Zu dieser Ausgabe und zu den Beiträgen

Grenzen der Repräsentation – Krise der Demokratie: Unter diesem Titel fand vom 18.-20. Juli 2019 ein Symposium statt, das die Ruhr-Universität Bochum – in Gestalt von Leon Gabriel und mir vom Institut für Theaterwissenschaft und Astrid Deuber-Mankowsky aus der Medienwissenschaft – gemeinsam mit dem Festival Ruhrtriennale organisierte. Jenes war in diesem Jahr zu Gast an unserer Universität: Die Arbeit Nach den letzten Tagen – Ein Spätabend von Christoph Marthaler, Uli Fussenegger, Stefanie Carp, Duri Bischoff, Sarah Schittek und Phoenix (Andreas Hofer) eröffnete das Festival im gigantischen Audimax. Der brutalistische Bau, dessen Inneres ohnehin an ein Bühnenbild von Anna Viebrock erinnert, wurde als Parlament inszeniert, dessen Sitzreihen zu Beginn erst einmal von einer Kolonne von – Marthaler-typisch eher untermotivierten – Putzkräften abgestaubt werden mussten. In einer nicht allzu fernen Zukunft war Europa bzw. „Hohenzollern-Europa“, wie es nun offenbar hieß, zur Unterhaltungsabteilung einer Welt unter asiatischer Hegemonie geworden; die parlamentarische Demokratie galt als merkwürdiges und vollkommen wirkungsloses Relikt vergangener Zeiten. Das Parlament versammelte sich zu einer Feierstunde anlässlich des Endes der Shoah vor 200 Jahren; und dabei wurde gleich auch die Aufnahme des Rassismus als „bedeutende, derzeit nicht aktualisierte europäische Eigenschaft“ in das UNESCO-Weltkulturerbe gefeiert. Ein kleines Ensemble spielte Kompositionen von Opfern oder Überlebenden der Shoah – Viktor Ullmann, Pavel Haas, Erwin Schulhoff, Józef Koffler, Ernest Bloch, Fritz Kreisler, Szymon Laks, Pjotr Leschenko und Alexandre Tansman. Zudem erklang Luigi Nonos Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz, während die Darsteller*innen weit verstreut auf den Stühlen des leeren Auditoriums saßen, die Münder aufgerissen zu stummen Schreien. Am Ende zogen sie zu Felix Mendelssohns lang nachhallendem Wer bis an das Ende beharrt, wird selig aus, in die weitläufigen Gänge des Gebäudes.

Als es im Vorfeld der Inszenierung darum ging, einen Kooperationsvertrag zwischen Festival und Universität zu schließen, kontaktierte die dem Theater sehr zugeneigte Kanzlerin Christina Reinhardt uns mit der Frage, ob wir die Arbeit in Lehre und Forschung begleiten könnten. Wir überlegten, Marthaler und sein Musiktheater zu behandeln: So hätten die rhythmischen Räume, die Marthalers Theater eröffnet, mit Adolphe Appia verglichen und mit Émile Benvenistes Denken des Rhythmus als fragiler, vergänglicher Form gelesen werden können.[1] Marthaler zeigt vielleicht dasjenige, was Roland Barthes in seiner Vorlesung Wie zusammen leben? Als Idiorrhythmie bezeichnet hat, als Nebeneinander verschiedener, idiosynkratischer Eigenrhythmen.[2] Nach einigen internen Besprechungen und Interessensabfragen bündelten wir dann aber Lehrveranstaltungen, die sich – enger oder weiter gefasst – mit Fragen der Repräsentation, mit Politiken und Poetiken des Raums und post- und dekolonialen Theorien beschäftigten: ein Seminar von Leon Gabriel zu „Erscheinungsräumen des Politischen“ und eines von Astrid Deuber-Mankowsky und mir zur Aktualität der Psychoanalyse, Veranstaltungen von Ruth Schmidt und Stefan Hölscher, zudem meine Vorlesung mit Begleitseminar „Repräsentation“. Die Konferenz, die die Ruhrtriennale im Rahmen der Kooperation großzügig finanzierte, legten wir auf das erste Wochenende in der vorlesungsfreien Zeit. In intensiver Auseinandersetzung zunächst mit Stefanie Carp und Barbara Mundel, später dann immer stärker mit Julia Naunin, die ins Dramaturgie-Team eingestiegen war, unterstützt von Amelie Lopper, planten wir die Tagung – vor dem Hintergrund des weiterschwelenden Konflikts um die Ein-, Aus und Wieder-Einladung der BDS-affinen Band Young Fathers im vorhergehenden Jahr. Dieser Konflikt flammte 2020, im letzten Jahr der Carp-Intendanz nach der Einladung von Achille Mbembe wieder auf und war wohl nicht ganz unwesentlich bei der ersatzlosen Absage des Festivals aus Gründen des „Infektionsschutzes“. Auch für die Tagung rechneten wir mit allerlei Szenarien – es kamen dann aber ‚nur‘ interessierte Bochumer*innen und Kolleg*innen aus den anderen Fächern.[3]

Das Abend- und Nachmittagsprogramm des Symposiums fand in der Gebläsehalle der Jahrhunderthalle Bochum statt, in einem weiten Raum mit tiefen Fenstern, vor riesigen hellgrünen Turbinen. Diese Turbinen regten auch unser Nachdenken darüber an, was wir bei dieser Tagung tun wollten: Wir wollten keine Repräsentationen gegeneinanderstellen, keine Stellvertreterkriege auf offener Bühne inszenieren, sondern gemeinsam untersuchen, wie Repräsentationen entstehen, wer die Bühne der Repräsentation betreten kann und wer nicht, wer vertreten wird und werden kann und wer nicht: Wir wollten uns also in den Maschinenraum der Repräsentationen begeben.

Am ersten Abend sprach die Anthropologin Rosalind Morris von der Columbia University über „Stages and the Stagism of Representational Democracy: Notes from the Anticolonial South“ und machte die Anwesenden mit Ishmael Reeds The Terrible Twos und Black Sunlight von Dambudzo Marechera bekannt. In einer Podiumsdiskussion mit Friedrich Balke (Bochum), Francesca Raimondi (Düsseldorf) und Cilly Kugelmann vom Jüdischen Museum in Berlin befragten wir „Institutionen in der Krise“. Am nächsten Nachmittag stellte Julia Stenzel (Bonn/Mainz) die antike Figur des Demagogen (als denjenigen, der auf der agora tatsächlich spricht, der kunstreich für die anderen spricht) den zeitgenössischen Herrschenden gegenüber, die im Sinne Foucaults vorgeben, pastoral zu hegen, statt zu herrschen.[4] Astrid Deuber-Mankowsky führte Walter Benjamins Ablehnung der „mythischen Gewalt“ in der „Kritik der Gewalt“ und seine Überlegungen zur „Kultreligion“ Kapitalismus auf Hermann Cohens Kritik des „Machtstaats“ zurück.[5] Bettine Menke wiederum arbeitete minutiös die Aktualität des grundlegenden Kapitels von Hannah Arendt über den „Niedergang des Nationalstaats und das Ende der Menschenrechte“ aus Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft heraus.[6] Am Abend sprach ich mit Stefanie Carp über ihre Auswahl der Texte für „Nach den letzten Tagen“.

An den beiden Vormittagen aber versammelten wir uns in kleinerer Runde in einem nahegelegenen Seminarraum. Dort war es enger, wir saßen an Tischen, Notizblöcke vor uns, und Studierende aus Theater- und der Medienwissenschaft präsentierten kurze Vorträge, die in den genannten Seminaren entstanden waren. Wir hatten die internationalen Gäste gebeten, auch an den Vormittagen in kleiner Runde dabei zu sein, und so wurden die Vorträge der Studierenden intensiv, offen und direkt diskutiert. Einige dieser Beiträge, die weiter ausgearbeitet wurden, präsentieren wir nun in dieser Ausgabe.

Jörn Etzold

Entsprechend dieser ‚Entstehungsgeschichte‘ setzen sich alle Beiträge intensiv mit Repräsentation(sweisen) als Bedingung theatralen und politischen Erscheinens auseinander, aber auch als deren Verhandlungs- und Veränderungsraum.

Den Auftakt macht Lisa Stöcker mit ihren Erörterungen zum Ab-Stand ausgehend von Jean-Luc Nancys Texten und einer künstlerischen Arbeit von Thomas Lehmen. Sie plädiert damit für eine „Gleichheit in Vielheit“ und ein Denken der Alterität, nicht zuletzt in Bezug auf intersektionale Fragen.

Marie Hewelt analysiert detailliert eine zentrale Szene der herausragenden Oper/Performance Sun & Sea von Lina Lapelyte, Vaiva Grainyte and Rugile Barzdziukaite, um sie sowohl mit Dantes Divina Commedia als auch mit Karl Marx‘ Theorie in Resonanz zu setzen. Ihr Augenmerk liegt dabei auf der durch die Arbeit umspielten Individualisierung.

In seinem bewusst als „einer Spirale aus Verweisen und Problemfeldern“ gehaltenen Beitrag untersucht Ruben Luckardt u.a. ebenso mit Marx eine Szene des Films Interstellar. An den dort auftauchenden Trümmermotiven macht er eine Krise der Repräsentation fest, der es sich jedoch umso mehr zu stellen gilt.

Den der Repräsentation innewohnenden Abstand als eine Differenz von Äußerem und Geäußertem entwirft Lioba Magney in ihrer Analyse von Susanne Kennedys Fegefeuer in Ingolstadt, bei der sie vor allem mit Hannah Arendt die der Inszenierung innewohnenden Elemente von „Trennung, Unterbrechung und Spaltung“ herausarbeitet.

Die konstitutive Spaltung wird wiederum von Lukas Wierschowski in einer psychoanalytisch wie medienwissenschaftlich geschulten Diskussion von personalisierten Algorithmen fortgeführt. Konkret zeigt er, wie durch Rückkopplungseffekte und „virtuelle Kontingenz“ ein Spiegelstadium erzeugt wird und welche politischen Folgen dies hat.

Ebenfalls aus psychoanalytischer Sicht hinterfragt Noah Simon die Linearität der Triebzeitlichkeit des Sadismus – genauer: In detaillierter Lektüre fragt er, ob nach und über Laura Mulveys Filmtheorie hinaus tatsächlich dem Sadismus eine lineare Zeit unterstellt werden kann oder ob dies nicht vielmehr nur dessen „Story“ betrifft.

In Lara Marie Gilia Busses Beitragsteht das Verhältnis von Körper und Grenze zur Verhandlung. Sie erläutert u.a. mit Hannah Arendt und im Verweis auf die aufgrund ihrer Repräsentationspraktiken kritisierte Inszenierung All Inclusive von Julian Hetzel, wie die Körper von undokumentierten Geflüchteten selbst zur Grenze werden.

Die Aktionen des Zentrum für politische Schönheit wiederum, insbesondere das Holocaust Mahnmal Bornhagen, werden von Sarah Lena Tzscheppan hinsichtlich der Ansätze Chantal Mouffes debattiert. Sie zeigt, dass das Zentrum durchaus ein „Wir im Sinne von Mouffes populistischem Moment“ entwirft, allerdings aus der Position „einer moralischen Erhabenheit“.

Die Kulturpolitik der VR China wird von Svenja Neumann und Zhaorui Zhang als eine Erfindung und ständige Veränderung von ‚Tradition‘ herausgearbeitet. Dabei setzen sie Positionen der kommunistischen Partei in einen spekulativen Dialog mit der Gouvernementalitätstheorie Michel Foucaults – als „bio-aesthetics“.

Robert Damaschke widmet sich einem Vergleich der Denkweisen von Carl Schmitt und Jean-Luc Nancy, welche beide einen unterschiedlichen Umgang mit Begrifflichkeiten des Politischen vorschlagen. Deren Relevanz (Nancy) bzw. Gefahr (Schmitt) für die Gegenwart wird von ihm mit Verweis auf die Überhöhung der Satire durch die eigentlich zu persiflierende Realität illustriert.

Ergänzt werden diese zehn zu Artikeln ausgearbeiteten Vorträge des Symposiums dann durch den thematisch passenden Essay von Janna Gangolf, die sich mit der Groteske, ihrer politischen Funktion und der Inszenierung No President von Nature Theatre of Oklahoma beschäftigt, um sie schließlich auf die politische Repräsentationsfigur Donald Trumps zu beziehen. Allen Lesenden wünschen wir spannende Auseinandersetzungen und Anregungen!

Leon Gabriel


  1. Benveniste, Émile: „Der Begriff des ‚Rhythmus‘ und sein sprachlicher Ausdruck“, in: Ders.: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft. Frankfurt am Main 1977, S. 363-374.
  2. Barthes, Roland: Wie zusammen leben. Simulation einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France 1976–1977. Frankfurt am Main 2007.
  3. S. dazu auch: Etzold, Jörn: „Grenzen der Repräsentation. BDS und die Ruhrtriennale“, in: Texte zur Kunst, 30. Jg., Heft 119, Sept. 2020, S. 61-73.
  4. Der Text wird in den Working Papers der Universität Bonn erscheinen. https://www.fiw.uni-bonn.de/publikationen/FIWWorkingPaper
  5. Deuber-Mankowsky, Astrid: „Kritik der Staatsgewalt bei Benjamin und Hermann Cohen“, in: Blättler, Christine/Voller, Christian: Staatsverständnisse: Walter Benjamins politisches Denken. Baden-Baden 2017, 159-176.
  6. Menke, Bettine: „Die Rechts-Ausnahme des Flüchtlings, die Symptome der Menschenrechte“, in: Köhler,Sigrid/Schaffrick, Matthias (Hg.): Wie kommen die Rechte des Menschen in die Welt?, Heidelberg, vorauss. 2021. Seit April 2019 online unter:  https://www.uni-erfurt.de/philosophische-fakultaet/seminare-professuren/literaturwissenschaft/professuren/allgemeine-und-vergleichende-literaturwissenschaft/lehrende/prof-dr-bettine-menke (unter Punkt „Vorabveröffentlichungen“).
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