zum Beispiel wenn Geburtstag gefeiert wird. Oder eben das große Erfolgserlebnis, dass nach vielen Monaten der Mars erreicht wird. Die mediale Aufbereitung von Mars500 ist allerdings nur ein peripheres Ereignis des wissenschaftlichen Experiments. Das eigentliche Publikum dieser Versuchsanordnung sind die Forscher außerhalb des Containers. Sie blicken von außen auf die von ihnen geschaffenen Räume, sie analysieren die Geschehnisse in der Raumkapsel und gewinnen daraus im besten Fall Erkenntnisse zur physiologischen und psychologischen Verfassung ihrer Probanden. Die Forscher haben einen Raum geschaffen, der nach bestimmten Gesichtspunkten gebaut und eingerichtet wurde: Er sollte einem Raumschiff, das zum Mars fliegen könnte, möglichst ähnlich sein. Dem Bauen und Beleben des Versuchsraumes ging ein Prozess voraus. Der Raum wurde antizipiert, er war zunächst ein bloßer Gedankenraum.

Interessanterweise taucht der Raum oft als Metapher auf, wenn Denktätigkeiten beschrieben werden sollen. Über die Vorzüge eines begrenzten Denkraumes, schreibt zum Beispiel Karl Jaspers. In Psychologie der Weltanschauungen widmet er ein Kapitel den „Gehäusen“, die für den „Halt im Begrenzten“ stehen (1971, 304).

[Das Gehäuse gibt] eine Festigkeit und Sicherheit durch etwas schließlich mechanisch Anwendbares in geradlinigen, aussprechbaren Grundsätzen und einzelnen Imperativen. Der im Gehäuse existierende Mensch ist der Tendenz nach abgesperrt von den Grenzsituationen. Diese sind ihm durch das fixierte Bild der Welt und der Werte ersetzt. So kann er, dem schwindelerregenden Prozess entronnen, sich gleichsam in einem behaglichen Wohnhaus einrichten. (305)

Jaspers beschreibt hier das rationale Denken als begrenztes Denken, das zu bestimmten Weltsichten, Handlungsmustern und Lebenshaltungen führt. In einer bestimmten Denkhaltung, die durch den geschlossenen Raum symbolisiert wird, kann man Grundsätze und Imperative, Prinzipien und Regeln etablieren und benutzen. Innerhalb des so eingerichteten Denksystems muss man sich nicht mit dem Außerhalb der festgelegten Parameter auseinandersetzen. Im kleinen Raum reduziert man die Möglichkeiten. Bestimmte Aspekte werden ausgegrenzt, um andere genauer in den Blick zu nehmen. Das ist eine erleichternde Vereinfachung, die allerdings, so klingt es bei Jaspers an, auch dazu verführen kann, sich auf die Einfachheit des Modells soweit einzulassen, dass man die Kompliziertheit des Außerhalb vergisst.

Karl Jaspers Begriff vom Gehäuse, vom „Halt im Begrenzten“ möchte ich ganz wörtlich, also räumlich, nehmen. Das Gehäuse als tatsächlicher Raum ist genauso ein abgeschlossenes System, eine begrenzende Hilfestellung. Die Raummetapher bezieht sich für mich auf den konkreten Ort, auf den Versuchsraum von Mars500, und die Qualitäten, die diese Begrenzung mit sich bringt.

Abb.1: Probespaziergang auf der simulierten Marsoberfläche. Bildrechte: ESA/IBMP.

Abb.1: Probespaziergang auf der simulierten Marsoberfläche. Bildrechte: ESA/IBMP.

Abb.2: Die Crew von Mars500 in ihrem Wohnzimmer. Bildrechte: ESA.

Abb.2: Die Crew von Mars500 in ihrem Wohnzimmer. Bildrechte: ESA.

Der Container als Spielfeld
Eine der Qualitäten, die eine Begrenzung auf einen engen Raum bieten kann, ist die eingeschränkte Handlungsmöglichkeit. Wenn man danach fragt, wie dieser Raum, dieses Gehäuse, in Mars500 benutzt wird, fallen Ähnlichkeiten zu einem Spielfeld auf. Auch auf dem Spielfeld findet man die Grenze, die es vom Leben trennt, auch auf dem Spielfeld gelten bestimmte Regeln. Die Spieldefinition von Roger Caillois, die er 1958 in den ersten Kapiteln von Die Spiele und die Menschen vorstellt, lässt sich auf das Isolationsexperiment Mars500 anwenden:

Das Spiel ist:
1. eine freie Betätigung, zu der der Spieler nicht gezwungen werden kann, ohne dass das Spiel alsbald seines Charakters der anziehenden und fröhlichen Unterhaltung verlustig ginge;
2. eine abgetrennte Betätigung, die sich innerhalb genauer und im Voraus festgelegter Grenzen von Raum und Zeit vollzieht;
3. eine ungewisse Betätigung, deren Ablauf und deren Ergebnis nicht von vornherein feststeht, da bei allem Zwang zu einem Ergebnis zu kommen, der Initiative des Spielers notwendigerweise eine gewisse Bewegungsfreiheit zugebilligt werden muß.
4. eine unproduktive Betätigung, die weder Güter noch Reichtum noch sonst ein neues Element schafft und die, abgesehen von einer Verschiebung des Eigentums innerhalb des Spielerkreises, bei einer Situation endet, die identisch ist mit der zu Beginn des Spiels;
5. eine geregelte Betätigung, die Konventionen unterworfen ist, welche die üblichen Gesetze aufheben und für den Augenblick eine neue alleingültige Gesetzgebung einführen;
6. eine fiktive Betätigung, die vom spezifischen Bewusstsein einer zweiten Wirklichkeit oder in bezug auf das gewöhnliche Leben freien Unwirklichkeit begleitet wird. (1982, 16)

Für Caillois ist ein Spiel also eine freie, vom gewöhnlichen Leben räumlich und zeitlich abgetrennte, ungewisse, unproduktive, geregelte und fiktive Betätigung.

Betrachtet man Mars500 als Spiel, treffen diese sechs Definitionen zu. Die Versuchspersonen nehmen freiwillig teil. Die Dauer und das Spielfeld sind klar abgegrenzt, es dauert genau 520 Tage und findet in den Containern des Instituts für Biomedizinische Probleme in Moskau statt. Der Ausgang ist ungewiss: Ziel des Spiels wäre es, 520 Tage Isolation in einer Gruppe von sechs Menschen auszuhalten. Das kann auch scheitern, wie ein früherer Testlauf zeigte, der nach einigen Wochen abgebrochen werden musste. Es werden keine Güter hergestellt, es ist also auch unproduktiv, zumindest wenn man unter Produktivität nur die Herstellung von Waren versteht.

Am Interessantesten aber scheint mir das Verhältnis von Regel und Fiktion im Mars-Experiment. Analysiert man ein Spiel, ist die Frage ‚Woher kommen die Regeln?’ zentral. Es gibt Spiele mit abstrakten Regeln, die sich aus sich selbst erklären und aus sich selbst einen fiktiven Rahmen schaffen, aber keinen Bezug zu Dingen außerhalb des Spiels haben, etwa das Mühlespiel. Diese Spiele sind mit Caillois’ fünftem Definitionspunkt von der Regelbasiertheit der Spiele angesprochen. Der sechste Punkt dagegen lautet: „[Das Spiel ist] eine fiktive Betätigung, die vom spezifischen Bewusstsein einer zweiten Wirklichkeit oder in Bezug auf das gewöhnliche Leben freien Unwirklichkeit begleitet wird.“ (16) Weiter schreibt er: „Obwohl diese Behauptung paradox klingt, würde ich sagen, dass […] die Fiktion, also das Gefühl des als ob die Regel ersetzt und genau die gleiche Funktion erfüllt.“ (15. Herv. i. O.)

Die Fiktion erhält den gleichen Stellenwert wie die Spielregel. Das ‚als ob’ stellt sich ein, weil dem Spiel eine Fiktion zugrunde gelegt wird, die es strukturiert. Das ‚als ob’ ist eine Regel. Hält man sich nicht an diese Regel, dann funktioniert das Spiel nicht, dann ist es zu Ende. In der Spielzeit von 520 Tagen und auf dem Spielfeld der Containeranlage ist es die Fiktion, welche den Spielverlauf gestaltet. Allerdings sind die fiktionalen Hypothesen, dennoch auf die reale Welt bezogen, etwa die Regel der Spieldauer. Zum Mars und zurück dauert es 520 Tage, daraus ergibt sich die Regel der Spieldauer. Weitere solche Annahmen geben den Fahrplan des Projekts vor. Zum Beispiel tritt das Raumschiff nach acht Monaten in die Umlaufbahn des Mars ein, daraufhin wird das Landungsmodul vorbereitet und die Marsonauten fliegen damit zur Marsoberfläche. Die aus einer wissenschaftlichen Hypothese abgeleitete Fiktion strukturiert das Handeln und Denken der spielenden Versuchspersonen. Wenn Caillois von einem „Gefühl des als ob“ (15) im freien Spiel spricht, bedeutet das, dass das Spiel einerseits darin besteht, das Leben nachzuahmen, aber andererseits auch darin, innerhalb des Spieles Regeln zu etablieren, die eine andere Wirklichkeit produzieren. Diese Regeln leiten sich aus Fiktionen ab. Wenn Polizeibeamte eine des Raubüberfalls verdächtigte Person verfolgen, dann ist das kein Spiel. „Räuber und Gendarm“ hingegen ist ein Spiel. Die Regel des Spiels lautet: Die Gendarmen verfolgen die Räuber. Sie leitet sich einerseits aus der Lebenswelt der Spielenden ab, in der es tatsächlich Polizisten und Polizistinnen gibt, die Verdächtige verfolgen. Andererseits sind die Beteiligten selbst in den meisten Fällen weder Polizeibeamte noch Straftäter, sie ahmen die Verfolger-Verfolgter-Struktur im Spiel lediglich nach. Im Spiel wird also nie ganz das Bewusstsein dafür verloren gehen, dass die Haltung eine fiktionale ist. Nach Caillois bewirke das Bewusstsein der absoluten Irrealität das gleiche wie die willkürliche Gesetzgebung anderer Spiele: Die Abtrennung vom gewöhnlichen Leben (15). Das Eintreten in das Spiel, in die Illusion, das Eintauchen in die Fiktion, in die Immersion ist das, was das Spiel ausmacht. Wenn die Probanden nach mehreren Monaten scheinbar auf dem Mars ankommen, freuen sie sich aufrichtig und echt.

Auf der Seite des Instituts für Biomedizinische Probleme findet man einen Fragebogen, den fünf der Crewmitglieder nach 365 Tagen in der Isolation ausgefüllt haben. Eine Frage interessierte mich besonders: „Did you feel yourselves really flying to another planet?“ (IBMP 2011; gilt auch für alle weiteren Zitate des Absatzes; das gesamte Interview zur Nachlese: http://mars500.imbp.ru/en/520_crew_interview.html). Das chinesische Crewmitglied Wang Yue antwortet: „Sometimes I have a feeling like this.“ Auch die beiden Europäer beschreiben dieses ‚als ob’-Gefühl. Romain Charles hält fest, dass er zwar nicht das Gefühl hatte, dass er zum Mars geflogen sei, aber dass es ihm schwer gefallen sei, sich vorzustellen, dass da draußen, außerhalb der Container, ein Vorort von Moskau wäre. Es wäre ihm eher vorgekommen als müsste er sich in einer abgeschiedenen, einsamen Weltgegend befinden. Auch er reiste also in der Vorstellung, zwar nicht zu einem anderen Planeten, aber in die Wüste, die Einsamkeit. Die Antwort des italienischen Probanden Diego Urbina ist besonders bemerkenswert. Er antwortet: „ […] when we were arriving to Mars it felt a lot like we were arriving there.“ Es hätte für ihn innerhalb der Versuchsanordnung Mars500, innerhalb des Spiels ein tatsächliches Ankommen auf dem Mars gegeben. Er schreibt: „when we were arriving to Mars…“. Er wusste gleichzeitig, dass es nicht der echte Mars war, das zeigt sich im zweiten Satzteil „…it felt a lot like we were arriving there“. Und doch war es ‚ein Mars’. Die Marsonauten tauchten tief in ihr Spiel ein, so tief, dass sie von ihrer Tätigkeit absorbiert und vereinnahmt waren. Auf ihrem Spielfeld waren sie von der Außenwelt so sehr abgeschirmt, dass sie gar nicht anders konnten, als sich ganz von ihrer Tätigkeit einnehmen zu lassen. Sie changierten ständig zwischen dem Bewusstsein, dass das alles nicht echt ist – und dem Glauben an die Fiktion ihres Spiels.

Ich fasse meine Beobachtungen zusammen. Mars500 lässt sich wie ein Spiel beschreiben. Es gibt ein hermetisch vom normalen Leben abgetrenntes Spielfeld, das nicht verlassen werden kann. Die Raumschiffscontainer sind eine Umgebung, die für die Beteiligten, die hier zu Mitspielern werden, eingerichtet wurde. Sowohl die Dinge in dem Container als auch die am Experiment beteiligten Personen weisen einander gegenseitig Bedeutung zu. Diese Bedeutung generiert sich durch die Fiktion der Mars-Reise, welche das Geschehen während der klar begrenzten Zeit von 520 Tagen lenkt. Das System wird durch die Fiktion strukturiert.

Beachtenswert ist hier, dass das, was die Forscher in einem Vorort von Moskau aufgebaut haben, zunächst einmal ein Gedankenspiel ist: Was wäre, wenn eine Gruppe von Menschen zum Mars reisen würde? Wie würde sich diese Reise gestalten? In der Versuchsanlage werden diese Gedanken verräumlicht. Allen Bauvorhaben geht eine Planung voraus, die eine Gedankenleistung darstellt. Alle geplanten Bauwerke werden zu Gegebenheiten und werden als solche von den Menschen in verschiedener Weise benutzt. Der Gedankenraum, der in Mars500 manifest wird, unterscheidet sich aber von anderen Räumen dadurch, dass er ein abgeschlossenes System darstellt, das – mit einem zentralen Punkt der Spieldefinition von Johan Huizinga gefasst – als „außerhalb des gewöhnlichen Lebens stehend empfunden wird.“ (2006, 22) Mars500 ist ein Raum-im-Raum, der in sich funktioniert und in dieser Abgeschlossenheit anders funktioniert als andere Räume. Aus ihm spricht eine Absicht, nämlich jene, für etwas zu stehen und etwas zeigen zu wollen.

Einleuchtender wird diese Annahme, wenn man sich vom wissenschaftlichen Experiment entfernt und Kunsträume in den Fokus nimmt. Es gibt Räume der Kunst, die als Spielwelten ähnliche Qualitäten haben wie Mars500: Sie sind Raum-im-Raum-Konstruktionen; sie sind in sich geschlossene Systeme, die außerhalb des normalen Lebens stehen; sie verräumlichen eine Vorstellung, sind auf diese Idee hin absichtsvoll eingerichtet und werden von Menschen besucht und benutzt.

Habitat als künstlerische Spielwelt
Allan Kaprow verwendet Anfang der Sechzigerjahre in einem Essay über die New Yorker Happening-Szene einen Begriff, um Kunsträume zu beschreiben. Er bezeichnet sie als Habitat, als Wohnstätte und Lebensraum der Kunst.

The place where anything grows up (a certain kind of art in this case), that is, its ‚habitat’, gives to it not only a space, a set of relationships to the various things around it, and range of values, but an overall atmosphere as well, which penetrates it and whoever experiences it. (1993, 18)

Er bringt damit einige Dinge ins Spiel, die mir im Blick auf die darstellenden Künste wichtig scheinen: Das Habitat ist ein der Ort, an dem etwas wächst, es gibt einen Raum frei, innerhalb dessen spezifischer Bedingungen sich etwas entwickeln kann und soll. Es schafft Beziehungen und Verbindungen zwischen den Dingen, die sich innerhalb dieses Raums befinden. Der eingerichtete Raum hat eine Atmosphäre, von der er selbst und alle, die ihn erleben, durchdrungen werden. Das Kunsthabitat wird durch die Atmosphäre erlebt und diese wird durch die Bedeutungszusammenhänge geschaffen.

Als Gegenstand der Forschung interessieren mich künstlerische und künstliche Habitate, die durch eine Praxis des Menschen entstehen. Unter einem Habitat verstehe ich: Ein Setting von Gegenständen, Figuren und Beziehungen. Ein eingerichteter, begrenzter Ort als Welt. Eine bewohnte Welt. Ein Ort, der zeitlich begrenzt ist oder zumindest eine Zeitlichkeit hat. Es ist ein Setting mit einem mindset, mit einer Denkhaltung und einer Mentalität, mit Regeln, Abläufen, gegenseitigen Bedingungen.

Das Habitat ist ein Gehäuse. Jene Denk- und Arbeitsstube, in der Albrecht Dürer seinen Heiligen Hieronymus in dem Kupferstich von 1514 wohnen lässt, ist eine sinnbildliche Darstellung eines Habitats. Hieronymus sitzt am Schreibpult; neben den beiden schlafenden Tieren sind auch allerlei Gerätschaften und Bücher sorgsam im Raum platziert.; Kardinalshut, Kreuz, Kürbis, Totenschädel, Bücher, sie alle weisen auf die inhaltlich zentrale Figur, auf Hieronymus hin. Wir sehen eine Figur, umgeben von ihren Dingen. In dem Raum wird festgehalten, was Hieronymus’ Lebenswelt ist. Sie drückt sich durch die Dinge aus, denen Bedeutung zugewiesen wird. Die Dinge stehen füreinander ein. Der Hut, der an der Wand hängt, wird erst zum Kardinalshut, weil es Hieronymus’ Hut ist, Hieronymus selbst aber wird durch den Kardinalshut erst erkennbar als der kirchliche Würdenträger Hieronymus. Ich betrachte den Kupferstich und bekomme einen Einblick in und eine Übersicht über die Lebenswelt dieser Figur. Das Habitat ist für mich beobachtbar, es ist beobachtbar weil ich es von Aussen betrachte oder als Gast besuche, weil ich es dadurch ganz erfassen kann. Das Habitat ist für meinen Kontext ein gemachter Raum. Es ist ein geschlossenes System, das durchlässig ist, in Wechselwirkung treten kann, aber nicht muss. Es ist ein Habitat neben vielen, ein Habitat in vielen.

Habitate in der darstellenden Kunst können sich parasitär einnisten, sich als soziale Gefüge einbinden in das öffentliche Leben, sie können sich mit dem Nicht-Kunstraum in ein direktes Spannungsverhältnis setzen und ihn damit thematisieren. Mich interessiert aber zunächst eine auf den ersten Blick wesentlich einfachere Ausgangslage, nämlich tatsächlich Räume, die in andere Räume hineingebaut wurden.

Einem solchen Raum begegne ich in Rimini Protokolls Situation Rooms (Von mir besuchte Vorstellung: Frankfurt LAB, Künstlerhaus Mousonturm, 31. Oktober 2013). In einer großen Theaterhalle finde ich mich – zusammen mit neunzehn weiteren Gästen – einer zweistöckigen Konstruktion gegenüber. Ausgerüstet mit einem Tablet und Kopfhörern sollen wir als Gäste die Hauskonstruktion betreten und den Anweisungen von Bildschirm und Kopfhörern folgen. Auf dem Bildschirm läuft ein Film, der in genau den Räumlichkeiten spielt, in denen ich mich selbst befinde. Es geht darum, die Figur zu verfolgen, die mich durch das Haus führt, indem ich den Gebäudeausschnitt, den ich auf dem Bildschirm sehe, mit jenem im Hier und Jetzt in Deckung bringe. Immer wieder wechselt mein Reiseführer durch dieses Labyrinth, ich hefte ich mich an die Fersen verschiedener Personen, deren Biografien mit dem globalen Waffenhandel verstrickt sind. Ich folge unter anderen einer russischen Kantinenköchin, die in einer Rüstungsfabrik arbeitet, einem deutschen Parcours-Schützen, einer Flüchtlingsfamilie in ihrer Asylunterkunft oder einem Schweizer Waffeningenieur.

Wie bei Mars500 hat man es auch hier mit einem geschlossenen System zu tun. Hier werde ich als Zuschauerin zur Akteurin in dieser Anordnung, ich werde zum Gast dieses Raumes. In Situation Rooms bin ich eine Mitspielerin und erkunde dabei das von Rimini Protokoll geschaffene Spielfeld. Innerhalb der Raum-im-Raum-Konstruktion finde ich eine Welt vor, die für jemanden eingerichtet wurde. Die Räume wurden mit Dingen ausgestattet, die auf die am Projekt Beteiligten verweisen: Fotos an der Wand, Kleider auf der Wäscheleine, Notizzettel auf dem Schreibtisch. So wie die Dinge in Dürers Kupferstich auf Hieronymus verweisen, so verweisen die Dinge in Situation Rooms auf die verschiedenen Menschen, die mit dem Waffenhandel zu tun haben. Ihr Leben erzählt sich in Aspekten durch die Gegenstände, die Räume. Jetzt, wo die Menschen weg sind, trete ich als Gast an ihre Stelle und setze mich zu den Räumen und Dingen in Bezug. Ich betrete eine inszenierte Lebenswelt.

Ich habe eine Aufgabe, die ich innerhalb dieses vorgegebenen Raums und innerhalb einer vorher bestimmten Zeit erfüllen muss: Die Anweisungen, die ich via Bild und Ton aus dem Tableterhalte, vermitteln mir, dass ich mich immer zur richtigen Zeit am richtigen Ort befinden muss und die richtigen Dinge tun soll. Wenn ich der Kantinenköchin Irina folge, dann bin ich aufgefordert, es ihr gleichzutun und aus einem großen Suppentopf einen Teller voll zu schöpfen und auf den Tisch zu stellen, wo ein anderer Gast schon sitzt und beginnt die Suppe zu essen. Später folge ich dem Schweizer Ingenieur und setze mich an genau diesen Tisch und jemand stellt mir eine Suppe hin. Mir wird das Gefühl vermittelt, dass ich den Ablauf der Handlung blockiere, wenn ich die Anweisungen nicht befolge, sei es absichtlich oder weil ich sie nicht verstehe. Versage ich, werde ich zur Spielverderberin. Die Orientierung ist nicht immer einfach, Anweisungen sind manchmal zu schnell und ich muss mich konzentrieren, keine Fehler zu machen. So bewege ich mich durch die verschiedenen Räume dieses Filmsets. Ich stehe auf einer Dachterrasse, wo Wäsche hängt, gehe hinunter in einen Hobbykeller, in einen Schiesstand, befinde mich in einem Aufzug und dann wieder in einem Sitzungszimmer oder auf einem Friedhof. All diese Räume umgeben mich ganz, sie sind naturalistisch-akkurat eingerichtet und bis in das kleinste Detail durchplant. Dadurch, dass sie mich vollständig umgeben und zugleich ständig etwas von mir fordern, tauche ich tief in diese Spielwelt ein. Ich werde zur Akteurin in dieser Welt, sie wird für mich erst durch mein Handeln lesbar.

Jene, die diese Räume geplant und aufgebaut haben, sind nicht mehr da. Jene, deren Lebenswelt in diesen Räumen inszeniert wurde, waren da, aber sind jetzt weg. Ihre Spur findet sich nur noch auf dem Bildschirm. Wir als Gäste betreten diese verlassene Raumlandschaft und durch unsere Anwesenheit und unser Handeln in den Räumen erfüllt sich die Absicht dieser Spielwelt.

Sowohl die Versuchsanlage von Mars500 als auch das Multiplayer Video-Stück Situation Rooms sind Raum-im-Raum-Konstruktionen, die Menschen, Gegenstände und Räume zueinander in Beziehung setzen. In beiden Fällen geschieht dies losgelöst vom täglichen Leben und unter der genauen Beobachtung und Betrachtung der beteiligten Personen. So verraten die beiden sehr verschiedenen Ausgangslagen viel über das, was wir ohne viel darüber nachzudenken als Wohnen und Bewohnen bezeichnen. Die genaue Betrachtung der beiden Beispiele könnte Aufschlussreiches verraten: Wir wohnen. Aber wie genau?

Quellen

  • Caillois, Roger. 1982. Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch. Frankfurt a. M.: Ullstein.
  • Huizinga, Johan. 2006. Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. 20. Aufl. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt.
  • IBMP (Institut für Biomedizinische Probleme). 2011. „Interviews with crew.“ http://mars500.imbp.ru/en/520_crew_interview.html.
  • Jaspers, Karl. 1971. „Der Halt im Begrenzten: Die Gehäuse.“ In Psychologie der Weltanschauungen, hg. von demselben, 304-326. 5. Aufl. Berlin: Springer.
  • Kaprow, Allan. 1993. „Happenings in the New York Scene (1961).“ In Essays on the Blurring of Art and Life, hg. von demselben, 15-26. Berkeley: University of California Press.

Abbildungen

Bettina Rychener, geb. 1984, BA, ist derzeit MA-Studentin der Angewandten Theaterwissenschaft an der Justus-Liebig-Universität Gießen. Arbeitsgebiet: Spiel- und Raumkonzepte im zeitgenössischen Theater. Arbeit an journalistischen und literarischen Texten, Features und Hörspielen, zuletzt Autorin des Kurzhörspiels „Frank Wedekind – Zwischen Tingeltangel und Zensur“ (Ursendung hr2, 2011).

Monster. Das Monströse als Denkfigur in künstlerischen Schaffensprozessen.

Die folgenden Gedanken und Gedankenspiele fanden ihren Ursprung in der Arbeit zur Performance „Saga“, die ich im Sommer 2012 mit Marcus Doverud und Tom Engels erarbeitet habe. Diesem Arbeitsprozess lag die Denkfigur des Monsters zu Grunde; es war eine Suche nach einer monströsen künstlerischen Strategie, aus welcher heraus sich Fragen entwickelt und Themenfelder abgezeichnet haben, denen ich mich im Folgenden nähern und diese dadurch zur Diskussion stellen möchte. Dabei sehe ich das Potential dieses Textes nicht darin, dass ich meine künstlerische Arbeit theoretisch unterfüttere beziehungsweise als Beispiel heranziehe, sondern darin, dass ich auf einer theoretischen Ebene die selben Themenbearbeiten kann, die mich in der künstlerischen Arbeit beschäftigt haben. Es sollen also keine analytischen Rückbezüge auf meine eigene künstlerische Arbeit oder auf Arbeiten anderer angestellt werden. Mit diesem Text will ich den Versuch wagen, in einer essayistischen und manchmal auch spekulativen Form ein Bild meiner Suche nach dem Monster zu zeichnen.

In meiner Auseinandersetzung mit dem Monströsen als Möglichkeit einer künstlerischen Strategie hat sich ein altes Problem aufgetan: das Problem des Verhältnisses zwischen Choreographie und Körper beziehungsweise Konzept und Materie. In diesem Text soll das Monster als Figur dargestellt werden, die  diese Beziehung thematisiert. Das gegensätzliche Verhältnis von Choreographie als geistiger Struktur und Körper als Materie lässt sich fortspinnen: Es kann eine Linie gezogen werden zu weiteren gängigen Gegensatzpaaren wie zum Beispiel dem von Geist und Körper, damit in gewisser Weise auch dem von Kultur und Natur und  nicht zuletzt zum Verhältnis von Menschlichem und Nicht-Menschlichem. Im Zwischenraum dieser Dualismen setzen einige Konzepte des Posthumanismus an, welche die traditionsreiche Debatte über die Vorherrschaft des Einen über das Andere (meist des Geistes über den Körper) in den Blick nehmen. Ausgehend vom Monster – das in der hier vorgeschlagenen Lesart die Stelle des Körpers, der Materie besetzt, traditionell also die Stelle desjenigen, das Widerstand leistet gegen die Beherrschung durch den Geist – soll hier jedoch nicht länger die Körper – Geist-Frage gestellt werden, sondern die Körper – Körper-Frage. Um mit Jane Bennett zu sprechen: „[To] emphasize, even overemphasize, the agentic contributions of nonhuman forces (operating in nature, in the human body, and in human artifacts) in attempt to counter the narcissistic reflex of human language and thought.” (2010, vi)

Ich möchte  zunächst damit beginnen, mein Verständnis der Begriffe Monster und Monströs vorzustellen. Daran schließen sich Überlegungen aus dem philosophischen Gebiet des Posthumanismus, insbesondere des Spekulativen Realismus, der Objektorientierten Philosophie/Ontologie und des (Neo-)Vitalismus an, wobei ich mich in der Hauptsache auf zwei Vertreter dieses Feldes, Graham Harman und Jane Bennett beziehen werde. Bei dem Bezug zu Bennett soll es vor allem um die sogenannte „thing-power“ (2) gehen, um damit auf die eingangs erwähnte Körper-Körper-Frage einzugehen. Abschließend möchte ich  zusammenführen, wie diese Überlegungen und Konzepte eine Rolle für künstlerisches Arbeiten spielen könnten. Letzten Endes ist mein Hauptanliegen wohl kein Geringeres als eine allgemeine, nicht nur auf den Bereich der Kunst beschränkte Perspektivänderung. Es geht um einen Wandel der Sicht auf die Dinge.

Monster/das Monströse

Meine Beschäftigung mit dem Monströsen nimmt ihren Ausgang bei Jacques Derridas Beschreibung des Monsters, wird sich jedoch von dieser auch wieder entfernen.

Zunächst erscheint das Monster bei Derrida als etwas, das sich dem sprachlichen Erfassen entzieht. Wir haben keinen Namen dafür. Wir können es analog zum Trauma, (noch) nicht benennen. Es ist eine Erfahrung, die wir nicht eigentlich gemacht haben, da wir sie nicht an Worte oder Emotionen anbinden konnten. „Ein Monstrum ist eine Gattung, für die wir noch keinen Namen haben, was jedoch nicht bedeutet, dass diese Gattung anormal ist, beziehungsweise sich aus bereits bekannten Gattungen durch Hybridisierung zusammensetzt. Sie zeigt sich einfach (elle se montre) – das ist die Bedeutung des Wortes ‚Monstrum‘ -, sie zeigt sich in einem Wesen, das sich noch nicht gezeigt hatte und deshalb einer Halluzination gleicht, ins Auge fällt, Erschrecken auslöst, eben weil keine Antizipation bereit stand, diese Gestalt zu identifizieren.“ (1998, 390)

Im Erscheinen des Monsters steckt etymologisch gesehen auch noch ein anderer Aspekt: monstrare im Lateinischen bedeutet nicht nur sich zeigen, sondern auch „auf etwas hinweisen“ (PONS 1986). So gesehen erscheint das Monster und zeigt damit auf etwas beziehungsweise zeigt etwas auf: Es entzieht sich der (sprachlichen) Ordnung und verweist gerade dadurch auf jene zurück. Es ist das Widerständige, welches das Selbstverständnis der Ordnung herausfordert beziehungsweise zuallererst konstituiert.

Das Monster stellt sich für mich demnach als eine Figur dar, anhand derer sich die Beziehung zwischen einigen gängigen Binaritäten thematisieren lässt, wie etwa menschlich – unmenschlich, Kultur – Natur, Konzept – Materie oder Geist – Körper. Das Monster wäre hier jeweils den Begriffen unmenschlich, Natur, Materie oder Körper zuzuordnen, jener Seite, die traditionell eine Herausforderung für das Menschliche und damit einhergehend das Humane und Humanistische, die Kultur, den Geist und mit diesem nicht zuletzt die Ratio darstellt.

An dieser Stelle kommen nun Konzepte und Überlegungen einer philosophischen Strömung innerhalb des Posthumanismus ins Spiel, welche die Debatte über die Dominanzverhältnisse dieser Oppositionen neu in den Blick nehmen.

Spekulativer Realismus

Die Beschäftigungen des Spekulativen Realismus/Materialismus, der Objektorientierten Philosophie/Ontologie oder des (Neo-)Vitalismus widmen sich Objekten, Materie, Körpern, Dingen. Sie stellen Überlegungen an über die Eigenrealitäten von nicht-menschlichen und menschlichen Dingen, unabhängig von ihrer Zugänglichkeit durch, ihrer Interaktion mit oder ihren Effekten auf den Menschen. Es sind nicht länger Texte und Diskurse, welche die Realität erst erschaffen, sondern es wird von einem Ding an sich, einer Realität ausgegangen, welche den Menschen beinhaltet, deren Erzeuger oder ultimativer Referenzpunkt er jedoch nicht mehr ist. Es ist mithin ein Ansatz, der den Menschen aus dem Zentrum stößt und den Fokus auf die Dinge um ihn herum verlagert. Oder besser gesagt: ihn etwas enger in das Netz aus Dingen einflicht.

Harman beschreibt in seinem Text Der dritte Tisch, der in den 100 Notizen der documenta(13) erschienen ist, das Ding-an-sich anhand von drei Tischen. Er bezieht sich dabei auf ein Gedankenspiel von Sir Arthur Stanley Eddington, einem Astrophysiker des beginnenden 20. Jahrhunderts. Eddington beschreibt darin die zwei Erscheinungsformen eines Tisches: einmal den Tisch als Gegenstand des Alltags und einmal den wissenschaftlichen Tisch als Gegenstand physikalischer Analysen. Harman fügt diesen beiden Horizonten des Tisches noch einen dritten hinzu: „Wir haben nun den Ort des dritten Tisches – des einzig realen Tisches – eingegrenzt. Eddingtons erster Tisch ruiniert Tische, indem er sie in nichts als ihre alltäglichen Wirkungen auf uns oder jemand anderen transformiert. Eddingtons zweiter Tisch ruiniert Tische, indem er sie in nichts als winzige elektrische Ladungen oder ein schwaches materielles Flackern auflöst. Der dritte Tisch liegt jedoch genau zwischen diesen anderen beiden, die in Wirklichkeit keine Tische sind. Unser dritter Tisch emergiert als etwas anderes als seine Bestandteile und zieht sich zugleich hinter all seine äußeren Wirkungen zurück. Unser Tisch ist ein Zwischenwesen, das man weder in der subatomaren Physik noch in der Humanpsychologie findet, sondern in einer Zone, in der die Dinge einfach sie selbst sind.“ ( 2012, 24)

Das Konstatieren des Vorhandenseins eines Dings-an-sich wirft  die Frage nach dem Zugang zu selbigem auf: Wie kann ich dieses Ding erfassen, wenn es – wie es Harman, dabei an Kant anknüpfend, beschreibt – wesenhaft unzugänglich ist?Harman schlägt dazu eine Änderung der philosophischen Strategie vor. Er will dem spekulativen Potential Raum geben, in einer Besinnung auf den etymologischen Ursprung, der die Philosophie als Liebe zur Weisheit und nicht als Besitz von Weisheit ausweist.

„Das Reale ist etwas, das man nicht verstehen, sondern nur lieben kann. Das bedeutet nicht, dass der Zugang zum Tisch unmöglich ist, sondern nur, dass er indirekt sein muss. So wie die erotische Sprache besser wirkt, wenn sie auf Andeutungen, Anspielungen und Innuendo beruht anstatt auf Feststellungen und deutlich formulierten Angeboten.“ (26) Für ihn ist dabei der Künstler/die Künstlerin das Vorbild für ein solches Umdenken in der Philosophie. Harman schlägt daher vor, Husserls Forderung nach einer „Philosophie als strenger Wissenschaft“, eine „Philosophie als kraftvolle Kunst“ (29) entgegenzusetzen, was er wie folgt formuliert: „Denn einerseits funktioniert Kunst nicht, indem sie weiße Wale, Villen, Flöße, Äpfel, Gitarren und Windmühlen in ihre subatomaren Grundlagen auflöst. Künstler liefern ganz offenkundig keine Theorie der physikalischen Wirklichkeit, und Eddingtons zweiter Tisch ist das Letzte, wonach sie streben. Doch andererseits streben sie auch nicht nach dem ersten Tisch, als verdopple die Kunst lediglich die Gegenstände des Alltags oder als versuche sie, Wirkung auf uns zu erzielen. Sie versuchen vielmehr, Objekte zu schaffen, die tiefer sind als die Bestandteile, durch die sie sich ankündigen, oder auf Objekte anzuspielen, die sich nicht ganz vergegenwärtigen lassen.“ (29)

Im Gegensatz etwa zu phänomenologischen Ansätzen, die ebenfalls von der Unzugänglichkeit des Ding-an-sich ausgehen und sich daher mit dem besonderen Umgang des Subjekts mit den sogenannten Erscheinungen auseinandersetzen müssen, kommt zu Grahams Skizzierung der Unzugänglichkeit des Ding-an-sich  die spezielle Position des Subjekts beziehungsweise des Objekts hinzu. Es geht nicht darum, die Dinge in ihrer Erscheinung als unterschiedlich von mir, dem menschlichen Subjekt zu erkennen, sondern viel mehr, mich als Menschen in den Kontext der Objekte einzuordnen. Denn Dinge sind ebenfalls nicht stumm: Sie sind „vibrant matter“, haben „thing power“ und „matter energy“ (Bennett 2010, 2). Bennett geht hier davon aus, dass die Dinge, die uns umgeben beziehungsweise aus denen wir bestehen, aktive Teilhabe an der Gestaltung von Situationen und Ereignissen haben. „Matter Energy“ kann  als etwas verstanden werden, das selbst in der Lage ist zu sprechen. Dinge, menschliche und nicht-menschliche, bekommen so den Status gleichberechtigter Handlungsbefähigter zugesprochen. Die Dinge erhalten Agency. Bennett schreibt dazu: „By vitality I mean the capacity of things – edibles, commodities, storms, metals – not only to impede or block the will and designs of humans but also to act as quasi agents or forces with trajectories, propensities, or tendencies of their own.“ (viii)

Was also die Beschäftigung mit Körpern, unabhängig von ihrer Beziehung zu so etwas wie menschlichem Bewusstsein – was hier mit der Körper-Körper-Frage gemeint ist – auf weite Sicht verändert, dazu möchte ich noch einmal Bennett zitieren: „I will emphasize, even overemphasize, the agentic contributions of nonhuman forces (operating in nature, in the human body, and in human artifacts) in an attempt to counter the narcissistic reflex of human language and thought. We need to cultivate a bit of anthropomorphism – the idea that human agency has some echoes in nonhuman nature – to counter the narcissism of humans in charge of the world.“ (vi) Es geht Bennett um den Moment, in dem Dinge unabhängig von ihrer Subjektivierung als handlungsfähig anerkannt werden. Sie bezieht sich dabei  im weiteren Verlauf ihrer Ausführungen auf den Begriff des Affekts bei Spinoza, welcher für sie letztlich nichts anderes bezeichnet als „the capacity of any body for actvity and responsiveness.“ (xii) Dies meint die Fähigkeit in einem Raum der Unbestimmtheit zu interagieren, des „suspense“ (Massumi 1995, 86) als einem noch nicht qualifizierten Zustand.

Eine Strategie für künstlerische Prozesse

Wenn ich mir  die Auseinandersetzung mit dem Monströsen als künstlerischer Strategie vorstelle, wird offensichtlich, dass es nicht um das Darstellen, die Repräsentation von Monstren oder dem Monströsen als Thema zum Beispiel eines Performance gehen kann, sondern eher um eine Voraussetzung für die künstlerische Bearbeitung eines Themas, eine Art Strategie. Das Umgehen von Intentionen, Konzepten, welche verkörpert werden, das Stören der Konzept-Umsetzungs-Logik – welche kognitive Prozesse bei der Stückentstehung in den Vordergrund stellt – wird zu einem wichtigen Punkt. Der Körper in seiner Dinghaftigkeit wird zentral. Andere Aspekte an ihm rücken in den Fokus: der Körper als Körper, als Materie, Material in seiner Eigenrealität. Der unsinnvolle Körper, wenn man so will, der jedoch nicht länger einzig als Mangel, durch eine undichte Stelle in der Sprache, sichtbar wird. Seine besondere Fähigkeit zu kommunizieren tritt hier in den Vordergrund – Einfluss zu nehmen über eine Art und Weise, welche Sprache, sprachanaloge Strukturen, Zeichen oder Bilder, also Lesbares ablöst oder zumindest zunächst suspendiert. Dazu möchte ich das Prinzip der Ansteckung als Kommunikationsform und eine damit verbundene Theorie vom Affekt als Denkansatz in Richtung spezifischer Ausdrucksmöglichkeiten von Körpern vorschlagen.

Ansteckung soll das Übertragen von Zuständen zwischen menschlichen Dingen, von menschlichen Dingen auf nicht-menschliche Dinge und umgekehrt bezeichnen. Das Überspringen eines Etwas von einem Körper auf einen anderen, wobei der genaue Zeitpunkt und Ort der Ansteckung unklar bleibt. Ich kann nicht ausmachen, wann genau ich mich angesteckt habe, ob ich das Virus eventuell bereits mitgebracht habe oder von welchem Körper das, was übergesprungen ist, eigentlich kam. Es gibt hier also eine gewisse Zone der Unbestimmtheit, in der sich Ansteckung vollzieht. Eine Zone der Ungewissheit, ebenso wie Bennett sie für den Moment des Losreißens der Dinge aus dem Subjekt-Objekt-Gefüge konstatiert. „I will try, impossibly,“ schreibt sie, „to name the moment of independence (from subjectivity) possessed by things, a moment that must be there, since things do in fact affect other bodies, enhancing or weakening their powers.“ (2010, 3) Affekte  können in diesem Zusammenhang ebenfalls als eine Form der Übertragung von Körper zu Körper, eine gegenseitige Einflussnahme aufeinander beschrieben werden. Und Affizieren bezeichnet einen Vorgang, den nicht nur menschliche Körper erleben können, sondern prinzipiell jeder Körper. Nach Spinoza, auf den sich Bennett stark bezieht, bezeichnet der Begriff Affekt im weitesten Sinne die Fähigkeit jeden Körpers zu bewegen und bewegt zu werden. Dabei können die verschiedensten Dinge Körper sein, auch menschliche Körper.

Für mich besteht genau hier eine enge Verbindung zu meinem Konzept des Monströsen: es ist das, was vor dem Erfassen, vor dem Erkennen und Benennen geschieht. Das, was alle Ordnungssysteme aufschiebt, suspendiert, jedoch eindeutig als movens für Entscheidungen und Handlungen – im Nachhinein – identifiziert werden kann, ein Denkansatz also, der den Menschen, vor allem den denkenden Menschen im Zentrum der Vorgänge umgeht. Es geht  letzen Endes um eine Absage an den Logozentrismus in der Kunst, genauso wie den humanistischen Anthropozentrismus in der Philosophie, der Politik beziehungsweise dem Alltag. Wir sind in einer Sackgasse gelandet – zumindest aus der nicht ganz von der Hand zu weisenden Perspektive der Ökologiebewegung – und das vielgerühmte Bewusstsein und unsere Vernunft hat das ihrige dazu beigetragen. Vielleicht ist es daher an der Zeit etwas Anderes zu versuchen. Im Anschluss an Harmans Forderung nach ein bisschen mehr Kunst in der Philosophie fordere ich deshalb ein bisschen weniger Philosophie in der Kunst.

Quellen
Bennett, Jane. 2010. Vibrant Matter. A Political Ecology of Things. London: Durham.
Derrida, Jacques. 1998. „Übergänge – Vom Trauma zum Versprechen.“ In Auslassungspunkte. Gespräche, hg. von Peter Engelmann, 377 – 398. Wien: Passagen.
Harman, Graham. 2012. The Third Table/Der dritte Tisch.. Ostfildern: Hatje Cantz.
Massumi, Brian. 1995. „The Autonomy of Affect.“ In Cultural Critique 31, : 83-109.
PONS. 1986. Pons Wörterbuch für Schule und Studium. Stuttgart:Klett.

Tessa Theissen, geb. 1984, Magistra Artium, Studentin des MA-Studiengangs Choreographie und Performance an der Justus-Liebig-Universität Gießen und wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Theater- und Medienwissenschaft der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg. Arbeitsbereiche: Zeitgenössische Performancetheorie, Choreographie und kuratorische Praxis. Veröffentlichungen: „The Monstrous in O.“ (In New Dramaturgies Platform, www.dramaturgynew.net, 2012) „Das Paradoxon der Zeugenschaft“ (In Moments. Eine Geschichte der Performance in 10 Akten, hg. von Siegrid Gareis et al., 198 – 203. Köln: König, 2013).