Miszelle | Heines Welttheater in Zeiten der Corona

AUTOR Der Krieg der Viren. Wie beschreibt man das?
REGISSEUR Das ist dein Job. Dafür wirst du bezahlt.
[…]
REGISSEUR Und wie soll ich das auf die / meine Bühne bringen.
AUTOR Was weiss ich. Was bedeutet mir die / deine Bühne.[1]

Heiner Müller

I

Dieses Jahr brachte der Hoffmann und Campe-Verlag unter dem Titel „Ich rede von der Cholera. Ein Bericht aus Paris von 1832“ den sechsten Artikel aus der Reihe Französische Zustände von Heinrich Heine erneut auf den Büchermarkt. Mit einem kurzen Vorwort versehen, soll diese Neuerscheinung auf die Parallelen und Aktualitäten von Heines Text aufmerksam machen. Albrecht Betz erklärt in seinem Buch Ästhetik und Politik die Besonderheit von Heines Artikel über die Zustände in Paris während der Cholera-Pandemie von 1832 damit, dass er sich „angesichts der großen Epidemie, die, zum letzten Mal, einem Naturereignis gleich, alle europäischen Länder heimsucht und als düsterer Nachklang des Mittelalters überall Entsetzen verbreitet“[2], nüchtern mit dieser auseinandersetzt. Die Aktualität von Heines Texten, die immer wieder von den Widersprüchen der modernen Gesellschaft handeln, an denen der Autor sich zeit seines Lebens reibt, wird in Zeiten von Covid-19 nur umso deutlicher. Zeigen doch die Auswirkungen der Pandemie, dass auch wir nicht vor diesem nicht bloß europäischen, sondern globalen Ereignis gefeit sind. So flammt die Aktualität von Heines Text erneut auf und animiert dazu, einen Blick auf unsere gegenwärtigen Verhältnisse zu werfen. Heine bedient sich für seinen Text einer theatralen Metaphorik, mit der er versucht, den Zuständen seiner Zeit zu entsprechen. Diese Sprache und der dichterische Umgang Heines können auch ergiebig für den Umgang von Theater in all seinen Facetten mit der Corona-Krise sein, die gerade für den Kulturbetrieb in vielerlei Hinsicht „eine explizite Version des Normalzustands“[3] ist.

Heine verwendet für seinen Artikel „faktische[…], fiktionale[…] und reflexive[…] Elemente[…]“[4] und ordnet sie bewusst zu einer eigenen Komposition an. Die literarische Tradition der Auseinandersetzung mit einer Seuche erwähnt er selbst mit einem Verweis auf Thukydides und Boccaccio.[5] Stilistisch bewegt sein Artikel sich zwischen Nähe und Distanz zu dessen Gegenstand. Ein Pathos, das sich durch die Schwere der Situation aufdrängt, wird von Heine durch diese ambivalente Spannung bewusst vermieden.[6] Wie räumliche Nähe und emotionaler Abstand sich verbinden und eine – teils zynische – Liaison eingehen, sehen wir zum Beispiel, wenn Heine schreibt: „Ich wurde in dieser Arbeit viel gestört, zumeist durch das grauenhafte Schreyen meines Nachbars, welcher an der Cholera starb.“[7] Diese Regulierung von Nähe und Distanz ist auch heute nicht nur für Journalismus, sondern gleichermaßen für das Theater eine konstante Herausforderung, wenn es sich mit aktuellen Gegebenheiten auseinandersetzen möchte.

Das Spiel mit dem Abstand wird freilich zurzeit auch ganz wörtlich genommen, wenn zwischen den Darstellenden ein Mindestabstand von anderthalb Metern explizit eingefordert oder verletzt wird, wie in Antú Romero Nunes’ „Maria Stuart“-Verfilmung für das Hamburger Thalia Theater[8] oder Roberto Ciullis Inszenierung „Der kleine Prinz – in Coronazeiten“ am Theater an der Ruhr, in welcher dem Mindestabstand auch schon einmal mit Maßband und Zollstock Nachdruck verliehen wird.

II

Heinrich Heine ist seit 1831 Paris-Korrespondent für die Allgemeine Zeitung aus Augsburg, als 1832 die Cholera aus Asien nach Paris kommt und allein dort 20.000 Tote fordert, wobei Heine noch von 35.000 Toten ausgeht.[9] Dabei bricht die Seuche über Heines Schaffen so unvermittelt herein wie über Paris. Geplant war die Arbeit an einem Buch über „französische Revoluzionsgeschichte“[10], welche durch die Berichterstattung über die Epidemie verdrängt wird: „Die Gegenwart ist in diesem Augenblicke das Wichtigere, und das Thema, das sie mir zur Besprechung darbietet, ist von der Art, daß überhaupt jedes Weiterschreiben davon abhängt.“[11]

Wir erleben in heutigen Coronazeiten, dass die gegenwärtigen Zustände scheinbar die Möglichkeiten und Notwendigkeiten von politischen Auseinandersetzungen nicht zulassen. Zu sehr sei der Alltag von der Krankheit bestimmt. Man denke an die unzähligen Diskussionen über (Arbeits-)Streiks in Deutschland.[12] Doch Heine reduziert die Krise nicht auf bloße Fallzahlen und gesundheitspolitische Elemente, er setzt sie in den Zusammenhang der politischen und historischen Hintergründe, in die sie eingedrungen ist. Die damit zusammenhängenden gesellschaftlichen Widersprüche verschärfen sich in der Krise, und Heine benutzt die Bühne des gesellschaftlichen Lebens, um die Figur Cholera selbst auftreten zu lassen: „Ich rede von der Cholera, die seitdem hier herrscht, und zwar unumschränkt, und die, ohne Rücksicht auf Stand und Gesinnung, tausendweise ihre Opfer niederwirft.“[13] Diese Formulierung, die durch die Personifizierung der Seuche nicht zufällig die absolutistische Staatslehre angelehnt ist[14], unterstreicht das Ausmaß der Epidemie, die Paris wie weite Teile der Welt in einen Ausnahmezustand versetzt.

Sie bildet das Zentrum der theatralen Beschreibungen in Heines Artikel. Der Theater-Metapher bedient sich Heine in seinen Schriften immer wieder, um gesellschaftliche Verhältnisse zu schildern, bzw. um die Schwierigkeit eines solchen Unternehmens zu verdeutlichen. Die auftretenden Personen sind letztendlich nur Repräsentantinnen von Interessen[15] und so ist es kein Zufall, dass Heine für seine Schilderung der Pandemie einen Maskenball als Ausgangsort wählt. Wenn der Harlekin die Maske abnimmt, tritt unvermittelt der Schrecken der Cholera in die Mitte der (Abend-)Gesellschaft, und alle gehen auseinander: „… als plötzlich der lustigste der Arlequine eine allzu große Kühle in den Beinen verspürte, und die Maske abnahm, und zu aller Welt Verwunderung ein veilchenblaues Gesicht zum Vorscheine kam.“[16]

III

Die Opfer einer solchen Krise kommen zwar aus allen Klassen der Gesellschaft, „ohne Rücksicht auf Stand und Gesinnung“, aber genauso gilt, dass es damals wie heute den Wohlhabenderen leichter fällt, Schutzmaßnahmen zu ergreifen oder sich auf die Krise besser einzustellen. In Manchester, das ebenfalls von der Epidemie heimgesucht wurde, findet die Cholera ideale Verbreitungsbedingungen in den elenden Wohnbedingungen der Armen:

Als nämlich diese Epidemie herannahte, befiel ein allgemeiner Schrecken die Bourgeoisie dieser Stadt; man erinnerte sich auf einmal der ungesunden Wohnungen der Armut und zitterte bei der Gewißheit, daß jedes dieser schlechten Viertel ein Zentrum für die Seuche bilden würde, von wo aus sie ihre Verwüstungen nach allen Richtungen in die Wohnsitze der besitzenden Klasse ausbreite.[17]

In Paris sind es gleichermaßen schon die direkten Wohn- und Hygienebedingungen, die verdeutlichen, wer ein leichtes Opfer der Cholera werden kann:

Bey dem großen Elende, das hier herrscht, bey der kolossalen Unsauberkeit, die nicht bloß bey den ärmeren Klassen zu finden ist, bey der Reizbarkeit des Volks überhaupt, bey seinem grenzenlosen Leichtsinne, bey dem gänzlichen Mangel an Vorkehrungen und Vorsichtsmaßregeln, mußte die Cholera hier rascher und furchtbarer als anderswo um sich greifen.[18]

Doch selbst bei den Maßnahmen zur Stadtreinigung treten die Widersprüche der Klassengesellschaft deutlich hervor. Die Maßnahmen zur Prävention der Krise prallen auf die ökonomischen Interessen derer, die nicht viel mehr als eben den Abfall auf den Straßen als ihre Existenzgrundlage haben. Bei dem Versuch, eine geregelte Straßenreinigung zu etablieren, „kollidirte man zuerst mit den Interessen einiger tausend Menschen, die den öffentlichen Schmutz als ihre Domaine betrachten.“[19]

Wer auf den öffentlichen Schmutz nicht angewiesen ist, kann sich, damals wie heute, den pandemischen Menschenmassen der Stadt entziehen:

Obgleich die Cholera sichtbar zunächst die ärmere Klasse angriff, so haben doch die Reichen gleich die Flucht ergriffen. […] Mit Unmuth sah der Arme, daß das Geld auch ein Schutzmittel gegen den Tod geworden. Der größte Theil des Justemilieu und der haute Finance ist seitdem ebenfalls davon gegangen und lebt auf seinen Schlössern. [Hervorhebung im Original][20]

Wie diese Verhältnisse heute verdeckt werden können, zeigen zwei unterschiedliche Ansätze von Personen des öffentlichen Lebens, mit der Krise umzugehen. So mangelt es auf der einen Seite nicht an ausgestellter Opferbereitschaft derjenigen, die nicht auf das Geld schauen müssen und sich auf ein Anwesen zurückziehen können, das wohl ein Vielfaches an Platz, Unterhaltungsmöglichkeiten und persönlichem Freiraum bietet, als der Majorität der Menschen im selben Staat zur Verfügung stehen. Und so erscheint es geradezu zynisch, nicht einfach still und heimlich aus der Stadt zu verschwinden wie zu Heines Zeiten: Dank der sozialen Medien kann ein Arnold Schwarzenegger, Terminator und ehemaliger Gouverneur Kaliforniens, noch den moralischen Zeigefinger im hauseigenen Whirlpool erheben und seine Mitmenschen ermahnen, sie mögen es doch wie er machen und zu Hause bleiben. Beim Zeigefingerheben muss man freilich darauf achten, dass einem die Zigarre nicht ins Wasser fällt.[21] Dem moralischen Typus eines Schwarzenegger stehen die Trumps gegenüber, die die Krise klein reden und deren offenes Bekenntnis zum Primat des Marktes auf Begeisterungs- und Entsetzensbekundungen stößt.[22] Heine erwähnt allerdings noch einen weiteren Typus der Reichen, nämlich denjenigen, der sich zur Stadt bekennt und vorbildlich in der Gefahrenzone verweilt. „Die eigentlichen Repräsentanten des Reichthums, die Herren v. Rothschild, sind jedoch ruhig in Paris geblieben, hierdurch beurkundend, daß sie nicht bloß in Geldgeschäften großartig und kühn sind.“[23]

Im Klima der Krise erleben Verschwörungstheorien wie gehabt Revivals oder neue Dimensionen. Bei Heine sind es vor allem Vergiftungsgerüchte, die durch die Stadt gehen. Einzelpersonen und politische Gruppen werden beschuldigt, ihre Mitmenschen zu vergiften. Die Cholera sei gar nicht die Ursache des um sich greifenden Elends. Dies führt zu wütenden Mobs, die auch vor Selbstjustiz nicht zurückschrecken und den Schlachtruf der Revolution „à la lanterne!“ [Herv. i. O.][24] auf pervertierte Weise wiederbeleben.[25] Zu Coronazeiten wird dem einen oder anderen ‚kritischen Geist‘ bestimmt auch einiges einfallen, was es denn nun wirklich mit Covid-19 auf sich hat. Bisheriger Höhepunkt der Demonstrationen gegen die Infektionsschutzmaßnahmen war dann auch der missglückte „Sturm auf den Reichstag“.[26] In diesem Zuge erleben auch antisemitische Denkmuster eine Erneuerung, sowohl auf nationaler als auch auf internationaler Ebene. Dies wurde schon zu Beginn der Krise deutlich, und Michael Wuliger verwies bereits im März 2020 auf Möglich- und Wirklichkeiten der antisemitischen Gerüchteküche.[27]

Den gesellschaftlichen Konflikten, die Heine als Konflikte zwischen Dingen und Repräsentanten erscheinen, antwortet er mit einem Stil, der den Widersprüchen mit einer Mélange aus ästhetischer und persönlich-dokumentarischer Betrachtung begegnet. Für Heine ist die Zeit der Individuen und der Helden vorbei, und was früher nur die Chöre waren, die dem Helden zur Seite gestellt sind, erscheinen nun als handelnde Subjekte:

Überhaupt scheint die Weltperiode vorbei zu sein, wo die Taten der einzelnen hervorragen; die Völker, die Parteien, die Massen selber sind die Helden der neuern Zeit; die moderne Tragödie unterscheidet sich von der antiken dadurch, daß jetzt die Chöre agieren und die eigentlichen Hauptrollen spielen, während die Götter, Heroen und Tyrannen, die früherhin die handelnden Personen waren, jetzt zu mäßigen Repräsentanten des Parteiwillens und der Volkstat herabsinken und zur schwatzenden Betrachtung hingestellt sind, als Thronredner, als Gastmahlpräsidenten, Landtagsabgeordnete, Minister, Tribune usw.[28]

Wie man dieses darstellen soll, damit setzt sich Heine in seinem Œuvre immer wieder auseinander. In einer globalisierten Welt kann ein Virus zwar noch nicht wie Puck in „A Midsummer Night’s Dream“ von sich sagen kann: „I’ll put a girdle round about the earth / In forty minutes“[29], aber die Wegzeiten für Menschen und Viren um die Erde haben sich von Shakespeares bis Heines Zeit vervielfacht und heute eine überwältigende Dimension erreicht. Bereits die Cholera Heines kommt recht rasch voran und hat in verschiedenem Ausmaße überall eine Einschränkung des öffentlichen Lebens zufolge:

Eine Todtenstille herrscht in ganz Paris. Ein steinerner Ernst liegt auf allen Gesichtern. Mehrere Abende lang sah man sogar auf den Boulevards wenig Menschen, und diese eilten einander schnell vorüber, die Hand oder ein Tuch vor dem Munde. Die Theater sind wie ausgestorben.[30]

Das gesellschaftliche Leben stagniert angesichts der staatlichen Einschränkungen und wo diese ausbleiben, scheinen Menschenleben für die Regierenden aus Überforderung oder Gleichgültigkeit schlichtweg keine Priorität zu haben. Unter der Regierung Bolsonaro in Brasilien sind bis zur Arbeit an diesem Essay über 150.000 Menschen gestorben; eine Klage gegen den Präsidenten wurde von gewerkschaftlicher Seite eingereicht.[31] Und wo die prekäre Lage bisher weitgehend unbemerkt von der Öffentlichkeit vonstatten gehen konnte wie in den Schlachtbetrieben Deutschlands, dort lässt Covid-19 Zustände, die nur Wenigen bekannt waren oder die nur wenige wahrhaben wollten, ans Licht kommen.[32] Brechts Die heilige Johanna der Schlachthöfe lässt grüßen: „Die aber unten sind, werden unten gehalten / Damit die oben sind, oben bleiben.“[33]

Wo das Virus herrscht und die ehemaligen Machthaber in Bedrängnis geraten, werden die Toten mancherorts zu einem logistischen Problem für die Lebenden. In Heines Paris muss improvisiert werden, um die Leichen zu transportieren:

Da die vorhandenen Leichenwagen nicht zureichten, mußte man allerley andere Fuhrwerke gebrauchen, die, mit schwarzem Tuch überzogen, abentheuerlich genug aussahen. Auch daran fehlte es zuletzt, und ich sah Särge in Fiackern fortbringen; man legte sie in die Mitte, so daß aus den offenen Seitenthüren die beiden Enden herausstanden.[34]

Ehemalige Redewendungen werden angesichts der mangelnden Vorbereitung auf so eine Situation zur traurigen Realität: „Das Wort ‚in den Sack stecken‘ war gar keine Redefigur; es fehlte bald an Särgen, und der größte Theil der Todten wurde in Säcken beerdigt.“[35] Fast zwei Jahrhunderte später erlebt New York, eine Weltmetropole, eine ähnliche Situation und muss sich ebenfalls auf unorthodoxe Mittel berufen: „Vor den Krankenhäusern parkten Kühllaster, um die Leichen zu lagern.“[36] Eines der drastischsten Beispiele für den Umgang und die Überforderung mit den Leichen sehen wir in Bolivien, dem solche Möglichkeiten nicht in ausreichendem Maße zur Verfügung stehen. Den Toten werden die üblichen Bestattungsrituale aus Unvermögen verweigert, und so werden in Bolivien mobile Krematorien entwickelt, die, wie aus den düstersten Dystopien oder kafkaesken Geschichten entsprungen, sich der Masse der Toten annehmen.[37] Die geregelte Inszenierung des Theaters der Welt scheint endgültig aus den Fugen, und ihre Erschütterungen werden noch lange nachhallen in den Köpfen und im gesellschaftlichen Zusammenleben.

IV

War der Auftakt noch der fröhliche Maskenball, der so abrupt abbricht durch das Zeigen des kranken Gesichts, das sich bislang noch unter der Maske verbergen konnte, so endet der Bericht des dichtenden Reporters Heinrich Heine auf dem Kirchhof: „Hier nun, in der Nähe des Kirchhofs, hielt plötzlich mein Kutscher still, und als ich, aus meinen Träumen erwachend, mich umsah, erblickte ich nichts als Himmel und Särge.“[38] Zum Abschluss verdeutlicht sich Heines dichterischer Umgang mit der Situation und der Notwendigkeit, ein Bild der Krise zu zeichnen. Die poetische Bearbeitung nimmt Heines Artikel nichts von seiner journalistischen und historischen Bedeutsamkeit, wird dafür aber dem Schrecken der Pandemie zusätzlich künstlerisch gerecht. Heines spannungsreicher Tanz zwischen dokumentarischem Inhalt und künstlerischer Form, zwischen Fakten und Fiktion, wird auch im Theater unserer Zeit als Technik wiederholt angestrebt. Dies ist ein Theater, dem im Vergleich zu Heines 19. Jahrhundert ein Vielfaches an Möglichkeiten zur Verfügung steht, trotz geschlossener oder ausgestorbener Spielstätten ein Publikum zu erreichen. Doch wird dabei unter Theaterschaffenden immer wieder die Frage aufgeworfen, wie eng der Zusammenhang zwischen Onlineformaten und Theater noch ist:

Live-Performance-Künstler legten los, um online Monologe und Szenen, Lieder und Künstler-Gespräche zu kreieren – eine Flut von Inhalten, die meist diesen Namen nicht verdienen. Tapfere Bemühungen, und es ist schwierig, Künstlerkollegen für ihre Versuche, produktiv zu bleiben, zu kritisieren. Aber Theater unter anderer Überschrift ist doch eigentlich kein Theater, oder?[39]

Auch Helgard Haug von Rimini Protokoll stellt sich angesichts der Verlegung einer als Theaterstück angekündigten Daimler-Aktionärsversammlung ins Netz die Frage, was das Theater eigentlich auszeichnet: „Dies ist nichts von dem, was für mich Theater ausmacht: Präsenz! Dialog, Überraschungen, Tuchfühlung, Konfrontation, Risiko.“[40]

Marie Bues schlägt trotz einer klaren Sicht auf die gesellschaftlichen Probleme, die durch die Krise verstärkt werden, in Bezug auf die Möglichkeiten des Theaters etwas optimistischere Töne an:

Wichtig für ein Theater mit und nach Corona wird also dieser direkte Kontakt, der Austausch mit Künstler*innen. Das ist die Chance des intimen Formats, der persönlichen Perspektive und des kritisch-nuancierten Austauschs, der sich gegen einen verkürzten Populismus und eine Massenabfertigung stellt. Es ist auch eine Chance des digitalen Formats – an vielen Theatern bisher kein Thema gewesen.[41]

In Mülheim hat man sich zunächst in den „Stream der Verzweiflung“[42] begeben und mit dem Projekt Das Dekameron zehn Folgen „Digitales Livetheater“ von April bis Juni im Internet zur Verfügung gestellt.[43] Der Mühlheimer Zusammenschluss von Künstler*innen Vier.Ruhr betont in „Das Dekameron“ einerseits den Rückzug, ähnlich Boccaccios Figuren, aber andererseits eben auch den Versuch eines gemeinsamen Experiments, wenngleich auf digitalem Boden. Die deutschen Theaterschaffenden haben allerdings nicht die Möglichkeiten der wohlhabenden Bürger und feudalen Herrschaften zu Boccaccios und Heines Zeiten. Sie sind vielmehr weitestgehend auf Förderung und Sponsoring angewiesen. Auch erleben viele ihre bereits im Vorfeld deutliche Einbindung in eine kapitalistische Gesellschaft und ihre prekären Arbeitsbedingungen nun prägnanter als vor der Covid-19-Krise, die auf die Verhältnisse „wirkt wie ein Brennglas“[44].

Als der (erste) große Lockdown in Deutschland zu Ende ging, nahmen auch die Theater, wenn auch unter strengen Bedingungen, ihren Betrieb teilweise wieder auf. In Der kleine Prinz – in Coronazeiten behauptet sich die Melancholie des Stückes stolz und die beiden Clowns tragen ihre alten aufgeschminkten Masken, wenn es denn sein muss, auch unter medizinischen Gesichtsmasken. Ihr selbstbewusstes „Spiel vor Traurigen“[45] eröffnet Räume, in denen wir denken und fühlen können, was wir verloren haben, aber auch, was wir gewinnen können. Die Welt des kleinen Prinzen und des abgestürzten Piloten ist eine schöne und veränderbare Welt. Die Herrschenden, seien sie nun Cholera, Corona oder ein König auf seinem einsamen Planeten, müssen zurücktreten und Platz für unseren Chor machen.

Gute Nacht, und viel Glück!


  1. Müller, Heiner: Krieg der Viren, in: Ders.: Werke 5. Frankfurt a. M. 2002, S. 308.
  2. Betz, Albrecht: Ästhetik und Politik. Heinrich Heines Prosa. München 1971, S. 58.
  3. In seinem Artikel beschreibt Tim Wolff die teils prekären Verhältnisse im Kulturbereich und ihre Verschärfung in der Corona-Krise: „Dieser Ausnahmezustand ist vor allem eine explizite Version des Normalzustands und offenbart auch, dass im Kulturbetrieb – selbst dort, wo man nicht ohnehin schon verzweifelt ist – nicht die leiseste Ahnung besteht, wie man eine Gesellschaft ohne (Selbst-)Ausbeutung und Management des Elends schaffen könnte, so sehr man es sich auch wünscht.“ Wolff, Tim: „Stream der Verzweiflung“, in: konkret, Mai 2020, S. 41.
  4. Höhn, Gerhard: Heine-Handbuch. Zeit, Person, Werk. Stuttgart 2004, S. 293.
  5. Vgl. Höhn: Heine-Handbuch, S. 293.
  6. Vgl. Jung, Tim: „Vorwort“, in: Heine, Heinrich: Ich rede von der Cholera. Ein Bericht aus Paris von 1832. Hamburg 2020, S. 11.
  7. Heine, Heinrich: Französische Zustände. Artikel VI, in: Ders. Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Band 12/1. Hamburg 1980, S. 132.
  8. Vgl. Schreiber, Falk: „Fragmentierte Intimität“, in: Theater heute, Juni 2020, S. 25.
  9. Vgl. Jung: Vorwort, S. 10 f.
  10. Höhn: Heine-Handbuch, S. 287.
  11. Heine: Französische Zustände, S. 131.
  12. Vgl. unter Anderem: https://betriebskampf.org/2020/10/06/in-krise-und-pandemie-streiken-na-was-denn-sonst/ vom 06.10.2020 (Zugriff am 16. Oktober 2020) und https://taz.de/Zukunft-der-Gewerkschaften/!171783/ (Zugriff am 22. Oktober 2020).
  13. Heine: Französische Zustände, S. 133.
  14. Vgl. Windfuhr, Manfred u.a.: Apparat, in: Heine, Heinrich: Historisch-kritische Gesamtausgabe der Werke. Band 12/2. Hamburg 1980, S. 846.
  15. Vgl. Höhn: Heine-Handbuch. S. 288.
  16. Heine: Französische Zustände, S.134.
  17. Engels, Friedrich: Die Lage der arbeitenden Klasse in England. Nach eigener Anschauung und authentischen Quellen, in: Marx-Engels-Werke, Band 2. Berlin 1962, S. 295.
  18. Heine: Französische Zustände, S. 133.
  19. Ebd., S. 134.
  20. Ebd., S. 138.
  21. Vgl. https://www.youtube.com/watch?v=4HtpM7XvUnQ_, 19.03.2020 (Zugriff am 16. Oktober 2020).
  22. Vgl. https://twitter.com/realDonaldTrump/status/1313267615083761665?s=20 vom 06.10.2020 (Zugriff am 16. Oktober 2020).
  23. Heine: Französische Zustände, S. 138.
  24. Ebd., S. 136.
  25. Vgl. Ebd., S. 135-137.
  26. Vgl. Gensing, Patrick: „Mit gezielten Falschmeldungen aufgehetzt.“, https://www.tagesschau.de/faktenfinder/reichstag-berlin-sturm-fakenews-101.html, 31.08.2020 (Zugriff am 25. Oktober 2020).
  27. Vgl. Wuliger, Michael: „Koscher durch die Klopapierkrise. Sind Juden immun gegen das Coronavirus?“, https://www.juedische-allgemeine.de/kultur/koscher-durch-die-klopapierkrise/, 19.03.2020 (Zugriff am 16. Oktober 2020).
  28. Heine, Heinrich: Werke und Briefe in zehn Bänden. Band. 4. Berlin 1961, S. 504 f.
  29. Shakespeare, William: A Midsummer Night’s Dream. Ein Sommernachtstraum. Englisch / Deutsch. Reclam. 1975. Stuttgart. S. 50.
  30. Heine: Französische Zustände, S. 138.
  31. Vgl. https://www.unsere-zeit.de/klage-gegen-bolsonaro-133132/, 31.07.2020 (Zugriff am 16. Oktober 2020).
  32. Vgl. https://www.unsere-zeit.de/unsichtbare-sklaven-129592/, 15.05.2020 (Zugriff am 25. Oktober 2020)
  33. Brecht, Bertolt: Die heilige Johanna der Schlachthöfe, in: Ders.: Werke. Stücke 3. Frankfurt a.M. 1988, S. 223.
  34. Heine: Französische Zustände, S. 141.
  35. Ebd., S. 132.
  36. Akhtar, Ayad: „Die Wahrheit des Marktes“, in: Theater heute, Juni 2020, S. 9.
  37. Vgl. Büring, Andrea/Oelsner, Natalia: „Corona-Tote am Wegesrand: Boliviens fahrbare Krematorien“, https://de.euronews.com/2020/08/12/corona-tote-am-wegesrand-boliviens-fahrbare-krematorien, 12.08.2020 (Zugriff am 16. Oktober 2020).
  38. Heine: Französische Zustände, S. 141.
  39. Akhtar: „Die Wahrheit des Marktes“, S. 10.
  40. Haug, Helgard: „Was Theater ausmacht. ‚Dies ist weder ein Schauspiel noch ein Theaterstück‘ – Hauptversammlung gestern und heute“, in: Theater heute. Die große Pause. Jahrbuch 2020, S. 65.
  41. Bues, Marie: „Tausende Alternativen. Theater mit und nach Corona. Eine Standortbestimmung.“, in: Theater heute. Die große Pause. Jahrbuch 2020, S. 66.
  42. Wolff, Tim: „Stream der Verzweiflung“, in: konkret, Mai 2020.
  43. Vgl. https://vier.ruhr/projekte/dekameron-info/ (Zugriff am 25. Oktober 2020)
  44. Bues: „Tausende Alternativen“, S. 66.
  45. Benjamin, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Band I. Frankfurt a.M. 1974, S. 298.

Rezension | „Das Gestische […] ist ein Zerfallsphänomen, das Ganze bröckelt“

Veronika Darian und Peer de Smit eröffnen einen neuen Forschungsschwerpunkt in ihrem Sammelband Gestische Forschung. Praktiken und Perspektiven.

In dem Sammelband Gestische Forschung. Praktiken und Perspektiven (2020), herausgegeben von Veronika Darian und Peer de Smit, wird Gestisches als Bewegung ohne bekanntes oder benanntes Ziel, als Aktion oder Verhaltensweise und als Lücke oder Bruch einheitlicher Konzepte und eindeutiger Bedeutungszusammenhänge befragt. Angelehnt an Jean-Luc Nancy wird der Begriff der Geste verstanden als eine Disposition: „eine Weise, sich irgendwohin zu bewegen oder etwas kommen zu lassen, […] – einladender Wink oder Sich-entziehen [dérobade]“ (Nancy, 2014) (S. 9). Geste ist hier nicht mehr als Zeichen zu verstehen, sondern als Verhalten, als Art und Weise miteinander in Beziehung zu treten. 16 Autor*innen nähern sich ausgehend von diesem Zitat und aus unterschiedlichen Perspektiven der Frage des Gestischen und stecken in einer Art Suchbewegung das Forschungsfeld der Gestischen Forschung ab.

Darian und de Smit beginnen ihr Vorwort mit einer historischen Kontextualisierung. Lange seien Gesten einem sinn- und bedeutungsstiftenden Codesystem zugeordnet gewesen, das die Rhetorik der Antike in ihrer Überzeugungskraft untermalen sollte. Diese Praxis der eloquentia corporis, der verhaltenden Beredsamkeit (Darian) setze sich in den Darstellungen des theatrum mundi der europäischen Herrscherhöfe weiter fort und wurde in Handbüchern zu höfischen Benehmen sowie auf Gemälden festgehalten, die die Angehörigen dieser Höfe in immer gleichen Posen der Repräsentation von Macht und Würde zeigten. Die Codierung des Körpers gipfelte in den Gestentafeln der Physiognomik, anhand derer körperliches Verhalten normiert, domestiziert und schließlich pathologisiert wurde (S. 9-11).

Im 19. und 20. Jahrhundert sei die Forschung über Gesten in erster Linie sozialpsychologisch ausgerichtet gewesen und Gesten wurden als kulturabhängige und durch Sozialisation bedingte nonverbale Zeichen der Kommunikation gedeutet. Erst mit Theoretikern wie Maurice Merleau-Ponty, Giorgio Agamben, Roland Barthes, Jean-Luc Nancy und im besonderen Maße Walter Benjamin rückte die Geisteswissenschaft von dem Verständnis der Geste als entzifferbares Zeichen ab. Geste wurde als Unterbrechung von linearen, chronologischen, kausalen und teleologischen Erzähl- und Forschungszusammenhängen bestimmt. An dieses Denken knüpft der vorliegende Sammelband an (S. 14).

Die Autor*innen des Bandes setzen sich in ihren Texten von der in der Theaterwissenschaft breit vertretenden und von Erika Fischer-Lichte prominent gemachten Deutungsweise der Geste als Zeichen ab (S. 14). Stattdessen möchten Sie eine Gestische Forschung initiieren, die den Schwellencharakter von Gesten, ihre Vagheit und Undefinierbarkeit miteinbezieht und auch das eigene Scheitern, die sprachlich mögliche Unmöglichkeit des Schreibens über Geste, mitthematisiert. In diesem Verständnis liege das Potenzial das Gestische von der Geste als Zeichen zu emanzipieren. Ausrichtung und selbsterklärtes Ziel des Bandes sei es, Gestische Forschung nicht von der Geste, sondern vom Gestischen und dessen Potenzialen aus zu denken und nicht über Gesten zu arbeiten, sondern mit ihnen; Gestisches solle als Praxis beziehungsweise als Bündel von Praktiken begriffen werden (S. 15).

Gestische Forschung sei hier als transdisziplinäre Perspektive zu verstehen, die sich aus jeder fachlichen Disziplin oder künstlerischen Praxis heraus öffnen könne. Die Autor*innen der Essays kommen dementsprechend auch nicht ausschließlich (wenn auch maßgeblich) aus der Theaterwissenschaft, sondern bringen mit Angelika Jäkel als Architektin, Melanie Haller als Kultursoziologin und Michael Wehren als Künstler der freien Performancegruppe friendly fire andere Perspektiven und Disziplinen mit ein. Eiichirô Hirata, Professor am Institut für Germanistik an der Keio-Universität in Tokio, erweitert den ansonsten aus deutschen Autor*innen bestehenden Kreis um eine japanische Perspektive. Trotz der unterschiedlichen Ausgangslagen konzentriere sich der Band, wie die Herausgeber*innen in ihrem Vorwort betonen, auf künstlerische, ästhetische und erkenntnistheoretische Bezugsfelder (S. 15). Hiermit stellt sich die Frage, inwiefern die Gestische Forschung tatsächlich als transdiziplinär hervorzuheben ist oder, ob eine sich als kritisch verstehende Theaterwissenschaft nicht per se immer schon über das Theater im Sinne seiner Aufführung hinausdenkt und gesellschaftliche, politische, historische, ästhetische und philosophische Fragestellungen zusammenbringt.

Unterbrochen werden die 16 Artikel des Bandes durch die sogenannten Echo-Graffitos Rée de Smits, die in ihrer Ästhetik und in ihrem Einsatz an Grafiken Cy Twomblys in Roland Barthes Buch Das Reich der Zeichen (1981) erinnern. Mit ihnen soll versucht werden, die im wissenschaftlichen Diskurs nicht sagbaren Dimensionen des Gestischen graphisch als Spur nachzuzeichnen.

Der Sammelband ist in fünf Unterkapitel unterteilt, denen jeweils zwei bis fünf Artikel zugeordnet sind. Im ersten Kapitel „Gestisches Denken, gestisch forschen“ (S. 33-77) ordnen Fabian Goppelsröder und Veronika Darian das Feld der Gestischen Forschung begrifflich und als philosophische Denkrichtung ein. Goppelsröder stellt die Geste als Paradigma eines nicht-objektivierenden Denkens heraus, da sie die Grenzen zwischen Zeichen und Bezeichneten verwische und im Uneindeutigen verbleibe. Der Autor sieht hierin eine Chance für, wenn nicht gar eine Forderung an eine philosophische Denkweise, die sich gegen kategoriale Begriffssysteme und die Behauptung von objektiven Wahrheiten und logischen Eindeutigkeiten wende (S. 40-46). Auch Darian versteht Gestische Forschung als Widerstand gegen hegemoniale Machtstrukturen, die sich aus solchen kategorialen und normativen Zuordnungen speisen, und bezieht ihre Position als Forschende sowie die daraus resultierende Verantwortung mit ein. Sie stellt sich einer Aufgabe: Die Offenlegung des Verstricktseins als Forscherin in die eigenen Forschungsgegenstände. Mit Bezug auf Gayatri Spivak, Judith Butler und Bertolt Brecht macht sie deutlich, dass die Hervorhebung der eigenen Verortung, in ihrem Fall als weibliche, weiß und westlich sozialisierte Akademikerin grundlegend für die Haltung der Gestischen Forschung sei (S. 49). In diesem Sich-ins-Verhältnis-Setzen liege die Möglichkeit der Ansprache des*der Anderen und seiner*ihrer Affizierung ohne seine*ihre Herabsetzung durch ein souveränes Forschungssubjekt (S. 70). Vielmehr biete die Offenlegung der eigenen Position auch die Möglichkeit des Widerspruchs durch die lesende oder zuhörende Person, als auch der Selbstreflexion des*der Forschenden. In dieser Wechselseitigkeit liege der Kern der Gestischen Forschung und auch das Ziel des Sammelbandes, in dem Sinne, dass Darian Gesten des Forschens, als Gesten einer kommunikativen und gegenseitigen Bezugnahme, als Aushandlung und Beziehungsstiftung sowohl zwischen dem*der Forschenden und dem Forschungsgegenstand, als auch zwischen dem*der forschenden Schreibenden und dem*der Lesenden versteht (S. 70-77). Darian nimmt in ihrem Text den eingangs zitieren Gedanken Nancys, Geste als Disposition zu fassen, in dem Sinne ernst, als dass sie das Verhältnis zwischen sich als Forschender und ihren Forschungsgegenständen selbst als gestisch versteht, als ein gegenseitiges Annähern, ins Verhältnis setzen und das eigene Denken immer wieder in Frage stellen.

In den Kapiteln II—IV („II Gestisches in Sprache, Schreiben, Aufzeichnen“ (79-153); „III Gestisches in situ“ (155-190); „IV Gestisches Aneignen, gestisch agieren“ (195-281)) untersuchen die Autor*innen unterschiedliche Felder in denen ihnen Gestisches begegnet. Die Bezüge sind vielfältig, weshalb hier auch nur in Kürze auf einzelne Texte eingegangen werden kann. So fragt de Smit (Kapitel II) nach gestischer Poetologie, tritt in einen Dialog mit seinen eigenen Texten und Gedichten Paul Celans und zeigt in diesen die Brüche innerhalb von Sprache auf, durch die Unsagbares sagbar wird. Isa Wortelkamp (Kapitel II) schreibt über Choreografien Anne Teresa De Keersmaekers und fragt inwiefern sich das Gestische des Tanzes im Schreiben über die Bewegung weiter als Geste im Schreiben fortsetzt. Anhand der Performance Violin Phase (1982) untersucht sie die von einer im Sand tanzenden Tänzerin hinterlassenen Spuren. Durch Wiederholung der Bewegungen werden die Spuren im Sand immer wieder nachgezogen. Gleichzeitig werden die alten Spuren im Sand verwischt oder überschrieben. Wortelkamp interpretiert diese Spuren als eine Art Tanz-Schrift und überträgt das Vorgehen des Schreibens und Überschreibens der Spuren im Sand auf den Vorgang des Schreibens eines wissenschaftlichen Aufsatzes über eine zuvor gesehene Performancearbeit. Auch im Schreiben über eine Performance, erst auf Zetteln während und direkt nach der Performance und schließlich in einem ordnenden Prozess innerhalb des vorliegenden Artikels, gebe es einen Prozess des Schreibens und Überschreibens von Gedanken. Das Gestische sieht Wortelkamp im sich daraus neu Entwickelnden, welches durch das Weiter- und Fortschreiben, aber nie vollständige Überschreiben der zuvor gelegten Spuren entstehe (S. 152f.).

Angelika Jäkel (Kapitel III) beschreibt in ihrem Artikel Architektur als Geste. Architektur trete mit dem sich in ihr bewegenden Körper in Beziehung und lege bestimmte Verhaltensweisen nahe, hierbei sei Architektur zumeist auf Funktionalität ausgelegt (S. 161-163). Jäkel ist hierbei eine der wenigen Autor*innen, die Geste nicht nur als Unterbrechung von normativen und kategorialen Denkmustern versteht, sondern Gesten im architektonischen Kontext als den Körper und seine Bewegungen beeinflussend und regulierend wahrnimmt. Sie beschreibt Geste als etwas, was Zugänge gewährleistet oder verunmöglicht (S. 171). Diese eher negative Lesart von Geste als normierend ist im Sammelband eine Ausnahme.

Inwiefern gestische Praxis zur Umwandlung und Irritation von nationaler Geschichtsschreibung, die auf der Narration der Sieger beruht, führen kann, diskutiert Micha Braun mit Bezug auf Karl Marx und Benjamin. Gestisches Umgehen mit Geschichte bedeutet hier Geschichte als Netz heterogener und sich widersprechender Narrationen und Erfahrungen aufzufassen und als Möglichkeit nationale und identitätsstiftende Geschichtsschreibungen zu unterlaufen, zu unterbrechen oder mindestens zu irritieren (S. 221-226).

Im fünften Kapitel „Gestisches Forschen in actu“ (283-339) schreiben hingegen die Autor*innen stärker aus der eigenen Praxis heraus. Rée und Peer de Smit berichten über ein Studierendenprojekt mit Angehörigen einer psychiatrischen Klinik, in dem Geste in besonderer Weise an ein In-Beziehung-Treten geknüpft war (S. 301-323). Ulrike Haß und Sven Lindholm denken über Szenische Forschung als Geste nach und landen schließlich bei der Bestimmung von Szene als gestenhaft. In dem Moment, in dem eine Szene von einer unabsehbaren Dynamik geprägt sei in der die sich in der Szene befindenden Personen und Objekte sich gegenseitig in ihrem Miteinanderagieren bedingen, kann von ihr als gestisch gesprochen werden (S. 338f.). Dieses Einanderangehen, die Anteilnahme, das Miterzeugen einer Situation durch alle beteiligten Komponenten mache die forschende Szene aus (S. 335 u. 339) – eine Überlegung, die zum Ende des Bandes einen Bogen zu seinem Beginn schlägt, wo Darian die Offenlegung der eigenen Position in die Forschungsgegenstände und deren Öffnung für den*die Andere*n als ethische Haltung der Gestischen Forschung fordert.

In besonderer Weise fällt der Essay Michael Wehrens auf, der sich mit seinem eigenen nächtlichen Schreiben und seinem Annähern an Themen auseinandersetzt, die er später auf der Bühne mit der freien Performancegruppe friendly fire verhandeln wird. Es handelt sich um einen literarischen Text, der in seiner Fragmentierung und Sprunghaftigkeit wie eine Übung der Gestischen Forschung als Praxis funktioniert. Wehren legt in seinem Text die Vorgehensweise sowie die Schwierigkeit des Anspruchs des Sammelbandes Praktiken und Perspektiven der Gestischen Forschung zu formulieren, offen. Er schreibt:

Das Gestische, so können wir schließen, ist ein Zerfallsphänomen. Wo das Ganze zerbröckelt, […] dort tritt das Gestische hervor. […] Gestisch forschen bezeichnet also ein Arbeiten, das riskieren muss, sich selbst und auch seine Aussagen, und zwar auf der Basis von Bruchstücken und Teilen. Es kann, was es tut, nicht unendlich absichern, sondern entschließt sich, im besten Falle fröhlich, sich zu veräußern. Es geht von Gegenständen, Details und Situationen aus, von Fundstücken und Splittern […]. (S. 293f.)

Auch hier taucht das bereits an mehreren Beispielen verdeutlichte Denken des Gestischen als Bruch und Lücke von einheitlichen Denkmustern auf. Das hier von Wehren beschriebene Material und die Ausgangslage der Gestischen Forschung sind Fundstücke, Splitter, Details, Gegenstände und Situationen. Dinge, die irgendwie unzusammenhängend miteinander kombiniert und in Bezug auf eine bestimmte Fragestellung diskutiert werden. Die zentrale Frage des Sammelbandes ist in Bezug auf dieses Material, inwiefern bruchstückhafte, auf Lücken basierende Beziehungsnahmen als Methode der Gestischen Forschung gedacht werden können. Was unter dem Blickwinkel dieser Methode betrachten wird, ist hierbei offen. Gestisches wird im Sammelband überall gesucht, auf Plakaten, in der Mode, in der Architektur, natürlich auch auf der Bühne. Hierbei verliert die Perspektive der Gestischen Forschung jedoch durch die häufige Kürze der Artikel ihre eigentliche Richtung. Was macht die Gestische Forschung aus, worin unterscheidet sie sich von anderen Überlegungen der Theaterwissenschaft zur Geste in Anlehnung an Brecht, Agamben und Benjamin? Forschen heißt differenzieren, betont Lindholm (S. 328). Doch worin besteht die Gestische Forschung, auf welche Art und Weise charakterisieren sich ihre Praktiken und Perspektiven?

Die Antwort auf diese Fragen findet sich am Ende des Bandes vielleicht durch den von Haß und Lindholm geschlagenen Bogen an den Anfang des Bandes. In Darians Forderung, Forschung als Geste zu verstehen, worunter sie die Offenlegung der eigenen Position im Forschen und das Einstehen für den eigenen Forschungsschwerpunkt versteht, liegt die ethische Haltung der Gestischen Forschung. Die Unsicherheit und Offenheit, die sich ergibt, wenn wir ernsthaft mit Selbstkritik an unsere Fragen rangehen, ermöglicht die Gestische Forschung als eine Forderung für eine Philosophie zu deuten, die sich von der Philosophie als logisches Schlussfolgern absetzt. Dieses Denken ist in der Theaterwissenschaft in Anlehnung an poststrukturalistische Perspektiven nicht vollkommen neu, aber es verdeutlicht erneut die Verantwortung, die wir als Forschende tragen und die darin liegenden Möglichkeiten im Sinne einer Beziehungsnahme zum*zur Anderen, wenn wir uns selbst als Fragende ins Schwanken begeben. Vielleicht liegt hierin das von Wehren formulierte Risiko, die Möglichkeit sich zu veräußern, ohne sich abgesichert zu haben, die Freiheit des Denkens ohne festen Grund.

Veronika Darian und Peer de Smit: Gestische Forschung. Praktiken und Perspektiven. 2020Neofelis Verlag Berlin. Mit Beiträgen von Micha Braun, Till Boettger und Martina Reichelt, Fabian Goppelsröder, Ulrike Haß und Sven Lindholm, Melanie Halle, Eiichirô Hirata, Jessica Hölzl, Angelika Jäkel, Michael Renner, Rée de Smit, Michael Wehren (friendly fire), Maren Witte und Isa Wortelkamp.  

Editorial

Die siebte Ausgabe von „Thewis“, der Online-Zeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft (GTW), folgt dem Prinzip der vorangegangenen Ausgaben darin, dass neuerlich Raum geschaffen wird für den Auftritt von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern in der frühen Berufsphase. Erneut gibt es einen Themenschwerpunkt, für den dieses Mal Studierende und eine Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Ruhr-Universität Bochum verantwortlich zeichnen, daneben gibt es wie schon in der vergangenen Ausgabe die Sektionen Miszelle(n) und Rezensionen. Doch im Lauf der vergangenen Jahre seit der Gründung der Online-Zeitschrift im Jahr 2004 hat sich der Charakter der Publikationen in der Theaterwissenschaft und allgemeiner in den Wissenschaften fundamental verändert und dadurch auch die Funktion und der spezifische Sinn dieser Zeitschrift: Digitale Veröffentlichungen aller Art ersetzen heute vielerorts die Publikationen auf Papier. Die meisten wissenschaftlichen Bücher sind zumindest auch als e-book erhältlich. Dadurch hat sich aber auch die Funktion und die Wahrnehmung von Thewis gewandelt. War die Zeitschrift in der Anfangsphase eine Art von Spielwiese in einer Nische, so macht heute die Tatsache, dass es die einzige ausschließlich online erscheinende Publikation ist, welche die Gesellschaft für Theaterwissenschaft selbst herausgibt, ihre Besonderheit aus: Wer hier publiziert, auf den richten sich die Blicke der Fachöffentlichkeit in besonderer Weise. Umgekehrt zeigt die GTW durch dieses Forum, dass sie die Förderung jüngerer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sehr ernst nimmt, denen hier – zum Teil erstmals – die Gelegenheit gegeben wird, über den Kreis ihrer Institution hinaus eigene Studien- und Forschungsergebnisse zu publizieren.

Der Schwerpunkt-Teil der vorliegenden Ausgabe der Zeitschrift widmet sich dem Theater des J.M.R. Lenz und ist aus zwei parallel im Sommer 2016 am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum und am Institut für Germanistik der Universität Hamburg abgehaltenen Seminaren mit einem anschließenden Symposium hervorgegangen. Studierende der Bochumer Theaterwissenschaft haben dafür Texte beigetragen und waren gemeinsam mit Judith Schäfer auch für das Lektorat und die Redaktion der Beiträge verantwortlich: Es sind dies Philipp Blömeke, Viviane Hoof, Sina Langner und Lisa Schneider. Das Symposium Lenz-Herbst sowie die Arbeit an dieser Publikation wurden gefördert durch das Programm Forschendes Lernen der Ruhr-Universität Bochum, das Institut für Theaterwissenschaft der RUB sowie durch das Theater an der Ruhr.

Die Miszelle von Rebecca Ajnwojner greift ein in den vergangenen Jahren zunehmend brisanter gewordenes Thema auf, die Frage, wie Theater die Repräsentation von Minderheiten ermöglichen können, ohne dabei in die Falle der Essentialisierung minoritärer Gruppen zu tappen. Der Beitrag wurde zunächst im Rahmen eines Doktorandenforums vorgetragen, das im November 2018 in Tanger, Marokko, mit Promovierenden aus Frankfurt und Tetouan abgehalten worden ist. Die Rezensionen von Inga Bendukat und Ramona Mosse stellen zwei neue theaterwissenschaftliche Arbeiten von Günther Heeg und Evelyn Annuß vor.

Mit dieser Ausgabe wechselt die Herausgeberschaft von Thewis von Frankfurt nach Bochum. Die kommende Ausgabe wird gemeinsam von Jörn Etzold (Ruhr-Universität Bochum) und Martin Jörg Schäfer (Universität Hamburg) herausgegeben werden. Allen, die durch Beiträge oder technische Unterstützung am Zustandekommen dieser Ausgabe beteiligt waren, sei an diesem Ort sehr herzlich gedankt.

Frankfurt und Bochum, 26. Februar 2019
Nikolaus Müller-Schöll, Jörn Etzold

Impressum
HerausgeberInnen und Redaktion Thewis (2018):

Prof. Dr. Nikolaus Müller-Schöll (Frankfurt am Main)
Prof. Dr. Jörn Etzold (Bochum)

HerausgeberInnen und Redaktion des Themenschwerpunktes „Gesammeltes zu J.M.R. Lenz“:
Philipp Blömeke, M.A. (Bochum)
Viviane Hoof, B.A. (Bochum)
Sina Langner, M.A. (Bochum)
Dr. Judith Schäfer (Bochum)
Lisa Schneider, B.A. (Bochum)

Verantwortlich i.S.d.P. für die aktuelle Ausgabe:
Prof. Dr. Nikolaus Müller-Schöll
Institut für Theater-, Film- und Medienwissenschaft
Professur für Theaterwissenschaft
Goethe-Universität Frankfurt am Main
Norbert-Wollheim-Platz 1
60322 Frankfurt am Main

Begrüßung

Unser Thewis-Schwerpunkt widmet sich dem Theater, der Poetik und Poetologie des Sturm und Drang-Dichters Jakob Michael Reinhold Lenz. Lenz, der von 1751-92 lebte und als einer der bedeutendsten Autoren des 18. Jahrhunderts gilt, ist besonders als Dramatiker bekannt. Dennoch rückt erst in den letzten Jahren in den Fokus, dass Lenz für ein Theater schrieb, das uns erst heute eigentlich vertraut ist: Ein Theater, das den Rahmen der Guckkastenbühne und alle Konventionen seiner Zeit sprengt, ein Theater, das auf den Ebenen der Sprache wie der Aufführungspraxis geradezu ‚postmodernen‘ Strategien folgt, ein Theater, das keine elitären Zugangsbeschränkungen, sondern ‚für alle‘ „unter freiem Himmel“[1] sein will. Die vorwiegend philologische Forschung sah in Lenz bisher vor allem einen Schreibenden, der auf Missstände aufmerksam machen und als einer der radikalsten Stürmer und Dränger gegen die Ordnung der Väter Politik machen wollte. Geht es um seine Dramen, stehen zumeist poetologische oder kulturwissenschaftliche Fragen im Fokus, sodass darin etwa Lenz’ Komödienbegriff oder von ihm sowohl aufgegriffene wie auch persiflierte Konventionen des bürgerlichen Trauerspiels diskutiert werden. Daneben gibt es natürlich nach wie vor jene Untersuchungen, die sich auf der inhaltlichen Ebene für die Charakterisierung der Figuren oder für soziale Fragen interessieren. Fragt man allerdings nach dem Theater, das Lenz in seinen Dramen mit(be)schrieb, so finden sich in der philologischen und theaterwissenschaftlichen Forschung nur sehr wenige Ansätze, die tatsächlich die in den Theaterstücken szenographierte Bühne (Bühnenraum, Aufführungspraxis) mitbedenken. Es handelt sich zumeist um Aufsätze oder Kapitel in Monographien, die sich auch mit anderen Autoren auseinandersetzen, innerhalb derer man auf Hinweise beispielsweise auf das von Lenz beschriebene Spiel der Darsteller oder auf eine (un)mögliche Umsetzung seiner vielfältigen Räume stößt.[2]

Im Rahmen eines Seminars am Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum unter der Leitung von Judith Schäfer im Sommer 2016 und im Anschluss an die damals gerade erschienene Publikation zu Lenz’ „Dramaturgien des Fragmentarischen“[3] rückten andere Fragen in den Vordergrund, die sich aus theaterspezifischeren Interessen ergaben und sich in Themenkomplexen wie Entgrenzung der Guckkastenbühne, räumliche und zeitliche Desorientierungen, groteskes Spiel und karikatureske Figurenzeichnung bündeln ließen. Intensiviert und geöffnet wurde der Austausch zu Lenz’ Theater im gemeinsam vom Institut für Theaterwissenschaft der Ruhr-Universität Bochum und dem Institut für Germanistik der Universität Hamburg unter der Leitung von Dr. Julia Freytag sowie dem Theater an der Ruhr ausgerichteten Symposium Lenz-Herbst am 8. und 9. Oktober 2016 im Theater an der Ruhr in Mülheim. Lenz-Forscherinnen und -forscher und vor allem Studierende der Bochumer Theaterwissenschaft und der Hamburger Germanistik stellten eigene Forschungsergebnisse sowie künstlerische Arbeiten zu Bühne, Aufführungspraxis, Poetologie und Dramaturgie bei Lenz vor. Die Aufführung des Hofmeister unter der Regie von Roberto Ciulli am ersten Abend gab für den zweiten Tag ebenso Anlass für weiterreichende Gespräche wie Installationen und szenische Arbeiten von Studierenden.

Für die vorliegende Thewis-Ausgabe haben einige der damaligen Teilnehmenden ihre Vorträge in Artikelform gebracht, manche Arbeiten wurden erst im Zuge der Weiterbeschäftigung entwickelt. Einige B.A.-Abschlussarbeiten zu Lenz’ Theater, die im Anschluss an das Seminar und Symposium entstanden, zeigen, dass dieses Thema offenbar ein interessantes und noch recht offenes Forschungsfeld ist. Aus dem Interesse der Studierenden an Lenz’ Theater heraus sind die folgenden Beiträge erwachsen.
Sie widmen sich unter anderem Fragen der Dramaturgie und der ästhetischen Erfahrung, den besonderen Bühnenräumen und Figurenkonzeptionen. Aber auch zum Visuellen bei Lenz, genauer dem Verhältnis von Bild und Sprache sowie von Figurenrede und sogenanntem Nebentext (Regieanweisungen, Bühnenanweisungen), finden sich Beiträge. Lenz wird ebenso als Zeichner sichtbar.

Judith Schäfer nimmt eine erste Betrachtung des Lenz’schen Theaters vor und stellt heraus, dass bislang gerade dem Theatralen in Lenz’ Werken zu Unrecht nur wenig Beachtung geschenkt wurde. Die verschiedenen von ihr eröffneten Zugänge zu seinen (Theater-)Texten bieten einen ersten Ausgangspunkt für die folgenden Beiträge, in denen eine spezifischere Betrachtung einzelner Fragen erfolgt, die Lenz beschäftigt haben mögen.
In ihrem Beitrag zu beweglichen Bühnenräumen im Werk von Lenz stellt Viviane Hoof fest: Lenz denkt und schreibt Räume als werdende, unabgeschlossene und unabschließbare Anordnungen, die die Rezipierenden vor Herausforderungen stellen. Einen besonderen Fokus legt sie dabei auf Blickverhältnisse und das Unterfangen der Standpunktnahme der Rezipierenden als Reaktion auf Lenz’ fragmentierte Weltsicht.
Lisa Schneider arbeitet heraus, dass Lenz in seinem Drama Die Soldaten die Konstituierung von gesellschaftlichen Kollektiven als Konstrukte vorführt und diese immer wieder zusammenbrechen lässt. Ausgehend von der These, dass das Kollektiv eine Vereinigung ‚aufgrund von‘ sei, zeigt sie, dass sich das (überwiegend männliche) Kollektiv über Zuschreibungen einer dritten (meist weiblichen) Person – hier Mariane Wesener – zu erhalten sucht.
Betrachtungen zur Poetologie einer Gegenwartsdramatik bei Lenz nimmt Johannes Lehmann vor. Bei ihm geht es um ein von Lenz gefordertes Theater als Medium der Sichtbarmachung von Gegenwartsstrukturen und sozialen Gegebenheiten. Dabei stellt er vor allem die Relevanz des Dichters heraus, der in seiner Standpunktnahme zur Welt als deren Folie und Spiegelung fungiert.
Philipp Hohmann bringt in seinem Aufsatz Lenz und Nietzsche miteinander ins Gespräch. In der Anwendung des Nietzsche-Begriffs des Unzeitgemäßen und unter der Betrachtung epistemischer und poetologischer Grundfragen, die Lenz in Dramen, Reden und Briefen stellt, stiftet er zu einem diachronen Verfahren an, das beide Autoren – durch die Folie des Gegenübers – einander erschließen lassen kann.
Philipp Blömeke verfolgt unter ähnlicher Methode ein anderes Ziel: Sein Aufsatz sucht Interferenzen, Interpoetologien und auch Interbiographismen zwischen Lenz und Paul Celan. Mit dem Fokus auf Celan, der sich in seiner Büchner-Preis-Rede in einer poetologischen Verwandtschaft zu Lenz positioniert, werden mögliche poetologische und epistemologische Verbindungslinien – das, was Celan einen „Meridian“ nennt – untersucht.
Der Künstler Jens Eike Krüger hat sich von Lenz inspirieren lassen und eine Zeichnung erstellt, die eine Komposition aus verschiedenen überlieferten Lenz-Skizzen und Zeichnungen ist. In dem gemeinsam mit Sina Langner verfassten Text geht es um die Verbindung von Zeichnung und Wort bei Lenz und um den Blick eines zeitgenössischen Künstlers auf die Skizzen von Lenz.
In dem Auszug eines Publikumsgespräches mit Roberto Ciulli und Helmut Schäfer (Theater an der Ruhr, Mülheim) über ihre Inszenierung von Lenzʼ Der Hofmeister geht es schließlich um geschlossene Räume, Klänge, Beobachterperspektiven, Distanzierungen und stumme Figuren. Außerdem wird Lenz hier als szenisch Denkender, als Regisseur in den Blick genommen.

  1. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Brief an Gotter, 10. Mai 1775, in: Ders., Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Sigrid Damm. München, Wien 1987, Bd. 3, S. 317.
  2. Ein solches Beispiel ist: Anke Detken, Im Nebenraum des Textes: Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts, Tübingen 2009, S. 226-268. Der für den vorliegenden Kontext so vielversprechende Titel Space to Act: The Theatre of Lenz (Hg. von Alan C. Leidner und Helga S. Madland, Columbia 1993) führt leider in die Irre, versammelt er doch durchweg philologisch interessierte Beiträge; hinzu kommt ein Text zu Friedrich Ludwig Schröders Hofmeister-Adaption. Auch das in vielen Aspekten so hilfreiche und fraglos verdienstvolle Lenz-Handbuch (hg. v. Freytag, Julia/Stephan, Inge/Winter, Hans-Gerd) hat dem Theater von Lenz (und auch der Geschichte seiner Inszenierungen) keinen eigenen Beitrag gewidmet. Die Forschung hierzu hat offenbar tatsächlich gerade erst begonnen.
  3. Judith Schäfer, »… da aber die Welt keine Brücken hat …«: Dramaturgien des Fragmentarischen bei Jakob Michael Reinhold Lenz. Paderborn 2016.

Theater | „ich bin entsetzlich fürs gespielt werden“: Einige Notizen zum Theater von Jakob Lenz

Jakob Michael Reinhold Lenz ist vor allem für seine Dramen Der Hofmeister (1774) und Die Soldaten (1776) bekannt. In einschlägigen Handbüchern zum Drama oder Überblicksdarstellungen zur Literatur des 18. Jahrhunderts wird er als einer der wichtigsten Autoren des Sturm und Drangs geführt. Das ist sicherlich nicht falsch, will aber auch nicht viel besagen, denn neben dem Schlachtruf „Weg mit den Vätern!“ (Der Engländer – Eine dramatische Phantasey, 1777), der die Stürmer und Dränger verbindet, oder der Liebe zu Shakespeare und zur offenen Dramenform, gibt es viele Lenz’sche Eigenheiten, die unter kein Schlagwort zu subsumieren sind. Man müsste noch Einiges sagen beispielsweise über das Makabre, das Groteske, das Anarchische bei Lenz. Sowie auch über das Vorsichtige, das Leise, die Szenen des Zaghaften. Und über das Unverständliche, das Sperrige und Rätselhafte in manchen seiner Schauspiele, besonders in den Fragmenten. Vor allem aber müsste es um das Theater gehen, das Lenz in seinen Dramen entworfen hat, und das sich nur bei oberflächlichem Lesen allein als lärmendes, polterndes Protest-Theater der Jungen gegen die Alten oder der Bürger gegen den Adel oder der Töchter gegen die Väter missverstehen lässt. Aus Anlass der vorliegenden Thewis-Ausgabe seien deshalb einige Notizen zu Lenz’ Theater zusammengetragen, die vielleicht Anregung sein können für eine tiefere Forschung zu Lenz als Theaterautor.

Dass Lenz sich, obwohl erfolgreich, nie etabliert hat, erklärt sich nicht nur – wie so oft geschehen – über seine zweifelsohne komplexe Persönlichkeit. Es wird vor allem verständlich aus der Tatsache heraus, dass er als Dramatiker das Theater zwar immer mitdenkt – „ich bin entsetzlich fürs gespielt werden“, schreibt er an Friedrich Wilhelm Gotter[1] –, dass dies aber nicht bedeutet, dass er seine Stücke an zeitgenössischen Aufführungskonventionen wie festgelegten Auf- und Abtritten, Gattungskonventionen etc. ausrichten würde. Er denkt nicht erst an die Guckkastenbühne oder etablierte Bühnentechnik, sondern er schreibt eine konkrete szenische Phantasie, einen bestimmten Raum seiner Vorstellung nieder. Das tut er ungeachtet des Vorwurfes der ‚Unspielbarkeit‘ seiner Dramen – und dieses Etikett erhalten die meisten seiner Stücke ihrer Zeit und noch weit bis ins 20. Jahrhundert hinein tatsächlich. Im Bewusstsein nicht nur der aktuellen Bühnen- und Dramenkonventionen, sondern auch im selbstbewussten und ironischen Umgang mit ihnen lässt Lenz beispielsweise in den Anmerkungen übers Theater (1774) einige ‚Highlights‘ der jahrtausendealten europäischen Theatergeschichte in einem „ungeheuren Theater“ „seiner Einbildung“ vorüberziehen.[2] Dabei zitiert er die Masken des antiken Theaters, die barocke und zeitgenössische Theaterarchitektur mit ihren Bühnen, Parterren und Logen, die Kulissen, den Lichtputzer, den Vorhang und den Applaus als damaligen Theaterapparat.[3] Und erst danach, nach einem Bruch, beginnt Lenz Schritt für Schritt, in einer relativ komplizierten, andeutungsreichen, ständig abbrechenden Bewegung über das Theater zu sprechen, das er sich vorstellt: „ein Theater fürs ganze menschliche Geschlecht“, das „aufzuschlagen“ sei, das also unter freiem Himmel und flexibel ist, ein temporäres Theater, das seinen Ort wechseln, das wandern kann.[4]

Bis zu seinem vierundzwanzigsten Lebensjahr schafft Lenz sein meistrezipiertes Werk: Insgesamt schreibt er etwa dreißig Dramen und Dramenfragmente,[5] dazu Nachdichtungen, Übersetzungen, Lyrik und erzählerische Prosa, außerdem ästhetische und gesellschaftspolitische Schriften. Alles in allem umfassen seine Texte in den beiden Werkausgaben von Sigrid Damm[6] und Heribert Tommek[7] etwa 2700 Druckseiten. Seinen Zeitgenossen gilt Lenz vor allem durch den Erfolg des Hofmeister zunächst als bedeutender Dramatiker. Für einige Jahre erfährt er öffentliche Anerkennung in den wichtigen literarischen Zirkeln, Zeitschriften und nicht zuletzt am zu dieser Zeit bedeutenden Weimarer Hof. Zugleich ist die Haltung gegenüber Lenz, der vor den gesellschaftlichen Zuständen weder Augen noch Mund verschließt, gegenüber seinen kritischen Schriften und ungewohnten Dramen, eine sehr ambivalente. Von „barocken Fratzen“ (Johann Wolfgang Goethe) ist die Rede, von „Nothzüchtigung der Sprache“ (Christoph Martin Wieland) und „poetischer Grausamkeit“ (Joseph Beyer). Mit seinem Verweis vom Weimarer Hof 1776, dessen genaue Umstände heute unklar sind, ist der merkwürdige bürgerliche Dichter Lenz für die Öffentlichkeit bald vergessen. Als er 1792 in Moskau stirbt, nimmt das in Deutschland kaum noch jemand zur Kenntnis. Darauf folgt, unterbrochen von Georg Büchners Lenz-Novelle (entstanden ca. 1835, postum erschienen 1839), eine bis in die 1990er Jahre andauernde Ignoranz gegenüber der eigenwilligen Dramatik und Ästhetik von Lenz. „Ich aber werde dunkel sein / Und gehe meinen Weg allein“[8], heißt es in einem seiner Gedichte. Diese vielzitierten Worte scheinen zunächst autobiographischer Natur zu sein, sie formulieren aber auch – intendiert oder nicht – eine über Jahrhunderte andauernde Rezeptionshaltung. „Dunkel“ im Sinne einer unfassbaren oder auch abschreckenden Gestalt, wird Lenz mindestens bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts von der universitären Forschung wie auch vom Theater, bis auf einige Ausnahmen, weitestgehend ignoriert oder zumindest marginalisiert.

Lenz lebt kein linear verlaufendes Leben. Wie viele seiner Texte prägt auch seine Biographie eine stete Bewegung. Statt hier einen Lebenslauf in gerader Linie nachzuzeichnen oder einer geordneten Werkliste zu folgen, seien daher einige prägnante Stellen aus Lenz’ Briefwechsel zitiert.

Der erste Brief ist von September 1775. Hier beschreibt seine Mutter Lenz als rastlos Suchenden. Er ist in Straßburg und 23 Jahre alt. Der Hofmeister, mit achtzehn Jahren konzipiert, mit zwanzig niedergeschrieben, hat ihn in der Zwischenzeit bekannt gemacht. Auch seine Lustspiele nach dem Plautus fürs deutsche Theater, Der neue Menoza und die Anmerkungen übers Theater sind zu jenem Zeitpunkt bereits erschienen, Die Soldaten sind soeben fertig geworden, als Lenz diese Zeilen erhält:

Dorothea Lenz an ihren Sohn, Dorpat, im September 1775:

Mein allerliebster Jakob Wie vergeblig habe ich nun so viele Jahre auf Deine zu Hause Kunft gewartet […] Wie manche Tränen und Seufzer, habe ich nicht zu Gott geschickt, daß er Dich führen und leiten möge […] Wie lange wiltu so herum irren, und Dich in solche nichtswürdige Dinge vertiefen, ach nimm es doch zu Herzen was Dein Vater Dir schreibt, es ist ja die Wahrheit, nimm es nur zu Herzen, und denke nach, was will aus Dir werden?[9]

Der Brief trifft etwas: Lenz „schweift“ tatsächlich „umher“ und die „nichtswürdigen Dinge“, in die er sich „vertieft“, sind nicht gesichert durch ein Amt. Vom Schreiben, das kein Beruf ist, kann er ohne Mäzene nicht leben. Aber er beharrt darauf. Keine feste Position, keine Heirat, kein Ort auf lange Zeit: Von Livland über verschiedene deutsche Städte verschlägt es ihn im Lauf der Jahre auch nach Frankreich, in die Schweiz und schließlich nach Russland, wo er die letzten zehn Lebensjahre bleibt.[10] Manchmal ist es einfach eine fixe Idee, die ihn an den nächsten Ort treibt, manchmal ein ernsthaftes Projekt. Und immer geht es darum, in Bewegung zu bleiben, nicht zur Ruhe zu kommen.

Lenz an Sophie von La Roche, Straßburg, Juli 1775:
Ich liebe alle seltsame Einfälle; sie sind das Zeichen nicht gemeiner Herzen. Wer in dem gebahnten Wege forttrabt, mit dem halte ich’s keine Viertelstunde aus.

Und im gleichen Brief heißt es:

Ach! das große Geheimnis, sich in viele Gesichtspunkte zu stellen, und jeden Menschen mit seinen eigenen Augen ansehen zu können![11]

Das sind keine rein biographischen Aussagen, die nur auf die Privatperson Lenz zuträfen, denn sie zielen auch ins Zentrum seiner Poetik. Das Verlassen gewohnter Wege, das „Seltsame“, vor allem das Sich-in-viele-Gesichtspunkte-Stellen, um immer wieder neue Standpunkte einnehmen zu können, all das ist charakteristisch auch für Lenz’ Schreiben, vor allem in den Dramen. Eine geradezu herrschende Hektik, ständige Perspektivwechsel und Unruhe sind eine Herausforderung für den Lesenden und für den potenziell Zuschauenden. Das wurde oft als das Unausgereifte bei Lenz bezeichnet, sollte aber als bewusste Entscheidung verstanden werden. Er ist sich im Klaren darüber, dass seine sprunghaften Stücke verwirren, dass seine Perspektiven befremdlich sind. Sie sind konzeptionell aus einer gewissermaßen ‚abseitigen‘ Perspektive entworfen, in die Lenz sich selbst immer wieder aktiv stellt. Diese Position ließe sich als ‚Winkel‘ (der Gesellschaft) bezeichnen. Tatsächlich verbergen sich einige der Dramenfiguren bei Lenz in einem Winkel,[12] und Lenz ließ auch seine Figur „Lenz“ sich zum Schreiben dorthin zurückziehen, um von hier aus „Menschen“ zu ‚schaffen‘.[13] Aus dieser gewissermaßen ‚verschobenen‘ Perspektive ergibt sich eine eigenwillige Figurenzeichnung, die er von idealbildlichen oder realistischen Darstellungsweisen bewusst absetzt. Seine verzerrte, karikatureske Spiegelung entspricht nach Lenz viel mehr den wirklichen Verhältnissen, denn:

– doch einen Seitenblick – nach meiner Empfindung schätz ich den charakteristischen, selbst den Karikaturmaler zehnmal höher als den idealischen, hyperbolisch gesprochen, denn es gehört zehnmal mehr dazu, eine Figur mit eben der Genauigkeit und Wahrheit darzustellen, mit der das Genie sie erkennt, als zehn Jahre an einem Ideal der Schönheit zu zirkeln, das endlich doch nur in dem Hirn des Künstlers, der es hervorgebracht, ein solches ist[.][14]

Dem Entwurf einer Karikatur geht also ein „Erkennen“ voraus: Nicht Augentäuschung führt zur Darstellung karikaturesker oder grotesker Figuren, sondern eine Wahrnehmung aus einer abseitigen Perspektive, die für Lenz Voraussetzung eines ungetäuschten Sehens ist.[15] Zugleich fühlt er sich nicht als abseitiger Beobachter, sondern als Teilnehmender, Mitfühlender, der genau hinsehen will: „Ich deklamiere nicht, ich protokolliere nur das, was ich überall hörte und sah, als ich mich unter die Leute mischte.“[16] Nahes, anteilnehmendes Beobachten und fragmentierendes, neu zusammensetzendes, die Perspektiven beständig wechselndes Gestalten, das sind die beiden Schritte, die es für die Kunst der Dichtung und des Dramas brauche.

Man kann das, fasst man es in postmodernen Begrifflichkeiten und als politisches Handeln – und als solches will Lenz sein Schreiben explizit verstanden wissen –, als Bewegung der Deterritorialisierung[17] interpretieren. Wo andere Dramatiker ‚idealisieren‘, also festen Boden, Rahmen (der Guckkastenbühne), fest umrissene Figuren, kurz: Reterritorialisierung suchen, geht es Lenz um eine unablässige Bewegung, ums Aufbrechen, ums Wankende unsicherer Perspektiven.[18] Darin, und nicht allein in den verhandelten Inhalten, liegt der politische und für die zeitgenössische Bühne problematische Gehalt seiner Dramen. Der Guckkasten kann mit dieser Unruhe nicht umgehen.

Lenz selbst betont, dass er seine Stücke auf der Bühne sehen will, dass er sie nicht allein fürs Lesen schreibt. An Friedrich Wilhelm Gotter schickt er aus Kehl im Januar 1776 sein Stück Die Algierer und betont: „[I]ch wäre sehr begierig […] die Wirkung zu erfahren, die das Stück auf dem Theater tut. […] [I]ch bin entsetzlich fürs gespielt werden“[19]. Das sei ein Grund dafür, warum er seine Dramen nie ‚bis zu Ende feile‘: „[E]in Stück wo alle Charaktere gleichsam nur angedeutet sind, dem Schauspieler nur Winke geben was er zu tun habe und ihm auf keine Weise zuvorgreifen.“[20] Und er betont: „Mein Theater ist […] unter freiem Himmel vor der ganzen deutschen Nation, in der mir die untern Stände mit den obern gleich gelten die pedites wie die equites ehrenwürdig sind.“[21]

Das von ihm gedachte Theater versteht Lenz als sozialkritisches und politisches Projekt. An Johann Gottfried Herder schreibt er im November 1775: „Ich freue mich himmlische Freude, daß Du mein Stück gerade von der Seite empfindest auf der ichs empfunden wünschte, von der politischen.“[22] Und gegenüber Sophie von La Roche betont er im Juli 1775:

Überhaupt wird meine Bemühung dahin gehen, die Stände darzustellen, wie sie sind; nicht, wie sie Personen aus einer höheren Sphäre sich vorstellen […] Dazu gehört aber Zeit, und viel Experimente. […] Auch sind dergleichen Sachen wirklich in der Natur; leider können sie nur in der Vorstellung nicht gefallen, und sollen’s auch nicht.[23]

Lenz experimentiert mit neuen Dramenformen[24], um die gesellschaftlichen Verhältnisse und Bedrängnisse seiner Zeit zur Darstellung zu bringen. Die im Umbruch der überkommenen Ordnungen zwischen Aufklärung, Revolution und Restauration wankende Gesellschaft des 18. Jahrhunderts nimmt er als zerfallend und repressiv wahr, sie lässt dem Einzelnen keine Möglichkeit zur individuellen Entfaltung. Dieser ist als „vorzüglichkünstliche kleine Maschine“ in das Räderwerk der „große[n] Maschine, die wir Welt, Weltbegebenheiten, Weltläufte nennen“[25], verschaltet. Das macht es ihm unmöglich, selbstbewusst zu handeln, sich selbst zu verorten und sich selbst eine Bestimmung zu geben. Lenz zeigt den Einzelnen als Spielball seiner Umstände,[26] die ihn zu zermalmen drohen. Betrachtet er die Gesellschaft seiner Gegenwart, die also alles andere als „lachend“[27] sei, ergibt sich für Lenz als Dramatiker die Notwendigkeit, eine neue Form des Dramas, genauer: der Komödie zu finden. Die soziale Kritik brauche eine ihr entsprechende Form, denn: „Komödie ist Gemälde der menschlichen Gesellschaft, und wenn die ernsthaft wird, kann das Gemälde nicht lachend werden.“[28] Das sieht auf der Inhaltsebene zunächst so aus, dass sich in Lenz’ „nicht lachend[en]“ Komödien folgenschwere Ereignisse aneinanderreihen. Intrigen, Selbstmord- und Mordanschläge, Selbstkastration, Inzestverdacht, unerwünschte Schwangerschaft, Gefangenschaft und Flucht, Leichenberge auf einem Schlachtfeld und der erhängte Diener in der Ecke des Zimmers auf einem rauschenden Fest: In solchen Szenen zeigt Lenz, wie verstrickt der/die Einzelne in Zwangslagen ist.

Die schonungslosen, auch grellen Verhandlungen dieser Themen stellen nach Bernhard Greine

am Ende des Aufklärungsjahrhunderts […] eine Provokation des bürgerlichen Theaters dar, denn sie behandeln dessen Grundlage und Perspektivpunkt, das sich selbst bestimmende Subjekt, als Leerstelle. Das Stück „Der Hofmeister“ zeigt diesen Fluchtpunkt noch, um ihn zugleich zu verweigern. So kann hier auch nur in der Negativform (als Groteske) entfaltet werden, was die Komödie […] gewinnt: einen neuen Zugang zur dionysisch-karnevalistischen Tradition der Komödie, von der sich das Theater mit Gottscheds Reformen abgeschnitten hatte.[29]

Auch in der Form versucht Lenz Neues. Äußerlich sind seine Dramen der damaligen Konvention angepasst: Sie haben meist 5 Akte mit entsprechender Szenengestaltung, sie scheinen im Personenverzeichnis Orte, Zeit und auftretende Personen präzise zu benennen und auch im Titel verlässliche Informationen zum Thema, zur Handlung oder zur Hauptfigur zu liefern. Aber man täuscht sich. Stattdessen stiftet Lenz Verwirrung. Manchmal geschieht dies subtil, sodass sich nur die Atmosphäre eines Unheimlichen oder der Eindruck einer nicht fassbaren Störung einstellt. Gern greift er aber auch zu rabiaten Mitteln, die in ihrer ausgestellten Effekthascherei geradezu abstoßend wirken können. Beispielsweise gibt es mitunter so viele Handlungsfäden, dass die Zuschauenden vermeintliche Hauptfiguren immer wieder aus dem Fokus verlieren, so im Hofmeister. Eine Haupthandlung, wie sie durch einen Stücktitel wie Der Neue Menoza oder Geschichte des cumbanischen Prinzen Tandi suggeriert wird, wird fragmentiert von nahezu unzähligen Nebenhandlungen. Die Handlungsfäden laufen oft nicht chronologisch, sondern parallel, was eine Übersicht erschwert. Überdies gehen Figuren nicht nur im Wirrwarr der gezeigten Ereignisse, im ständigen Ortswechsel und innerhalb der unsicheren Chronologie verloren; sie treten auch wie aus dem Nichts auf und verschwinden plötzlich und kommentarlos.
Auch die Sprache der Lenz’schen Figuren ist von Brüchen durchzogen. Stumme Gebärden, abbrechende oder grammatikalisch gestörte Sätze sowie viele Gedankenstriche und Auslassungspunkte durchlöchern die Sprache und spiegeln eine tiefe Verunsicherung der Figuren. Sprache gibt hier nur eingeschränkte, aus jedem sinnstiftenden Zusammenhang herausgelöste Perspektiven wieder; jede Figur spricht von ihrem Gesichtspunkt aus.[30] Eine wirkliche Verständigung zwischen ihnen erscheint unmöglich.
Diese kurzen Bemerkungen können nur ein Anfang sein, eine Einladung für eine theaterwissenschaftliche Forschung zum Theater von Jakob Lenz. Die anschließenden Beiträge wollen weitere, neue Perspektiven eröffnen.

  1. Jakob Michael Reinhold Lenz: Brief an Friedrich Wilhelm Gotter, Kehl, Januar 1776, in: Ders.: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Sigrid Damm. München, Wien 1987 [im Folgenden: WuBr 1-3], Bd. 3, S. 368.
  2. Lenz: „Anmerkungen übers Theater“, in: WuBr 2, S. 641-671, hier S. 642.
  3. Ebd., S. 642-644.
  4. Ebd. S. 670.
  5. Siehe Julia Freytag, „Dramen und Dramenfragmente“ [Art.], in: Dies./Stephan, Inge/Winter, Hans-Gerd. (Hg.): J.M.R. Lenz-Handbuch. Berlin/Boston, S. 47-128.
  6. Siehe Fn. 1.
  7. Jacob Michael Reinhold Lenz: Moskauer Schriften und Briefe. Textband [im Folgenden: MS] und Kommentarband [im Folgenden: Tommek, KB], herausgegeben von Heribert Tommek. Berlin 2007.
  8. Lenz: [„So soll ich dich verlassen, liebes Zimmer“], in: WuBr 3, S. 206.
  9. Dorothea Lenz an ihren Sohn, Dorpat, im September 1775, in: WuBr 3, S. 339.
  10. Zu Lenz’ Biographie siehe zuletzt Heribert Kraft: J.M.R. Lenz Biographie. Göttingen 2015. Einen handlichen Überblick bietet die „Chronik“ der (nicht mehr existierenden) Forschungsstelle Lenz unter http://www.jacoblenz.de/chronik/index.html (Aufruf am 31.05.2018).
  11. Lenz an Sophie von La Roche, Straßburg Juli 1775, in: WuBr 3, S. 327 und S. 325.
  12. Siehe Judith Schäfer: »… da aber die Welt keine Brücken hat …«: Dramaturgien des Fragmentarischen bei Jakob Michael Reinhold Lenz. Paderborn 2016, S. 80, Fn. 270.
  13. Jakob Michael Reinhold Lenz: Pandämonium Germanikum. Eine Skizze. Synoptische Ausgabe beider Handschriften. Mit einem Nachwort herausgegeben von Matthias Luserke und Christoph Weiß. St. Ingbert 1993, S. 54 ff.
  14. Lenz: „Anmerkungen übers Theater“, S. 653.
  15. Zum Problem der Perspektive und des Standpunktes bei Lenz siehe Schäfer: Dramaturgien des Fragmentarischen, S. 70 ff. (bes. S. 75 ff.), Rector, Martin: „Optische Metaphorik und theologischer Sinn in Lenz’ Poesie-Auffassung“, in: Hill, David (Hg.), J.M.R. Lenz: Studien zum Gesamtwerk, S. 11-26, Leidner, Alan C.: „The Dream of Identity: Lenz and the Problem of Standpunkt“, in: The German Quarterly, Cherry Hill, N.J. 59/1986 (Nr. 3), S. 387-400.
  16. Lenz: „Über die Soldatenehen“, in: WuBr 2, S. 787-827, hier S. 807. Allerdings ist wichtig, dass Lenz diese Positionierung nicht als Dramatiker, sondern innerhalb einer Reformschrift formuliert. Dichtung ist für ihn jedoch untrennbar mit einem sozialen Anliegen verbunden, was sich schon allein aus Titel und Inhalt der meisten seiner Dramen ablesen lässt.
  17. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: „1440 – Das Glatte und das Gekerbte“, in: Dünne, Jörg/ Günzel, Stephan (Hg.): Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2006, S. 434-446.
  18. „Im gekerbten Raum werden Linien oder Bahnen tendenziell Punkten untergeordnet: man geht von einem Punkt zum nächsten. Im glatten Raum ist es umgekehrt: die Punkte sind der Bahn untergeordnet. […] Im Glatten wie im Eingekerbten gibt es Punkte des Stillstands und Bahnen; aber im glatten Raum reißt die Bahn den Stillstand fort […]“, heißt es bei Deleuze/Guattari (ebd., S. 436 f.). Lenz trifft eine ebenfalls topologisch-poetologische Aussage über seine Dramen, die sich mit dieser zitierten vergleichen ließe: „Es gibt zweierlei Gärten, eine die man beim ersten Blick ganz übersieht, die andere da man nach und nach wie in der Natur von einer Abwechselung zur andern fortgeht. So gibt es auch zwei Dramata, meine Lieben, das eine stellt alles aufeinmal und aneinanderhangend vor und ist darum leichter zu übersehen, bei dem andern muß man auf- und abklettern wie in der Natur.“ (Lenz: „Für Wagnern“, in: Ders.: WuBr 2, S. 673) Das übersichtliche, mit einem Blick überschaubare Drama – aus anderen Schriften dieses Zusammenhangs wird ersichtlich, dass Lenz zeitgenössische klassische Dramen meint – mit seinen festen Akteinteilungen, ihren vorhersagbaren Höhepunkten und Peripetien sowie (tragischen) Auflösungen steht einem Drama gegenüber, für das nicht der (Über-)Blick, sondern die Bewegung, die Beweglichkeit der Rezipierenden ausschlaggebend ist. Auch hier gibt es ‚Punkte‘, aber sie laden nicht zum stillgestellten Sehen, sondern zur nächsten Bewegung ein. Zunächst scheint es, als ließe sich Lenz’ Bild vom zweitgenannten Drama exakt auf den gekerbten Raum übertragen, aber dieser Eindruck täuscht. Eben weil sich auch auf dem erreichten Punkt wieder keine Übersicht darstellt, diese vielmehr zum ‚Weiterklettern‘ auffordert, um so „von einer Abwechselung zur anderen fort[zugehen]“, geht es weniger um diese Punkte – z.B. Szenen, Akte, Haupthandlungen oder Hauptfiguren – als vielmehr um die alles umgreifende Bewegung: Das Ensemble der Handlungen, Figuren und Räume, aus deren gemeinsamer Bewegung sich erst das Drama und das dramatische Pozential bei Lenz ergibt. Es „ist ein Raum, der durch örtlich begrenzte Operationen mit Richtungsänderungen geschaffen wird. […] Er ist eher eine haptische als eine optische Wahrnehmung. […] Es ist eher intensiver als ein extensiver Raum, ein Raum der Entfernungen und nicht der Maßeinheiten. Intentives spatium anstatt extensio.“ (Deleuze/ Guattari, S. 437, Hervorh. i.O.)
  19. Lenz: An Friedrich Wilhelm Gotter, Kehl, Januar 1776, in: WuBr 3, S. 368.
  20. Lenz: An Friedrich Wilhelm Gotter, Straßburg, Ende November 1775, in: WuBr 3, S. 355.
  21. Lenz: An Friedrich Wilhelm Gotter, 10. Mai 1775, in: WuBr 3, S. 317.
  22. Lenz: An Herder, November 1775, in: WuBr 3, S. 353.
  23. Lenz: An Sophie von La Roche, Straßburg Juli 1775, in: WuBr 3, S. 325 f.
  24. Die folgenden Passagen sind teilweise übernommen aus: Judith Schäfer: „Fragment“, in: Freytag/Stephan/Winter (Hg.): Lenz Handbuch, hier S. 472-474.
  25. Lenz: „Über Götz von Berlichingen“, in: WuBr 2, S. 637-641, hier S. 637.
  26. Vgl. Lenz: „Über die Natur unseres Geistes“, in: WuBr 2, S. 619-624, hier S. 619.
  27. Lenz: „Rezension des Neuen Menoza“, in: WuBr 2, S. 699-704, hier S. 703.
  28. Ebd.
  29. Greiner, Bernhard: Die Komödie. München 1992, S. 185.
  30. Greiner, S. 189.

Theater | Räume in Bewegung. Zur Konzeption der Schauplätze in Lenz’ Dramen

„Ich zimmere in meiner Einbildung ein ungeheures Theater, auf dem die berühmtesten Schauspieler alter und neuer Zeiten nun vor unserm Auge vorbeiziehen sollen.“[1] Mit diesen Worten leitet Jakob Michael Reinhold Lenz seine Anmerkungen übers Theater (1774) ein. So wie Lenz seinem damaligen Publikum eine Vorstellung von Bühnen und Theaterformen vor Augen führen wollte, wird im Folgenden versucht, Lenz’ Vorstellung von Bühnenräumen zu erfassen und darzustellen. Es soll dabei gezeigt werden, wie vielgestaltig sowie komplex diese sind und vor welche Herausforderungen sie einen (möglichen) Zuschauer[2] stellen.

In Lenz’ Vorstellung ist die Welt schraubenförmig. Der Mensch vermag sie, so Lenz, mit seinem „graden Blick“ nicht in ihrer Ganzheit wahrzunehmen,[3] sondern nur Teile, unzusammenhängende Bruchstücke. Er könne die Welt als solche nicht fassen und suche darum nach Brücken, die sie nicht habe.[4] Es stellt sich die Frage, in welches Verhältnis der Mensch sich dann überhaupt produktiv zur Welt setzen kann. Lenz’ Antwort ist: „Er nimmt Standpunkt – und dann muß er so verbinden.“[5] Ursprünglich formuliert er dies als Forderung an den Dichter, der die Welt nachahmen will. Doch erscheint die Standpunktnahme als eine generelle Notwendigkeit, die dem Dichter wie auch den Rezipierenden und schließlich allen Menschen eine Perspektive, einen Blick auf die Welt ermöglicht.[6] Von diesem Punkt aus sei man in der Lage, Verbindungen zu schaffen, Brücken zu bauen. Für einen kurzen Augenblick kann die Welt ein wenig fassbarer, in einem gewissen Grad zusammenhängend erscheinen.

Diese Vorstellungen von einer schraubenförmigen Welt und notwendiger Standpunktnahme bilden den Grund für bzw. von Lenz’ Schauplätzen. Denn diese sind mehr als ‚nur‘ Schau-Plätze: Er entwirft in seinen Dramen Räume, die den Blick eines Zuschauenden verwirren, ihm eine alles durchdringende Wahrnehmung verwehren. Auf der Bühne wird die Welt ‚zurückgespiegelt‘[7] und darum verändert sie sich ständig: Lenz’ Bühne ist leer, dunkel, still und überfüllt, grell ausgeleuchtet, chaotisch – sie formt Räume in Bewegung.

In der Forschung wurden die Raumkonzeptionen in Lenz’ Dramen noch nicht ausreichend erkundet, sie existieren nur in kurzen Einzelbetrachtungen. Georg-Michael Schulz beispielsweise ist der Überzeugung, dass Lenz Räume nicht wichtig sind, da er meist nur Ortsangaben verwende und die Spielorte (die Schulz mit Räumen gleichsetzt) selbst nicht ausgestalte.[8] Dass die Ortsangaben bedeutungstragend sein können, wird in Eva Maria Inbars Betrachtung deutlich: Gerade im Wechsel der Orte bzw. der durch Nennung (und Gestaltung) der Orte evozierten Räume werden diese ausdrucksfähig; sie zeigt, dass in Lenz’ Dramen Räume, d.h. Handlungsorte Figuren charakterisieren können und nennt sie dementsprechend „charakteristische“ bzw. „sprechende“ Räume.[9] Bei Günter Niggl ist die Rede von „erweiterten Kostümen [der Figuren; V.H.]“.[10] Neben Raum als Charakteristikum von Figur und Handlung liegt ein anderer wissenschaftlicher Schwerpunkt auf dem Status des Lesenden und seines Umgangs mit Lenz’ fragmentarischen Regiebemerkungen. So stellt Anke Detken mit Blick auf die in der Forschung stark diskutierte Szene im Neuen Menoza, in der Prinz Tandi eine Rute im Gartenhaus abbricht,[11] fest, dass Lenz „gar nicht auf die Beschreibung eines realen Raumes aus ist, sondern einen imaginierten Raum evoziert.“[12] Weiter erklärt sie, dass „die vollständige Imagination […] durch wenige Eckdaten beim Leser in Gang“ gesetzt werde.[13]

In der folgenden Untersuchung soll allerdings nicht primär von Lesenden ausgegangen werden, sondern von Zuschauenden. Gerade die Zuschauenden sehen sich in Anbetracht der Lenz’schen Bühne einer viel größeren Herausforderung ausgesetzt als die Lesenden. Denn anders als ein Zuschauer seiner eigens imaginierten inneren Bühne wird der Blick eines Theaterzuschauers von dem Geschehen auf der Bühne gelenkt und irritiert. Während der Leser schwarzen Schriftzeichen auf einem weißen Blatt Papier folgt und die sukzessive Folge des Textes imaginativ nachvollzieht – auch wenn dies bereits eine Irritation mit sich bringen kann –, sieht sich der Zuschauer einem auf der (Guckkasten-)Bühne gezeigten lebendigen Raum gegenüber. Dieser Raum wird nicht nur durch Ortsangaben und Ausgestaltung seines Interieurs entworfen, sondern vielmehr entsteht er immer wieder aufs Neue durch die Bewegungen von Körpern und Dingen. Und hier liegt ihre Schwierigkeit und Besonderheit: Der Zuschauende kann zwar vereinzelte Bewegungen von Figuren und Dingen in Raum und Zeit verfolgen, jedoch nicht den gesamten Bühnenraum des Lenz’schen Theaters mit seinen vielfältigen, ‚schraubenförmigen‘ Bewegungen mit einem Blick erfassen. Angesichts dieser Theaterkonzeption wird die Standpunktnahme unentbehrlich: „Lenz’ Dramaturgie und unaufhörlich bewegte Bilder fordern den Zuschauer […] auf, seinen eigenen Blick und Standpunkt zu prüfen.“[14] Dies soll nun anhand zweier Beispiele gezeigt werden.

Eine erste Betrachtung ist den Räumen des Pandämonium Germanikum (1775) gewidmet. In dem von Lenz als „Skizze“[15] bezeichneten Drama trifft die Figur „Lenz“ auf verschiedene Größen des zeitgenössischen und vergangenen Literaturbetriebs, u.a. auf Gellert, Rabener, Wieland, Goethe, Shakespeare, Molière, Rousseau. Inhaltlich stellt es somit die Standpunktnahme der Figur Lenz, die „Mahler der menschlichen Gesellschaft“[16] werden will, im literarischen Diskurs ihrer Zeit dar. Jedoch fällt sie aus dieser Zeit heraus: In der sechsten Szene des zweiten Akts präsentiert sie Klopstock, Herder und Lessing ihre Zeichnungen, die diese als „viel zu groß für [diese; V. H.] Zeit“[17] ansehen. ‚Viel zu groß‘ erscheinen auch die beiden Haupträume des Stücks, die die im 18. Jahrhundert gängige Guckkastenbühne sprengen, eine (damalige) Aufführung kaum denken lassen. Das Pandämonium Germanikum wird noch heute v.a. als „Literatursatire[,] zugleich poetisch formulierte Literaturanalyse, […] poetologische Programmschrift in dialogisierter Gestalt mit aufschlußreichen Bezügen zum gesamten Programmschrifttum der Sturm-und-Drang-Periode“ gelesen.[18] Als ein Text, dem szenisches Denken und eine Theaterbühne eingeschrieben ist, wird es in der Forschung jedoch meist nicht gelesen. Im Folgenden möchte ich dieses Stück darum in seinen Bezügen zum Theater, nicht zu seiner literarischen Poetologie, betrachten und es als Theatertext ansehen.

Ort des ersten Akts ist „[d]er steil’ Berg“.[19] Diesen Berg beschreibt Lenz nicht als Kulisse, sondern konzipiert ihn plastisch: Auf ihm wird herumgeklettert, er wird von den Figuren Goethe und Lenz bestiegen, aber von anderen auch heruntergerollt, Gespräche finden über mehrere Bergplateaus hinweg statt.[20] Zudem wird er von verschiedenen Perspektiven gezeigt, die innerhalb der ersten Szene mehrmals geändert werden.[21] Mit dem „steil’ Berg“ nimmt Lenz die Vorstellung des Musenbergs auf und verwendet ein im Sturm und Drang, aber auch schon in der Renaissance gängiges Bild, „die Metapher der Bergbesteigung“.[22] Auf der einen Seite ist diese Metapher nach Werner Rieck Ausdruck des Geniekults der Stürmer und Dränger,[23] auf der anderen Seite verdeutlicht sie für Fritz Wefelmeyer das Individuelle, die „Exponiertheit des Selbst“[24]. Die Szene der Lenz’schen Bergbesteigung kann aber auch als ein Akt des Standpunkt-Einnehmens gelesen werden: Der Berg hat viele Zugänge, von denen sich die Figur Lenz einen auswählen muss; er ist nicht nur steil, sondern hat auch bewachsene Wege; Regen erschwert Lenz zusätzlich den Aufstieg.[25] In diesem Kontext muss er „auf allen Vieren“ klettern[26], muss seine ganze Körperkraft aufwenden und sieht sich einem kaum überwindbaren Berg gegenüber:

L[enz] […] Himmel! bist du so erboßt über einen handhohen Sterblichen, der nichts als sich umsehen will. […] (klettert von neuem)
[…] Wieder eine andere Seite des Berges. Lenz versucht zu stehen.
L[enz]. Gottlob daß ich einmal wieder auf meine Füsse kommen darf. Mir ist vom Klettern das Blut in den Kopf geschossen. O so allein. Daß ich stürbe! Ich sehe hier wohl Fustapfen, aber alle hinunter, keinen herauf. Gütiger Gott so allein[.][27]

Der Mensch wirkt gegenüber dem Berg mickrig; ihm wird ein allumfassender Blick verwehrt. Nur die Standpunktnahme, das Erklimmen des Bergs, ermöglicht ihm einen Blick auf die Welt:

G[oethe]. Thatst du die Reise für deinen Kopf?
L[enz]. Wohl für meinen. Alle kluge und erfahrne Leute wiederriethens mir. Sie sagten, ich suche zu sehr, was zum Gutseyn gehöre und versäume darüber das Seyn. Ich dachte seyd! und ich will gut seyn.[28]

Von diesem Punkt aus ist es für die Figur Lenz möglich, das zu finden, was sie sucht – nämlich menschliche Erkenntnis, das „Gutseyn“ des Menschen, das, was den Menschen ausmacht. Eine Erkenntnis ist die folgende: Der erst kriechende Mensch muss wie Lenz „versuch[en] zu stehen“.[29] Erst dann kann er sich als Individuum definieren und gelangt zu einer Überlegenheit gegenüber dem kriechenden Menschen, der Tieren vergleichbar ist. So sind Nachahmer und Journalisten, auf die Goethe und Lenz von ihrer erhöhten Stelle herunterblicken, „Ameisen“ und „Schmeißfliegen“.[30] Mit der Besteigung des Berges, also mit der Standpunktnahme ist die menschliche Erkenntnis, die Definierung als Individuum nicht abgeschlossen, denn die Welt, der Mensch selbst ist in Bewegung begriffen:

Unsere Seele ist ein Ding, dessen Wirkungen wie die des Körpers sukzessiv sind, eine nach der andern. […] Woher die Unruhe, wenn Sie hie und da eine Seite der Erkenntnis beklapst haben, das zitternde Verlangen, das Ganze mit Ihrem Verstande zu umfassen […]. Der Schöpfer hat unserer Seele einen Bleiklumpen angehängt, der wie die Penduln an der Uhr sie durch seine niederziehende Kraft in beständiger Bewegung erhält. Anstatt also […] auf diesen sichern Freund zu schimpfen […] [,] ist er, hoff ich, ein Kunststück des Schöpfers, all unsere Erkenntnis festzuhalten, bis sie anschaulich geworden ist.[31]

Der Mensch muss immer wieder neu Standpunkt beziehen, muss mit der Bewegung der Welt, mit seiner eigenen körperlichen Natur mitgehen.

Dass der Standpunkt kein fester und dauerhaft festzumachender Punkt ist, wird auch im Pandämonium Germanikum fassbar: Hier sieht sich die Figur Lenz so wie der Zuschauer einer neuen Umgebung ausgesetzt, die ein gänzlich anderes Raumkonzept bedeutet und eine enorme Wahrnehmungsbereitschaft erfordert. Zum zweiten Akt verändert sich der Schauplatz in den „Tempel des Ruhms“.[32] Dort lässt der Autor Lenz bedeutende deutsche Schriftsteller des 18. Jahrhunderts mit ihren literarischen Standpunkten auftreten: Der empfindsame Gellert singt geistliche Lieder, der Satiriker Rabener spiegelt Menschen; Gleim, Wieland und Jakobi zeigen sich als Anakreontiker und eine neue Generation um Goethe, Herder und Lenz will die Welt verändern – um nur ein paar wenige aufzuzählen.[33] Rieck weist daraufhin, dass „[s]elbst Szenenbilder, Kostümierung und Requisiten […] im Dienste profilierter literarischer Positionensbestimmung [sic]“ stehen.[34] So gehören zu Gellert Tränen und Engel, eine Leyer zur Anakreontik; Jacobi wird sogar „auf einer Wolke […], wie ein[…] Amor gekleidt“ heruntergefahren.[35] Zum Inventar des Tempels gehören ebenfalls französische Schriftsteller: Lafontaine, Molière sowie Rousseau sitzen „hinter einem Gitter auf dem Chor“[36] und kommentieren wie Zuschauer das Geschehen. Und als ob der Raum nicht schon voll genug wäre, rennen Mengen von Schaulustigen quer über die Bühne,[37] Papierzettel mit literarischen Skizzen fliegen im Raum herum.[38] Im „Tempel des Ruhms“ herrscht ein großes Durcheinander von Personen, Gegenständen, Ideen. Das zusammenhaltende Medium ist der sakrale Tempel, der ruhend um das Geschehen zu stehen scheint. Doch dies ist ein Trugschluss, denn er ist v.a. als Zeitraum zu verstehen, als „Säkulum“[39] alter Vorstellungen von Literatur, in dem Vergangenes, Gegenwärtiges und Künftiges (Schreiben) aufeinander treffen. Durch den Einsatz verschiedener Zeitdimensionen wird die chronische Zeit aufgehoben, an ihre Stelle treten Dehnungen, Raffungen und rückwärts gerichtete Zeitläufe.[40] Diesem bewegten Durcheinander bietet der Tempel einen (Bühnen-)Raum. Seine verworrene zeitliche Bewegung erinnert dabei nicht zuletzt an die Logik eines Traums: Dass das gesamte Drama auch als Traumraum gelesen werden kann, legt die letzte Anmerkung, „Lenz (aus dem Traum erwachend, ganz erhitzt)“[41], nahe.

In diesem Raum sehen sich die Zuschauenden einer Herausforderung gegenüber: Während der Blick im ersten Akt der Figur Lenz beim Aufstieg folgte, wird er im „Tempel des Ruhms“ von Bewegungen gelenkt, verwirrt: Erst folgt er einer Figur, wird jedoch im nächsten Moment einer anderen Bewegung gewahr, die sich sofort wieder auflöst, um einer nächsten Platz zu machen. Um in diesem bewegten Netz einen Überblick behalten zu können, müssen die Zuschauenden Standpunkt beziehen.[42] Der einzige Anhaltspunkt, an dem sie ihre Blicke festhalten können, bietet ihnen die Figur Lenz. Sie spiegelt die Zuschauenden des Stücks, denn sie schaut selbst zu, sieht sich wie sie einem lebenden und webenden Raum ausgesetzt, den sie nicht fassen kann. Von einem Winkel[43] aus, der „wie ein stiller und stillgestellter Rückzugsort“[44] wirkt, kann Lenz beobachten, verstehen, zeichnen. An diesem ruhigen Ort, der sich abseits der Gesellschaft und des Trubels befindet, finden die Figur Lenz und die Rezipierenden einen Orientierungspunkt, von dem sich eine Perspektive auf den Literaturdiskurs eröffnet.

Das Fragment Der tugendhafte Taugenichts stell (1775/76) stellt ähnlich wie das Pandämonium Germanikum in Bewegung begriffene Räume vor. Es handelt von David, der aus der höfischen Gesellschaft seines Vaters herausfällt: Er entspricht weder dessen Schönheitsideal noch seinem Bildungsanspruch. Darum flüchtet er sich in die Gesellschaft von Soldaten und zieht in den Krieg. Diese Kriegsszene beginnt damit, dass sich die österreichischen und preußischen Truppen einander gegenüberstehen. Es ist ein stillstehendes Theatertableau, in dem nur David „für sich[45] spricht, die Falschheit am Hofe beschreibend. Daraufhin verändert sich das Bild:

Es wird in der Ferne unvernehmlich kommandiert. Das erste Glied kniet und schießt. Indem es aufsteht und ladt, schießen die Österreicher. David fällt. Es wird von beiden Seiten geschossen, die Österreicher dringen näher, die Preußen fliehen, sie verfolgen sie. Der Walplatz wird leer außer einigen Toten und schwer Verwundeten unter denen David ist.[46]

Bereits der Anfang dieser Szene ist vielschichtig: Es ist die Rede von knienden, dann von aufstehenden Soldaten, von schießenden und fallenden, schließlich von verfolgenden und fliehenden. Während der Text eine klare, durchgeplante Choreographie vorgibt, sehen die Zuschauenden wahrscheinlich vor allem ein großes Durcheinander, in dem Stillstand und Bewegung ineinander übergehen, sich Übersicht und Chaos, Ordnung und rohe Gewalt abwechseln. Der Anhaltspunkt, an dem die Zuschauenden ihren Blick festhalten könnten, scheint David zu sein, der vom Text immer wieder in den Vordergrund gestellt wird. Es stellt sich aber die Frage, ob dieser tatsächlich im Vordergrund des Geschehens auftritt oder in der Kriegsszene untergeht. Ein Hinweis zur Klärung dieser Frage könnte der Fortgang der Szene bieten: Johann, Davids Diener, tritt auf und sucht seinen Herrn. Er hebt eine Leiche nach der anderen auf, kann David jedoch zwischen all den Toten nicht entdecken.[47] Das Nicht-Sehen-Können ist in dieser Szene allgegenwärtig, gerade weil der Raum so unübersichtlich ist – auch in seiner vermeintlichen Leere und Stille. Die Bühne aber ist weder leer noch still. Es liegen mehrere Leichen auf der Bühne; still im Sinne von lautlos ist es ebenfalls nicht: Das Sprechen der Figuren durchbricht die Ruhe. Zudem beschreibt eine Anmerkung:

Man hört trommeln in einiger Entfernung. Im Grunde des Theaters sieht man Handgemenge von Preußen und Österreichern. Die Österreicher fliehen, die Preußen verfolgen.
David wälzt sich noch einmal und schreit mit unterdrücktem Schmerz[.][48]

Wie diese Anmerkung nahelegt, sind Geräusche vorhanden. Gleichzeitig gibt sie auf die Frage, warum die Szenerie mit dem Adjektiv „still“ beschrieben wird, eine Antwort: Das Auditive ist vom Visuellen getrennt. Es ertönt, abgesehen von Davids Schrei, von außerhalb der Bühne („Man hört trommeln in einiger Entfernung“), lässt das Visuelle im Vordergrund wie ein lautloses Bild wirken. Diese Kriegsszene fordert in ihrer komplexen visuellen Anlage die Zuschauenden heraus: Sollen sie ihren Blick auf eine Bewegung von rechts oder links, auf den Hinter- oder Vordergrund der Bühne lenken oder vielleicht doch dahin, von wo sie ein Geräusch vernommen haben? Sie werden ständig irritiert und können keinen Überblick behalten. Weil diese Szene so komplex ist, erscheint eine (zeitgenössische) Aufführung kaum denkbar. Doch auch hier könnte eine Standpunktnahme dem Zuschauenden für einen kurzen Moment einen zusammenfügenden Blick ermöglichen.

Mit der Standpunktnahme verbindet sich ein weiterer Aspekt. In der Kriegsszene treten zwei einfache Bauern auf. Während der erstauftretende Bauer David aus materillen Gründen umbringen will, hindert der zweite Bauer den ersten am Mord:

Zweiter Bauer wirft den ersten zu Boden: Du Schwerenotshund! ich tret dich mit Füßen, wo du nit den Augenblick kommst und mir den Menschen hilfst zu recht bringen. Du Hund, hast noch in deinem Leben kein Vieh vom Tod errettet, geschweig einen Menschen, du verdienst das nit, denn du bist wie ein wildes Vieh du.[49]

In der Rede des zweiten Bauern sind die beiden Begriffe „Mensch“ und „Vieh“ bzw. „Hund“ auffällig. Wie im Pandämonium Germanikum liegt eine Unterscheidung zwischen Mensch und Tier vor. Der Prozess der Standpunktnahme hat etwas mit Erkennen zu tun und scheint darüber hinaus auch notwendig, um sich als Mensch, als Selbst zu definieren. Besonders im Tugendhaften Taugenichts spielen der humane Umgang miteinander und die Selbstdefinierung als Mensch eine große Rolle: David kann sich nicht am Hof seines Vaters finden. Dort befindet er sich inmitten des schönen Scheins, einer hierarchisch geordneten Welt, die sich nur über „symbolische[…] Fiktionen, wie Vaterland, Ehre, Moral“[50], über (Körper-)Zeichen und Bilder definiert. David wird von seinem Vater als niederer Mensch behandelt, weil er dessen Ansprüchen nicht gerecht wird. Aus dieser Welt flüchtet David in den Krieg und erfährt Menschlichkeit durch einen Bauern. Dies ist nicht nur für den Fortgang der Handlung bedeutsam, sondern auch für die Rezipierenden:

Der symbolische Kosmos regelt unser Leben, und aufgrund der symbolischen Fiktionen […] verlieren Menschen oft nicht nur ihr soziales, sondern auch ihr leibliches Leben. In den Dramen von Lenz wird das Sonderbare daran, dass sich eine Gemeinschaft durch den Bezug auf symbolische Funktionen vergesellschaftet, als Erfahrung zugänglich. Das Spiel auf der Bühne bringt bei Lenz die alltägliche Verfasstheit der symbolischen […] Ordnung in die Krise.[51]

Gerade die Standpunktnahme ermöglicht ihnen, sich als individuelle Menschen innerhalb einer überindividuellen Ordnung, und wie diese in Gewalt umschlagen kann, zu erkennen.

Aus der vorliegenden Untersuchung kann geschlossen werden, dass die Räume, die Lenz in seinen Dramen konzipiert, nicht bloß Handlungsträger oder Schauplätze sind. Lenz spiegelt in seinen Räumen die von ihm wahrgenommene Welt zurück. In seiner Vorstellung ist diese eine schraubenförmige, brückenlose und zugleich eine vor dem Blick des Menschen (symbolisch) konstruierte. Sie ist nicht in ihrer Ganzheit wahrzunehmen, sondern wird nur durch einen ‚graden Blick‘ unzulänglich erfasst. Diesen ‚graden Blick‘ versucht Lenz zu irritieren. Er fordert die Zuschauenden auf, stattdessen immer wieder einen neuen Standpunkt einzunehmen. Im Pandämonium Germanikum führt die Figur Lenz ihre Standpunktnahme im literarischen Diskurs vor: Erst können die Zuschauenden ihr dabei zusehen, wie und mit wie viel Arbeit sie den „steil’ Berg“ emporsteigt, ihren eigenen Standpunkt einnimmt. Im „Tempel des Ruhms“ angelangt, sehen sich die Figur Lenz sowie die Zuschauenden einem Durcheinander gegenüber: Dinge fliegen umher, Figuren rennen über die Bühne, Ideen stehen im Raum. Hier müssen nun die Rezipierenden Position beziehen, um einerseits einen Überblick über das Bühnengeschehen behalten zu können, das andererseits bzw. zugleich auch die ‚Literatur-Szene‘ als literarischen Diskurs sichtbar macht, zu dem die Zuschauenden wiederum selbst kritisch Stellung beziehen können. Dabei hilft ihnen der stille Winkel der Figur Lenz. Die Kriegsszene im Tugendhaften Taugenichts ist ähnlich verschachtelt, lässt einen alles durchdringenden Blick nicht zu: Stillstand und Bewegung gehen in einer komplexen Choreographie ineinander über, das Visuelle und Auditive werden voneinander getrennt, Gewalt und Erkenntnis wechseln sich ab. In diesen Räumen wird Standpunktnahme notwendig.

  1. Lenz, Jakob Michael Reinhold: „Anmerkungen übers Theater“, in: Ders.: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. v. Sigrid Damm. Frankfurt am Main, Leipzig 2005 [im Folgenden WuBr 1-3], Bd. 2, S. 641-671, hier S. 642.
  2. Der Zuschauer ist ein gedachter, ein möglicher, kein realer Zuschauer. Lenz’ Theatertexte wurden bereits zu seiner Zeit kaum bis gar nicht aufgeführt, worauf Anke Detken verweist. Anke Detken: Im Nebenraum des Textes. Regiebemerkungen in Dramen des 18. Jahrhunderts. Tübingen 2009, S. 228. In der vorliegenden Analyse soll die Zuschauerkonzeption, wie sie Lenz gedacht haben könnte bzw. wie sie sich aus den Theatertexten heraus verstehen lässt, herausgearbeitet werden.
  3. Lenz: [Notiz auf einem Briefentwurf], in: Biblioteka Jagiellońska Kraków, Lenziana IV, Blatt 2. Zit. n. Judith Schäfer: »… da aber die Welt keine Brücken hat …« Dramaturgien des Fragmentarischen bei Jakob Michael Reinhold Lenz. Paderborn 2016, S. 10. Siehe zur Standpunktnahme in einer Welt ohne Brücken dort, v.a. S. 64-96.
  4. Vgl. Lenz: „Anmerkungen übers Theater“, S. 645
  5. Ebd., S. 648.
  6. Vgl. ebd., S. 655. Zur Standpunktnahme des Dichters siehe dazu in der vorliegenden Ausgabe Johannes F. Lehmann: „J.M.R. Lenz’ Poetologie einer Gegenwartsdramatik. Die Anmerkungen übers Theater und Der tugendhafte Taugenichts“.
  7. „Den Gegenstand zurückzuspiegeln, das ist der Knoten, die nota diacritica des poetischen Genies“. Lenz: „Anmerkungen übers Theater“, S. 648.
  8. Vgl. Schulz, Georg-Michael: „‚Läufer läuft fort.‘ Lenz und die Bühnenanweisung im Drama des 18. Jahrhunderts“, in: David Hill (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz. Studien zum Gesamtkunstwerk. Opladen 1994, S. 190-201, hier S. 192.
  9. Inbar, Eva Maria: Shakespeare in Deutschland. Der Fall Lenz. Tübingen 1982, S. 233 ff.
  10. Niggl, Günter: „Neue Szenenkunst in Lenzens Komödie Die Soldaten“, in: Études Germaniques. 52/1 (1997), S. 99-111, hier S. 100.
  11. Vgl. Lenz, Jakob Michael Reinhold: „Der Neue Menoza oder Geschichte des Cumbanischen Prinzen Tandi“. Eine Komödie, in: Ders.: WuBr 1, S. 125-190, hier S. 137.
  12. Detken, S. 245.
  13. Ebd., S. 246.
  14. Schäfer, S. 16.
  15. Lenz, Jakob Michael Reinhold: Pandämonium Germanikum. Eine Skizze. Synoptische Ausgabe beider Handschriften. Hg. v. Matthias Luserke und Christoph Weiß (= Kleines Archiv des achtzehnten Jahrhunderts, 17). St. Ingbert 1993, S. 8. Ich beziehe mich im Folgenden auf die ältere Handschrift [H1].
  16. Ebd., S. 28.
  17. Ebd., S. 56.
  18. Rieck, Werner: „Poetologie als poetisches Szenarium. Zum „Pandämonium Germanicum“ von Jakob Michael Reinhold Lenz“, in: Lenz-Jahrbuch 2 (1992), S. 78-111, hier S. 79.
  19. Lenz: Pandämonium Germanikum, S. 10.
  20. Ebd., S. 10 ff.
  21. Darauf verweisen die Paratexte, die immer wieder „eine andere Seite des Berges“ evozieren und somit den Perspektivwechsel fassbar machen. Ebd.
  22. Wefelmeyer, Fritz: „Der scheiternde Künstler auf der Höhe mit ‚Bruder Goethe‘ und Zuschauer im Pandämonium Germanicum“, in: Hill (Hg.): Studien zum Gesamtkunstwerk, S. 141.
  23. Vgl. Rieck, S. 83.
  24. Wefelmeyer, S. 141.
  25. Lenz: Pandämonium Germanikum, S. 10.
  26. Ebd.
  27. Ebd., S. 10 ff.
  28. Ebd., S. 12.
  29. Vgl. ebd., S. 10.
  30. Ebd., S. 18, S. 24.
  31. Lenz: „Anmerkungen übers Theater“, S. 646 f.
  32. Lenz: Pandämonium Germanikum, S. 28.
  33. Ebd., S. 28 ff., S. 30 ff., S. 34 ff., S. 38, S. 52 ff.
  34. Rieck, S. 90.
  35. Lenz: Pandämonium Germanikum, S. 30, S. 32 ff., S. 36.
  36. Ebd., S. 28.
  37. Die Schaulustigen oder der „Hauffe[n]“ bringen eine weitere Dynamik auf die Bühne: Sie drängen sich zu bekannten Literaten, wie der „Hauffe[n] alter Weiber“ zu Gellert, um in der nächsten Szene wieder zerstreut zu werden und sich um einen anderen bekannten Dichter zu scharen, wie beispielsweise um Wieland. Vgl. ebd., S. 28 ff.
  38. Zettel und Skizzen werden von verschiedenen zeitgenössischen Dichtern angefertigt: Hagedorn malt Tiere auf eine schwarze Tafel, Gellert hält sich Zeichnungen „vor die Stirne“. Aber auch Lenz zeichnet Menschen. Es scheint, als ob alle auftretenden Dichter Zeichnungen und Skizzen anfertigen und dass diese Papiere im Raum verteilt herumfliegen. Zudem tauchen junge Leute auf und „[b]ringen mit Ungestüm Pappier her, Farben her, schmieren Figuren zusammen, heben die Pappiere hoch empor.“ Ebd., S. 28 ff., S. 58.
  39. Ebd., S. 60.
  40. Beispielsweise wird Gellerts literarischer Weg vom Fabeldichter über empfindsamen Lustspielschreiber bis zum Dichter ‚Geistlicher Lieder‘ im Zeitraffer dargestellt (S. 28 ff.), vgl. den Kommentar von Sigrid Damm, WuBr 1, S. 742. Eine zeitliche Umkehrung wird anhand Gleims literarischen Weg deutlich (vgl. S. 34): „Lenz kehrt die tatsächliche Reihenfolge in Gleims Schaffen um; er schrieb erst nach seiner anakreontischen Phase die volkstümlich-balladesken ‚Preußischen Kriegslieder in den Feldzügen von 1756 und 1757, von einem Grenadier‘ (1758).“ Damm, WuBr 1, S. 744. Dass die Zeit in gewisser Weise gedehnt wird oder stillsteht, zeigt sich im letzten Akt, in dem die Figur Lenz eine Gerichtsszene träumt (vgl. S. 58 ff.).
  41. Ebd., S. 60.
  42. Die Rolle der Zuschauenden angesichts des dargestellten Literaturdiskurses thematisiert auch Wefelmeyer: „Die Bestimmung der Realität […] ist erst noch die Aufgabe – und diese muß der Zuschauer selbst erfüllen. Das Bühnenstück hat ihm nur das Beispiel einer geistigen Aktivität, eines geistigen Prozesses gegeben: eben die Darstellung der Realität in Bildern. Wie diese Realität zu bewerten sei, ist nun von der eigenen Aktivität des Zuschauers abhängig.“ Wefelmeyer, S. 157.
  43. Lenz: Pandämonium Germanikum, S. 54.
  44. Schäfer, S. 80.
  45. Lenz, Jakob Michael Reinhold: „Der tugendhafte Taugenichts. Erste Bearbeitung“, in: Ders.: WuBr 1, S. 499-520, hier S. 516. Vgl. zur Analyse der Szene auch Schäfer, S. 120 ff.
  46. Lenz: „Der tugendhafte Taugenichts“, ebd., S. 516.
  47. Ebd., S. 516 f.
  48. Ebd., S. 517.
  49. Ebd., S. 518.
  50. Staatsmann, Peter: „Inszenierung des Realen. J.M.R. Lenz und die Bühne“, in: Text und Kritik 146 (2000), S. 16-26, hier S. 19.
  51. Ebd.

Poetologie | „Engel, Hure, Mademoiselle“. ‚Subjektiv-chorische‘ Zuschreibungen in Jakob Michael Reinhold Lenz’ „Die Soldaten“

Einar Schleef beschrieb ein Problem des Theaters einst wie folgt: „Drückende Erb-Last, daß Chor, Chor-Gedanke, Chor-Einigung nach Auffassung der deutschen Klassik Männersache sind. […] Die Einigung zu einem Chor, die Definition als Chor, […] setzt in bürgerlicher Auffassung den Ausschluß der Frau voraus […].“[1] Trifft diese Entzweiung von Männern und Frauen im Allgemeinen zu – und dies angesichts aktueller Debatten nach wie vor –, so ist doch, wie im Folgenden dargestellt sei, ihr Kern nicht ein bloßer Ausschluss des weiblichen Geschlechtes. Vielmehr könnte man sagen, dass es die Funktionalisierung des Weiblichen ‚aufgrund von‘ ist, die so vielen Figuren nicht nur auf Theaterbühnen, sondern auch in der dramatischen Literatur Unheil beschert.[2] Jene Funktionalisierung ist nicht lediglich eine vonseiten potenter, starker Männer, die in der Unterdrückung des Weiblichen ihr sexuelles Begehren erfüllen. Wenngleich dies wohl auch einen Anteil daran haben mag, ist es doch das ‚chorische‘ Kollektiv (das natürlich um diese Zeit trotz allem ein vorwiegend männliches ist), welches an den weiblichen Figuren eine für seine eigene Konstituierung notwendige Bedingung vollzieht, die nachstehend erläutert werden soll. Dabei erscheint eine beispielhafte Betrachtung von Jakob Michael Reinhold Lenz’ Die Soldaten (1776) geeignet. In diesem verbildlicht und versprachlicht Lenz an Mariane Wesener eine für ein Kollektiv unabdingbare Schwelle – schreibt ihr zu guter Letzt einen Bruch ein.

Die weiblichen Protagonistinnen der bürgerlichen Dramen sind schön. Und das nicht ohne Grund: Geht man von Immanuel Kants Analytik des Schönen (1790) aus,[3] dann ist ein Urteil über einen schönen Menschen eines, das aufgrund eines Gemeinsinns gefällt wird.[4] Diese von ihm so bezeichnete subjektive Allgemeinheit bedeutet „das Vermögen des Subjekts, nicht bloß privat und individuell, sondern im Namen des Kollektives zu urteilen: in seinem subjektiven Urteilen soziale Übereinstimmung zu verwirklichen.“[5] Die Notwendigkeit eines solchen Gemeinsinns liegt Kant zufolge in dem Ansinnen des ästhetischen Urteils als einem für alle geltenden. Er vermutet ein subjektives Prinzip, nach welchem allgemein bestimmbar ist, was Wohlgefallen hervorruft, das „gemeinschaftliche Gefühl“[6]. Kant präsentiert auf diese Weise das Prinzip des Gemeinsinns als Voraussetzung für die Fällung eines Geschmacksurteils über das Schöne als eine „bloße idealische Norm“.[7]
Ein Kollektiv braucht, um existieren zu können, einen Grund, ist eine Vereinigung ‚aufgrund von‘. Doch auch sein Fortbestehen liegt notwendigerweise in einem ständigen Kampf um seine Erhaltung. „Infolgedessen bleibt das Problem einer Re-Formierung der sozialen Formen und einer Re-Instituierung der Institutionen ständig virulent.“[8] Es sei davon ausgegangen, dass im Urteilen über das, was als schön bezeichnet wird, ein solches kollektiv(re‑)konstituierendes Moment vollzogen werden kann und dass daraufhin das Beurteilte zum Grund des Kollektivs verurteilt wird. Dies ist, so die nachstehende Argumentation, die Grundlage für eine Vielzahl dramatischer Werke, in denen durch ein ‚subjektiv-chorisches‘ Urteil über eine weibliche und schöne Figur um das Kollektiv gerungen wird. Dabei meint der Begriff des ‚subjektiv-chorischen‘ eben diese von Kant postulierte Subjektivität des Urteils, die dennoch auf eine vorgestellte Allgemeinheit bezogen ist und somit Basis des kollektivierenden Urteils ist. Dieses kommt nicht umhin, eine Objektivität einzufordern, die Kant so vehement verneint.
Um den Vollzug und die Bedingungen des ‚subjektiv-chorischen‘ Urteils fassbar zu machen, wird in der nachstehenden Analyse der Soldaten untersucht, welcher Bewegungen und Mechanismen sich Lenz bedient, um Mariane in ein Sprachbild zu bannen und sie, wenngleich nur subtil, immer wieder daraus zu befreien sucht.
Lenz Figur der Mariane Wesener ist qua Existenz eine Figur der Schwelle. Sie verbindet nicht nur die gesellschaftliche Sphäre der Stadt Lille mit der der dort nur temporär verweilenden Soldaten, sondern ist im wahrsten Sinne des Wortes eine Grenzgängerin. Völlig mobil repräsentiert sie mal das Innen, mal das Außen eines Kollektivs, das sich urteilend an, durch und aufgrund von ihr aufrichtet, aufrechtzuerhalten versucht. Dabei kommt, da Urteile zumeist verbal artikuliert werden, der Sprache eine besondere Funktion zu. Diese kann in ihrer Bildlichkeit, ihren Umschreibungen und Wiederholungsmöglichkeiten den Grund des Kollektivs ebnen, seine Aus- und Einschlusskriterien entfalten. Zur Veranschaulichung diene dabei die fünfte Szene im ersten Akt: Mariane kehrt nach einem unerlaubten Besuch der Komödie nach Hause zurück. Dorthin war sie mit dem Soldaten Desportes gegangen, der, wie die Leserinnen und Leser wissen, mit seiner Annäherung rein sexuelle Motive verfolgt. Zuhause angekommen, berichtet Mariane ihrem Vater Wesener von dem Besuch mit den Worten, sie werde von all dem Durcheinander in ihrem Kopf nicht schlafen können.[9] Wesener ist entsetzt und reagiert wütend auf den Ungehorsam seiner Tochter, er bezeichnet sie als „schlechte Seele“[10] und schickt sie auf ihr Zimmer. Gleichzeitig jedoch verteidigt er Mariane gegenüber dem Spott ihrer Schwester und schreibt ihr ein „edles Gemüt“[11] zu. In dieser Szene wird deutlich, wie Mariane einerseits die Schwelle zur Sphäre der Soldaten übertritt und andererseits weiterhin der bürgerlichen Sphäre angehört. Dies wird außerdem in den gegensätzlichen sprachlichen Zuweisungen deutlich, mit denen sie von ihrem Vater (und in anderen Szenen von anderen Figuren) bedacht wird. Diese haben, so die Hypothese, die Funktion der Manifestierung eines Urteils, auf welches sich das Kollektiv stützen kann.
Mariane erhält im Laufe der Geschehnisse so viele ihr von verschiedenen Seiten angetragene Zuschreibungen, dass ein Überblick oder Urteil über sie als Figur kaum mehr möglich ist. Fast ganz zu Beginn der Komödie, die so bezeichnenderweise den Titel Die Soldaten trägt, wird dem Leser Mariane durch das Urteil eines Soldaten präsentiert. Der Edelmann Desportes, welcher in französischen Diensten steht, ist die erste Figur, die Mariane als etwas benennt und so ein Urteil über sie fällt. Er spricht Mariane als eine „göttliche Mademoiselle“[12] an. Das Adjektiv göttlich in der Verbindung mit der Anrede Mademoiselle zeugt unmittelbar von der hier von ihm zugrunde gelegten kollektiven Vorstellung vom Wert der Tugendhaftigkeit der unverheirateten Mädchen, ihrer Unberührtheit und Sittsamkeit und kann als der eindeutige Beginn einer sexuellen Kommunikation aufgrund eines aus Desportes’ subjektiver Sicht allgemein geltenden Ideales verstanden werden. Der sich immer wiederholende Akt der Konstitution des Kollektivs ist damit durch den einer vermeintlichen Objektivierung vollzogen. Auf diese erste Zuschreibung folgen sodann weitere. Mariane: „göttlich“, „vollkommenstes Wesen“, „goldenes Marianel“, „liebstes Marianel“, „Geliebte“, „anbetungswürdige Mariane“.[13] Dieses innere Ideal wird objektiviert an Mariane, der Objektivierten, die ihre Identität für alle individuell Urteilenden durch die Repräsentation dessen erhält, was wiederum das Kollektiv konstituiert. Im performativen Vollzug des Schönheitsurteils wird infolgedessen dieser durch Mariane repräsentierte Gemeinsinn erst zum Grund des Kollektivs.
Durch Wesener, Marianes Vater, erfährt das Kollektiv eine weitere Stabilisation. Denn während Desportes und die Soldaten und überhaupt alle von der „Jungfer Mariane“ sprechen, bezeichnet Wesener seine Tochter zuweilen als ein „dummes Keuchel“ und prophezeit ihr, sie werde als „armes Maidel in der Leute Mäuler“ enden.[14] Im Gegensatz zu Desportes verbindet Wesener Mariane in ihrer Geschlechtlichkeit auch mit Adjektiven zu negativen Beschreibungsformeln. Das auf die Schwäche und das junge Alter Marianes hinweisende Keuchel wird dem Adjektiv dumm beiseitegestellt, das Geschlechtssubstantiv Mädel mit dem Adjektiv arm kontrastiert. Mariane wird auch vonseiten ihres Vaters subjektiv objektiviert, auch dieser geht von einem kollektiven Kontext aus, doch fällt sein Schönheitsurteil dergestalt aus, dass er Mariane jene Tugenden abspricht, die Desportes ihr zuschreibt. Mariane als der Gegenstand des Urteils fungiert also sowohl für Desportes als auch für ihren Vater als die Repräsentation der subjektiv als objektiv wahrgenommenen Kollektivnorm, die im Zuge ihrer Zuschreibungen den performativen Vollzug des Kollektivs durch einen subjektiven Chor der angesinnten Allgemeinheit ermöglicht. Dabei konstituiert Mariane dieses als Positiv und Negativ, die in und an ihr aufeinandertreffen und sich entgegenstehen. Mariane ist die Vollkommene wie auch die Unsittliche.
Anschließend an dieses Moment der Kollektivkonstitution findet eine weitere Grenzziehung statt, die in Anbetracht des Vorangegangenen die Funktion Marianes noch einmal verdeutlicht. Einige Soldaten und der zum Regiment gehörende Feldprediger diskutieren über das Schicksal der Prostituierten (I,4). Während der Soldat Haudy der Meinung ist, eine Hure würde immer zu einer solchen, setzt der Feldprediger Eisenhardt ihm entgegen, eine Hure würde immer von der Gesellschaft zu einer solchen gemacht.[15] Die Grenzziehung trennt das Kollektiv durch die scharfe Gegenüberstellung der Huren und der sittsamen Mädchen und etabliert Mariane zusätzlich zu ihrer Repräsentations- und Stabilisationsfunktion als die Schwelle zwischen dem Kollektiv und ‚den Anderen‘, den Huren.
Diese Schwelle droht Mariane im Laufe der Komödie jedoch immer wieder zu überschreiten und wird so auf einmal die potentielle Repräsentantin der ‚Anderen‘. Selbst dann noch ist sie aber weiterhin das konstitutive Element des Kollektivs, denn sie repräsentiert den Gemeinsinn des Kollektivs ex negativo – und das, obwohl ein tatsächlicher Verlust ihrer Unschuld nie erfolgt. Das, was Mariane sein könnte, ist nicht das, was das Kollektiv ausmacht. Damit dienen die Beschimpfungen Marianes als „Luder“, „gottlose Seele“, „Ungetreue“, „Soldatenhure“ und „Metze“[16] den verschiedenen Beurteilenden (Mutter, Vater, Schwester, Soldaten, Stolzius, Mutter von Stolzius) als Möglichkeit der Abgrenzung, die zugleich deren eigene Eingrenzung in das Kollektiv bedeutet. Desportes selbst trifft die Aussage, Mariane sei „eine Hure von Anfang an gewesen“[17].
So befindet sich Mariane unaufhörlich an der Schwelle zwischen dem Außen und dem Innen des Kollektivs, durch den „Spaltungsvorgang […] in Hure und Heilige“[18] niemals fähig, ein kohärentes Bild zu liefern, ständig hin- und hergerissen zwischen dichotomen Sprachformeln. „Ich weiß nicht, wie du bist, Marianel“[19], sagt Jungfer Zipfernstaat zu ihr, unfähig, sie auf eine Beschreibung festzulegen. Es wird versucht, Mariane vonseiten des Kollektivs und seinen Mitgliedern (Wesener, Stolzius, dessen Mutter, die Soldaten, Gräfin de la Roche) im Plural jeweils subjektiv und doch chorisch zu fixieren, immer ausgehend vom gemeinschaftlichen normativen Kontext, den diese in Form einer gleichzeitigen Positivität wie Negativität der Beschreibungsformeln versinnlichen soll.

Die Zuschreibungen als Transporteure von Eigenschaften, die eine Wertigkeit im angenommenen Kollektiv besitzen, betonen immer wieder auch den vermeintlichen Objektstatus von Mariane, indem sie als „Ding“ und mit dem Personalpronomen „es“ beschrieben wird.[20] Die Zuschreibungen erhalten im Kontext der Kollektivkonstitution eine bedeutsame Funktion auch außerhalb ihrer Verankerung im Schönheitsurteil über Mariane. Für Émile Durkheim besteht für ein Kollektiv zusätzlich zu der Bedingung der Abgrenzung gegenüber einem Außen und dem solidarischen Band des Innen die Notwendigkeit, dieses über kollektive Riten aufrechtzuerhalten. Er geht davon aus, dass „gemeinschaftliche Zusammenkünfte immer auch ein Moment des Rausches“[21] beinhalten, ein außeralltägliches Moment, ein Ritual, das das konstitutive Moment erneuert. Damit geht auch die Forderung „der stetigen Wiederholung der gemeinsamen Rituale“[22] einher. Damit das Kollektiv weiter besteht, muss es sich ständig erneuern bzw. sein es bedingendes Moment immer wieder vollziehen.
Im Falle der Soldaten sind es die Zuschreibungen als die ‚subjektiv-chorische‘ Artikulation der Eigenschaften, die Mariane ausmachen, als die den Gemeinsinn im performativen Urteilsvollzug zum tatsächlichen Kollektiv etablierenden, die einer stetigen Wiederholung bedürfen. So fällt das Adjektiv göttlich insgesamt drei Mal, das Adjektiv vollkommen vier Mal, die Benennung als Hure erfolgt ebenfalls mehrmals. Dazu kommen etliche Adjektive und Benennungen, die entweder der Tugendhaftigkeit, Vollkommenheit und Sittsamkeit zuzuschreiben sind, oder der Bezeichnung Marianes als unsittlich und nicht tugendhaft. Mariane und ihr Körper werden im Zuge dessen „zu einem kulturellen Zeichen“[23], Träger des Kollektivs. So soll Mariane auf diese Weise nur noch eine durch sprachliche Zuweisung ins Bild gebannte Gestalt sein, was sich an Marianes eigener Sprachohnmacht, als die Unfähigkeit, sich den sprachlichen Fixierungen zu widersetzen, demonstriert.[24]
Folgt man John L. Austin, dann haben illokutionäre Akte der Sprache eine bestimmte Kraft. Die Kraft einer sprachlichen Äußerung besteht darin, dass eine Handlung vollzogen wird, indem und dadurch, dass etwas gesagt wird.[25] Die unterschiedlichen Zuschreibungen, die Mariane Wesener in Lenz’ Soldaten zugewiesen werden, scheinen ein Akt der Identifizierung Marianes mit eben diesen zu sein. Erst im sprachlichen Urteil selbst wird sie „göttliche Mademoiselle“, „Vollkommenste“ und „goldenes Marianel“,[26]„schlechte Seele“, „Luder“,[27] alles, was sie für die ‚subjektiv-chorisch‘ generierten Normen zu sein oder nicht zu sein hat. Das Urteil legt Mariane auf das Bezeichnete fest. Es gründet sich auf einem Gemeinsinn, einem allen anderen angesinnten Konsens.[28] Die Kommunikation im Vollzug des Urteils erschafft ein vorher nur ideell existierendes Kollektiv und erhält es durch die folgende Wiederholung desselben, weil es, vorher nur subjektiv angenommen, nun im performativen Vollzug des Urteils durch die sprachliche Benennung real wird, nicht mehr abwesend, sondern konkret und chorisch erfahrbar ist.

Die obig erwähnten Zuschreibungen beziehen sich, das ist nicht zu übersehen, vor allem auf Marianes Attribut der Weiblichkeit. Der Grund hierfür liegt in einer angenommenen Binarität der Geschlechter und ihrer Eigenschaften. Die Männer im Kollektiv brauchen ihr Gegenstück, um sich als solche zu identifizieren. Indem das Schönheitsurteil über Mariane auch gleichzeitig immer ihre – normative, charakteristische – Geschlechtlichkeit herausstellt, werden Mariane und ihr Körper zum kulturellen Zeichen, „eine konstruierte Identität, eine performative Leistung, an welche das weltliche gesellschaftliche Publikum einschließlich der Akteure selbst nun glaubt und die es im Modus des Glaubens performiert“.[29] Doch es geht eben nicht bloß um eine Binarität der Geschlechter, wie schon am Anfang erwähnt, denn das griffe zu kurz. Es geht Lenz vielmehr um eine sehr viel größere Frage. Die Frage, wie und unter welchen Voraussetzungen überhaupt sich ein Kollektiv konstituiert, ist noch grundlegender als reine Genderthematik. Und noch viel wichtiger: Die Tatsache, dass das Kollektiv solche Anstrengungen vollbringen muss, um zu existieren, ständig um sein Fortbestehen ringend, lässt nur deutlich sichtbar werden, dass auch das ihm untergeordnete Geschlechterproblem offensichtlich nicht natürlich ist, sondern per se künstlich in einem sozialen Prozess hergestellt wird. Die Abgrenzung des Ich oder Wir oder Er gegenüber dem Du oder Ihr oder Sie funktioniert nur, indem Ich, Wir, Er immer neu und unablässig auf der ‚subjektiv-chorisch‘ artikulierten Grenze zum Du, Ihr, Sie beharren. Das Kollektiv ‚aufgrund von‘ ist nicht natürlich. Es ist ein Konstrukt. Und so fragil auf unsicherem Grund gebaut, droht es zu kollabieren, zu schwanken, zu stürzen.

Lenz zeigt uns den Sturz nicht ungebrochen. Immer wieder lässt er die Figuren in ihr Kollektiv zurückkehren. Doch er sieht auch den inneren Bruch voraus und das, was er sieht, deutet er an in einem sprachbildlichen „Gemälde der menschlichen Gesellschaft“.[30]
Gleichzeitig zu ihrer Funktion, fest- und Grund-zu-legen, ist die Sprache das Medium, das der Zementierung eben jenes Grundes entgegentritt, der Ort, an dem das Bild Marianes immer wieder aufzubrechen droht, sie dem Anspruch der ungebrochenen Verkörperung des ‚subjektiv-chorischen‘ Gemeinsinns nicht mehr gerecht werden kann. Die Fülle der Bezeichnungen liefern ein fragmentiertes Bild Marianes, und die/der Lesende weiß nicht, was von ihr zu halten sei. Es geschieht jedoch mehr. Nicht aufgrund der sprachlichen Äußerungen der Figuren, sondern durch die durch Lenz’ Sprache erweckten bildlichen Assoziationen ist das Übertreten der Schwelle permanent greifbar. Diese sind eben gerade kein starres Bild, sondern bewegliche Anordnungen. Ein Beispiel dafür ist die vierte Szene des fünften Aktes. Am Fluss begegnen Wesener und Mariane einander. Mariane bettelt ihn, zunächst unkenntlich als „Weibsperson“ betitelt, um Geld an. Am Ende der Szene erkennen sie beide, wen sie vor sich haben: „Ach meine Tochter“, „Mein Vater!“ rufen sie aus.[31] Und da wälzen sie sich, nachdem Mariane schon aus dem Kollektiv auf den Boden gefallen war: Vater und Tochter, auf dem Boden, sich weigernd, wieder aufzustehen.[32] Schließlich können sie nur noch weggetragen werden: Das Kollektiv hat sein Standbein verloren, „eine Menge Leute“[33] muss ihre Überreste zusammensuchen und einsammeln, um sich erneut zusammenzuflicken.
Immer wieder wird zudem das Fallen und Sinken in den sprachlichen Äußerungen thematisiert[34] – und auch dies ist ein Vollzug von Handlung in Sprache. Am eindrücklichsten jedoch ist der aus heutiger Sicht am ehesten fotografisch zu betitelnde Eindruck: Die Zuschreibungen als Hure und Heilige entwerfen einen Positiv-Negativ-Kontrast, der mit denen der Fotografie vergleichbar ist und zudem auch einen impliziten Hinweis auf das Kollektiv enthält. Als Schablone ist Mariane ein Bild, das durch sprachliche Zuweisung gewendet und umgekehrt werden kann, und das doch in beiden Fällen für seine ursprüngliche Bedeutung steht, als Umriss und Grenze einmal, als Inhalt ein anderes Mal. Ein Zugleich beider ‚Abdrucke‘ jedoch, ein Übereinanderlegen, lässt das Bild verschwinden. Die Grenze und der Grund des Kollektivs sind nicht in Mariane vereinbar. Übrig bleibt nur eine schemenhafte Andeutung.

Verkündet ein anderer oder es selbst sich, ist die Aufgabe des Kollektivs unvermeidlich, weil es sich manifestiert, sichtbar wird für die anderen, gegen die es sich gleichzeitig abschließen muss im Sinne einer Repräsentation des gemeinschaftlich Verbindenden, das seinen Erhalt erst ermöglicht.[35]
Die Figur der Mariane Wesener in Lenz’ Komödie Die Soldaten ist in dieser Betrachtungsweise eine der (spezifisch geschlechtlichen) Repräsentation von subjektiv als allgemein (oder chorisch oder plural) angenommenen Idealen und Normen, die im Vollzug des Beurteilt-Werdens durch die beiden Seiten der Gesellschaft, die Huren und die Heiligen, die Bösen und die Guten, die Frauen und die Männer, das Wir und das Ihr, diese als ein kulturelles Zeichen darstellt, als Positiv und als Negativ. Auf ihrer Basis kann das Kollektiv sich errichten und erhalten, sowohl im Hinblick auf Mariane als seiner Konstante als auch bezogen auf das Außen des Kollektivs, als seine Schwelle, seine äußerste Grenze. Getreu dem Motto „Wir sind hier. Dort sind die anderen. Aber wir nicht, wir nicht! Wir gehören uns!“[36] , bedarf das Kollektiv einer ständig neuen Grenzziehung, Normsetzung und Identifizierung. um sich selbst zu definieren – weg von einem Außen und hin zu einem Inneren. Durch das performative Moment des Urteilens wird eine solche Grenze gezogen – ein Muster des Ausschlusses durch Einschluss der Auserwählten, die miteinander, übereinander, gegeneinander im Prozess der ‚subjektiv-chorischen‘ (Ver-)Urteilung das Kollektiv ‚aufgrund von‘ aufrichten, immer nah an ihrer Schwelle.

  1. Schleef, Einar: Droge, Faust, Parsifal. Frankfurt am Main 1998, S. 9.
  2. In vielen Werken des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts sterben junge Mädchen und Frauen aufgrund der Infragestellung oder dem drohenden Verlust ihrer Tugend. Sterben sie nicht, so ist zumindest ihr Ruf, wie bei Mariane Wesener, nachhaltig geschädigt. Als nur einige Beispiele lassen sich neben den Soldaten auch nennen: Emilia Galotti, Die Kindermörderin, Kabale und Liebe.
  3. Kant, Immanuel: „Erstes Buch. Analytik des Schönen“, in: Ders.: Kritik der Urteilskraft. Hg. von Heiner F. Klemme (= Philosophische Bibliothek, 507). Hamburg 2009.
  4. „Also nur unter der Voraussetzung, daß es einen Gemeinsinn gebe (wodurch wir aber keinen äußern Sinn, sondern die Wirkung aus dem freien Spiel unsrer Erkenntniskräfte, verstehen), nur unter Voraussetzung, sage ich, eines solchen Gemeinsinns kann das Geschmacksurteil gefällt werden.“ Kant, S. 96.
  5. Menke, Christoph: Die Kraft der Kunst. Berlin 2013, S. 60.
  6. Vgl. Kant, S. 95 u. S. 97.
  7. Kant, S. 98.
  8. Liebsch, Burkhard (Hg): Sozialphilosophie (=Alber-Texte Philosophie, 8). München 1999, S. 10.
  9. Lenz, Jakob Michael Reinhold: „Die Soldaten. Eine Komödie“, in: Ders.: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Sigrid Damm. München, Wien 1987 [im Folgenden: WuBr 1-3], Bd. 1, S. 201.
  10. Ebd.,S. 202 (I,5)
  11. Ebd., S. 202.
  12. Ebd., S. 194 (I,3)
  13. Ebd., S. 194, S. 206, S. 212, S. 213, S. 225, S. 225.
  14. Ebd., S. 197 (I, 3).
  15. Vgl. ebd., S. 200 (I,4).
  16. Ebd., S. 201, S. 202, S. 213, S. 216, S. 217.
  17. Ebd., S. 242.
  18. Stephan, Inge: Inszenierte Weiblichkeit. Codierung der Geschlechter in der Literatur des 18. Jahrhunderts. Köln 2004, S.13.
  19. Lenz: „Die Soldaten“, S. 214 (II,3).
  20. Vgl. ebd., S. 205 f. (II,1). Anmerkung: Dabei könnte hier mit „Ding“ auch ‚die Sache‘, ‚das Vorkommnis‘ gemeint sein.
  21. Gertenbach, Lars/Laux, Henning/Rosa, Hartmut/Strecker, David: Theorien der Gemeinschaft zur Einführung. Dresden 2010, S. 69.
  22. Ebd., S. 71.
  23. Butler, Judith: „Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie“, in: Wirtm Uwe (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt am Main 2002, S. 305.
  24. Hier sei verwiesen auf die erste Szene des ersten Aktes. Mariane ist hier unfähig, sich sprachlich in einem Brief auszudrücken (vgl. WuBr 1, S. 192). Vgl. zudem Schößler, Franziska: Einführung in das bürgerliche Trauerspiel und das soziale Drama (= Einführungen Germanistik). Darmstadt 2003, S. 90.
  25. Der Begriff der Illokution stammt ursprünglich aus Austins Theorie der Sprechakte. Vgl. dazu: Wirth, Uwe: „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität“, in Ders.: Performanz, S. 13.
  26. Lenz: „Die Soldaten“, S. 194 u. S. 212. Oder sie ist wahlweise „liebstes Marianel“, „Geliebte“, „anbetungswürdige Mariane“, „artig Mädchen“, „Engel“ und „unschuldiges, offenes Herz“ (S. 213, S. 225, S. 227, S. 229, S. 227).
  27. Ebd., S. 202, S. 217. Weitere negative Benennungen sind u.a: „gottlose Seele“, „Ungetreue“, „Soldatenhure“ und „Metze“ (S. 213, S. 216).
  28. Vgl. Wirth: „Der Performanzbegriff“, S. 17.
  29. Butler, Judith: Performative Akte und Geschlechterkonstitution. Phänomenologie und feministische Theorie, S. 302.
  30. Lenz: „Rezension des Neuen Menoza“, in: WuBr 2, S. 699-704, hier S. 703.
  31. Lenz: „Die Soldaten“, S.245 (V,4).
  32. Ebd.
  33. Ebd.
  34. Vgl. u.a. ebd., S. 241, S. 244 (V,2, V,3 und 4).
  35. Vgl. Vogl, Joseph (Hg.): Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen. Frankfurt am Main 1994, S. 9-10, S. 14, S. 21.
  36. Jelinek, Elfriede: „Wolken. Heim.“, in: Dies.: Stecken, Stab und Stangl, Raststätte oder sie machens alle, Wolken.Heim. Hamburg 2004, S. 141.

Poetologie | J.M.R. Lenz’ Poetologie einer Gegenwartsdramatik. „Die Anmerkungen übers Theater“ und „Der tugendhafte Taugenichts“

I. Poetologie des Genies und die christliche Folie

In den Anmerkungen übers Theater (1774) formuliert Lenz einen Satz über das poetische Genie respektive den wahren Dichter, der sich in die üblichen Nacherzählungen der Genie-Ästhetik nicht recht einfügt – und der m.E. in aller Radikalität bisher zu wenig beachtet wurde. Ich meine den Satz: „Er nimmt Standpunkt – und dann muß er so verbinden.“ Die Stelle lautet im Zusammenhang:

Wir nennen die Köpfe Genies, die alles, was ihnen vorkommt, gleich so durchdringen, durch und durch sehen, daß ihre Erkenntnis denselben Wert, Umfang, Klarheit hat, als ob sie durch Anschaun oder alle sieben Sinne zusammen wäre erworben worden. Legt einem solchen eine Sprache, mathematische Demonstration, verdrehten Charakter, was ihr wollt, eh ihr ausgeredt habt, sitzt das Bild in seiner Seele, mit allen seinen Verhältnissen, Licht, Schatten, Kolorit dazu.
Diese Köpfe werden nun zwar vortreffliche Weltweise was weiß ich, Zergliederer, Kritiker – alle ers – auch vortreffliche Leser von Gedichten abgeben, allein es muß noch was dazukommen, eh sie selbst welche machen, versteh mich wohl, nicht nachmachen. Die Folie, Christlicher Leser! die Folie, was Horaz vivida vis ingenii, und wir Begeisterung Schöpfungskraft, Dichtungsvermögen, oder lieber gar nicht nennen. Den Gegenstand zurückzuspiegeln, das ist der Knoten, die nota diacritica des poetischen Genies, deren es nun freilich seit Anfang der Welt mehr als sechstausend soll gegeben haben, die aber auf Belsazers Waage vielleicht bis auf sechs, oder wie Sie wollen –
Denn – und auf dieses Denn sind Sie vielleicht schon ungeduldig, das Vermögen nachzuahmen, ist nicht das, was bei allen Tieren schon im Ansatz – nicht Mechanik – nicht Echo – – nicht was es, um Otem zu sparen, bei unsern Poeten. Der wahre Dichter verbindet nicht in seiner Einbildungskraft, wie es ihm gefällt, was die Herren die schöne Natur zu nennen belieben, was aber mit ihrer Erlaubnis nichts als die verfehlte Natur ist. Er nimmt Standpunkt – und dann muß er so verbinden. Man könnte sein Gemälde mit der Sache verwechseln und der Schöpfer sieht auf ihn hinab wie auf die kleinen Götter, die mit seinem Funken in der Brust auf den Thronen der Erde sitzen und seinem Beispiel gemäß eine kleine Welt erhalten. Wollte sagen – was wollt ich doch sagen? –[1]

Die Argumentation erscheint zunächst klar: Neben der Erkenntnisfähigkeit, der Aufnahmebereitschaft für diese Komplexität der Welt, ist es erst die Fähigkeit der Rückspiegelung, die das poetische Genie ausmacht. Um diese produktive Dichtungsfähigkeit zu konkretisieren, nennt Lenz zunächst zwei Varianten ihrer Deutung, die er ablehnt. Erstens eine mechanische Rückspiegelung, das bloße subjektlose Echo – wie es „unser[e] Poeten“ gemeinhin tun. Zweitens die Nachahmung aus einer ungebundenen Einbildungskraft heraus, die sich zugleich an willkürliche bzw. traditionelle Begriffe des Schönen bindet. Und dann erst – nach dieser doppelten Negation von Mechanik und willkürlicher Einbildungskraft – folgt der Satz, der den Kern der Lenz’schen Poetik darstellt: „Er nimmt Standpunkt – und dann muß er so verbinden.“ Dieser Satz nun formuliert – gegen die üblichen Erzählungen der Genieästhetik – gerade keine Selbstermächtigung des Subjekts gegenüber der Welt. Vielmehr liegt das Dichtungsvermögen, die Schöpfungskraft, wie Lenz sagt, im Standpunktnehmen – und dann in der selbstauferlegten Unfreiheit, sich der Welt, wie sie im einmal gewählten Standpunkt erscheint, sozusagen unterzuordnen. Sowohl das Standpunktnehmen als auch das Muss der daraus folgenden Verbindungen sind auf die Welt bezogen, die das poetische Genie darzustellen hat. Es handelt sich somit um eine Unfreiheitserklärung, die die Textproduktion nicht länger der Poetik, dem Begriff der Schönheit oder aber der willkürlichen Einbildungskraft unterstellt, sondern der Welt selbst, die von einem spezifischen Standpunkt aus nur bestimmte Verbindungen zulässt.

Damit liegt Lenz ganz auf der Traditionslinie der Geniepoetologie des 18. Jahrhunderts, die eben diese Weltunterordnung des Genies immer wieder, und immer wieder mit optischen Metaphern, formuliert hatte: Locus classicus, der immer wieder nur unvollständig zitiert oder gelesen wird, ist hier Anthony Ashley Cooper Shaftesburys Essay Advise to an author (1711), in dem er den wahren Autor als „second Maker“ bezeichnet, allerdings – und dieser Zusatz ist entscheidend – als „a second Maker: a just Prometheus, under Jove“[2]. Dieser Autor „under Jove“ ist bei Shaftesbury das Gegenbild derjenigen, die nur „blindlings [injudicious] Witz und Phantasie gebrauchen“ (109). Vielmehr ‚schöpfen‘ sie unter Jupiter, indem sie dessen Welt und dessen Geschöpfe genau wiedergeben: Allein der Dichter, der aufgrund eigener Selbsterkenntnis und Tugend, mit „der inneren Gestalt und dem inneren Gefüge seiner Mitgeschöpfe vertraut ist“ (111), ist ein Autorgenie, weil er die Proportionen des Weltgebäudes so komplex und so „richtig“ wiedergibt, wie er sie wahrnimmt. Es geht also gerade nicht um die „Autonomie des schöpferischen Menschen“[3], oder wenn, dann um eine Autonomie, deren Fundament ein intensives Verhältnis zur Welt ist, eine Autonomie, die sich selbstgesetzgebend den Proportionen und Gesetzen der Welt unterordnet. Das Schreiben des Genies fasst Shaftesbury daher als Mirror-Writing (98), als Arbeit mit dem „Looking-Glaß“ (102), das die Aufgabe hat, to „draw the several Figures of his Piece in their proper and real Proportions […] And this is the Mirrour or Looking-Glaß above describ’d.“ (102).
Explizit weist auch Henry Fielding in seinem Roman Tom Jones (1749) die seines Erachtens falsche Annahme zurück, mit Erfindungsvermögen des Genies sei „eine schöpferische Kraft“ gemeint,

während doch unter Erfindung eigentlich nichts weiter zu verstehen ist (das steckt ja schon im Wort) als eine Entdeckung oder ein Ausfindig-Machen: oder, um es noch weiter auszuführen, ein schneller und richtiger Scharfblick für das wahre Wesen aller Gegenstände unserer Betrachtung.[4]

Derlei optische Metaphern sind es, die bei Johann Wolfgang Goethe in der Rede vom „scharfen Aug für Verhältnisse“[5] und bei Lenz als „die spezifische Schleifung der Gläser“[6] in der Geniepoetologie wieder auftauchen. Das Objekt des Sehens ist hier allerdings nicht mehr das Objekt selbst und dessen gegebene Struktur, die sozusagen visuell entfaltet wird, sondern die Relationen und Verhältnisse einer Welt, die selbst als zeitlich veränderliche gedacht werden, als ‚Gegenwart‘. Die zentrale Funktion des Geniebegriffs und die Erzeugung der so bezeichneten Position des Blicks, das lässt sich schlussfolgern, ist die Abkopplung des Autors vom System der Schönen Wissenschaften und seine selbstvermittelte Ankopplung an die ‚Welt‘ und damit an das, was als lebendige Umwelt des Genies – im Gegensatz zum überzeitlichen Schatz schriftlicher Überlieferung – jetzt gerade erscheint. Das alte, bereits in der Antike gebrauchte Argument, dass das Genie nicht durch Gelehrsamkeit allein möglich sei, wird nun dergestalt radikalisiert, dass Gelehrsamkeit als Hindernis des Genies ausgemacht wird, insofern das gelehrte Medium der Schrift den unmittelbaren eigenen Zugang zur Welt und zur Gegenwart verstellt. Gerade das Fehlen einer „claßischen Erziehung“[7], so Christoph Martin Wieland, sei der Grund dafür, dass William Shakespeare ein Genie wurde, denn statt einer Schulausbildung durch Texte habe er eine Ausbildung durch unmittelbare, nicht durch Schrift vermittelte Erfahrung durchlaufen: „eigne Betrachtungen; scharfe Sinnen, als die Werkzeuge dazu; eine genaue Aufmerksamkeit auf die unmittelbaren Eindrüke, welche die Gegenstände auf ihn machen – das ist es, was den Genie entwikelt“ (561).
Was genau aber bedeutet nun der Standpunkt, von dem Lenz als Ort der selbstgewählten Unterordnung spricht? Zum einen natürlich eine optische Metapher, eben der Punkt, von dem aus man etwas Bestimmtes sehen kann. Zum anderen ist Standpunkt aber auch im Sinne von Haltung gemeint, als Metapher für einen bestimmten Blick auf die Welt, der nicht nur optisch, sondern auch moralisch fundiert ist, ein Blick der stehen bleibt. Das erhellt aus einer Stelle im oben zitierten Lenz’schen Text, die etwas rätselhaft anmutet: „Die Folie, Christlicher Leser! die Folie, was Horaz vivida vis ingenii, und wir Begeisterung Schöpfungskraft, Dichtungsvermögen, oder lieber gar nicht nennen.“ Die spezifische Dichtungskraft, die Lenz mit dem Standpunktnehmen erklärt, wird hier als „Folie“ bezeichnet und dezidiert an den „christlichen Leser“ adressiert. Dies wiederholt sich an einer weiteren Stelle im Text. Nachdem Lenz die Psychologiesierung von Figuren durch andere Autoren kritisiert hat, da sie allen Figuren ihre eigene Psychologie unterschieben, heißt es: „Wo bleibt aber da der Dichter, christlicher Leser! wo bleibt die Folie?“[8] Offenbar ist die Metapher der Folie unmittelbar verknüpft mit einem Appell an den ‚christlichen Leser‘. Wie ist das zu verstehen – und was ist eine „Folie“? Eine Folie ist, wie man bei J.G. Krünitz nachlesen kann, ein Blatt oder Metallblättchen,

welches man gebrauchet, einen Körper, der sonst das Licht durchfallen läßt, dahin zu bringen, daß er die in ihn einfallenden Lichtstrahlen zurück werfe; Lat. Metallum foliatum, Fr. Feuille. In diesem Verstande nennet man also 1) eine Folie, Spiegelfolie, Fr. Tain, oder Teint, das, vermittelst des Quecksilbers, hinten auf das Spiegelglas gelegte dünne Blättchen von feinem Zinne, welches sonst, und ehe es auf das Spiegelglas gebracht ist, Stanniol heißt.[9]

Bei J.C. Adelung heißt es: „Die Folie […], ein Blatt, ein dünnes Blättchen Metall, dergleichen das dünne Blättchen Zinn ist, welches ein Glas zu einem Spiegel macht.“[10]
Eben dieses technische Ding, die Folie, der Hintergrund, der das Glas zum Spiegel macht, ist nach Lenz nun das, was den Dichter ausmacht, ihn als Dichter mit seinem Vermögen konstituiert und ihn offenbar zugleich als christlich kennzeichnet. Wenn der Dichter nicht seine eigene Psychologie auf alle seine Figuren projizieren soll, sondern die verschiedensten Psychologien der Figuren wie das Licht empfangen und dann wie ein Spiegel mittels Folie wieder zurückspiegeln soll, dann liegt darin ein Standpunktnehmen, dessen moralische Haltung aus dem Sowohl-als-auch von Nähe und Distanz besteht. Das Aufnehmen der Nuancen als Nähe, das Wiedergeben wie es ist, als die Distanz der Spiegelung.
Zugleich ist Folie schon im 18. Jahrhundert eine Metapher für Hintergrund.[11] Wenn Lenz also den christlichen Leser fragt, „wo bleibt die Folie?“, dann kann man auch übersetzen: Wo bleibt der Hintergrund der Figuren? Wo bleibt das, was ihrem Handeln zugrunde liegt? Wenn der Dichter selbst die Folie ist, das Medium der Rückspiegelung, dann ist er selbst der Hintergrund eines Spiegels, der zugleich den Hintergrund des Handelns der Figuren in sich aufnimmt, sich für diesen Hintergrund öffnet, den er als das auf ihn fallende Licht so zurückwirft, das wiederum für die Zuschauenden und Lesenden als der Hintergrund der Figuren erscheint.
Dieser Hintergrund liegt zum einen in der menschlichen Seele: „Wir […] hassen solche Handlungen, von denen wir die Ursache nicht einsehen, und nehmen keinen Teil dran.“[12] Diese „Ursache“ liegt in der Lenz’schen Poetik und auch in seine Texten wiederum meist in der Sexualität. Ich zitiere die Stelle noch einmal im Zusammenhang:

Wo bleibt aber da der Dichter, christlicher Leser! wo bleibt die Folie? Große Philosophen mögen diese Herren immer sein, große allgemeine Menschenkenntnis, Gesetze der menschlichen Seele Kenntnis, aber wo bleibt die individuelle? Wo die unekle, immer gleich glänzende, rückspiegelnde, sie mag im Totengräberbusen forschen oder unterm Reifrock der Königin? (652)

Zum anderen liegt die Ursache bzw. der Hintergrund in einer Komplexität von Begebenheiten und sozialen Interdependenzen, in „tausend großen Einzelheiten, ihrer Verbindungen“ (657) und somit in dem, was Lenz immer wieder „Umstände“ und den Zusammenhang einer ‚Welt‘ nennt und was die Erfahrung des Einzelnen und seiner Motive übersteigt: Handlungen haben seelische Ursachen, sie haben aber auch Bedingungen, die diese überschreiten.
Als Beispiel sei nur an die ungeheuerliche Szene in Lenz’ Soldaten (1776) erinnert, in der Vater und Tochter sich am Ende wieder begegnen (V,4). Der Vater verstößt zunächst die Bettlerin, die er nicht als seine Tochter erkennt, mit den Worten: „Geht, lauft Euren Soldaten nach.“[13] Einerseits ‚weiß‘ der Vater, dass Huren zu Huren werden, aufgrund ihrer eigenen ‚moralischen Verderbtheit‘, zugleich weiß er aber, dass es die Umstände sind und dass im Fall seiner Tochter er selbst es war, der ihr geraten hatte, den Soldaten nachzulaufen. Diese widersprüchliche Gleichzeitigkeit von individueller Schuldattribuierung und sozialer Entschuldung ist die Folie und der Standpunkt, den der Dichter hier einnimmt, zugleich in größter Nähe zu beiden Figuren und in erbarmungslosem Abstand:

WESENER: Mich deucht, sie seufzte so tief. Das Herz wird mir so schwer. Zieht den Beutel hervor. Wer weiß wo meine Tochter itzt Almosen heischt. Läuft ihr nach und reicht ihr zitternd ein Stück Geld. Da hat Sie einen Gulden – aber bessere Sie sich.
WEIBSPERSON fängt an zu weinen: O Gott! Nimmt das Geld und fällt halb ohnmächtig nieder. Was kann mir das helfen?
WESENER kehrt sich ab und wischt sich die Augen. Zu ihr ganz außer sich: Wo ist Sie her?
WEIBSPERSON: Das darf ich nicht sagen. Aber ich bin eines honetten Mannes Tochter.
WESENER: War Ihr Vater ein Galanteriehändler?
WEIBSPERSON schweigt stille.
WESENER: Ihr Vater war ein honetter Mann? – Steh Sie auf, ich will Sie in mein Haus führen. Sucht ihr aufzuhelfen. Wohnt Ihr Vater nicht etwan in Lille –
Beim letzten Wort fällt sie ihm um den Hals.
WESENER schreit laut: Ach meine Tochter.
MARIANE: Mein Vater!
Beide wälzen sich halb tot auf der Erde. Eine Menge Leute versammlen sich um sie und tragen sie fort.[14]

Dass diese Komplexität einer dialogisierten und theatral-reflexiven Anagnorisis aus verschiedenen Blickpositionen ein christliches Standpunktnehmen ist, erläutert Lenz in einem Brief an Sophie von La Roche ganz explizit. Er schreibt:

Könnten aber Personen von Ihrem Stande, Ihren Einsichten, Ihrem Herzen, sich jemals ganz in den Gesichtskreis dieser Armen herabniedrigen, anschauend wie Gott erkennen, was ihnen Kummer, was ihnen Freude scheint und folglich ist […]. Ach! das große Geheimnis, sich in viele Gesichtspunkte zu stellen, und jeden Menschen mit seinen eigenen Augen ansehen zu können![15]

Dass dieser Blick und dieser Standpunkt, sich in die Geringsten hineinzuversetzen, der Standpunkt Christi ist, sagt Lenz in seinem moral-theologischen Traktat Über die Natur unseres Geistes (um 1773): Christus, so heißt es hier, „hatte sich in einen Standpunkt gestellt das Elend einer ganzen Welt auf sich zu konzentrieren und durchzuschauen. Aber das konnte auch nur ein Gott – “.[16]

II. Gegenwartsdramatik und verzeitlichte ‚Welt‘

Lenz’ Theater ist eines, das in seinem Realismus von Folie und Hintergrund auf die Darstellung der Stände zielt, auf die sozialen Rollen und Bedingungen: „Überhaupt wird meine Bemühung dahin gehen, die Stände darzustellen, wie sie sind“[17], heißt es in dem bereits zitieren Brief an Sophie von La Roche. Theater als Darstellung der Stände, das war die Grundidee der Diderot’schen Theaterreform, die Lenz aufgreift und gerade im Hinblick auf den Aspekt der politischen Gegenwart und der sozialen Reichweite intensiviert. In Denis Diderots dramentheoretischer Reformschrift Entretiens sur le fils naturel (1757) war der Aspekt einer zeitlich variablen gesellschaftlichen Umwelt bereits als Begründung für die neue Darstellungstechnik und die Darstellungsinhalte angeführt worden: „Bedenken Sie, daß täglich neue Stände entstehen.“[18] Das Theater als Medium, das die sozialen Veränderungen, die Stände, d.h. die conditions als die zeitlichen Bedingungen des Lebens darstellen soll und mit ihnen die Zeit der Gegenwart, das ist der Impuls, den die Stürmer und Dränger, und gerade Lenz, von Diderot aufgenommen haben. Besonders deutlich formuliert das Louis-Sébastien Mercier in seinem Buch Du Théâtre ou Nouvel essai sur l’art dramatique (1773), zu dessen deutscher Übersetzung von 1776 der junge Goethe einen Anhang aus seiner Brieftasche beigesteuert hat. Mercier schreibt:

Der Mensch, der durch Regierungsformen, Gesetze, Gewohnheiten modificirt wird, wird zum ganz andern Wesen als er erst war. Folglich müssen auch die alten Regeln des Geschmacks sich ändern, und sich den neuen Gewohnheiten, den neuen Begriffen anpaßen lassen.[19]

Der Mensch wird – mit und durch die Zeit – zum ganz anderen Wesen als er war! Daraus wiederum folgt, dass der Schriftsteller Zeitgenosse sein soll und nicht Gelehrter, dass er sich für das Leben seiner Gegenwart interessieren soll. Nur so könne dem Drama ein „Karakter von Nützlichkeit für die Gegenwart“[20] eingeprägt werden. Mercier fordert in diesem Sinne die Beobachtung und die Darstellung der Gegenwart:

Man hat die Alten studiert und hat wohl daran gethan; aber bey ihnen wird man keine detaillierte Kenntniß der jetzigen Menschen finden. Neue Generationen haben in diese moralische Existenz, in diesen Protheus, der, indem er entschlüpft alle Gestalten annimmt, große Veränderungen gebracht.[21]

Daraus wiederum folgt der Imperativ, die Darstellung der eigenen Gegenwart an einem erkennbaren Zeitindex auszurichten. Es heißt weiter: „Ich will schlechterdings erkennen können, in welchem Jahr er [der Schriftsteller; J.L.] sein Werk verfertigt hat.“ Und Mercier fährt fort:

Ich will, dass der Schriftsteller das Interesse des Augenblicks, in dem er schreibt, nicht aus der Acht lasse; ich will einen Wiederschein von den Geschäfften, die die Nation in Bewegung setzen, bey ihm entdecken; ich will einen Mann hören, der mit dem, was um ihn herum vorgeht, bekannt [ist] [.][22]

Der hier deutlich werdende Zusammenhang zwischen einem zeitlichen Verständnis von Gegenwart und ihrer Darstellung als die bedingende Umwelt der jetzt Lebenden findet sich auch in den Programmatiken von Johann Gottfried Herder, Lenz und Goethe.[23]
Die Gegenwart als die historische und veränderliche Zeit, in der man lebt, im Unterschied zur Vergangenheit und im Unterschied zur Zukunft, das ist eine Voraussetzung auch für eine neue Rolle von Kunst und Literatur, die nun so etwas betreiben wie Gegenwartsdokumentation – im Hinblick auf die Veränderung und Veränderbarkeit dieser Gegenwart in der Zukunft. Gegenwart ist dann nicht länger ein Begriff der bloßen Anwesenheit, sondern eine Metonymie für das Gesamt der gerade herrschenden Verhältnisse. Diese Vorstellung einer Zeit der Gegenwart und die temporale Trias von Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft, ist uns heute selbstverständlich, entsteht aber erst im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. In einer geschichtsphilosophischen Reflexion des Begründers der Illuminaten Adam Weishaupt kann man sehen, zu welchen Formulierungen der noch fehlende Zeitbegriff Gegenwart führt:

die Geschichte des Menschen Geschlechts ist die Geschichte seiner Bedürfnisse, wie das eine aus dem andern entstanden: und diese Geschichte, diese Abstammung, diese Entwickelung der Bedürfnisse ist die Geschichte der Vervollkommung des ganzen Geschlechts; denn nach diesen richten sich Kultur, Verfeinerung der Sitten, Entwicklung der schlafenden Geisteskräfte: mit der Entwicklung derselben ändert sich zugleich die Lebensart, der moralische und politische Zustand, die Begriffe von Glückseligkeit, das Betragen der Menschen gegen einander, ihre Verhältnisse unter sich, die ganze Lage der jedesmaligen gleichzeitigen Welt.[24]

Die „ganze Lage der jedesmaligen gleichzeitigen Welt“, das ist der komplexe Ausdruck für genau jenen komplexen Sachverhalt einer Gleichzeitigkeit von jeweils in einer (jedesmaligen) Zeit miteinander verbundener Elemente und Bedingungen einer ‚Welt‘, die sich in und durch die Zeit miteinander verändern und deren synchroner Zusammenhang als Abfolge jedesmaliger, d.h. auch voneinander unterschiedener Gleichzeitigkeiten zu denken ist. Mit anderen Worten: als synchrone Schnitte durch einen Zusammenhang von Verhältnissen, zu deren Reflexion der Zeitlichkeit ihrer räumlich metaphorisierten Elemente (Lage, Verhältnisse etc.) der Begriff Gegenwart zum Zeitbegriff transformiert wird.
Wenn Gegenwart als Zeitbegriff gebraucht wird und nicht mehr als Begriff einer Wirkung der Anwesenheit, dann ist das eine Abstraktion, die auf eine Gleichzeitigkeit abhebt, ohne dass unmittelbare bzw. unmittelbar erfahrbare Wirkungsverhältnisse gemeint sind. Dann wird bedeutsam, dass es Interdependenzen gibt, die existieren, obwohl sie nicht unmittelbar sichtbar sind, ohne dass es unmittelbare räumliche Wirkungsanwesenheiten sind, sondern indirekte Verknüpfungen, die man allererst als die Gleichzeitigkeitsverhältnisse der Gegenwart sichtbar machen muss.
Lenz hat in diesem Sinne in doppelter Weise Gegenwartsdramatik betrieben. Einmal im Hinblick auf die Stoffe, die er aus seiner unmittelbaren Gegenwart geholt hat, wie etwa in den Soldaten, insofern er mit seinem Text hier sogar die dokumentierte Wirklichkeit zeitlich überholte. Dass der Adlige Baron von Kleist sein Heiratsversprechen brechen würde, stand zwar im Text, aber in der Wirklichkeit noch gar nicht fest, so dass Lenz Herder bitten musste, den Druck des Textes aufzuhalten.[25]
Zum anderen insofern Lenz den sozialen Hintergrund, die Interdependenzen, die Verbindungen, die die soziale Gegenwart konstituieren und die den persönlichen Erfahrungshorizont übersteigen, dennoch anschaulich macht. Damit ist eine völlig neue Funktion des Theaters impliziert: Statt eines Mediums der Unterhaltung soll es Medium der Sichtbarmachung und der Dokumentation der eigenen Gegenwartskomplexität und Synchronizität sein.

III. Der tugendhafte Taugenichts: Die globalisierte Gegenwart

Wenn das Genie, wie oben gezeigt, sich nicht an die Bücher, sondern an das Leben halten soll, dann kann man das auch so verstehen, dass die gerade jetzt erscheinenden Bücher als Ausdruck der Gegenwart ebenfalls zu diesem ‚Leben‘ gehören – so ließe sich womöglich die ubiquitäre Referenz von Texten des Sturm und Drang auf Texte der unmittelbaren Gegenwart begreifen. Es ist jedenfalls ein in dieser Intensität literaturgeschichtlich neues Phänomen um 1770, dass Gegenwartsliteratur in den Texten der Zeit selbst häufig zitiert und somit die eigene Gegenwart auch im Spiegel ihrer neu erschienenen Texte reflektiert wird.[26] Nicht nur Goethe lässt im Werther (1774) bekanntlich die nur zwei Jahre vorher erschienene Emilia Galotti Lessings aufschlagen, auch die Studenten in Lenzens Hofmeister (1774) besuchen eine Vorstellung von Lessings Minna von Barnhelm (1767). Lenz ist geradezu ein Meister dieser Technik der Sichtbarmachung von Gegenwartskomplexität durch Bezugnahme auf gleichzeitige Texte. Nicht nur folgt er mit seinen Texten der visuellen Poetik des Standpunknehmens, wie er sie als eine spezifisch christliche Spiegelungstechnik der unmittelbaren Gegenwart in den Anmerkungen übers Theater beschrieben hat, sondern er lässt auf seinem Theater auch buchstäblich den synchronen Zusammenhang dessen, was in seiner Gegenwart gleichzeitig passiert, erscheinen: als ein Zusammenhang, der das Theater als Medium des Erscheinens, als Bühne der Gegenwart und der Vergegenwärtigung selbst reflektiert. Das möchte ich abschließend kurz anhand des Dramenfragments Der tugendhafte Taugenichts (1775/76) zeigen.
Das Stück steht theaterästhetisch erkennbar in der Tradition von Diderots Tableautheater, geht aber zugleich weit darüber hinaus: Während Diderot seine Theaterreform und die Präsentation von Tableaus auf der Bühne als Darstellung von Beziehungen und Relationen begründet, die ihrerseits eine sich permanent wandelnde Sozialwelt sozusagen dokumentarisch zur Darstellung bringen soll („täglich entstehen neue Stände“), er dies aber zugleich im Wesentlichen auf Familienrollen beschränkt, weitet Lenz im Tugendhaften Taugenichts die Tableaus auf die Darstellung nachgerade globaler Synchronizitäten seiner Gegenwart aus.
Kurz zum Inhalt des Stücks: In Anlehnung an Christian F.D. Schubarts Erzählung Zur Geschichte des menschlichen Herzens (1775), die später auch Schiller seinem Erstlingsdrama Die Räuber (1782) zugrunde legt, geht es um zwei ungleiche, adlige Brüder und ihr Verhältnis zu ihrem Vater. Das Stück beginnt mit einer Szene, in der der Vater seinen Söhnen Unterricht in Mathematik erteilt, wobei der jüngere Just alles gut begreift, der ältere David aber nichts. Der in seiner Ehre durch die Unfähigkeit des Sohnes gekränkte Vater droht ihm an, ihn des väterlichen Hauses zu verweisen und ihm den Familiennamen zu entziehen. David begreift zwar Mathematik nicht, arbeitet aber heimlich an militärischen Plänen zur Fortifikation, so dass nicht ganz klar ist, wie dumm er tatsächlich ist. Jedenfalls versteckt er diese Arbeit vor seinem Vater, da der von Militär nichts hält und den Söhnen bereits den Gedanken an den Soldatenstand bei Strafe der Enterbung verboten hat. Er selbst interessiert sich vor allem für Tänzerinnen und Sängerinnen, die er zuhauf in einem eigenen Serail hält. Er beschläft sie alle selbst, das wird im zweiten Entwurf noch deutlicher, und ist im Hinblick auf sexuelle Ausschweifung seiner Söhne, sofern sie nicht in seinem Serail wildern, sehr nachsichtig – ständig wähnt er sie nächtens in den Armen irgendeiner Dorfschönheit. Da David nun aber ernsthaft in eine diese Sängerinnen verliebt ist, er aber keine Aussicht auf Gegenliebe und die von ihm gewünschte Ehe hat, tauscht er mit dem Diener Johann die Kleidung, verlässt das väterliche Schloss und lässt sich unterwegs kurzerhand von preußischen Werbern als einfacher Soldat anwerben – um zu sterben oder um sich durch militärische Leistungen doch noch seines Vaters würdig zu machen.
Der Text ist in zweifacher Hinsicht theater- und literaturgeschichtlich singulär.[27] Zunächst, weil er in der nun folgenden Szene den Krieg, die Schlacht bei Kolin 1757, in körperlicher Präsenz auf die Bühne bringt: Es wird geschossen, es wird gefallen, es wird wieder aufgestanden und wieder gesunken, es wird geschrien, geröchelt und gestorben, es wird desertiert.[28] Und als die Schlacht vorbei ist, werden die Toten geplündert und beraubt. Die Bühne zeigt hier, auch über die unmittelbare Kriegsszene hinaus, ein körperlich-reales Tableau parasitärer Beziehungen, die Werber parasitieren von den angeworbenen Soldaten, der Deserteur von denen, die hier sterben, und die Bauern von den Toten, die sie ausplündern.[29]
Dass gesellschaftliche Verhältnisse in ihrem synchronistisch zu denkenden Zusammenhang parasitäre Verhältnisse sind und als solche auch eine globale Gegenwart bilden, zeigt dann die nächste und letzte Szene des Fragments anhand des Vaters, der jetzt derart um seinen entlaufenen Sohn trauert, dass er nicht einmal mehr Schokolade trinken will. Gerade liest er, dass „der Schweiß […] der Wilden […] drauf lieg[e]“[30] und sagt voller Erregung zu seinem Bedienten:

LEYPOLD: […] Sieh dieses Kupfer, es ist aus der Voyage de l’Isle de France – seht ihr Kanaillen wenn ihr euch über unsere Launen beschwert, seht diese Negers an, hat unser Herr Christus mehr leiden können als sie, und das, damit wir unsern Gaumen kützeln – Ihr sollt mir sein Lebtag keine Schokolate mehr machen, auch kein Gewürz mehr auf die Speisen tun, sagt dem Koch […] Wer bin ich, daß andere Leute um meinetwillen Blut schwitzen sollen. Sie dürften mir ja nur auf den Kopf schlagen, so wäre mein Gold ihre – [31]

Das hier zitierte Buch Voyage à L’isle de France von Jacques-Henri Bernardin de Saint-Pierre ist für Lenz unmittelbare Gegenwartsliteratur. Es ist 1773 erschienen, d.h. nur zwei, höchstens drei Jahre vor Abfassung des Stücks. 1774 wird eine deutsche, 1775 eine englische Übersetzung veröffentlicht. Das Werk enthält insgesamt drei Kupferstiche, und es ist eindeutig, dass es sich bei dem im Lenz’schen Text zitierten um jenes Kupferbild handelt, das im Abschnitt über die Sklaverei abgedruckt ist und die Bildunterschrift trägt: „Ce qui sert à vos plaisirs est mouillé de nos larmes.“[32]

Abb. 2: „Ce qui sert à vos plaisirs est mouillé de nos larmes.“ Bernardin de Saint-Pierre, Jacques-Henri: Voyage a L‘isle de France, a l’isle de Bourbon, au cap de bonne-espérance, etc. Avec des Observations nouvelles sur la nature et sur les Hommes, par un officier du Roi. Tome Premier. Paris 1773, S. 199.

Sämtliche Details des Bildes werden im Bernardin’schen Text narrativ entfaltet. So habe er auf seiner Reise einmal einen aufgrund seines Alters arbeitsunfähigen Sklaven, die man verhungern lasse, gesehen, wie er auf einem toten Pferdegerippe saß und Stücke des toten Pferdes aß:

Man jagt sie manchmal wenn sie alt geworden fort, und sie mögen zusehn, wie sie ihr Leben fristen. Ich sahe einst einen, der nichts als Haut und Knochen war, Fleisch von einem todten Pferde reißen, um es zu essen. Es war ein Gerippe, das an einem anderen nagte.[33]

Lenz bringt mit dem Zitat des Buches somit ein Bild auf die Bühne, das das Geschehen in Preußen (1757) und das Trinken von Schokolade mit den kolonialen Verhältnissen in eine Relation der sichtbaren Gleichzeitigkeit versetzt, indem er das Medium, das diese Verhältnisse zwischen Kriegen in Europa sowie kolonialer Ausbeutung in Afrika und anderswo sichtbar macht, seinerseits auf der Bühne als Buch und Bild, als Wissen seiner Gegenwart erscheinen lässt. Während der Vater in seiner subjektiven und selbstgerechten Perspektive hier einen durch das Bild induzierten emotionalen Anfall von schlechtem Gewissen bekommt, der im nächsten Moment schon wieder anderen Emotionen weicht, ist das Bild der Sklaverei und der Zusammenhang von Schokolade, Gaumenkitzel und Gold hier sowie Blut schwitzen dort doch in einer an Georg Büchners Hessischen Landboten (1834) erinnernden Weise zur Sichtbarkeit gebracht. Mit dem Buch, das Lenz hier auf der Bühne erscheinen lässt, ruft er zugleich implizit den Kontext der anderen beiden großen Weltreisen auf, die gleichzeitig stattfanden, die Reise Bougainvilles und die Cooks. Er wählt aber mit Bernardins Voyage den Bericht, der in seiner Machart seiner eigenen subjektiven, christlichen Gegenwartspoetologie folgt: Wo Lenz’ Standpunktnehmen darauf zielt, sich in die Gesichtspunkte der Geringsten zu stellen, fokussiert Bernardin in Form von aus dem jeweiligen Gegenwartsmoment geschriebenen Briefen seinerseits die Lebensrealität und die Perspektive der Ausgebeuteten, der bretonischen Fischer, der Matrosen, vor allem aber der schwarzen Sklaven. Offen kritisiert er, dass sich die Öffentlichkeit von dieser Tatsache wegwende, „als gehöre jene Schandtat nicht zu unserm Zeitalter, an der halb Europa Antheil nimmt“.[34] Lenz greift exakt dies auf, indem er das Buch Bernadines und dessen detaillierte Beschreibung der Realität der Sklaven, die zugleich eine genaue Explikation des im Buch abgebildeten Kupferstichs ist, auf die Bühne holt. Damit geht es zugleich um die Frage, auf welcher Seite das Theater als Medium der Vergegenwärtigung der Gegenwart selbst steht, ein Punkt, der in Bernardins Text selbst thematisiert wird:

Jene schöne Rosen und Feuerfarben, worinn sich unsere Damen kleiden, die Baumwolle womit sie ihre Röcke durchnähen, der Zucker, der Kaffee, die Schokolate die sie frühstücken, das Roth womit sie ihre Weiße erhöhen, ward durch die Hände der unglücklichen Schwarzen für sie zubereitet. Empfindsame Schönen, ihr weinet in den Trauerspielen, und was zu euren Freuden dient, ist mit Thränen benetzt, und mit Menschenblut gefärbt.[35]

Was also kann man mit dem Theater machen, wenn es für Tränen sorgt, die vergnügen, während die Kleider, auf die diese Vergnügungstränen fallen, von ganz anderen Tränen herrühren – Lenz stellt mit dem Zitat des Kupferbildes und dem Auf-die-Bühne-Bringen dieses Textes und dieser Reflexion auf das Trauerspiel das Theater selbst radikal in Frage und transformiert es so in seinem eigenen Theatertext zugleich in ein Medium der Sichtbarmachung komplexer Gegenwartssynchronizität. Dass Lenz damit zugleich in einen Kampf um die öffentliche Sichtbarmachung der Bilder und des Wissens dieser unsichtbaren Gegenwart eintritt, erkennt man daran, dass das zitierte Buch von Bernardine in der damaligen Öffentlichkeit eher randständig war. Es konnte mit seiner radikal kritischen Perspektive auf die Sklaverei in Frankreich nur ohne königliches Druckprivileg erscheinen, während Lenz’ Text selbst damals gänzlich ungedruckt blieb. Es blieb als Medium der Sichtbarmachung der damaligen Gegenwart in dieser Gegenwart unsichtbar.

  1. Lenz, Jakob Michael Reinhold: „Anmerkungen übers Theater“, in: Ders.: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Sigrid Damm. München/Wien 1987 [im Folgenden: WuBr 1-3], Bd. 2, S. 641-671, hier S. 648.
  2. Shaftesbury, Anthony Ashley Cooper: „Soliloquy: or, Advice to an Author“ [1711], in: Ders.: Sämtliche Werke, ausgewählte Briefe und nachgelassene Schriften. In englischer Sprache mit paralleler deutscher Übersetzung. Hg. und kommentiert von Gerd Hemmerich und Wolfram Bender. Stuttgart/Bad Cannstatt 1981, S. 35-301, hier S. 110.
  3. Schmidt, Jochen: Geschichte des Genie-Gedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 1750-1945. Band I: Von der Aufklärung bis zum Idealismus. Heidelberg 2004, S. 258.
  4. Fielding, Henry: „Die Geschichte des Tom Jones“ [1749], in: Ders.: Sämtliche Romane in vier Bänden. Hg. mit Anmerkungen und einer Einführung in die Romankunst Henry Fieldings versehen von Norbert Miller. München 1966, Bd. 2, S. 521
  5. Goethe, Johann Wolfgang: „Von deutscher Baukunst. D.M. Ervini a Steinbach“ [1772], in: Goethes Werke. Hamburger Ausgabe. Bd. XII. München 1982, S. 7-15, hier S. 15.
  6. Lenz: „Anmerkungen“, S. 647.
  7. Wieland, Christoph Martin: „Einige Nachrichten von den Lebens-Umständen des Herrn Willhelm Shakespear“ [1766], in: Ders.: Gesammelte Schriften, 2. Abteilung: Übersetzungen II (3): Shakespeares theatralische Werke. Sechster bis achter Teil, Hg. von Ernst Stadler. Hildesheim 1987 (=Nachdruck der 1. Auflage der Ausgabe Berlin 1911), S. 558–569, hier S. 560.
  8. Lenz: „Anmerkungen“, S. 652.
  9. Krünitz, J.G.: Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft. 242 Bände. Berlin 1773-1858, Bd. 14, S. 441.
  10. Adelung, Johann Christoph: Grammatisch-kritisches Wörterbuch der hochdeutschen Mundart. 4 Bände. Wien 1811, Bd. 2, Sp. 241.
  11. Kluge, Friedrich: Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 22. Auflage. Berlin/New York 1989, S. 225.
  12. Lenz: „Anmerkungen“, S. 652.
  13. Lenz, Jakob Michael Reinhold: „Die Soldaten“, in: Ders.: WuBr 1, S. 191-246, hier S. 244.
  14. Lenz: „Die Soldaten“, S. 244 f.
  15. Lenz an Sophie von La Roche, Juli 1775, in: Ders., WuBr 3, S. 325.
  16. Lenz, Jakob Michael Reinhold: „Über die Natur unseres Geistes“, in: Ders., WuBr 2, S. 619-624, hier S. 622.
  17. WuBr 3, S. 325 f.
  18. Diderot, Denis: „Unterredungen über den natürlichen Sohn“, in: Ders./Gotthold Ephraim Lessing: Das Theater des Herrn Diderot. Stuttgart 1986, S. 81-179, hier S. 159. „Songez qu’il se forme tous les jours des conditions Nouvelles.” Denis Diderot: „Entretiens sur le fils naturel“, in: Ders.: Œuvres esthétiques. Textes établis, avec introductions, bibliographies, chronologie, notes et relevés de variantes par Paul Vernière, Paris 1968, S. 154.
  19. [Mercier, Louis Sébastien]: Neuer Versuch über die Schauspielkunst. Aus dem Französischen [von Heinrich Leopold Wagner]. Mit einem Anhang aus Goethes Brieftasche. Faksimiledruck nach der Ausgabe von 1776, mit einem Nachwort von Peter Pfaff, Heidelberg 1967, S. 199.
  20. Mercier, Neuer Versuch, S. 199. Im französischen Original heißt es: „Il reste à imprimer au Drame un caractère d’utilité présente […].“ [Mercier, Louis Sébastien:] Du théâtre ou nouvel essai sur l’art dramatique. Amsterdam 1773, S. 149.
  21. Mercier: Neuer Versuch, S. 198 f. In der Anmerkung zu „moralische Existenz“ schreibt Mercier: „Die Buchdruckerkunst, das Schießpulver, die Entdeckung der neuen Welt, die Posten, die Wechselbriefe, und das vorgebliche Gleichgewicht Europens haben das ganze alte System über einen Haufen geworfen.“
  22. Ebd., S. 200.
  23. Vgl. hierzu Lehmann, Johannes F.: „‚Ändert sich nicht alles um uns herum? Ändern wir uns nicht selbst?‘ Zum Verhältnis von Leben, Zeit und Gegenwart um 1770“, in: Brückner, Benjamin/Preiß, Judith/Schnyder, Peter (Hg.): Lebenswissen. Poetologien des Lebendigen im langen 19. Jahrhundert. Freiburg im Breisgau 2016, S. 51-73.
  24. Weishaupt, Adam: „Anrede an die neu aufzunehmenden Illuminatos dirigentes“, in: Nachtrag von weitern Originalschriften, welche die Illuminatensekte überhaupt, sonderbar aber den Stifter derselben Adam Weishaupt, gewesen Professor zu Ingolstadt betreffen […], Zwo Abtheilungen, II. München 1787, S. 44–121, hier S. 53 f. Hervorh. J.L.
  25. Lenz an Herder, 20. November 1775, in: Ders., WuBr 3, S. 353.
  26. Vgl. Geyer, Stefan: „Aktualität im Vollzug – Formen der Intertextualität bei Lessing und Goethe“, in: Ders./Lehmann, Johannes F. (Hg.): Aktualität – Zur Geschichte literarischer Gegenwartsbezüge vom 17. bis zum 21. Jahrhundert. Hannover 2018, S. 219-239.
  27. Siehe die ausführliche Interpretation des Textes bei Judith Schäfer: »… da aber die Welt keine Brücke hat …«: Dramaturgien des Fragmentarischen bei Jakob Michael Reinhold Lenz. Paderborn 2016, S. 96-148.
  28. Vgl. hierzu: Lehmann, Johannes F.: „Den Krieg im Rücken. Deserteure im Theater des 18. Jahrhunderts“, in: Auer, Michael/Haas, Claude (Hg.): Kriegstheater. Darstellungen von Krieg, Kampf und Schlacht in Drama und Theater seit der Antike. Stuttgart 2018.
  29. Vgl. Lenz, Jakob Michael Reinhold: „Der tugendhafte Taugenichts“, in: Ders.: WuBr 1, S. 499-526, hier S. 516 f.
  30. Ebd., S. 518.
  31. Ebd., S. 518 f.
  32. Bernardin de Saint-Pierre, Jacques-Henri: Voyage a L‘isle de France, a l’isle de Bourbon, au cap de bonne-espérance, etc. Avec des Observations nouvelles sur la nature et sur les Hommes, par un officier du Roi. Tome Premier. Paris 1773, S. 199. Das Werk enthält insgesamt drei Kupferstiche (alle von Jean-Michel Moreau, genannt Moreau Le Jeune). Der hier abgedruckte, auf den sich die Figur Leybold zweifellos bezieht, ist zentrales Element in dem zwölften Brief, der die Verhältnisse der schwarzen Sklaven beschreibt. Siehe zum Kontext Howell, Robin: „Bernardin de Saint-Pierres Founding Work: The Voyage a L’île de France“, in: Modern Language Review 107 (2012), S. 756-771.
  33. [Bernardin de Saint-Pierre, Jacques-Henri]: Reise eines königlichen französischen Officiers nach den Insuln Frankreich und Bourbon, dem Vorgebürge der guten Hoffnung, u.s.w: Nebst neuen Bemerkungen über die Naturhistorie und die Menschen. Aus dem Französischen übersetzt und mit einigen Anmerkungen versehen. Zwey Theile. Altenburg 1774, S. 147.
  34. Ebd., S. 155.
  35. Ebd.

Poetologie | Verwandtschaften | Unzeitgemäße Betrachtung: Lenz mit Nietzsche lesen

Wie fängt etwas an? Die Frage hat sich im Laufe der Beschäftigung mit Lenz wiederholt verschoben, sie lautet jetzt: Wo fängt das hier an? Was muss hinein, was muss ausgelassen werden? Wo hört das hier auf? Der erste Impuls ist es, etwas zu konzentrieren, vielleicht zu fokussieren, der zweite, ein paar Aspekte herauszugreifen. Die Angst, dass dabei alles zusammenstürzen könnte, ist so wenig überraschend wie die Anfangsfrage, das macht sie jedoch nicht weniger dringlich. Mit Blick auf Lenz und Nietzsche scheint es ratsam, anstatt aus einem ‚großen Ganzen‘ ein ‚kleines Ganzes‘ zu machen, lieber ein Stück herauszuschlagen, ein Fragment zu schaffen, sodass dann vielleicht etwas dunkel bleiben muss, dafür aber tiefer gehen kann. In diesem Sinne muss dann wohl das Verhältnis dieses Artikels und der ursprünglichen Bachelor-Arbeit, aus der er sich speist, nicht letztendlich geklärt werden.
Am Anfang steht die These, dass das Schreiben von Jakob Michael Reinhold Lenz und Friedrich Nietzsche sich gegenseitig, d.h. füreinander produktiv machen lassen.
Methodisch soll Nietzsches Schrift Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben (1874) dafür zur ‚Folie‘ für das Lenz’sche Schreiben werden, mit besonderer Aufmerksamkeit auf die Anmerkungen übers Theater (1774) und Pandämonium Germanikum (entst. 1775). Mit dem Begriff der ‚Folie‘ befinden wir uns bereits bei Lenz. Der Begriff meint bei Lenz Johannes F. Lehmann zufolge[1] nicht etwa einen transparenten Filter, durch den die Welt betrachtet wird, sondern eine Metallfolie[2], die das Innere eines Spiegels ausmacht – die eben die Spiegelung erst ermöglicht.
Die methodische Rahmung durch die ‚Folie‘ legt ein grundsätzlich erkenntnistheoretisches Problem nahe. Sie erscheint nur unter der epistemischen Prämisse sinnvoll, dass es keinen ‚direkten‘ Blick auf die Wirklichkeit gibt, dass die Welt den Menschen nur in ‚Spiegelbildern‘ zugänglich ist. Unser Bild von der Welt hängt von der Folie ab, die es zurückspiegelt. Was dabei Zerrbild ist und was dem vermeintlich ursprünglichen Gegenstand entspricht, ist dabei bisweilen schwer zu beurteilen. Die Spuren dieser Prämisse lassen sich in unterschiedliche erkenntnistheoretische Diskurse nachverfolgen, besonders aber auch in das Schreiben von Lenz und Nietzsche. Ein besonders wichtiger Anknüpfungspunkt dafür ist die u.a. von Judith Schäfer besonders herausgehobene Notiz Lenzens „Es ist alles in der Welt schraubenförmig u. wir sehen grade“[3]. Vor diesem Hintergrund erscheint Lenzens Schreiben als zweifache Reaktion auf die Welt: Einerseits als Schreiben, das der Welt ähnelt, indem es sich den Lesenden immer ein Stück weit entzieht, sich schraubenförmig in die Tiefe verliert und immer nur ein Stück von sich preisgibt. Andererseits als Schreiben, das dem Blick des Menschen auf die Welt ähnelt bzw. diesen in seiner Unübersichtlichkeit, seiner Unvollkommenheit, seiner fragmentarischen, die Welt fragmentierenden Art und Weise illustriert.[4] Nietzsche auf der anderen Seite fragt mit Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben unter anderem, inwiefern es Wissen über die Geschichte geben kann, wie dieses strukturiert ist und ob es ein Heraustreten aus der Historizität, aus der eigenen Zeit gibt. Fragen, die allgemeine Sprengkraft haben, sich aber auch im Speziellen zuspitzen lassen – z.B. dahingehend, wie es tatsächlich um Lenzens physische und psychische Gesundheit stand und wie sich die Erzählung seiner Krankheit in seine Rezeption eingeschrieben hat.[5]

Bevor die Folie und das zugehörige Spiegelbild genauer betrachtet werden, blicken wir kurz zu den Umrissen Lenzens, die einander auch bei Verwendung unterschiedlicher Folien ähneln.
Jakob Michael Reinhold Lenz ist als Schriftsteller des Sturm und Drang bekannt. Sein Schreiben nimmt vielfältige Formen an, es reicht von theoretisch-ästhetischen bzw. poetologischen Schriften wie den Anmerkungen übers Theater, Über die Natur unseres Geistes (1771-73) oder Das Hochburger Schloß (1777), über Dramen und Gedichte bis hin zu „sozialreformistische[n] Schriften und Studien“[6] in seiner Moskauer Zeit. Seine Texte richten sich häufig gegen die Konventionen der Gattung, in der sie sich zu bewegen scheinen (z.B. Anmerkungen übers Theater, Der Hofmeister[7]), liegen in mehreren Fassungen vor (z.B. Pandämonium Germanikum) oder sind inhaltlich sprunghaft, bisweilen absurd, fast grotesk[8] (Der neue Menoza). Lenz schreibt durchaus für die Bühne, wird aber zu Lebzeiten kaum aufgeführt, was sicherlich mit seinem sowohl inhaltlich wie auch formal unkonventionellen Schreiben in Verbindung gebracht werden kann.[9] Lenzens Bekannt- oder gar Freundschaften zu wichtigen Gelehrten seiner Zeit wie Goethe oder Herder haben in seiner Rezeptionsgeschichte große Aufmerksamkeit erfahren. Seine eigenen Schriften finden aber weder bei den Freunden noch beim Publikum viel Erfolg. Lenz verbringt einen Teil seines Lebens in relativer Armut und wäre nach seinem Tod in Moskau 1792 beinahe in Vergessenheit geraten. Ein besonderes Merkmal des Lenz ҆schen Schreibens ist ein fragmentarisches Moment, das sich von der Quellenlage, über den bisweilen sprunghaften, verworrenen Schreibstil, gar bis hin zur (An-)Ordnung des Schreibens in den handschriftlichen Manuskripten selbst erstreckt und sich zuletzt auch im Inhalt findet. In der bewegten Rezeptionsgeschichte Lenzens wird ihm dieses fragmentarische Schreiben durchaus als Mangel ausgelegt, in jüngerer Zeit aber auch als konstitutives Moment seines Schreibens verstanden.[10] Ein wiederkehrendes Motiv ist z.B. die Maschine, als welche er sowohl den Menschen in seinem sozialen Kosmos als auch die Welt selbst beschreibt. Beide rattern mechanisch und scheinbar sinnlos in den ihnen zugewiesenen Positionen und der Mensch ist der Weltmaschine ausgeliefert:

[…] wir drehen uns eine Zeitlang in diesem Platz herum wie die andern Räder und stoßen und treiben – bis wir wenns noch so ordentlich geht abgestumpft sind und zuletzt wieder einem neuen Rade Platz machen müssen […] – und was bleibt nun der Mensch noch anders als eine vorzüglichkünstliche kleine Maschine, die in die große Maschine, die wir Welt […] nennen besser oder schlimmer hineinpaßt.[11]

Viele seiner Schriften tragen etwas Dunkles in sich, das sich einem vollständigen Entdecken, einem letztendlichen Verstehen, einer einfachen Deutung durch Lesende entzieht. Sei es eine bewusste Auslassung, eine unklare Referenz, ein inhaltlicher Sprung oder eine unleserliche Korrektur im Manuskript.
Bevor wir uns in Skizzen verlieren, soll nun die Folie, also Nietzsches Schrift, betrachtet werden, um herauszufinden, welches Licht sie auf den hier kurz umrissenen Lenz werfen kann. Unzeitgemäße Betrachtungen. Zweites Stück: Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, so lautet der vollständige Titel der im Jahr 1874 erscheinenden und von der philologischen Fachwelt – nach Nietzsches skandalisierten und verrissenen ersten beiden Veröffentlichungen[12] – wenig beachteten Schrift. Zu einem späteren Zeitpunkt seines Lebens wird sie vom Autor selbst ebenso wie weitere ‚frühe Schriften‘ bis zu einem gewissen Grad problematisiert.[13] In der Nietzsche-Rezeption der folgenden Jahrzehnte gelangt sie aber zu einiger Berühmtheit.[14] Ein Beispiel für diese Rezeption ist die Aufmerksamkeit, die Nietzsches Schrift im Kontext des Historismus zuteilwird. Jener wird auch ein wichtiger inhaltlicher Bezugspunkt der Schrift. Nietzsche formuliert mit Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben als einer der ersten Denker seiner Zeit[15] wichtige Fragen und Probleme dieser sich gerade formierenden oder durchsetzenden Strömung. Neben dem Historismus sei an dieser Stelle als wichtiger Bezugspunkt für Nietzsches Schrift der deutsche Idealismus, im Besonderen mit Rückgriff auf Georg Wilhelm Friedrich Hegel, genannt. Relevant ist hier vor allem dessen Idee der Welt oder eines teleologischen Weltsystems, in welches die gesamte Menschheitsgeschichte gefasst ist und das sich im Fortschreiten der Zeit immer weiter dem Ziel (Telos) entgegen bewegt. Die Ansicht, dass der einzelne Mensch sich bewusst bleiben müsse, „[…] dass sein fragmentarisches Denken und Dasein höheren Zielen dient“[16], bringt dies auf den Punkt.[17] Inhaltlich nimmt das Werk sich dem Begriff der Geschichte/Geschichtsschreibung oder auch Historie oder der historischen Bildung an. Dabei geht es Nietzsche vor allem um eine Kritik ‚der Zeit‘, ausgehend von der Beobachtung, „dass wir Alle an einem verzehrenden historischen Fieber leiden und mindestens erkennen sollten, dass wir daran leiden“.[18] Es besteht also ein Missstand: Historie wird auf eine falsche, eine ungesunde Art und Weise betrieben. Die offensichtlichste und aus der Feder eines Philologen vielleicht überraschende Kritik: Es wird zu viel, zu ausufernd Geschichte geschrieben. Alles wird, kaum ist es geschehen, historisch erfasst und niedergeschrieben. Dabei werden aus historischen Zusammenhängen Fakten gemacht. Neben einer ‚Sammelwut‘ stellt sich auch eine Simplifizierung ein, die auf einfache Kausalketten zurückgreift. Eine genaue Definition bzw. Distinktion eben jener immer wieder auftauchenden Begriffe wird dabei nicht gegeben und sie scheinen nahezu synonym verwendet zu werden.[19] Drei Komplexe aus Nietzsches Schrift sind für die Verbindung zu Lenz von besonderem Interesse: Das Unzeitgemäße, Kritik an Teleologie und ‚Objektivität‘ und schließlich Das Leben, wobei sich der vorliegende Beitrag auf ersteres konzentriert. Wortwörtlich schreibt Nietzsche wenig vom Unzeitgemäßen, obwohl seine Schrift mit jenem Begriff übertitelt ist. In einer der wenigen Äußerungen dazu wird eine zentrale Denkfigur deutlich, die für das Verständnis von Nietzsches Schrift sowie für die Argumentation dieses Aufsatzes entscheidend ist:

Unzeitgemäss ist auch diese Betrachtung, weil ich etwas worauf die Zeit mit Recht stolz ist, ihre historische Bildung, hier einmal als Schaden, Gebreste und Mangel der Zeit zu verstehen versuche […]. [D]enn ich wüsste nicht, was die classische Philologie in unserer Zeit für einen Sinn hätte, wenn nicht den, in ihr unzeitgemäss – das heisst gegen die Zeit und dadurch auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit – zu wirken.[20]

Das ist eben unzeitgemäß handeln für Nietzsche: Gegen die Zeit, auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit. Es ließe sich noch hinzufügen: aus der Zeit heraus, in dem Sinne, dass jene zwar nicht verlassen wird, der Blick des Unzeitgemäßen Betrachters sich seiner Position in der Zeit bewusst ist, aber doch in die Ferne über sie hinausgeht.
Die unzeitgemäße Betrachtung der Historie lässt ein anderes Zeitverständnis als das der sukzessiv aufeinander folgenden/aufbauenden Jahrhunderte, von denen jeweils das vorangegangene das kommende bestimmt, zu. Es ist eine komplexere Zeitstruktur denkbar, eine Verbindung der Menschen über die harsche Trennung durch die Regeln der Historie hinaus. Diese Bewegung gegen die klassische Historie hat etwas Unhistorisches[21] an sich, enthält eine bewusste Auslassung, einen Moment des Vergessens, die Fähigkeit, sich in einen „begrenzten Horizont einzuschliessen“[22]. Renate Reschke schreibt über Nietzsches Verständnis von Geschichte:

[V]ielmehr sieht er sie als Kontinuum von Geisteshorizonten, in das sich derjenige stellen kann, der willens ist, das Vergangene der Erinnerung zu überlassen und es sich so in erinnernder Narrativität und narrativer Erinnerung immer wieder vergegenwärtigen kann, ohne von ihm überwältigt zu werden […]. […] [D]ass sich die großen Geister aller Zeiten über die Epochen […] hinweg in einer Art ‚Gelehrten-Republik‘ verständigen und in einer geistigen Welt eine kulturelle Kontinuität der Gedanken leben, ist als Quintessenz des Unhistorischen zu verstehen, als Idealbild eines Umganges mit Historie […].[23]

Der tugendhafte Mensch schwimmt Nietzsche zufolge immer gegen die „geschichtlichen Wellen“[24] an. Es lässt sich darum vermuten, dass in dieser Gegenbewegung grundsätzlich eine Konstellation verborgen ist, eine Position, der Nietzsche besondere Qualität zuspricht. Es ist eine Position, die sich im Abseits befindet, die eben durch die Verweigerung eines Aufgehens in den herrschenden Diskursen der Zeit einen besonderen Blick auf jene ermöglicht. Giorgio Agambens Nietzsche-Lektüre in Rückgriff auf Roland Barthes setzt den Begriff der Zeitgenossenschaft an diese Stelle:

Der Gegenwart zeitgenössisch, ihr wahrhaft zugehörig ist derjenige, der weder vollkommen in ihr aufgeht noch sich ihren Erfordernissen anzupassen versucht. Insofern ist er unzeitgemäß; aber ebendiese Abweichung, dieser Anachronismus erlauben es ihm, seine Zeit wahrzunehmen und zu erfassen.[25]

Soviel zur Folie. Wie lässt sich Lenz nun darin spiegeln? Mit Blick auf die zu Beginn erwähnte Quellenlage und die Kritik an der bestehenden Ausgabe der Werke und Briefe von Sigrid Damm[26] lässt sich das Unzeitgemäße zuerst in einem editorischen Problem Lenzens suchen. Andrea Krauß liest dieses Problem in einem produktiven Sinne, da die Methode des Zugriffs bei einem sich gleichermaßen entziehenden Gegenstand ständig neu befragt werden muss:

[D]iese schwierige Materiallage des lückenhaften, brüchigen Werks [bringt] einen bestimmten, sagen wir: darstellungskritischen Zugewinn: Sie zwingt die Editoren zu fortlaufender Selbsterklärung, zum Kommentar des Kommentierens, zum Eingeständnis der Grenzen des eigenen Tuns, zur beständigen Revision der editorischen Aufgabe.[27]

Gerade in der problematischen Verfasstheit des Nachlasses Lenzens wird die Forderung deutlich, immer wieder das eigene (editorische) Tun zu befragen und von angenommenen Selbstverständlichkeiten Abstand zu nehmen, sich außerhalb der Zeit zu stellen und neu zu überlegen, was gesagt werden kann und was dunkel bleiben muss. Angesichts dieser Dunkelheit, die im Lesen der Lenz’schen Texte auf mehreren Ebenen liegt, schlagen sowohl Judith Schäfer[28] als auch Andrea Krauß[29] eine ‚unendliche Lektüre‘ als Methode des Zugangs vor. Lenz’ Texte lassen sich dann mit jedem Lesen anders durchschreiten, sei es, dass ein anderer Zugang gewählt oder im Weg durch den Text eine andere Richtung eingeschlagen wird. Nach jedem Lesen ergibt sich eine zumindest leicht veränderte Erkenntnis über/durch den Text. Aufsummiert ergeben diese aber keine vollständige Erkenntnis, da es sich um einen nicht endenden Prozess handelt und es kein vollständiges Wissen über die fragmentarischen Schriften Lenzens geben kann. An dieser Stelle tritt also wieder das Fragment auf, das Fragment als Ereignis im Sinne Jean-Luc Nancys, in Abgrenzung zum Fragment als ‚Gattung‘.[30]

Diesem Fragment – Fragmentierung, sagt Nancy auch – wohnt ein „Ereignischarakter“ inne. Es sei ein „Sich-Ereignen der Darstellung“, eine „Bahnung eines Zugangs zur Darstellung, […] ihre sich anbahnende Präsenz“ – aber, anders als das Fragment als Gattung, eben keine Darstellung von etwas. […] Stattdessen ist es die Figur einer bewegten, sich auf einer Schwelle verortenden Öffnung.[31]

Diese Öffnung soll hier vor dem Hintergrund Nietzsches gerade als Öffnung zur Zeit hin, oder im Sinne des ‚Geistergesprächs‘[32] Nietzsches über die Zeiten hinaus verstanden werden.[33] Gerade im Sich-Ereignen des fragmentarischen Textes wird die historische Abgeschlossenheit, die strenge Grenze zwischen den Zeiten aufgeweicht, rückt im Sinne Nietzsches ein Erleben von Historie näher, wird die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen greifbarer. Weiter auf Nietzsche eingehend, liegt in der Öffnung des Fragments sowie in der unendlichen Lektüre dann auch eine grundsätzliche Verweigerung gegenüber teleologischen Bemühungen: Ein unendlicher Prozess, der eben kein Ziel hat, zu dem sich ‚hinentwickelt‘ wird, sondern der immer wieder neu zu durchlaufen ist und bei dem sich unterschiedliche Lesarten gleichwertig gegenüberstehen, ist für solche Ansätze unbrauchbar. Ein nicht abschließbares Fragment der Öffnung reißt eine Lücke in den sukzessiven Ablauf der teleologisch aufeinanderfolgenden Zeiten. Lenz’ Schreiben ist aber mehr als nur fragmentarisch, dunkel oder schwer zu durchdringen. Es ist auch in vielerlei Hinsicht und im besten Sinne frech, bisweilen anmaßend. Johannes F. Lehmann attestiert Lenz einen „Realismus“, ein Streben nach einem Theater, das auf „die Darstellung der Stände zielt, auf die sozialen Rollen und Bedingungen“[34]. Dieser Realismus wird einerseits inhaltlich in der Auseinandersetzung mit gesellschaftlich brisanten Themen wie Bildung, Erziehung, Sexualmoral sichtbar, die sich (zumindest so, wie Lenz sie verhandelt) der etablierten Form des bürgerlichen Trauerspiels entziehen (Die Soldaten, Der neue Menoza, Der Hofmeister). Andererseits sind auch der Aufbau von Lenzens Stücken und die fragmentarischen Dramaturgien, die sich den aristotelischen Einheiten verweigern, insofern als realistisch zu verstehen, als sie gerade nicht ideal(ist)isch und in ihrer Unwahrscheinlichkeit eben dem Einzelfall des Lebens näherstehen als dem Gesetz der Wahrscheinlichkeit und des Allgemeinen. Bisweilen scheint Lenz die Arbeit einiger älterer oder zeitgenössischer Dramatiker gar zu persiflieren.[35]
Lenz problematisiert, was er als zeitgenössisches deutsches Theater wahrnimmt, in den Anmerkungen übers Theater:

[E]in wunderbares Gemenge alles dessen, was wir bisher gesehen und erwogen haben, und das zu einem Punkt der Vollkommenheit getrieben, den kein unbewaffnetes Auge mehr entdecken kann. Deutsche Sophokles, deutsche Plautus, deutsche Shakespears, deutsche Franzosen, deutsche Metastasio, kurz alles was Sie wollen, durch kritische Augengläser angesehen und oft in einer Person vereinigt? Was wollen wir mehr. (…) [W]er Ohren hat zu hören, der klatsche, das Volk ist verflucht.[36]

Es sei eben nur eine fälschliche, ja verfälschende Wiedergabe des Alten, das aufgeführt werde. Die Verbindung zu Nietzsches Wort vom Übermaß an Historie, die Mahnung zur Herrschaft des Lebens über die Historie klingt hier an: Die historischen Stoffe haben ein solches Übergewicht erlangt, dass ein deutsches Theater sich unter dieser Last kaum entwickeln kann. Es kann nichts Neues entstehen, oder mit Nietzsche: „aber es giebt einen Grad, Historie [‚historisches‘ Theater] zu treiben und eine Schätzung derselben, bei der das Leben verkümmert und entartet“[37]. Wie bei der Historie liegt hier ein geschlossenes System vor, das nichts Neues entstehen lässt, die alten Stoffe nur einigermaßen kritisch beäugt und dann reproduziert. Es fehlt am Unhistorischen, an Vergessen, Jugend, Leben. In Lenzens scharfer Kritik des deutschen Theaters löst sich auch ein Aspekt von Nietzsches Unzeitgemäßem ein: Es ist eine Bewegung gegen die Zeit, gegen die Konvention.
Was ist das Theater, das Lenz sucht? Das ‚neue‘, ‚deutsche‘ Theater, das Theater des Lebens und nicht der Historie, wie soll es aussehen? Lenz gibt darauf in den Anmerkungen und auch an anderer Stelle keine direkte Antwort, sein Gedankengang bricht ab:

Mit ihrer Erlaubnis werde ich also ein wenig weit ausholen, weil ich solches zu meinem Endzweck – meinem Endzweck? Was meinen Sie aber wohl, das der sei? […] Da ich hier aber kein solches Publikum – so untersteh ich mich nicht, ihnen den letzten Endzweck dieser Anmerkungen, das Ziel meiner Parteigänger anzuzeigen. Vielleicht werden Sie wenn Sie mit mir fortgeritten sind, von selbst darauf stoßen und alsdenn – Wir alle sind Freunde der Dichtkunst […].[38]

Dieses Abbrechen, dieses Verweigern von Eindeutigkeiten tritt mehrfach in den Anmerkungen auf und ist besonders hervorzuheben. Es ist nicht nur ein Stilmittel Lenzens, ein Fragment als Gattung. In der Offenheit des Abbruchs liegt eine konkrete inhaltliche Aussage – gerade die Antwort, die gesucht wird: In der Verweigerung, im Abbruch schimmert ein denkbares Theater durch, das eben diesen Abbruch zulässt. Ein Theater, das dem fragmentarischen Schreiben Raum bieten kann, das sich, der unendlichen Lektüre folgend, immer wieder selbst befragt und in Frage stellt.

Auch diesem Beitrag bleibt nichts übrig, als abzubrechen. Es bleibt zu hoffen, dass er ein Anfang sein kann für ein ‚Geistergespräch‘ zwischen Lenz und Nietzsche. Dabei gilt es nicht nur, Lenz mit Nietzsche, sondern auch Nietzsche mit Lenz zu lesen. Für eine Lesart, in der die Schriften beider Autoren Folie und Spiegelbild zugleich sind, sich ähnlich der unendlichen Lektüre in unendlichen Spiegelbildern ineinander wiederfinden. Ganz im Sinne des Unzeitgemäßen: Gegen die Zeit, auf die Zeit und hoffentlich zu Gunsten einer kommenden Zeit.

  1. Vgl. Johannes Lehmann: „J.M.R. Lenz’ Poetologie einer Gegenwartsdramatik. Die Anmerkungen übers Theater und Der tugendhafte Taugenichts“ in der vorliegenden Thewis-Ausgabe.
  2. „Folie, aus dem Lat. Folium, ein Blatt, ein zu dünnen Blättchen und Blechen geschlagenes Metall, welches man gebrauchet, einen Körper, der sonst das Licht durchfallen läßt, dahin zu bringen, daß er die in ihn einfallenden Lichtstrahlen zurück werfe; Lat. Metallum foliatum, Fr. Feuille. In diesem Verstande nennet man also 1) eine Folie, Spiegelfolie, Fr. Tain, oder Teint, das, vermittelst des Quecksilbers, hinten auf das Spiegelglas gelegte dünne Blättchen von feinem Zinne, welches sonst, und ehe es auf das Spiegelglas gebracht ist, Stanniol heißt“, Krünitz, Johann Georg: „Folie“, in: Ders.: Oekonomische Encyklopädie oder allgemeines System der Staats- Stadt- Haus- und Landwirthschaft. 242 Bände. Berlin 1773-1858, Bd. 14, S. 441.
  3. Zit. n. Schäfer, Judith: »… da aber die Welt keine Brücken hat …«. Dramaturgien des Fragmentarischen bei Jakob Michael Reinhold Lenz. Paderborn 2016, S. 15.
  4. „Das Fragmentarische muss keiner Logik folgen, sich keiner sukzessiven, hierarchischen Struktur unterordnen. Gerade in Sprüngen, (Ab-)Brüchen, scheinbar Zufälligem, im Umherschweifenden, im Labyrinthischen und unkontrolliert Wuchernden bildet es einen Wirklichkeitszugang ab, der im systematischen Diskurs nicht darstellbar wäre. Das Fragmentarische zeigt das uneinholbar Kontingente der Welt in ‚Form der Unterbrechung‘. Es hat darum immer auch mit Zeitlichkeit, Vergänglichkeit, Wandelbarkeit zu tun.“ Ebd., S. 46.
  5. Dies reflektieren unter anderen Heribert Tommek in seiner Herausgabe der Moskauer Schriften (Lenz, Jacob Michael Reinhold: Moskauer Schriften und Briefe. Textband und Kommentarband. Hg. von Heribert Tommek. Berlin 2007) und Andrea Krauß, die über diese Schriften anmerkt, sie seien „vorschnell der ‚Krankheitsphase‘ eines vermeintlich wahnsinnig gewordenen Lenz zugerechnet“ worden. Krauß, Andrea: Lenz unter anderem. Aspekte einer Theorie der Konstellation. Zürich 2011, S. 60.
  6. Tommek, Heribert: „Wie geht man mit den Moskauer Schriften von Lenz um? Skizze eines Editionsprojektes und eines literatursoziologischen Kommentars“, in: Stephan, Inge/Winter, Hans-Gerd (Hg.): „Die Wunde Lenz“. J.M.R. Lenz: Leben, Werk und Rezeption. Bern 2003, S. 55-78, hier S. 65.
  7. Gemeint sind hier u.a. der Stil eines wissenschaftlichen Vortrages oder einer Abhandlung, der in den Anmerkungen übers Theater immer wieder gebrochen wird, und das Verweigern von Konventionen wie den drei aristotelischen Einheiten in einem Drama wie Der Hofmeister.
  8. Zum Begriff der Groteske vgl. Rosen, Elisheva: „Grotesk“ [Art.], in: Barck, Karlheinz et al. (Hg.): Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden. Stuttgart/Weimar 2001, S. 876-900.
  9. Dass z.B. Lenzens Räume die Möglichkeiten der Bühnen seiner Zeit sprengen und wie untypisch die Struktur der Raumsituation im Pandämonium ist, zeigt Viviane Hoof in ihrem Beitrag Räume in Bewegung. Zur Konzeption der Schauplätze in Lenz’ Dramen in der vorliegenden Thewis-Ausgabe.
  10. Zur Rezeptionsgeschichte Lenzens siehe z.B. Stephan, Inge/ Winter, Hans-Gerd (Hg.): „Ein vorübergehendes Meteor“? J.M.R. Lenz und seine Rezeption in Deutschland. Stuttgart 1984, Luserke, Matthias (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz im Spiegel der Forschung. Hildesheim u.a. 1995 sowie Müller, Peter (Hg.): Jakob Michael Reinhold Lenz im Urteil dreier Jahrhunderte: Texte der Rezeption von Werk und Persönlichkeit. Bern u.a., Bd. I-III 1995, Bd. IV 2005. Zur ‚Rehabilitation‘ des Fragmentarischen siehe Krauß und Schäfer (vgl. Fn. 4 u. 6.).
  11. Lenz, Jakob Michael Reinhold: „Über Götz von Berlichingen“, in: Lenz, Jakob Michael Reinhold: Werke und Briefe in drei Bänden. Hg. von Sigrid Damm. München/Wien 1987, Bd. 2, S. 637-641, hier S. 637, [im Weiteren: WuBr 1-3]. Auch Nietzsche bemüht bisweilen, ähnliche Motive in seiner Auseinandersetzung mit Ökonomie und Bildung: „Das heisst eben doch nur: die Menschen sollen zu den Zwecken der Zeit abgerichtet werden, um so zeitig als möglich mit Hand anzulegen; sie sollen in der Fabrik der allgemeinen Utilitäten arbeiten, bevor sie reif sind, ja damit sie gar nicht mehr reif werden – weil dies ein Luxus wäre, der ‚dem Arbeitsmarkte‘ eine Menge von Kraft entziehen würde.“, Nietzsche, Friedrich: „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“, in: Ders.: Digitale Kritische Gesamtausgabe.Werke und Briefe. Auf Grundlage der Kritischen Gesamtausgabe Werke. Hg. v. Colli, Giorgio/Montinari, Mazzino. Berlin/New York, 1967 ff. und Nietzsche Briefwechsel Kritische Gesamtausgabe. Berlin/New York, 1975ff. Hg. v. D’Iorio, Paolo. [im Folgenden eKGWB; o.S.] unter http://www.nietzschesource.org/#eKGWB vom 27.05.2018. Die eKGWB wird von Paolo D’Iorio herausgegeben und von Nietzsche Source publiziert. Da diese Quelle dem wissenschaftlichen Anspruch genügt sowie wegen ihrer Aktualität und der Anwenderfreundlichkeit, wurde sich für diese digitale anstatt einer analogen Gesamtausgabe entschieden.
  12. Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik, Unzeitgemässe Betrachtungen, Erstes Stück: David Strauss der Bekenner und Schriftsteller. Siehe zur Rezeption in der Altphilologie u.a. Ottmann, Henning (Hg.): Nietzsche Handbuch. Stuttgart 2000, S. 428-429.
  13. Jedenfalls kann der Versuch einer Selbstkritik, der der Erstlingsschrift Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik oder Pessimismus und Griechentum bei ihrer Neuveröffentlichung vorangestellt ist, so gelesen werden, da die Unzeitgemässen Betrachtungen in eine ähnliche Schaffensphase wie die Tragödienschrift fallen und viele begriffliche Ähnlichkeiten diese Kritik nahelegen. Vgl. Nietzsche, Friedrich: „Die Geburt der Tragödie aus dem Geiste der Musik oder Pessimismus und Griechentum“, in: eKGWB; o.S.
  14. Diese Rezeption findet sowohl in der Literatur als auch in der Wissenschaft statt. So beziehen sich direkt Ernst Troeltsch in seinen Überlegungen zur Krise des Historismus, aber auch z.B. Robert Musil in Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste sowie in seinem Roman Der Mann ohne Eigenschaften explizit und implizit auf Nietzsches zweite Unzeitgemässe Betrachtung. Vgl. dazu Oexle, Otto Gerhard: „Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Eine Problemgeschichte der Moderne“, in: Ders. (Hg.): Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit. Wissenschaft, Kunst und Literatur 1880-1932. Göttingen 2007, S. 11-116, hier S. 13 f. Auch Paul Celan scheint der Schrift einige Aufmerksamkeit gewidmet zu haben, vgl. Wergin, Ulrich: „‚Gespräch im Gebirg‘. Celan gibt Büchners ‚Lenz‘ mit Nietzsche zu lesen“, in: Stephan, Inge/Winter, Hans-Gerd (Hg.): Zwischen Kunst und Wissenschaft. Jakob Michael Reinhold Lenz. Bern 2006 S. 197-212.
  15. Vgl. Oexle: „Krise des Historismus – Krise der Wirklichkeit“, S. 13.
  16. Greif, Stefan: „Idealismus, deutscher“ [Art.], in: Nünning, Ansgar (Hg.): Metzler Lexikon Literatur und Kulturtheorie. Stuttgart 2013, S. 318-320, hier S. 320.
  17. Interessanterweise taucht hier das Fragmentarische als bezeichnend für das Denken und Handeln des Menschen auf. Dieses ist aber im Kontext des Idealismus so zu verstehen, dass gerade in der Unvollkommenheit das vollkommene Ganze, das Ziel angekündigt werde. Es ist zu unterscheiden vom Fragmentarischen, das Schäfer bei Lenz mit Rückbezug auf das Fragment als Ereignis bei Nancy findet, insofern, als es bei Hegel in seiner Fragmentiertheit nur auf ein abwesendes Ganzes verweist und sich damit gleichermaßen wieder verschließt, die radikale Öffnung nicht zulässt. Hier liegt eine Analogie zum Fragment in der Romantik. Vgl. Schäfer: »… da aber die Welt keine Brücken hat …«, S. 35 ff.
  18. Nietzsche: „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“, in: eKGWB; o.S.
  19. Für eine genauere Untersuchung der Termini vgl. Jensen, Anthony K: „Geschichte or Historie? Nietzsche’s Second Untimely meditiation in the Context of Ninteenth Century Philological Studies”, in: Dries, Manuel (Hg.): Nietzsche on Time and History, Berlin/New York 2008, S. 213-229.
  20. Nietzsche: „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“, in: eKGWB; o.S.
  21. Nietzsche unterscheidet zwei Triebe: das Unhistorische und das Überhistorische. Ersterer wird als tierischer Trieb des Vergessens beschrieben, als eine Art Gegenkraft zum menschlichen Verlangen, Historie zu betreiben, Dinge festzuhalten, zu archivieren, weiterzugeben. Die überhistorische Position ist die eines Genies, dessen Wahrheiten und Erkenntnisse universell sind, losgelöst vom Lauf der Zeit und somit von den historischen Bemühungen der Menschen. Diese Position erscheint erstrebenswert und man könnte meinen, Nietzsche würde sich selbst in selbiger sehen. Dem ist aber nicht so: Er distanziert sich klar vom überhistorischen Betrachter, den nichts mehr etwas angeht und der sich vor der Trivialität der wiederkehrenden menschlichen Fragen an das Leben und die Welt ekelt.
  22. Nietzsche: „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“, in: eKGWB; o.S.
  23. Reschke, Renate: „‚[…] dass die Weisen aller Zeiten unhistorisch gedacht haben‘. Friedrich Nietzsche über Weisheit, Historie und Medien“, in: Gerhardt, Volker/Dies. (Hg.): Friedrich Nietzsche. Geschichte, Affekte, Medien, Berlin 2008: S. 21-40, hier S. 29.
  24. Nietzsche: „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“, in: eKGWB; o.S.
  25. Agamben, Giorgio: „Was ist Zeitgenossenschaft?“, in: Ders.: Nacktheiten. Frankfurt am Main 2010, S. 21-35, hier S. 22.
  26. Vgl. Babelotzky, Gregor: „Die Handschriften der Dramen, das Drama der Handschriften“. Unveröffentlichter Vortrag im Rahmen des Symposiums Lenz-Herbst, Theater an der Ruhr (Mülheim), 9.Oktober 2016 sowie Ders, /Schäfer, Judith: „Zur kritischen Edition von Lenz’ dramatischen Entwürfen und Notizen“, in: Roßbach, Nikola/ Martin, Ariane/Schulz, Georg-Michael (Hg.), Lenz-Jahrbuch 21 (2014) – Literatur – Kultur – Medien 1750-1800. St. Ingbert 2014, S. 159-163.
  27. Krauß: Lenz unter anderem, S. 52 f.
  28. Schäfer: »… da aber die Welt keine Brücken hat …«, S. 50.
  29. Krauß: Lenz unter anderem, S. 59.
  30. Analog zum Kontext des deutschen Idealismus verweist ein gattungsbedingtes Fragment nur auf ein fehlendes Ganzes und schließt sich damit gleichermaßen selbst wieder ab, nimmt sich die radikale Öffnung. Vgl. Schäfer, »… da aber die Welt keine Brücken hat …«, S. 36 ff.
  31. Schäfer: »… da aber die Welt keine Brücken hat …«, S. 36.
  32. „[E]in Riese ruft dem anderen durch die öden Zwischenräume der Zeiten zu, und ungestört durch muthwilliges lärmendes Gezwerge, welches unter ihnen wegkriecht, setzt sich das hohe Geistergespräch fort.“ Nietzsche: „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“, in: eKGWB; o.S.
  33. „Die Unterbrechung erzeugt ein Bewusstsein für Zeitlichkeit. Dadurch wird die Öffnung, die fragmentarische Texte zumeist auf der inhaltlichen Ebene anstreben, auch in der zeitlichen Dimension vollzogen.“ Schäfer: »… da aber die Welt keine Brücken hat …«, S. 46.
  34. Lehmann: „J.M.R. Lenz’ Poetologie einer Gegenwartsdramatik“, vorliegende Thewis-Ausgabe. Rückbezug auf einen Briefwechsel zwischen Lenz und Sophie La Roche.
  35. Hier ist zum Beispiel Der neue Menoza gemeint: In der siebten Szene des zweiten Aktes hält Prinz Tandi um die Hand von Wilhelmine an, eine vermeintlich klassische Szene des bürgerlichen Trauerspiels. Der rasche Wechsel von Gefühlsregungen bei allen Beteiligungen, die häufig auftretenden Ohnmachten und der sprunghafte Charakter des Herrn v. Biederling lassen an eine satirische Lesart denken. Vgl. dazu auch Sebastian Bös: „Lenz’ ‚Der neue Menoza‘ an den Fäden der Marionette“. Unveröffentlichter Vortrag im Rahmen des Symposiums Lenz-Herbst, 9. Oktober 2016.
  36. Lenz, Jakob Michael Reinhold: „Anmerkungen übers Theater“, in: WuBr 2, S. 641-671, hier S. 644.
  37. Nietzsche: „Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben“, in: eKGWB; o.S.
  38. Lenz: „Anmerkungen übers Theater“, in: WuBr 2, S. 644 f.

Poetologie | Verwandtschaften | „Komm auf den Händen zu uns.“ Über Meridiane zwischen Lenz und Celan

I Im Kopfgang

Komm auf den Händen zu uns.
Wer mit der Lampe allein ist,
hat nur die Hand, draus zu lesen.

Paul Celan: Stimmen[1]

Auf den Händen gehen, das heißt, die Welt und das Leben kopfüber zu durchwandern, heißt, die Perspektive zu stürzen, und zwar vertikal, da der Kopf näher an der Erde, der „Himmel als Abgrund unter sich“[2] liegt, und horizontal, da sich der Blick in der Wende auf den Handgang nach hinten verkehrt. Wer so geht, erdnah, an den Boden gekrallt mit den Händen, die Füße über dem Abgrund, immer, den Kopf gedreht nach hinten, der geht durch ein anderes Leben. Wer so spricht, der spricht eine andere Sprache. Wer so schreibt, schreibt anders, schreibt Anderes. Nichts weniger als diese Gangart sei es, die Dichtung von entfremdender „Nur-Kunst“ scheide; nichts weniger als diese grundlegende Wende, horizontal und vertikal, sei es, die ein Dichter zu vollziehen habe, um sich „Wirklichkeiten zu entwerfen“[3], so Paul Celan. Eine „Atemwende“ sei das, eine Sprache, fremder als die Kunst, deren Weg auf solche Art zurückzulegen sei.
Wenn nun einer so ginge, sein Leben lang, die Welt kopfüber durchwanderte, dann käme es selten, zu Lebzeiten wohl nie dazu, dass einer einem anderen begegnete, dem er voller Überraschung nicht bloß auf die Füße, sondern in die Augen sehen könnte: ein anderer auf den Kopf Gekehrter. Diese Begegnung muss für einen, der seit Jahren kopfübergeht, erschütternd sein, freudig vielleicht, da ein anderer sich findet, der ähnlich, dem es ähnlich geht.
Paul Celans Weg führte ihn im Frühling 1960 zu einem, der ebenfalls in die Kehre gegangen war: Jakob Michael Reinhold Lenz – der historische wie der Büchner’sche, dem es „manchmal unangenehm [war], daß er nicht auf dem Kopf gehn konnte“[4] – zu steinig, zu schwer und wohl auch zu weit war der Weg durchs Gebirg am 20. Jänner. Diesen Weg ließ Celan seinen Juden Klein in der Erzählung Gespräch im Gebirg „wie Lenz“[5] gehen, durch Fels und Gestein.
Diese Betrachtungen unternehmen den Versuch, zu erfahren, ob es möglich sei, dass die poetologische Gestalt Jakob Michael Reinhold Lenz als eine Stimme aus einer anderen Zeit gar durch die Jahrhunderte gewandert sein könnte – durch Hütten und Paläste, durch den 20. Jänner 1942, bis ins Darmstadt des Jahres 1960, wo er sich in den gesprochenen Worten eines „Welt-Vertriebenen“[6] zu erkennen gab, der wie Lenz in gewisser Weise auf dem Kopf zu gehen versuchte in den Gedichten, die er schrieb, um sich „Wirklichkeit zu entwerfen“ – ausgehend von der Erkenntnis: „Wirklichkeit ist nicht, Wirklichkeit will gesucht und gewonnen sein“[7] – wozu ein Dichter vornehmlich die Dichtung bemüht.
Das lesende Auge kommt nicht umhin, sich zu fragen, wie es dazu kommt, dass ein überlebender jüdischer Autor des 20. Jahrhunderts sich und seine Poetologie in einer nachweislich sorgfältig vorbereiteten Rede mit einem damals seit 168 Jahren verstorbenen Dichter verbindet und ihm die Schreibhand reicht. Denn das Verbindende der beiden Autoren ist nicht offensichtlich, weder biographisch, noch epochal, noch stilistisch, noch die Gattungen betreffend. Das Verbindende aber, was fraglos schnell aufscheint, ist die Neigung zum Abbruch, zum vorgeblich „Unvollständigen“, zum versehrten, geschnittenen und wunden Text, kurz: zum überraschenden Verstummen in Ellipsen, Versenden, im Weiß. J.M.R. Lenz und Paul Celan sind Autoren, deren komplexe literarische Verfahren sich mindestens in den folgenden Punkten treffen: Fragment, Perspektivierung, existentielle Gebundenheit der literarischen Arbeit. Diese drei Großkomplexe möchte der Essay betrachten und den Orten nachspüren, wo sich die Linien beider Autoren berühren, wo also aus bloßer Referenz oder Intertext eine Art Interpoetologie wird, eine literarische Koexistenz, eben dies: Ein Meridian im Sinne der poetologischen Grundlegungen Paul Celans.

II Daten

Celan hält 1960 vor der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung seine poetologische Rede Der Meridian als Dankesvortrag für den Erhalt des Georg-Büchner-Preises. Im Sprechen über Büchners Dramen und die Lenz-Novelle entzündet sich der Vortrag an der Idee, Dichtung und Kunst seien zwei gänzlich verschiedene Dinge, gar gegensätzlich – sie teilten sich allein die Wegstrecke, die beide gemeinsam zurücklegen. Die Dichtung aber, dort, wo sie wahr sei, lege den Weg auf die ihr und ihres Dichters eigene Weise zurück: die maßgeblichen Bestimmungen des Gedichtes heute lauten für Celan dialogisch, offen, besetzbar, gegenläufig, elliptisch. Die Dichtung, das sei ein individuiertes, dunkles „Gegenwort“, auch ein Gegenwort zur Kunst, geäußert von einem einzelnen Menschen mit einem einzelnen Schicksal, der „unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit“[8] spreche – wissend um die Gegebenheiten und die Sterblichkeit des eigenen, einzelnen Lebens. Dieses Dichten findet Celan in der Existenz, im Schreiben und Leben von Jakob Michael Reinhold Lenz.

Hier aber muss man aufmerken: Wären nicht andere Lebensläufe, andere Zeugen und vielleicht Zeitgenossen naheliegender gewesen für einen Dichter, dessen Schicksal auf solche Weise im 20. Jahrhundert begründet liegt? Aber Lenz, vermittelt über Georg Büchner, den „Dichter der Kreatur“[9], geht – je nach Textfassung – am „20. Jänner durchs Gebirg“ und wünscht sich nichts sehnlicher, als den Weg auf dem Kopf zurückzulegen. Celans Gedichte sind mit diesem Tag vertraut: Der 20. Jänner, das „Datum“ auch seiner Dichtung, bezeichnet für ihn den Tag der Wannseekonferenz 1942. „Vielleicht darf man sagen, daß jedem Gedicht sein 20. Jänner eingeschrieben bleibt? […] Es bleibt seiner Daten eingedenk“.[10] Das ist ein Konstituens für die Poetologie Paul Celans: Das Gedicht ist kein Maschinenprodukt, es ist das eines Menschen, der unter dem Eindruck seiner Sterblichkeit und unter dem Nachdruck seiner „Daten“ – des ihm gegebenen „Schicksals“ und seiner „Richtung“[11] – lebt. Folglich kann für Celan der Mensch, der schreibt, nicht verkünstlicht werden: nicht als Figur einer Novelle (wie bei Büchner), nicht als vom Lebenslauf getrennte ‚Autorfigur‘ (die nur in ihren Dichtungen bestünde), und schon gar nicht als Phänotyp einer Epoche (wie etwa in der Poetologie Gottfried Benns, der Celan die seine in der Rede und in Notizen klar gegenüberstellt). Der Autor ist ein Mensch. Der Meridian ruft mehrmals eine Scheidung zwischen dem „historischen“ und dem „Büchner’schen“[12] Lenz auf, nur um zu dem Schluss zu kommen, dass, wo immer eine wahrhafte, ihrer „Daten eingedenk“ bleibende Dichtung erscheint, diese Unterscheidung hinfällig wird, sogar in der Vermittlung eines Dritten (hier: Büchner mit seiner Lenz-Novelle). Wo Dichtung nur Kunst sei, sei „selbstvergessen[e] Ich-Ferne“[13], dort seien der ‚Idealismus‘ und seine ‚Holzpuppen‘[14], Automaten und Marionetten[15] – ein Reich der Tropen, der Kunstgriffe, der Technik also. Wo Dichtung gesprochen werde, fernab des Kunstgriffs, dort sei „Gestalt“ und „zugleich auch Atem, das heißt Richtung und Schicksal.“[16]
Nichts anderes lässt Büchner seinen Lenz reflektieren, wenn dieser im sogenannten „Kunstgespräch“ äußert:

Die Dichter, von denen man sage, sie geben die Wirklichkeit, hätten auch keine Ahnung davon, doch seien sie immer noch erträglicher, als die, welche die Wirklichkeit verklären wollten. Er sagte: Der liebe Gott hat die Welt wohl gemacht wie sie sein soll, und wir können wohl nicht was Besseres klecksen, unser einziges Bestreben soll sein, ihm ein wenig nachzuschaffen. Ich verlange in allem Leben, Möglichkeit des Daseins, und dann ist’s gut; wir haben dann nicht zu fragen, ob es schön, ob es häßlich ist, das Gefühl, daß Was geschaffen sei, Leben habe, stehe über diesen Beiden, und sei das einzige Kriterium in Kunstsachen. […] Die Leute können auch keinen Hundsstall zeichnen. Da wolle man idealistische Gestalten, aber Alles, was ich davon gesehen, sind Holzpuppen. Dieser Idealismus ist die schmählichste Verachtung der menschlichen Natur.[17]

Es scheint sinnhaft, Lenz und Celan in dieser Frage mit einander ins Gespräch zu bringen, die beide auf ihre je eigene Weise Lesern und Philologen die kühne Sicht zumuten, zwischen der Existenz des Autors und den Zeugnissen seiner Literatur sei nicht prinzipiell zu scheiden, beide seien vielmehr in einander zu überführen oder gar: Leben und Schreiben seien prinzipiell nicht zu trennen. Autor und Text seien also gegenseitiges Zeugnis des Gleichen, nämlich der Anwesenheit eines Einzelnen – der Existenz eines Menschen. Eine heute vermeintlich antiquierte Haltung, die mindestens uns Philologen als Anmaßung erscheinen muss, die wir seit der Ausdifferenzierung einer eher lockeren Spielart der Hermeneutik und dem Tod des Autors[18] ja nicht anders können, als über die Existenz des Autors hinwegzugehen, um einem Text als solchem entgegenzueilen, mit dem durchaus verständlichen Ziel, ihm als Literatur gerecht zu werden. Eine Wende also, wenn der Autor selbst seinen Text als Lebenstext, als existenzielle Wirklichkeit begreift und eben nicht als absolutes Spiel der Form. Celan wendet sich von dieser Haltung radikal ab: „Das absolute Gedicht – nein, das gibt es gewiß nicht, das kann es nicht geben!“[19] Und Lenz schreibt zu diesem Verhältnis beispielhaft: „Ich unterschreibe mich gern Linz oder Lunz nur damit man bey meinem Namen nichts als meine Person denkt und auf keine alberne Nebenbegriffe kommt.“[20] Judith Schäfer leitet in ihrer umfassenden Untersuchung zu dramaturgischer und poetologischer Anlage der Lenz’schen Dichtung daraus ab: „Sich selbst bezeichnet er als ‚kauderwelsche Gestalt‘. Und Kauderwelsch meint eine unverständliche Sprache. Lenz selbst führt in diesen Selbst(be)schreibungen Schreiben bzw. Sprechen und Leben in eins. […] Sich selbst schreiben, erfinden, heißt auch: sich selbst bestimmen, sich nicht festlegen lassen“.[21]

III Weltgerechtes Schreiben

Lenz gibt an mehreren Stellen Auskunft über seine Annahme einer grundlegenden perspektivischen Begrenzung bzw. Determination in der Wahrnehmung von Welt. Für einen Autor stellt diese Frage eine unausweichliche Schwierigkeit dar, ist sozusagen reflexive Grundbedingung des Schreibens. Lenz legt in seinen Anmerkungen übers Theater, speziell in seiner eigenwilligen Prüfung des aristotelischen Mimesis-Prinzips, dar, dass für einen Dichter besondere Maßstäbe in der Bewältigung der perspektivischen Anschauung der Welt angelegt werden müssen:

Wir nennen die Köpfe Genies, die alles, was ihnen vorkommt, gleich so durchdringen, durch und durch sehen, daß ihre Erkenntnis denselben Wert, Umfang, Klarheit hat, als ob sie durch Anschaun oder alle sieben Sinne zusammen wäre erworben worden. […] Diese Köpfe werden nun zwar vortreffliche Weltweise was weiß ich, Zergliederer, Kritiker – alle ers – auch vortreffliche Leser von Gedichten abgeben, allein es muß noch was dazukommen, eh sie selbst welche machen, versteh mich wohl, nicht nachmachen. […] Der wahre Dichter verbindet nicht in seiner Einbildungskraft, wie es ihm gefällt, was die Herren die schöne Natur zu nennen belieben, was aber mit ihrer Erlaubnis nichts als die verfehlte Natur ist. Er nimmt Standpunkt – und dann muß er so verbinden.[22]

Der Standpunkt eines Autors ist, wir sehen es, der eines Menschen, aber er ist der eines besonderen Menschen: Durch das dichterische Tun nimmt der Mensch einen anderen Standpunkt ein, wechselt die Perspektive auf die Daten der Welt, um von dort aus überhaupt dichten zu können. Er erschöpft sich nicht – wie der nicht-dichtende Mensch – in der reinen Anschauung, sondern im Schaffen einer anderen. Tun, nicht nachahmen. Eine weitere Stelle bei Lenz erregt diesbezüglich Aufmerksamkeit, von der aus Judith Schäfer Lenz’ zentrales poetologisches Verfahren zu bestimmen versucht: Am Rande eines Briefentwurfs vermerkt Lenz – wie nebenbei – den kleinen, gravierenden Satz: „Es ist alles in der Welt schraubenförmig u. wir sehen grade“[23]. Erkennt man dieser Notiz poetologische Kontexte zu, so müssen wir feststellen, dass Lenz hiermit in einer Zeit, in der es zumindest offiziell noch Universalgelehrte gegeben hat, einen grundlegenden Mangel in der Erkenntnisfähigkeit aller Bereiche vermerkt, und zwar als anthropologische und kosmologische Konstante. Für einen Autor, der ahnt, dass die Perspektive ihrem Angeschauten stets defizitär gegenübersteht, muss diese Weltsicht erschütternd sein. Diesem grundlegenden Mangel durch rechten Umgang beizukommen, mag damit die schwierigste Aufgabe sein, der sich ein Dichter gegenübersieht, vielleicht ist es seine eigentliche oder auch: seine einzige; von einem einzigen fixen Standpunkt aus jedenfalls ist Erkenntnis in einem solchen perspektivischen Missverhältnis nicht möglich.
Entsprechend fordern die Texte Lenz’ wie auch Celans, wie zu zeigen ist, tiefere, breitere, vertikale und horizontale Umblicke, vielleicht Kopfstände, vielleicht Kopfstandpunkte. Im bildenden, dichtenden Umgang mit Welt und Perspektive wird der Umgang mit Namen, Benennungen und Bestimmungen kein leichtfertiger sein. Und in einer derart stetig umgestürzten, sich und die Welt umorientierenden Sprache wird es nötig, unorthodoxe, wechselnde Namen zu finden für das Geschaute:

Mir scheinen in unserer Sprache noch unendlich viele Handlungen und Empfindungen unserer Seele namenlos, vielleicht weil wir bisher als geduldige Bewunderer alles Fremden uns mit auswärtigen Benennungen für einheimische Gefühle begnügt haben, die denn nicht anders als schielend ausgedruckt werden konnten.[24]

Der letzte Teilsatz bietet eine interessante Parallele: Es ist bei Lenz wie auch bei Celan eine besondere Ironie, dass sie gerade diejenigen stilistischen oder poetischen Eigenarten, die ihnen von Zeitgenossen zum Vorwurf gemacht werden, zum poetologischen Programm erheben. So verachtet Christoph Martin Wieland die Sprache Lenz’ mit der Begründung, sie sei „entweder ganz unverständlich“ oder sie gebe „nur verworrene, schwankende und schielende Vorstellungen“[25]. Wo für einen Stilisten wie Wieland das geradlinige, sortierte, direktive Schreiben steht, dort findet sich bei Lenz das Schielen auf die Welt – als Programm, nicht als Defizit. Auf die Sprache gebracht: Kauderwelsch ist eine Weltsprache; im rechten, rechtwinkligen Sprechen, in der Normsprache also, starren wir allzu gerade auf die Krümmungen, bemerken sie vielleicht nie, kommen ihnen sicherlich nicht bei. Nichts anderes als das finden wir bei Celan:

[Die Mehrdeutigkeit der Dichtung] trägt auch dem Umstand Rechnung, daß wir an jedem Ding Schliffflächen beobachten, die das Ding aus mehreren Sichtwinkeln zeigen, in mehreren ›Brechungen‹ und ›Zerlegungen‹, die keineswegs nur ›Schein‹ sind. Ich trachte sprachlich wenigstens Ausschnitte aus der Spektralanalyse der Dinge wiederzugeben, sie gleichzeitig in mehreren Aspekten und Durchdringungen mit anderen Dingen zu zeigen: mit nachbarlichen, nächstfolgenden, gegenteiligen. Weil ich leider außerstande bin, die Dinge allseitig zu zeigen. […] Ich versuche, Ihnen zu erklären, weshalb ich meine angebliche Abstraktheit und wirkliche Mehrdeutigkeit für Momente des Realismus halte …[26]

Die „Schliffflächen“ der Dinge, ihre spektrale Betrachtung in allen Brechungen, der analytische Blick auf ihre Beschaffenheit von der Oberfläche bis zum Kern, ihr Abglanz – das sind Hinweise auf eine gewissermaßen kristalline Sprache, um die Celan bemüht ist, eine Sprache also, die in ihren Brechungen, in ihren opaken Stellen, in ihren Härtegraden grundlegend polyperspektivisch angelegt ist. Nicht umsonst sammelt Celan in seinen Gedichten Unmengen geologischer und astronomischer Fachbegriffe an, benennt einen Gedichtband Atemkristall, bemüht sich im Spätwerk um eine „grauere Sprache“. Das Fragmentarische, auf das noch zurückzukommen ist, als Grundgeste der Celan-Dichtung übrigens findet sich in einem kleinen aphoristischen Selbstgespräch ebenfalls geologisch begründet, das im Übrigen der Lenz’schen Fragmentpraxis nicht unähnlich ist:

Mikrolithen sinds, Steinchen, kaum wahrnehmbar, winzige Einsprenglinge im dichten Tuff deiner Existenz – und nun versuchst du, wortarm und vielleicht schon unwiderruflich zum Schweigen verurteilt, sie zusammenzulesen zu Kristallen? Auf Nachschübe scheinst du zu warten – woher sollen die kommen, sag?[27]

Selbst die kleinsten Geologien, die fragmentierten Teilchen, Staubkörner bergen in sich ein tektonisches Erbe, Zusammenhänge mit ihren Herkünften, Ursachen und Muttermaterialien. Die kabbalistische Annahme lose versprengter Gottesfunken im Schöpfungsgut klingt hier vermutlich nicht zufällig an.
Bezogen auf das Umherschweifende, programmatisch abbrechende, perspektivisch wechselhafte Schreiben Lenz’ findet Judith Schäfer ein Bild als Modell für die Anlage seiner Dichtung, das auch für Celans „Spektralanalysen“ treffend wäre:

Zudem sei hier an das Spiel des Oktaskops erinnert, das geeignet ist, übergangslos die Verschiebung, Verfremdung und Wechsel von Ausschnitten der Wirklichkeit zu erzeugen, welche der Text mit seiner Komposition willkürlich erscheinender Ausschnitte aus unterschiedlichen Wirklichkeiten erreicht.[28]

Und mehr noch:

Durch die Spiegelung des Original‚bildes‘ und die Spiegelung wiederum der Spiegelbilder entsteht ein sternförmiges Gebilde aus kopfüber [!, Anm. PhB] zueinander stehenden […] ‚gleichen‘ Bildern.
Der Betrachter verfügt auf diese Weise über die Möglichkeit, ständig seine ‚Perspektive‘ zu ändern (ohne unbedingt seinen Betrachterstandpunkt ändern zu müssen).[29]

Das Oktaskop bricht die Welt bei der Anschauung in flexible, kristalline Teilchen, unstet, nicht fixierbar, stets im Wandel zeigen sie sich, geben also mit jeder Anschauung einen neuen Blick frei auf die Wirklichkeit, die sich so mit jedem Blick als eine andere zeigen muss. Der Standpunkt entscheidet hier nicht über die Anordnung der Teile, nur darüber, wie die steten Wandlungen registriert werden. Auch Celan verfasst seine Strategien einer weltgerechten Sprache häufig in optischen bzw. physikalischen Bildern:

Das Zeichnerische liegt mir näher, nur schattiere ich mehr als Gisèle, ich verschatte absichtlich manche Kontur, um der Wahrheit der Nuance willen, getreu meinem Seelenrealismus. […] Sie kennen doch auch die Erscheinung der Interferenz, Einwirkung zusammentreffender kohärenter Wellen aufeinander. Sie wissen Bescheid über das dialektische Übergehen und Umschlagen – die Wandlung ins Benachbarte, ins Nächstfolgende, ja oft ins Gegenteilige.[30]

Eine derart beschaffene Dichtung, interferent, offen, aufnahmefähig, glaubt nicht an eine finale Erkenntnis durch eine normierte, codierte Sprache; ihr Standpunkt ist geknüpft an die Perspektive, und das „Verbindenmüssen“ ihres Dichters muss notgedrungen mit ihr wechseln, er muss „schielen“ wie Lenz, „verschatten“ wie Celan – all das mit einem Standpunkt, dem eigenen, einmaligen Standpunkt. Vielleicht auch noch kopfüber.

IV Hinter den Tropen

Lenz und Celan, die sich beide auch in ihren literarischen Texten im- und explizit poetologisch äußern, stellen auf ihre je eigene Weise die Leserschaft vor besondere heuristische Herausforderungen. Diese bestehen bei beiden insbesondere darin, hinter die Form zu gelangen, die opake Struktur der Literaturen zu durchdringen und dabei eine gewisse ‚Dunkelheit‘ zu dulden, die beide explizit zum Programm haben: Bei Lenz z.B. finden wir den gattungsüberschreitenden Text Über Delikatesse der Empfindung (um 1789), untertitelt als „Schutzschrift für die Liebhaber der Tropen […]“. Der Meta-Kommentar des Untertitels erhebt die tropische Sprachstruktur zu einem impliziten Inhalt des literarischen Textes und gibt damit Einblick in seine programmatische Anlage, wie Heribert Tommek aufzeigt:

Wie die ‚rotwelsche‘, hermetische Sprache […], so ist auch die Sprache der schnellen Übergänge, der dunklen Anspielungen und der volkstümlichen Einsprengsel […] in der Delikatesse als bewußt eingesetztes Stilmittel […], als abwehrendes, ‚homöopathisches Gift‘ angesichts einer tagtäglich entleerten Sprache zu verstehen. Sie ist Ausdruck sowohl einer Verweigerung (des direkten ‚Verstehens‘ und der direkten, ‚positiven‘ moralischen Hilfeleistung, die Lenz für den Dichter in der Nachfolge der negativen Gesetzgebung Gottes ablehnt) als auch einer Verteidigung des ‚göttlichen Menschengeschlechts‘, die angesichts der fortgeschrittenen Krisengeschichte der menschlichen Zivilisation nur in Form der Verkehrung selbst, d.h. in der Sprache des Narren sich äußern kann […].[31]

Judith Schäfer deutet die opake Sprache des Delikatesse-Textes weitergehend:

Durch Wortspiele und Wortverdrehungen werden falsche Wahrheiten erzeugt. Zudem sind die Assoziationen und Bedeutungssprünge so dicht aneinandergereiht, dass der Eindruck eines hohen Tempos entsteht, mit dem der klärende Verstand nicht mithalten kann. Auf diese Weise erzeugt der Text ein Bewusstsein über solche Täuschungsverfahren, die in der Sprache angelegt sind, um letztlich eine gegenteilige Wirkung, nämlich eine selbstbestimmte Aufklärung einzufordern. Der verdeckende, verdunkelnde Umgang mit Worten ist also gewollt.[32]

Paul Celan spricht wiederholt von dieser Verdunkelung. Im Meridian gibt es eine Stelle, an der die Programmatik oder gar Grundbedingung der Dunkelheit seiner Dichtung auf den Punkt gebracht wird:

Meine Damen und Herren, es ist heute gang und gäbe, der Dichtung ihre ‚Dunkelheit‘ vorzuwerfen. – Erlauben Sie mir, an dieser Stelle unvermittelt – aber hat sich hier nicht jäh etwas aufgetan? –, erlauben Sie mir, hier ein Wort von Pascal zu zitieren […]: ‚Ne nous reprochez pas le manque de clarté puisque nous en faison profession!‘ – Das ist, glaube ich, wenn nicht die kongenitale, so doch wohl die der Dichtung um einer Begegnung willen aus einer – vielleicht selbstentworfenen – Ferne oder Fremde zugeordnete Dunkelheit.[33]

Wo Lenz verdunkelnde Wendungen und Strukturen nutzt, um ein Bewusstsein für die Strukturen literarischer Rede zu evozieren, paradoxerweise also, um aufzuklären, verdunkelt Celan „um einer Begegnung willen“ und (s.o.) „getreu [s]einem Seelenrealismus“. Wo die Dichtung dunkler ist, ist ein Entgegenkommen des Anderen, des Fremden möglich, der mit seiner Person nicht an einer Eindeutigkeit und Monovalenz der Sprache abperlt. Das Gedicht wird „besetzbar“, „es spricht immer nur in seiner eigenen, allereigensten Sache“ und „gerade auf diese Weise auch in fremder […], in eines Anderen Sache“.[34]
Beide Dichter beziehen also konstitutive Gründe für ein Sprechen in dunkleren Registern auf das Vorhandensein eines Lesers, eines Dialogpartners, um den es in den Gedichten auch geht, dem Zugang gewährt wird, der einzubeziehen ist bis in die Grammatik hinein. Celan gab eine scharfe Verkürzung eines solchen gelungenen Leseaktes als Antwort auf Israel Chalfens Bitte um eine Gedichtinterpretation: „Lesen Sie, immerzu nur lesen, das Verständnis folgt von selbst!“[35]
Die Dichtungstheorie Celans schöpft tief aus der Dialogphilosophie Martin Bubers. Dichtung ist für ihn prinzipiell dialogisch, also kein sprachlich abgedichtetes Gebilde ohne Herkunft und Richtung und Zeitbezug. Dem Gedicht ist sein Autor eingefügt: „Wer es schreibt, bleibt ihm mitgegeben.“[36] Es ist gebunden an dessen Existenz, an sein Existierthaben, an seine Wirklichkeit, wenn es auch immer eine gewisse Offenheit behält – die Öffnung, das „Besetzbare“ des Gedichtes ist eine Art Andockstelle für den unbekannten Adressaten:

Das Gedicht kann, da es ja eine Erscheinungsform der Sprache und damit seinem Wesen nach dialogisch ist, eine Flaschenpost sein, aufgegeben in dem – gewiß nicht immer hoffnungsstarken – Glauben, sie könnte irgendwo und irgendwann an Land gespült werden, an Herzland vielleicht. Gedichte sind auch in dieser Weise unterwegs: sie halten auf etwas zu.[37]

Viele mindestens der zeitgenössischen Leser Celans und Lenz’ eint ein grundlegendes Missverständnis ihrer Ansätze: verschieden formulierte Vorwürfe lauten für beide, sie sprächen in einem nicht zu dechiffrierenden Code, der Einbezug eines Dialogpartners sei also gestört, d.h. sie sprächen in einer uneigentlichen, nur diffus gerichteten Sprache, hermetisch, dunkel, gar wirr (wobei sich entsprechende Exegeten stets einer biographisch-pathologischen Untermauerung dieser These versicherten und heute noch versichern). Lenz, der sich entsprechend eine „kauderwelsche Gestalt“ nennt, und Celan, der sich „zur Dunkelheit alles Dichterischen“ bekennt, beide also sind vereint in der besonderen Pointe, dass sie lediglich den normativ zugelassenen Code lyrischen Sprechens verlassen haben, dass sie also gerade nicht verschlüsseln und gerade deshalb nicht verstanden werden. Die Bilder sind bei ihnen keine Bilder, sie sind phänomenale sprachliche Wirklichkeit. Der schwierigste Code ist der, der (unbemerkt) keiner ist. Celan: „Wer das Gedicht aufsucht, um nach Metaphern zu schnüffeln, wird immer nur – Metaphern finden.“[38] Und weiter: „Wer das Gedicht nicht mittragen will, überträgt und spricht von Metaphern. So wie der, der vom Gedicht nichts wissen will, von der Kunst und vom Können redet.“[39]
Das Offensichtlichste am Gedicht ist aber phänomenal seine Sprache – die vorhandene und in ihm aufgehobene. Die vereinbarte Konvention des Gedichts für ihre jeweiligen Kritiker ist, dass es codiert sei – eine Lektüre- und Sinnbildungskonvention, die beide Autoren durchbrochen haben, durch die einfache Tatsache, dass das, was in ihren Dichtungen auf den Weg gebracht ist, kein Sprachspiel, kein Formspiel, kein Code und kein Bild ist, sondern ihre Formen und Bilder das Gedicht selbst sind.[40]
Zur Form, d.h. zur Technik des Gedichts vermerkt Celan in einem Brief ein dialektisches Verhältnis:

Gewiß, es gibt auch das, was man heute so gern und so unbekümmert als Handwerk bezeichnet. Aber […] Handwerk ist, wie Sauberkeit überhaupt, Voraussetzung aller Dichtung. […] Man komme uns hier nicht mit ‚poiein‘ und dergleichen. […] Ich habe es vor Jahren eine Zeitlang mit ansehen und später aus einiger Entfernung genau beobachten können, wie das ‚Machen‘ über die Mache allmählich zur Machenschaft wird.[41]

Damit erhebt (oder erniedrigt?) Celan die Form zur selbstverständlichen und d.h. nicht hauptsächlichen, nicht nebensächlichen, sondern ursächlichen Arbeit an der Sprache, die durch die Dichtung allerdings transgrediert werden muss. Abgestoßen von der z.B. in der Konkreten Poesie praktizierten Romantisierung der Methode bis zum Fetisch spricht er sich dezidiert gegen eine Poetologie aus, die die Form zum eigentlichen Inhalt erklärt.[42]

V Der Meridian

Ich suche die Gegend, aus der Reinhold Lenz und Karl Emil Franzos, die mir auf dem Weg hierher und bei Georg Büchner Begegneten, kommen. Ich suche auch, denn ich bin ja wieder da, wo ich begonnen habe, den Ort meiner eigenen Herkunft. Ich suche das alles mit wohl sehr ungenauem, weil unruhigem Finger auf der Landkarte – auf einer Kinder-Landkarte, wie ich gleich gestehen muß. Keiner dieser Orte ist zu finden, es gibt sie nicht, aber ich weiß, wo es sie, zumal jetzt, geben müßte, und … ich finde etwas!
[…] Ich finde das Verbindende und wie das Gedicht zur Begegnung Führende. Ich finde etwas – wie die Sprache – Immaterielles, aber Irdisches, Terrestrisches, etwas Kreisförmiges, über die beiden Pole in sich selbst Zurückkehrendes und dabei – heitererweise – sogar die Tropen Durchkreuzendes –: ich finde … einen Meridian.[43]

So endet Celan mit dem inhaltlichen Teil des Meridian. In diesen Sätzen liegen wesentliche Verwandtschaftserklärungen mit Lenz begründet. Uns begegnet hier eine Verbindung der Topoi Lenz’ und Celans: Die Orte, an denen sie sich jeweils befinden, sind Utopien, sie sind nicht (mehr) aufzufinden. Im poetischen Sprechen und im Sprechen der Rede ist es dennoch möglich, sie auszumachen, mithilfe der von Celan zurate gezogenen „Kinder-Landkarte“, auf der sich die Entfernung oder die Nähe der Orte, Dinge und Menschen allein einem Maßstab der Sympathien, der Ähnlichkeiten, der Beziehungen beugen. Sind diese Orte auch in der Wirklichkeit nicht zu finden (168 Jahre liegen im Weg), so ist doch eine Verbindung möglich.
Lenz schreibt in einer Rede zur Entwicklung der deutschen Sprache sinnbildlich: „[…] unsere Sprache wie ein Baum der seine Wurzeln im ganzen Vaterlande ausgebreitet hat, und von allen Orten her gleichmäßigen Zufluß der Säfte empfängt […]“[44] – Meridiane, energetische Linien, Netze auch hier, auch wenn die Rede sich vornehmlich um die nationalpolitische Dimension der Sprache bemüht – sie lässt sich verstehen als Plädoyer für dialogische Offenheit, Diffusion durch die Ländergrenzen hinweg – über die historischen Grenzen ließe sich dabei nachdenken.
Celan findet Lenz’ Flaschenpost, tritt in Dialog mit seiner Literatur und seiner Biographie, verhandelt Ähnlichkeiten und entscheidet, sich zu verknüpfen. Was er findet, ist also kein Ort mehr, sondern sind Punkte auf einer Linie, die die Linie seiner Dichtung ist, die um den Globus verläuft und dabei die Tropen durchkreuzt. Das heißt für Celan und für diese Betrachtungen, dass das Existenzielle des Meridians zwischen zwei Menschen unterschiedlicher Zeit die Kunstfertigkeit, die Formspiele, die Macharten der Gedichte übertrumpft, überlebt, sie aus der Dichtung vertreibt zugunsten ihres Zeugnisses.
Celans Gespräch im Gebirg entspricht in vielem Lenz’ Gesprächen im Elsass. Die existenziellen Gründe zur Verbindung zwischen Lenz und Celan mögen sein, was und wie beide gedichtet haben, und vor allem unter welchen Daten:

Der 20. Jänner markiert im ›Meridian‹ das Datum der Wannsee-Konferenz, auf der die Judenvernichtung beschlossen wurde. Er herrscht Übereinstimmung darüber, daß sich dasselbe Datum in der von Celan zitierten Erzählung Büchners über den Dichter Lenz findet. Er hat in diesem Zusammenhang einen ›Meridian‹ erkannt, eine wesentliche Verbindung trat in der Präfiguration zutage: sie hat es Celan ermöglicht, sich in Lenz’ Schicksal zu spiegeln.[45]

Ich schlage zum Ende einen Begriff vor für die Art, wie Celans und Lenz’ Dichtungen in ihre „Daten“, in das Zeitgeschehen, in die Welt eingewoben sind und umgekehrt. Viel ist von der Existenz gesprochen worden, von Dialog und von verdunkelter Sprache, explizit nur wenig über gesellschaftliche oder politische Dimensionen dieser Dichtungen, da beide Bezirke womöglich Teil der „Daten“ sind, derer die Gedichte „eingedenk“ bleiben. Bei Lenz und Celan von engagierten Dichtern zu sprechen im Sinne einer Littérature engagée wäre falsch; von weltabgewandten Artisten auszugehen, die im Sinne einer absoluten Kunst Poésie pure betrieben, ebenso; dies war unter anderem zu zeigen. Ich schlage einen Begriff vor, der vielleicht beiden gerecht werden kann: Involvierte Literatur.
„Denn das Gedicht ist nicht zeitlos. Gewiß, es erhebt einen Unendlichkeitsanspruch, es sucht, durch die Zeit hindurchzugreifen – durch sie hindurch, nicht über sie hinweg.“[46]
Das Gedicht aktualisiert sich als Sprache, als Gespräch im Fremden, im Anderen und legt Zeugnis ab. So verbunden kann durch auch topographische Fernen gesprochen werden und durch die Jahrhunderte, telephonisch und chronophonisch. Vielleicht, so kann man denken, ist Lenz für Celan als jemand unter gleichen Daten ein Gesprächspartner aus dem Off der Geschichte, der literarischen wie der individualen, der Historie und der Existenz: Lenz „ruft und holt sich, um bestehen zu können, unausgesetzt aus seinem Schon-nicht-mehr in sein Immer-noch zurück.“[47] Wer schenkte ihm Gehör? Büchner, Celan und ja, auch andere. Erstgenannte gaben und geben Antwort, und zwar ebenso „schon nicht mehr und immer noch“.

  1. Celan, Paul: „Stimmen“, aus: Sprachgitter, in: Die Gedichte. Kommentierte Gesamtausgabe in einem Band. Hg. u. komm. v. Barbara Wiedemann. Frankfurt am Main 2005, S. 91.
  2. Celan, Paul: „Der Meridian. Rede anläßlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises“, in: Böschenstein, Bernhard/Schmull, Heino (Hg.): Paul Celan. Werke. Tübinger Ausgabe: Der Meridian. Endfassung – Entwürfe – Materialien. Frankfurt am Main 1999. S. 7, Abschnitt 26 b [im Folgenden: TCA M].
  3. Celan, Paul: „Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen“, in: Allemann, Beda/Reichert, Stefan/Bücher, Rolf (Hg.): Paul Celan. Gesammelte Werke in sieben Bänden. Dritter Band: Der Sand aus den Urnen, Zeitgehöft, Verstreute Gedichte, Prosa, Reden. Frankfurt am Main 2000, S. 186 [im Folgenden: GW].
  4. Büchner, Georg: Lenz. Berlin 1983, S. 5. (Der Text folgt: Büchner, Georg: Sämtliche Werke und Briefe. Erster Band. Historisch-kritische Ausgabe mit Kommentar, herausgegeben von Werner R. Lehmann. München 1947.
  5. Celan, Paul: Gespräch im Gebirg. Mit einem Kommentar von Theo Buck. Aachen 2002, S. 7.
  6. Siehe die Notiz: „Der Verband der Heimatvertriebenen. – Der Verband der Weltvertriebenen wäre ja wohl noch ins Leben zu rufen.“ In: Celan, Paul: „Mikrolithen sinds, Steinchen.“ Die Prosa aus dem Nachlaß. Kritische Ausgabe. Hg. u. komm. v. Barbara Wiedemann und Bertrand Badiou. Frankfurt am Main 2005, S. 43.
  7. Celan, Paul: „Antwort auf eine Umfrage der Librairie Flinker, Paris (1958)“, in: GW 3, S. 167.
  8. Celan: TCA M, S. 9, Abschnitt 33 c.
  9. Ebd., S. 5, Abschnitt 19.
  10. Ebd., S. 8, Abschnitt 30a/31a.
  11. Beide Begriffe verwendet Celan im Meridian wie auch in anderen poetologischen Äußerungen wiederholt.
  12. Z. B.: Celan, TCA M, S. 5, Abschnitt 17 b. Gegensätzlich dazu: ebd., S. 7, Abschnitt 24 e-f.
  13. Ebd., S. 6, Abschnitt 20 d.
  14. Ebd., S. 4, Abschnitt 14 c.
  15. Vgl. z.B. ebd., S. 2, Abschnitt 1 a und 3 a.
  16. Ebd., S. 3, Abschnitt 5 b.
  17. Büchner, Georg: Lenz. Berlin 1983. S. 31 f.
  18. Eine literaturtheoretische Abwendung von der Autorperson unter dem Schlagwort vom „Tod des Autors“ (Roland Barthes, Michel Foucault) müsste gerade Celan, dem Überlebenden, als Ermordung vorkommen, da sie – institutionalisiert – gestattet, über die realen Toten seiner Gedichte recht leichtfüßig hinwegzutreten.
  19. Celan, Paul: TCA M, S. 10, Abschnitt 38 b, c.
  20. Lenz, Jacob Michael Reinhold: Brief an Burner in Moskau, in: Ders.: Moskauer Schriften und Briefe. Hg. u. komm. v. Heribert Tommek. Berlin 2007, Textband S. 50.
  21. Schäfer, Judith: »… da aber die Welt keine Brücken hat …«: Dramaturgien des Fragmentarischen bei Jakob Michael Reinhold Lenz. Paderborn 2016, S. 20.
  22. Lenz, Jakob Michael Reinhold: „Anmerkungen übers Theater“, in: WuBr 2, S. 641-671, hier S. 648.
  23. Zit. n. Schäfer, S. 15.
  24. Lenz, Jakob Michael Reinhold: „Über die Bearbeitung der deutschen Sprache im Elsass, Breisgau und den benachbarten Gegenden“, in: WuBr 2, S. 770-777, hier S. 773. Anmerkung: In diesem Text geht es um den Vergleich der deutschen mit der französischen Sprache, also nicht um eine generelle Sprachskepsis, die Lenz jedoch in dramatischer Praxis und Briefen wiederholt zum Ausdruck bringt. Dem hier zitierten Teil kann poetologische Qualität daher dennoch vorsichtig beigemessen werden.
  25. Zit. n. Schäfer, S. 65.
  26. Huppert, Hugo: Sinnen und Trachten. Anmerkungen zur Poetologie. Halle an der Saale 1973, S. 32. Huppert rekonstruiert an dieser Stelle ein Gespräch mit Paul Celan vom 26. Dezember 1966, geführt in dessen Wohnung (78 Rue de Longchamp, Paris) und stenographisch festgehalten unmittelbar danach.
  27. Celan: „Mikrolithen sinds, Steinchen.“, S. 74.
  28. Schäfer, S. 181.
  29. Ebd., S. 53
  30. Äußerung Celans im Gespräch, Huppert: Sinnen und Trachten, S. 32. – Anmerkung zu „Gisèle“: Gisèle Celan-Lestrange, Celans Ehefrau, die für ihre abstrakten Radierungen als Künstlerin bekannt wurde und mit der Celan mehrfach zusammenarbeitete.
  31. Tommek, Heribert: Kommentar zu Ueber Delikatesse der Empfindung, in: Lenz: Moskauer Schriften und Briefe, Kommentarband, S. 374.
  32. Schäfer, S. 181.
  33. Celan: TCA M, S. 7, Abschnitt 27. Sinngem. Übersetzung: „Werfen Sie uns nicht einen Mangel an Helligkeit vor, da wir ihn öffentlich bekennen!“ [Übers. PhB].
  34. Celan, TCA M, S. 8, Abschnitt 31 a, 31 b.
  35. Chalfen, Israel: Paul Celan. Eine Biographie seiner Jugend. Frankfurt am Main 1983, S. 7.
  36. Celan, TCA M, S. 9, Abschnitt 34 a.
  37. Celan, Paul: „Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises der Freien Hansestadt Bremen“, in: GW 3, S. 186. Diese kühnen Überlegungen sind orientiert an einem anderen Dichter, der ohne Zweifel auf der Achse zwischen Lenz und Celan liegt: Osip Mandel’štam, den Celan vielfach übersetzt und über den er eine Rundfunksendung verfasst hat, schreibt 1913 über den kommunikativen und zeugnishaftenAdressierungscharakter der Dichtung:Der Seemann wirft im kritischen Moment eine versiegelte Flasche ins Wasser des Ozeans, welche seinen Namen enthält und die Aufzeichnung seines Schicksals. Nach langen Jahren, auf der Dünenwanderung finde ich sie im Sand; ich lese den Brief und kenne jetzt den letzten Willen des Verlorenen und den Zeitpunkt des Geschehens. Ich hatte ein Recht dazu, so zu handeln. Ich habe keinen fremden Brief geöffnet. Der Brief, den die Flasche in sich barg, war an den adressiert, der sie findet. Ich habe sie gefunden. Das heißt: ich bin auch der geheimnisvoll-verborgene Adressat.Mandel’štam, Osip Ėmil’evič: „O sobesednike (1913)/Vom Gegenüber“. Übersetzt von Dierk Rodewald, in: Ars Poetica. Texte von Dichtern des 20. Jahrhunderts zur Poetik. Herausgegeben von Beda Allemann. Darmstadt 1966, S. 45-52, hier S. 47. Rezeptionspolitisch relevant an Ars Poetica, einem Sammelband poetologischer Positionen, die auch Celan abdruckt, ist der Sachverhalt, dass Celans „Meridian“ hier auf zwei Seiten zusammengekürzt bis zur Unverständlichkeit erscheint.
  38. Celan, TCA M, S. 157.
  39. Ebd., S. 158. Glättungen von Vorstufen/Variationen des Satzes zur besseren Lesbarkeit von PhB.]
  40. Celan spricht in den Vorstufen des Meridian wiederholt von der Dunkelheit des Dichterischen als „kongenitaler Dunkelheit“.
  41. Celan: Brief an Hans Bender, in: GW 3, S. 167.
  42. Ähnliches findet sich z.B. bei Stéphane Mallarmé, Gottfried Benn, Emil Staiger, Ernst Jandl, Eugen Gomringer und bei vielen anderen.
  43. Celan, TCA M, S. 12, Abschnitt 49 b-50 c. Zeichensetzung, Kursiva und Auslassungszeichen im Original.
  44. Lenz: „Über die Bearbeitung der deutschen Sprache“, in: WuBr 2, S. 774.
  45. Bollack, Jean: Paul Celan. Poetik der Fremdheit. Wien 2000, S. 212.
  46. Celan: „Ansprache anlässlich der Entgegennahme des Literaturpreises“, in: GW 3, S. 186. Hier könnte man erneut mit Lenz vergleichen: Lenz übersendet Johann Gottfreid Herder am 23. Julius 1775 sein Stück Die Soldaten mit dem Kommentar: „Hier, Hierophant! in Deinen heiligen Händen das Stück, das mein halbes Dasein mitnimmt. Es ist wahr und wird wahr bleiben, mögen auch Jahrhunderte über meinen armen Schädel verachtungsvoll fortschreiten. Amen.“ In: WuBr 3, S. 329.
  47. Celan, TCA M, S. 8, Abschnitt 32 b.

Lenz und die Künste | Notizen zu Zeichnungen von Jakob Michael Reinhold Lenz

Für eine intensive Beschäftigung mit Jakob Michael Reinhold Lenz ist die Auseinandersetzung mit dessen Manuskripten unabdingbar. Sein Figurenkosmos, seine Aufzeichnungen, seine teils fragmentarischen Texte – aus diesen Elementen bildet sich mosaikartig ein spannungsvolles Gesamtwerk heraus, zu dem die handschriftlichen Aufzeichnungen dazugehören. Ein Gesamtwerk, das hier in einem sehr wörtlichen Sinne auch als ‚Gesamtkunstwerk‘ verstanden werden kann: In den erhaltenen Manuskripten verlieren sich Textfetzen in seitenfüllenden Zeichnungen, einzelne grafische Skizzen stehen Spalier für penibel ausgeschriebene Textblöcke oder illustrieren Theaterszenen – häufig ergibt sich in den Arbeiten von Lenz erst aus der Summe der Text- und Bild-Puzzleteile das große Ganze.
In vielen Texten von Lenz – egal, welcher Gattung sie zugerechnet werden – finden sich Zeichnungen, die er seinen Arbeiten hinzugefügt hat.[1] Beispielhaft für dieses von Lenz häufig angewandte „Ineinander von Schrift und Zeichnung“[2] ist seine „Wörterklaviatur“[3]. Bei dieser Zeichnung handelt es sich um eine „komplexe Wörterstudientabelle“[4], in der Lenz schematisch Laute und Wörter auf einer Klaviertastatur anordnete. Auf den einzelnen Tasten, von denen einige freigelassen wurden, finden sich Vokabeln vieler verschiedener Sprachen. Die jeweilige Anordnung auf Halb- und Volltönen suggeriert dabei bestimmte Bezüge und (klangliche) Verwendungsmöglichkeiten der Wörter. Lenz ging es um die Verdeutlichung von kindlichem Muttersprachenerwerb und der Frage nach den ursprünglichen Zusammenhängen unterschiedlicher Sprachen.[5] Diese „etymologische[n] Teilbeobachtungen“[6] schlagen sich nicht etwa in einer rein textlichen Abhandlung nieder, sondern in eben jener grafischen, leichtfüßigen und musikalisch inspirierten Anordnung der Wörter – nicht umsonst wird die Wörterklaviatur aufgrund ihrer vermeintlich einfachen Zugänglichkeit zuweilen auch als „spielerisches Lerninstrument“[7] gedeutet. Lenz scheint sich die entsprechenden „semantisch-symbolischen bzw. mythologischen ‚Beziehungsfelder‘“[8], die er in der Klaviatur darstellt, also im wahrsten Wortsinn zuvor im Kopf ausgemalt zu haben – um sie dann in einer grafischen Form auf Papier zu bringen. Für Lenz sind die angesprochenen Bezüge – mögen sie motivischer, thematischer oder etymologischer Natur sein – dabei „immer bedeutungstragend, auch wenn ihm ihre Entschlüsselung häufig entgleitet.“[9]
Die Klaviatur rekurriert auch insofern auf jenes angesprochene Gesamtkunstwerk, als dass sie eine „potentielle Gesamtstruktur von (narrativen) Elementen darstellt, in der Figuren, Handlungen und Gegenstände einander zugeordnet werden“[10]. Die Wörterklaviatur kann also beispielhaft für die Verbindung von Lenz’ literarischer Tätigkeit und seinen bildend-künstlerischen Versuchen stehen. In ihr zeigt sich, dass Erzählung – die Wörterklaviatur wird auch als „Narrationsmaschine“[11] verstanden – und bildhafte Überlegungen bei Lenz enge Verknüpfungen aufweisen. Die Narrativkonstellationen, derer sich Lenz bedient, macht er sichtbar in jener Maschine, in der sich „Ketten bzw. Äquivalenzklassen von
(Kollektiv-)Symbolen, Stereotypen und elementar-ideologischen Werten“[12] bilden und aus denen sich somit Grundgerüste für Lenz-typische Erzählungen generieren lassen.

Die zeitgenössische Vorstellung von Zeichnungen wird im 18. Jahrhundert im Wesentlichen vom Kupferstich dominiert. In Kupfersticharbeiten prägen – primär aus technischen Gründen – klar gezogene Konturen und Schraffuren in exakten 180-, 90- oder 45-Grad-Winkeln die Erscheinung von Figuren und Landschaften. Die entstandenen Bilder orientieren sich zumeist an anatomisch genauen Maßen sowie an realen Proportionen und Perspektiven. Lenz’ Skizzen, die immer wieder zwischen seinen Aufzeichnungen und Schriften zu finden sind, brechen mit eben dieser Erwartungshaltung: Zu sehen sind kleine grafische Arbeiten, die mit selbstbewusst flottem Strich gezeichnet, fast geschmiert wurden. Sie ergeben sich aus runden Schraffuren, die mühelos aus dem rechten Handgelenk gezogen wurden – eben ohne die minutiöse Planung und Geduld eines Kupferstechers. Die Motive fügen sich dabei widerstandslos in das literarische Werk von Lenz ein und ergänzen selbiges.
Was Lenz zeichnete, ist vielfältig: Da sind Menschen, die in ihrer Überzeichnung einerseits nie vollständig organische Qualität entwickeln und andererseits scheinbar als potenzielle Figuren für eine anstehende Inszenierung bereitstehen. Es gibt Maschinen, deren Funktion sich den Betrachtenden und vielleicht auch Lenz selbst nicht ganz erschließen. Es gibt ungenaue Formen, die sich nicht klar benennen lassen: Ist das eine Glocke, ein Käfig oder ein Panzer? Teilweise werden bloß angerissene Gebäude, Landschaften, ein Zelt, ein Wald oder ein in der Ferne liegender Palast angedeutet. Zentral ist dabei immer wieder das Spiel mit Größen: Menschen werden in Verhältnissen zu Maschinen gezeichnet – oder in Relation zu Autoritäten und letztlich auch zum Göttlichen. Ein Beispiel: Winzige Figuren sind gefangen in einem überdimensionalen Gefängnis aus Mauern. Oder: Eine Gruppe Schüler sieht auf zu einer überlebensgroßen Lehrerin. Letztere ist so verwegen und unnatürlich gezeichnet, dass der Strich annährend modern erscheint. So nah Lenz’ Blick hier an die Figuren herantritt, so fern skizziert er auf der anderen Seite auch Landschaften im Makroformat. Finden wir hier Settings für seine Narrationen, die als Kulisse stehen bleiben und sich nie vollständig materialisieren?[13]
In Bezug auf die Titelzeichnung der vorliegenden Thewis-Ausgabe soll hier ganz besonders auf eine sakrale Skizze hingewiesen werden, die Lenz angefertigt hat. Der Künstler Jens Eike Krüger hat für seine Bearbeitung Bestandteile aus jener – in vielerlei Hinsicht speziellen – Zeichnung übernommen: Das Lenzsche Original[14] zeigt im oberen Bildteil eine göttliche Figur, die sich aus den Wolken erhebt. Hinter ihr befindet sich ein Rad mit Augen, dazwischen Sonnenstrahlen, ein Regenbogen und Flügel. Das Chaos wird betrachtet von zwei Dutzend Männern, von denen jeder eine Axt am Gürtel trägt. Die ganze Gruppe bleibt gesichtslos und wird lediglich von hinten dargestellt. Nur ganz am Rande, fast verloren, sieht man einen kleinen Kopf, der zurückschaut und den Betrachter in sein Sichtfeld nimmt. Wem gehört dieser Blick? Hat dieser „Mann mit dem Schreibzeug“[15] die Rolle eines „prophetischen Dichter[s]“[16]? Die Wichtigkeit dieser einzelnen Figur wird vor allem durch ihren Blick auf die Bildbetrachtenden offenbar. Ihr wird in Zusammenhang mit der in der Zeichnung dargestellten „gnadenlosen Vernichtung aller Menschen“[17], die sich als eine friedvolle Verkündigung anschickt, eine „Schlüsselrolle“[18] zugeschrieben.
Die Zeichnung von Jens Eike Krüger ist eine Verdichtung, beziehungsweise eine Komposition von Motiven nach Jakob Michael Reinhold Lenz. Krüger hat für dieses Werk mit Tusche und Feder gearbeitet. Die Zeichnung versteht sich als eine Ode, die ein Schmierfink einem zeitlosen Selbigen widmet.

  1. Vgl. Schäfer, Judith: „Schrift/Skizze/Szene. Lenz’ Theater der Fragmente zwischen Text und Bild“, in: Lenz-Jahrbuch. Literatur – Kultur – Medien 1750-1800 25 (2018). Hg. von Nikola Roßbach, Ariane Martin und Georg-Michael Schulz. Heribert Tommek: Gastherausgeber zum Thema: „J.M.R. Lenz in Russland (1780-1792)“, keine Seitenangabe (im Erscheinen).
  2. Vgl. Schäfer: „Lenz’ Theater der Fragmente“, o.S.
  3. Tommek, Heribert, Kommentar zur Zeichnung, in: Jacob Michael Reinhold Lenz: Moskauer Schriften und Briefe. Text- und Kommentarband. Herausgegeben von Heribert Tommek. Berlin 2007, Kommentarband, S. 717.
  4. Ebd.
  5. Vgl. Ebd.
  6. Ebd.
  7. Ebd.
  8. Ebd.
  9. Vgl. Schäfer: „Lenz’ Theater der Fragmente“, o.S.
  10. Tommek, Kommentarband, S. 718.
  11. Ebd.
  12. Ebd.
  13. Die Zeichnungen, von denen die Arbeit von Jens Eike Krüger inspiriert wurde, sind zu finden im Textband von: Jacob Michael Reinhold Lenz: Moskauer Schriften und Briefe. Herausgegeben von Heribert Tommek. Berlin 2007.
  14. Die hier angesprochene Originalzeichnung von Lenz ist zu finden in: Moskauer Schriften, Textband S. 526.
  15. Tommek, Kommentarband, S. 716.
  16. Ebd.
  17. Ebd., S. 715.
  18. Ebd., S. 716.

Lenz und die Künste | Von geschlossenen Räumen und der Distanz zur Figur

Abb. 3: „Der Hofmeister“, © Theater an der Ruhr, Foto: Andreas Köhring

Wasser und Black

Beitrag aus dem Publikum (Marie Christin Wilm):
Vielen Dank für das tolle Theatererlebnis. Ich möchte gleich auf Ihre Verwendung des Wassers auf der Bühne zu sprechen kommen. Es gab ja keinen Schauspieler, der nicht zu irgendeiner Zeit sich selber tränkte oder nass wurde. Das Wasser spielt natürlich im Stück eine große Rolle, weil dieser Selbstmordversuch im letzten Viertel des Stückes da steht [Gustchen will sich in einem Teich ertränken; Anm. d. Hrsg.], aber bei Ihrer Inszenierung wurde ja diese Badewanne, in der eigentlich alle einmal versucht haben sich zu ertränken, zu einer Art letzten Ausweg aus diesen Gefängnisräumen. Das hat gezeigt, dass wohl die Verzweiflung nicht nur in einzelnen Figuren liegt, sondern in der ganzen Gesellschaft, dass jeder in seiner Rolle überfordert und verzweifelt ist. Und da würde mich sehr interessieren: War das eine Anfangsidee, das alles so ans Wasser zu knüpfen, oder kam das aus der Notwendigkeit, diesen Ertränkungsaspekt einzubauen und dann hat sich das verselbstständigt?

Roberto Ciulli:
Es ist schwierig für mich, zu rekonstruieren, wie das gekommen ist. Ich denke nur, nach der Beschäftigung mit dem Material dauert es eine lange Zeit vor dem Beginn der Proben und es gibt natürlich bestimmte Entscheidungen zu treffen, auch was die Bühne betrifft. Die ist, wie Sie sehen, zu einem engen Raum gemacht: Die Tafel, die in manchen Szenen ein Gefängnis zeigt, ist auch das innere Gefängnis. Also ist die große Bühne ein Gefängnis in dieser Wiederholung der Objekte, die wir aus der Kindheit oder der Schule kennen und die oftmals mit dem Gefangensein zu tun haben. Und dadurch ist die Tafel wie vielleicht auch die Badewanne ein Gefängnis, wenn man will –

Helmut Schäfer:
Und auch eine Kindheitserinnerung

Roberto Ciulli:
Wasser ist eine Art Befreiung. Aber es ist auch das innere Gefängnis, in dem man ist. Und dann interessierte mich auch die Hitze, ich spüre bei Lenz eine große Hitze. Bei Lenz ist die Hitze, die er gespürt hat, wahrscheinlich die in Moskau, als er dort durch die Straßen ging. Diese Hitze ist ständig präsent und da bin ich auf das Wasser und die Badewanne gekommen. Und dann gibt es da natürlich, wie zum Beispiel auch bei Büchners Woyzeck, den Teich und das Ertränken neben der Hitze.

Judith Schäfer:
Für mich hat dieses Wasser auch sehr viel mit der Verstärkung der Körperlichkeit zu tun, weil durch dieses nasse Derangierte die äußere Form, wie man auftritt, wie man sich in Gesellschaft präsentiert, sich auflöst. Die Haltlosigkeit wird dadurch noch einmal verstärkt und der Körper wird sichtbarer.

Roberto Ciulli:
Wie man sagt: „hitziger Kopf“.

Judith Schäfer:
Ja, ich finde man spürt dann noch mehr, dass auch der Schauspieler einen Körper hat – die Figur und der Schauspieler –, das macht es noch sinnlicher.

Beitrag aus dem Publikum (Marie Christin Wilm):
Lenz hat ja eine Figur auch Robert Hot getauft, das passt ja auch sehr schön, wenn man einmal über diese Hitze bei Lenz nachdenkt.

Abb. 4: „Der Hofmeister“, © Theater an der Ruhr, Foto: Andreas Köhring

Beitrag aus dem Publikum (Philipp Hohmann):
Ich habe mich noch an etwas anderes erinnert gefühlt. Wir haben hier einmal King Lear gesehen und ich musste daran denken, dass wir damals über die Komödien bei Shakespeare gesprochen haben und darüber, dass diese noch sehr viel bitterer oder grausamer sind als die Tragödien, weil es darin wirklich gar nichts zu lachen gibt. Und zu dieser Inszenierung gestern haben wir die Bemerkung gemacht, dass diese Leute fertig sind, die wir sehen. Die sind alle fertig. Aber es gibt einen Schlussmoment, wo ich mich gefragt habe: Gibt es ein Fünkchen Hoffnung? Denn das Kind wird nicht ertränkt am Ende. Wie ist das einzusortieren und wie haben Sie sich dafür entschieden, dass das Kind erst einmal jedenfalls nicht im Wasser landet? Mich würde interessieren, wie Ihre Position dazu ist.

Roberto Ciulli:
Wir haben diese Fassung mit diesem Schluss gestern zum ersten Mal gespielt. Wir haben das Stück sehr lange nicht gespielt. Das war gestern Abend das erste Mal seit vier Jahren. Bei diesen Proben gab es dann die Entscheidung bezüglich des Schlusses zu treffen. Getauft wird ja schon vorher, taufen muss man also nicht mehr. Also müsste man das Szenario in der Badewanne so verstehen, dass von Berg das Kind umbringen will. Und als ich die Vorstellung dann gestern gesehen habe, habe ich sofort gesagt, dass wir es, wenn wir es wieder spielen, offenlassen. Das heißt es wird nicht so enden wie gestern Abend, sondern es wird so enden, dass es offen bleibt. Das Black unterbricht etwas und man weiß nicht: Geht das Kind unter oder kommt es wieder rauf? Das scheint mir jetzt so richtig.

Beitrag aus dem Publikum (Johannes F. Lehmann):
Ich wäre dafür, dass Kind doch wieder herauszuheben, denn Lenz entwickelt hier im Grunde sehr früh ein Modell der Adoption als ein Ausweg aus der Frage nach den Modi der Reproduktion einer Gesellschaft, wie Bildung, Reproduktion und Sexualität voneinander zu trennen sind. Insofern fände ich das einen interessanten Gedanken.

Roberto Ciulli:
Sie wären dafür, es nicht offenzulassen, dass jeder Zuschauer die Freiheit hat, sich zu entscheiden, was für ihn die Zukunft ist?

Beitrag aus dem Publikum (Marie Christin Wilm):
Ich persönlich bin für die Ertränkung und zwar nicht im Hinblick auf Lenz, sondern im Hinblick auf Ihre Inszenierung. Dieser Schluss war für mich so eindeutig ein Verzweiflungstableau, dass es für mich nicht gepasst hat, dass er das Kind wieder herausgeholt hat.

Beitrag aus dem Publikum (Philipp Hohmann):
Ich möchte für das Black, für die Offenlassung argumentieren. Der Bruch, das Fragment tritt in der Inszenierung immer wieder in diesem Black auf als die Lücke, die gefüllt werden muss, die Lücke in Lenz’ Text, die vom Leser, vom Zuschauer gefüllt werden muss. Ich finde es folgerichtig, eben das am Ende stehen zu lassen, weil ich glaube, dass in der Lücke eigentlich schon die Antwort auf Herrn Lehmans Frage steckt. Nämlich als Nicht-Antwort: Dieses Unterfangen ist unmöglich, es ist nicht möglich, etwas darüber auszusagen. Es ist eine Kapitulation, aber darin auch gleichzeitig eine Antwort.

Musik

Beitrag aus dem Publikum (Philipp Hohmann):
Mir ist in der Inszenierung vor allem die starke Präsenz der Musik [Philip Glass, Dracula; Anm. d. Hrsg.] aufgefallen. Sie scheint eine Bewegung zu sein, die mit dem Geschehen verbunden ist: Mit der Musik wird die Handlung vorangetrieben beziehungsweise existiert eine Engführung, eine Nähe von Musik und Handlung. Mir scheint es eine bewusste Entscheidung gerade für diese präsente und immer wiederkehrende Musik zu geben. Können Sie, Herr Ciulli oder Herr Schäfer, etwas zu dieser Musik sagen – was ist das für eine Musik, wie ist es zu dieser Auswahl von Musik gekommen, welchen Hintergrund hat diese Musik?

Roberto Ciulli:
Wie immer spielt hier der Zufall eine große Rolle: Vieles geschieht im laufenden Probenprozess; so war die Auswahl der Musik auch mehr oder weniger zufällig. Diese besondere Musik – wir hören während der Proben oft Musik – wurde allmählich bei den Proben entschieden: Mit der Zeit zeigt sich, was das Richtige, das Besondere einer Szene ist. Oft sieht man zuerst das Bild, dann hört man Musik dazu und erkennt, dass es genau die richtige Musik für das Bild ist. Manchmal spielt man Musik während des Probeprozesses und ein Bild entsteht – Bild und Musik passen zueinander.
Die Auswahl der Musik war bei dieser Inszenierung ein Zufall, der eigentlich gar kein Zufall war – das ist das Komplizierte daran. Während einer Inszenierung, an der ich im Iran mitwirkte, wurde ich auf einen Film namens Die rote Violine aufmerksam gemacht. Dieser Film, diese Musik haben mich sehr bei der Arbeit an Lenz’ Hofmeister inspiriert. Im Film selbst gab es eine Verschränkung von Erzählung, Musik und Black. Das Black ist ein filmisches Element [das Ciulli auch in dieser Inszenierung einbaute; Anm. d. Hrsg.].

Helmut Schäfer:
Die Qualität der in der Inszenierung eingesetzten Musik liegt, wie ich es beim Hören rezipiert habe, in dem Getrieben-Sein, welches ein zentrales Motiv in Lenz’ Hofmeister ist. Die ausgewählte Musik bringt in dieser Inszenierung die Wirkung des Getrieben-Seins hervor: Sie schiebt sozusagen die Figuren von einer Szene in die nächste hinein, hat die Möglichkeit, einen Druck auf die handelnden Subjekte auszuüben. Das Getrieben-Sein ist ein Motiv, das bei den meisten Lenz’schen Figuren und bei Lenz selber zum Ausdruck kommt. Im Getrieben-Sein ist der ‚Trieb‘ sprachlich enthalten, worauf Herr Lehmann ja in seinem gestrigen Vortrag hingewiesen hat und Lenz schreibt selbst in seinen Straßburger Vorlesungen über die Konkupiszenz. Dieses Getrieben-Sein wollen wir in der Musik bzw. durch die Musik fortführen; das Getrieben-Sein ist ein Motiv, das die Musik zum Teil transportiert.

Judith Schäfer:
In dem Treibenden und in den Instrumenten selbst entsteht eine Atmosphäre eines Traumhaften und eines Unheimlichen – die ganze Zeit stimmt etwas auf mehreren Ebenen nicht. Die Musik verstärkt diesen Eindruck und erweitert dieses Traummotiv.

Louisa Schückens:
Die Atmosphäre des Unheimlichen, des Traumhaften, des Getrieben-Seins bleibt ständig präsent. Diese Atmosphäre wird durch die Ebene der Musik verstärkt: Die Atmosphäre hallt nach; sie wirkt in einem nach, noch nach der Inszenierung. Die Erinnerung erhält neben der Ebene des Bildes die der Musik, die die Atmosphäre verstärkt und in einem nachwirkt. Deswegen ist die Musik für mich ein sehr ergreifendes und zentrales Motiv in dieser Inszenierung.

Helmut Schäfer:
Und das macht die Musik so präsent – eigentlich ist die Bühne nackt; nur das nackte Geschehen liegt vor uns.

Sebastian Bös:
Mein Eindruck ist, dass die Präsenz der Musik den Raum größer macht; sie bringt ein Volumen in den Raum. Die Musik ist ständig in dem alten Radio auf der Bühne präsent. Auch wenn die Musik das Geschehen so intensiv macht, scheint sie doch nur immer auf dieses kleine Radio Bezug zu nehmen, mit dem vor allem der Sohn spielt. Können Sie etwas zu der Entscheidung sagen, die Musik in einem kleinen Ding, einem kleinen Radio auf der Bühne zu verorten?

Roberto Ciulli:
Was man sieht, ist eine Mischung zwischen Hall und Vision. Die Figuren leben zwischen diesen beiden Ebenen – das ist der rote Faden der Inszenierung. Und diese Mischung hat auch etwas mit Lenz zu tun, in dessen Theater eine Mischung zwischen Sprache und Vorstellung, Innerem und realen Äußerem thematisiert wird. Das, was wir sehen, und das, was wir eigentlich nicht auf der Bühne sehen können; das, was wir hören, und das, was wir eigentlich nicht hören können – der ständige Wechsel zwischen dem Real-Gegebenen und der Vorstellung macht den roten Faden der Inszenierung aus. Es existiert eigentlich kein Unterschied zwischen diesen beiden Ebenen, Real-Irreal. Hier setzt der Lenz’sche Begriff des Standpunkts ein: Der Zuschauer entscheidet, was für ihn real und was für ihn nicht real ist.

Julia Freytag:
Ich empfand dieses Irreale, auch wie es in der Musik zum Ausdruck kommt, als sehr eindrücklich. Die Ebene des Irrealen hatte ich gar nicht so in der Lektüre von Lenz’ Hofmeister wahrgenommen. Dieses Irreale und die eher körpersprachlich-affektiven Ausdrücke, wie sie in Form von Tagträumen, Gewaltphantasien und sexuellen Phantasien zusammenwirken, beinhalten die sprachlosen Subtexte in Lenz’ Theater. Diese Stimmung, diese Übereinstimmung dieser Ebenen ist in Lenz’ Texten auch zu finden. Für mich waren diese Ebenen, die an die Musik gekoppelt sind, sehr eindrücklich in der Inszenierung.

Geschlossene Räume

Abb. 5: „Der Hofmeister“, © Theater an der Ruhr, Foto: Andreas Köhring

Beitrag aus dem Publikum (Johannes F. Lehmann):
In dem Radio sehe ich eine Art Reflexion auf den Text: Es sind eigentlich alles ausschließlich geschlossene Räume, Gefängnisräume: Die Schule, der Karzer, in welchen Pätus tatsächlich gesteckt wird, das Landhaus des Majors, welches vor allem für Gustchen und Läuffer ein Gefängnis darstellt – alle Figuren befinden sich immer in Gefängnissen, in geschlossenen Räumen. In der Inszenierung signalisiert für mich gerade die Schultafel einen abgeschlossenen Raum, die Schule als eine Art Gefängnis. Nur das Radio ist die einzige Möglichkeit eines Kontaktes nach Außen hin, aber nur auf einer virtuellen Ebene. Die Enge der geschlossenen Räume, wie sie in der Inszenierung geschaffen wird, produziert eine sagenhafte Intensität.

Beitrag aus dem Publikum (Marie-Christin Wilm):
Ein weiteres faszinierendes Element in der Inszenierung liegt für mich in der Verwendung des Wassers, in der Badewanne. Dem Wasser kommt erst am Ende von Lenz’ Hofmeister eine tragende Rolle zu, und zwar als Medium des Selbstmordversuchs. Im Laufe der Inszenierung erhält die Badewanne kontinuierlich eine Bedeutung: Jede Figur versucht sich zu ertränken. Die Badewanne wird quasi zum letzten Ausweg aus diesem Gefängnisraum. Es scheint, als würden die Figuren sich denken: „Das alles ist nicht auszuhalten, dann gehe ich doch lieber ins Wasser.“ Dies zeigt, dass die Verzweiflung nicht nur in den einzelnen Figuren liegt, sondern in der gesamten Gesellschaft, in der jedes Individuum mit seiner Rolle überfordert und verzweifelt ist.

Roberto Ciulli:

Die eigentlich leere Bühne spiegelt auch immer das innere Gefängnis – eigentlich erweckt eine große Bühne kein Gefängnis. Der Eindruck des Gefängnisses in dieser Inszenierung liegt in der Wiederholung der Objekte, die wir aus der Kindheit, aus der Schule, aus uns bekannten Situation kennen. In diesen Situationen scheinen wir hängen geblieben zu sein. Die Tafel, die an die Schule erinnert, und die Badewanne, die an die Tortur des Waschens in der Kindheit erinnert, sind Gefängnisse. Aber auch das Radio ist eine Art Gefängnis. Das sind vor allem innere Gefängnisse.

Die stumme Figur Leopold

Abb. 6: „Der Hofmeister“, © Theater an der Ruhr, Foto: Andreas Köhring

Beitrag aus dem Publikum (Teresa Witte):
Ich habe eine Frage zu der Figur des jungen Schülers Leopold. Zu Beginn scheint die Rolle ja klar zu sein, da ist er in der Lehre bei dem Hofmeister Läuffer. Und da ist die Figur sehr präsent. Und sie ist auch im ganzen Stück anwesend, hat aber keinen eigenen Sprechanteil und ist mehr ein passiver Beobachter des Geschehens. Für mich war nicht ganz greifbar, was die Funktion seiner stummen Anwesenheit in Ihrer Inszenierung ist.

Helmut Schäfer:
Erst einmal hat man da ein Objekt der Erziehung. Man erlebt diesen jungen Leopold im Zusammenhang mit den Anforderungen des Vaters, des Majors. Dann ist er natürlich gleichzeitig eine Form von Kaspar Hauser: Wir hören ihn nicht, er sagt ja kein Wort in der Inszenierung, und bei Lenz sagt er bloß einen Satz. Diese Sprachlosigkeit ist sehr beredt, denn ihm wird eine Erziehung zuteil, die sprachlos macht, keine Erziehung, die ihn zum Sprechen bringt. Daher komme ich auf Kaspar Hauser, der 1828 mit einem einzigen Satz auf den Marktplatz von Nürnberg kam, „A söchtener Reuter möcht i wern, wie mein Voater gwen is“. Diesen Satz hat man Leopold auch noch ausgetrieben, wenn er ihn überhaupt hatte. Das ist für mich insofern ein wichtiges Motiv, das mit dieser Figur sich verbinden lässt, das aber durch die ganze Inszenierung gedacht ist, nämlich die Folgen des Protestantismus, der in dem Stück immer anwesend ist. Der Protestantismus ist ja, vor allem zu Beginn des 18. Jahrhunderts, in sehr viele Sekten übergegangen, also nicht nur die großen Sekten wie die von Calvin und Zwingli et cetera, und das hat natürlich enorme Folgen gehabt. Dieser Protestantismus führt, wie Max Weber es in seinem Buch über die Entstehung des Kapitalismus durch den Geist des Protestantismus beschreibt, zu einer Situation, in der das Subjekt sich permanent selbst erzieht. Und das ist ein zum Teil grausiges Geschehen gewesen, wenn Sie sich historische Berichte ansehen, da die Entlastung, die es im Katholizismus zuvor immerhin noch durch die Beichte gegeben hat, im Protestantismus wegfällt; hier machen Sie alles mit sich selbst aus. Und diese schwarze Linie mündet dann in einer solchen Figur wie diesem nicht sprechenden Leopold, dem noch der letzte Buchstabe abhanden gekommen ist.

Roberto Ciulli:
Ich finde immer, wenn eine Figur so gekappt wird, schon am Anfang, stellt sich auch die Frage, wie es möglich ist, sie zu verlängern. Und in einer solchen Konstruktion zwischen real und irreal zu verorten. Der Film I bambini ci guardano [Die Kinder beobachten uns] von Vittorio De Sica erzählt davon, dass die Kinder immer dabei sind, auch im Schlafzimmer, und zuschauen. Und diese Vorstellung ist eine, die auch in Lenz’ Welt des Hofmeister enthalten ist: es schaut immer auch ein Kind zu. Beispielsweise wenn der Hofmeister sich kastriert, ist ein Kind dabei, schaut zu, hat es gesehen. Und das erzählt wie I bambini ci guardano von einer Verantwortung, die aus dieser Anwesenheit entsteht.

Judith Schäfer:
Was mich an der Figur Leopold auch interessiert, ist das hohe szenische Bewusstsein, das Lenz offenbar hat, dass es sich hierbei nicht nur um einen Lesetext handelt. Er schreibt eine Figur, die man schnell überliest, weil sie eben nichts sagt. Es gibt sie fast nur im sogenannten Nebentext, der im Lesen ja oft auch nur überflogen wird. Dabei ist er so ein wesentliches Element, da er auf einer anderen Ebene etwas erzählt, indem eben keine Figurenrede zur Verfügung gestellt wird, und das tritt durch Eure Inszenierung auch ins Bewusstsein.

Roberto Ciulli:
Darin liegt wirklich die große Modernität von Lenz. Diese Vorstellung, die er von Theater hat, reicht bis in die Moderne, nicht nur wegen des Fragmentarischen. Da ist ein Autor und da ist sein Text mit einer ungeheuren Qualität, und auf der anderen Seite ist der Regisseur, der es mit einem Theatertext zu tun bekommt, der umzusetzen seinerzeit schwierig war und einige Jahrhunderte voraus denkt. Für mich als Regisseur ist Lenz sehr modern, weil er seinen Text wie einen ‚Vortext‘ behandelt: Der Text wird gewissermaßen ein Prätext. Für uns ist das heute deutlich, unser Verständnis von einem Text für das Theater ist der eines Prätextes. Im Italienischen ist pretesto etwas, das ich brauche, um etwas zu verändern. In unserem Zusammenhang finde ich interessant, dass man im Theater keinen Text oder keine Literatur braucht, aber ich brauche einen pretesto für mich, um etwas in Gang zu bringen. Und ich glaube, das steht in Einklang mit einem Verständnis von Theater, das auch Lenz oder auch Büchner hatte.

Helmut Schäfer:
Um auf Ihre Frage noch einmal zurückzukommen, kann man auch noch Folgendes überlegen: Einem konventionellen Verständnis nach kann man die Figur des Leopold streichen. Aber man kann es natürlich nicht. Man kann es deshalb nicht, weil diese Figur ja auch die Repräsentation der Generationen in sich trägt. Beim Hofmeister von Generationskonflikt zu sprechen, wäre eine Verharmlosung. Wir sind hier nicht „68“, das war etwas ganz anderes. Das wäre eine Verharmlosung. Man weiß aber nicht, was aus dieser Figur wird. Man hat einige Möglichkeiten der Vorstellung, wie sie sich vielleicht entwickelt, was aus ihr späterhin würde. Würde aus der Figur – so wie wir sie versucht haben zu erzählen – jemand, der sozusagen gegen dieses System, in dem sie großgeworden ist, opponiert? Denkbar. Oder aber ist diese Sprachlosigkeit die ewige Verdammnis?

Distanz und Nähe

Abb. 7: „Der Hofmeister“, © Theater an der Ruhr, Foto: Andreas Köhring

Sebastian Bös:
Ich habe eine Frage zur Beobachterperspektive, die in Ihrer Inszenierung mit verschiedenen Figuren einhergeht. Da ist einerseits Leopold, der sich nur in seinen Affekten formulieren kann, auf der anderen Seite gibt es aber noch einen zweiten Beobachter, nämlich den Major von Berg, der hinten sitzt und seiner Frau und dem Grafen Wermut in einer Choreografie zuguckt, die völlig absurd ist und ins Groteske rutscht. Ich wusste nicht so recht, was ich davon halten sollte, denn einerseits lädt die Szene zum Lachen ein, aber andererseits gibt es da hinten diesen Beobachter. Ich fand es spannend, dass also sowohl der junge Sohn als auch dieser herrische Vater diese Beobachterposition haben, denn als ich das Stück gelesen habe, habe ich keinen Zusammenhang zwischen Vater und Sohn gesehen. Für mich hat sie nichts verbunden. Gleichzeitig zieht diese Verbindung in Ihrer Inszenierung zwei Ebenen ein: Einerseits gibt es da eine Art von sozialer Realität, die in der Beobachterposition von Major Berg ist, und andererseits gibt es dieses Groteske in der Szene zwischen Frau von Berg und dem Grafen, die in einer Choreografie festhängen.

Roberto Ciulli:
Diese Besonderheit der Figur des Grafen Wermut hat Simone Thoma gefunden, die Körperlichkeit dieser Figur. Sie ist in der Inszenierung entstanden, ohne unbedingt spezifisch genau das zu wollen.

Beitrag aus dem Publikum (Simone Thoma):
Das Stichwort der Modernität finde ich sehr wichtig und möchte das gern noch einmal aufgreifen. Sie, Herr Lehmann, haben gestern von der Distanz gesprochen, in Bezug auf den Standpunkt des Autors und die Figuren. Und dieser Blick des Kindes Leopold oder des Majors in so einer Situation … – das ist ja nicht der Ausstieg des Schauspielers aus der Rolle als Major, sondern Klaus Herzog bleibt ja in der Major-Figur und schaut quasi mit dem Blick des Majors auf diese Situation. Und Leopold ebenso. Roberto sagte, dass das die Modernität ist – das finde ich richtig. Denn diese beiden Figuren sind in bestimmten Situationen immer auf Distanz, schauen mit einer Distanz auf das Geschehen. Und das ist im Grunde auch unsere Rolle. Also sowohl wenn wir als Zuschauer im Theater sitzen, jetzt und gegenwärtig, aber auch wenn wir in die Welt blicken, sind wir, wenn man so will, verdammt auf die Position, dass wir immer Distanz nehmen zu den Dingen. Entweder aus Selbstschutz oder weil wir handlungsunfähig sind, wie auch immer. Und das schlägt die Brücke zur Modernität. Dass das bei Lenz schon die Verdammnis beinhaltet: Sowohl das Kind, das nicht handlungsfähig ist, es ist nicht einmal mündig, und dann eben dieser Major, der in so einer Situation ebenso handlungsunfähig ist.

Helmut Schäfer:
Wir haben hier eigentlich nur zwei Möglichkeiten, das Verhältnis vom Major, seiner Frau und dem Grafen Wermut zu erzählen. Das ist eben dieses zitierte Bild und dann später, wenn Major Berg kommt und erfahren hat, dass mit Gustchen irgendetwas passiert ist. Diese Distanznahme, diesen dort hinten sitzenden Major wahrzunehmen, der nicht die Fassung verliert, das ist glaube ich ein entscheidender Punkt. Graf Wermut kommt herein und wälzt sich zunächst in den Kartoffeln, dann geht er nach Vorne und schnuppert am Bett, das sind so eindeutige Zeichen, und dann kommt die Frau und es ist klar, dass sie und der Graf ein zumindest gespieltes Verhältnis haben, ein illusionäres Verhältnis. Und das erträgt der Major. Da könnte man jetzt vom christlichen Duldungsprinzip sprechen, aber da die Fassung nicht zu verlieren, gefasst zu bleiben, erzählt auch etwas über die Welt, in die wir dort hineinschauen. Und das betrifft auch Leopold, der nur selten, eigentlich nur ein Mal wesentlich, die Contenance verliert, wenn er auf Wenzeslaus einschlägt und Wenzeslaus ihn nimmt und das eher behaglich findet. Und das erzählt etwas von der Welt, von der Lenz erzählen will, wenn wir den Major von Berg in dieser Weise dort in die Betrachterrolle zwingen.

Dieser Text gibt Auszüge wieder aus dem Publikumsgespräch zur Inszenierung des Hofmeister in der Regie von Roberto Ciulii, die am 10. und 11. Mai 2007 im Theater der Stadt Duisburg Premiere feierte.

Das Gespräch fand am 9. Oktober 2016 zum Symposium Lenz-Herbst im Theater an der Ruhr statt. Es wurde moderiert von Sebastian Bös, Julia Freytag, Judith Schäfer und Louisa Schückens.

 

Miszellen | Intersectionality and Identity in Theatre

1. Introduction
„I wish that we were perceived as how we really are and not as Gadje present us. I wish we finally stood for our own identity. That we spoke for ourselves and that we pursued our own politics.“[1]

This is a quote from the show Roma Army that premiered at Maxim Gorki Theatre in September 2017. The project was based on the idea of two Romani actresses and Roma-activists, Sandra and Simonida Selimović, directed by one of the Gorki’s resident directors, Yael Ronen. The actors are Romnija, Roma and Romani travellers from Austria, Serbia, Germany, Kosovo, Romania, England and Sweden. On stage they develop the idea to form a self-empowering, feminist and queer Roma army to fight structural discrimination, racism and antiziganism, but also to emancipate oneself from an internalized victimization.

I want to analyse the implications of the wishes that the actress expresses in the trailer from a theoretical point of view, as well as in the context of my dramaturgical practice in a German state theatre. In doing so, I have to acknowledge my own entanglement: I am writing here as a student of Goethe University, but as I work as a dramaturge at Maxim Gorki Theatre in Berlin, I somehow represent a certain political and aesthetic approach, promoted by the artistic director Shermin Langhoff and her team. Self-evidently I cannot represent the diversity of opinions and accesses to theatre as practiced at Gorki, but of course I have been dealing with questions of representation, identity politics and such in my everyday practice there and can share some insights, experiences and thoughts with the reader. I will further elaborate how the concept of intersectionality can serve as a tool in a critical theatre practice and prevent us from an essentialist understanding of identity. Finally, I want to carve out which role a dramaturge could play in all of that.

In this combative confessional-like monologue, created in the process of devised theatre in a group of marginalized people (Roma in this case) some key aspects of the confrontation of identity and politics within theatre emerge. Firstly, the call for authenticity: to be seen how we really are is combined with the refusal to be attributed by white, non-Romani people (Gadje). Secondly, the issue of self-empowerment arises: to be proud of one’s own identity; in contrast to trying to cover differences up. Finally, the actress expresses the aim to speak for oneself and to make one’s own politics. Thereby, she addresses the complexity of the term of representation.

2. Two senses of representation

Let us examine the double meaning of the word representation. Gayatri Spivak[2] cites that there are two senses of representation. While talking about the relation between theory and practice, Spivak feels that Deleuze (like many other Western philosophers) mixes these two senses of representation. Spivak differentiates between representation as speaking for such as in politics, within state formation and law (proxy) and representation as re-presentation, as in art or philosophy (portrait).

We can understand this second concept of re-presentation as staging or even making significance since one attributes certain characteristics to a subject in order to produce a meaningful statement. A representative mediates and translates the subaltern position, referring to the subaltern as a homogeneous group and re-presenting them as such. The first concept of representation as speaking for (as in politics) includes the inner dynamics of advocacy (Für-Sprecherposition). The advocate’s position is laid bare and requires the localization of those spoken for. The subaltern are being represented as a heterogeneous group, lacking their own acting power. Advocates draw attention to the fact that they can only contribute the subaltern’s concerns to the hegemonic discourse as a translation of such. Naturally, translations cause shifts in meaning. According to Spivak, a radical practice should consider both modes of representation. She further states, that critical intellectuals who occupy key positions or can get in touch with the privileged should reflect on and use their privileges to make the subaltern’s voice heard.

Spivak argues, that the subaltern can neither speak nor act, unless their heterogeneous positions are being represented in the discourse (by proxy). The second sense of representation harbours the danger of essentializing the subaltern by robbing them of their diversity of voices. This is due to the fact that the term re-presentation assumes that there is something essential that can be brought back to presence. In terms of a theatre practice that tries to take a postcolonial perspective, including findings of Gender or Critical Whiteness Studies, this usually leads us to call for the authenticity of an absent other. One can argue that reaching out for an authentic representative is necessary to provide visibility to a demographic group of people who are structurally excluded from the hegemonial discourse. But again, in doing so, we may disguise our own position in the neo-colonial system and promote an outdated idea of identity.

3. Intersectionality

There is another trap in the second sense of re-presentation; that is, representation as portrait or depiction. It not only assumes that something essentially absent can be re-presented, but it also assumes that it is something visible and distinct. I noticed that institutions who are attentive to these issues were increasingly criticized for over-engaging in particular marginal interestsmarginal particular interests. This has not only been the case in the theatre or the cultural industry, but also in a wider political and public sphere. Above all one finds the accusation of having lost sight for the main type of oppression, namely class. For reasons of space, I have to abstain here from examining the playing-off a main contradiction against a side contradiction. But what is at stake here is that there are types of oppression which cause structural exclusion that are less visible than others, for example class. Also, we tend to overlook the complexity of these types and their intertwinings.
The paradigm of intersectionality, coined by the American civil rights advocate Kimberlé Williams Crenshaw, can help us to rethink the representation of identity and its deconstruction in theatre. The theory emerged from the Black feminist movement and considers the entanglement of oppressions due to the coordinates race, class, gender in one person. In order to overcome social injustices, the individual has to think of each element as inextricably linked with all other elements. This forces us to a more complex understanding of entities of a presumed identity as Black or worker et cetera. What identity is and who determines it, should be negotiated again and again and stay disputable.
Coming back to the trailer we saw in the beginning, I would say that it does not matter if the actress describes what is actually true or authentic for a Roma experience. It is also not about preferring the narrative of history as imperialism as the correct version of history. What should arouse interest from a theoretical point of view here, is to retrace how one narrative (Roma as victims, as persecuted) of reality was established as normative. Later, the audience will experience tensions within the group, since all individuals suffered in different ways from the label Roma, due to their skin colour, their economic status, etc. Intersectionality argues in support of a less accumulative idea of oppression and hegemony. It points to the horizontal junctions and particularities and can therefore grasp the mechanisms and structures of power that promote a specific and inadequate concept of identity more accurately. As an intellectual, a curator, a dramaturge one should keep the double meaning of representation in mind and dare to confront oneself with these delicate issues. I believe that those who can speak (in terms of Spivak) have the responsibility to include those into the discourse who do not have access to it for several structural reasons. I tried to point out the associated consequences and difficulties regarding the double sense of representation. Nevertheless, one should see the intention to incorporate the theory of intersectionality in one’s artistic creation as a continuous practice and reserve the possibility to make mistakes, to self-reflect and communicate with other theorists, practitioners and experts.

4. What to do? – Conclusion

As I have established out, it is difficult to enable participation to marginalized identities without blundering into the trap of essentializing someone’s identity. To refer to artistic practice, this means that claiming that a role written as a Black character (such as Othello) can only be played by a Black actor only supports the idea that there is something essentially different in the Black body acting on stage. Doesn’t this only reverse the disastrous passed-on technique of Black-facing and excluding Black individuals or PoCs from classical plays? As we can see, the concept of authenticity is tricky.

So what can we do?

Following the argumentation of Spivak and Nandi[3], I would also distance myself from a deconstructionist, anti-essentialist approach. Instead I am convinced by the application of a strategic essentialism as a postcolonial strategy of resistance. I have to confess that the sentences I quoted in the beginning evoked some reluctance in me, since they completely reproduce essentialized concepts of identity in a bold and simple way. Nevertheless the marking of the speaker’s or actor’s position in this case are crucial. Also, we should not neglect the power gaps that underlay our society and the political dimension of a Roma ensemble which is given space on a German repertoire theatre for the first time. Perhaps, one has to first accept these gaps in perception, aesthetics etc. as they are caused by diverse accesses to cultural and economic capital (Bourdieu)[4] and give a platform to those outside the discourse, while never stopping to deal with one’s own position in all of that. I believe that the dramaturge can serve as a critical intellectual as described beforehand, facilitating and including the subaltern to the hegemonial discourse. The dramaturge is part of the artistic team, but can also extract from it. The dramaturge functions as a translator, a critic, producer and consultant and should pursue the strategy of strategic essentialism, so that a second step can follow.

  1. Quote from premiere version of Roma Army
  2. Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the subaltern speak?: Postkolonialität und subalterneArtikulation. Wien 2008.
  3. Nandi, Miriam: Gayatri Chakravorty Spivak: Übersetzungen aus Anderen Welten, in: Moebius,Stephan/Quadflieg, Dirk (Hg.): Kultur. Theorien der Gegenwart. Wiesbaden 2006, S.129-139.
  4. Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt a.M. 1982.

Rezension I Ein Theater der Grenzüberschreitung

Günther Heeg formuliert eine Theorie des Transkulturellen Theaters.

An den Grenzen Europas sterben beinahe täglich Geflüchtete, in Europa erstarken rechtspopulistische Gruppierungen und Parteien und in der öffentlichen Diskussion kehrt das Gespenst der Nationalkultur wieder. Wie kann die Theaterwissenschaft auf diese Situation reagieren? Günther Heeg antwortet in seinem Buch Das Transkulturelle Theater, indem er die Perspektive einer ästhetischen Praxis und eines Nachdenkens über ein anderes Theater, ein Theater der Grenzüberschreitung, eröffnet. Ausgangspunkt und Beispiel für den Leipziger Theaterwissenschaftler ist die rechtspopulistische Organisation Pegida (Patriotische Europäer gegen die Islamisierung des Abendlandes), die mit theatralen Mitteln fundamentalistische Phantasmen heraufbeschwört. Das Erstarken von Denkweisen der Tradition, der kulturellen Einheit und der Abgeschlossenheit beschreibt er als Reaktion auf die Erfahrung der Globalisierung mit ihrer beständigen Forderung nach Flexibilität der Einzelnen und der Erfahrung des Fremdseins und Sich-Selbst-Fremd-Werdens in der Welt. An dieser Verschränkung von Globalisierung und Nationalismus setzt das Transkulturelle Theater an, als Kritik des Phantasmas des Fundamentalismus, als Kampf dagegen und als Eröffnung anderer Möglichkeiten.
Als „Überschreitung der Eigenräume hin zu einer transkulturellen Gemeinschaft“ unterscheidet sich das Transkulturelle Theater trotz der begrifflichen Nähe, maßgeblich von der Theorie des Interkulturellen Theaters. (9) Während es im letzteren laut Heeg um die koloniale Einverleibung des Fremden in die eigene Theaterpraxis gehe, die nicht selten mit einer Exotisierung des Fremden einhergehe und die Annahme gegeneinander abgeschlossener, distinkter Kulturen voraussetze, eröffne das Transkulturelle Theater die Forderung, sich dem Fremden im Eigenen auszusetzen. Heeg versteht die Fremdheitserfahrung hierbei als Ausdruck des Gestischen Schreibens nach Brecht. „Gestisches Schreiben [nach Brecht] ist ein Versuch, sich schreibend der Erfahrung des Fremden auszusetzen. Die Gewalt der Unterbrechung, der die Geste entspringt, verleiht ihr eine affektive Energie, die dem Schreibenden widerfährt und ihn trifft.“ (21)
Diese affektive Energie, die Erfahrung des sich selbst radikal fremd Werdens, soll hierbei einen Schock auslösen, im Sinne der Widerfahrnis bei Waldenfels, und zur Ent-Setzung des Subjekts führen. Sprich: zu einem Abstand des Subjekts zu sich selbst, der einerseits die Reflexion der eigenen Erfahrung, anderseits Möglichkeiten einer neuen Welt- und Selbstgestaltung eröffnet. Heeg versteht das Transkulturelle Theater sowohl historisch als auch als gegenwärtig und zukünftig. Zeit ist hierbei nicht linear gedacht, sondern vielmehr in Bewegung. Als gleichzeitige Überschneidung von Vergangenheit und Gegenwart werden ungleichzeitig-gleichzeitige Zeitschichten in den künstlerischen Arbeiten präsent.
Durch die Praxis der Wiederholung, wie Heeg sie nennt, werden Bruchstücke aus der Vergangenheit, Überreste einer kulturellen Tradition, in die Gegenwart übertragen, jedoch nicht eingefügt. Vielmehr brechen sie als Zitat in diese ein und stören auf diese Weise das Immergleiche und das So und nicht anders der Gegenwart. Durch die Deplazierung der Bilder aus der Vergangenheit in eine fremde Umgebung der Gegenwart wird sowohl ihr Totalitätsanspruch, als auch die behauptete Ganzheit der Gegenwart und eine notwendig daraus folgende Zukunft durchbrochen. „Dekonstruktion und Rettung sind daher die beiden Aufgaben der Wiederholung. In ihrem Zusammenspiel machen sie die Wiederholung zu einer Bewegung der Überschreitung.“ (113)
Als ein Theaterbeispiel beschreibt Heeg eine Situation in der Performance Antigone der japanisches Gruppe Marebitono-Kai und des Regisseurs und Dramatikers Masataka Matsuda: Im Bus auf dem Weg nach Minamisōma sitzt Heeg einer jungen Frau in einem weißen Kleid gegenüber. Der Bus passiert Iitate, eine Stadt, die besonders stark von den radioaktiven Niederschlägen durch Fukushima betroffen war, und hält in der Stadt Minamisōma, die noch durch die Verwüstungen des Tsunamis im Jahr 2011 gekennzeichnet ist. Die Frau im weißen Kleid durchbreche in ihrer Gestik und Haltung, in ihrem Schweigen, den Alltag der Busfahrt, schreibt Heeg. Auch später, wenn er ihr in ein altes Kino und ein ehemaliges, nun verlassenes Café folgt, scheint sie eine Fremde, ein Fremdkörper, im Bild der Stadt zu bleiben. Teil der Stadt, sich in dieser bewegend, verweist sie dennoch in ihrer Körperlichkeit auf etwas Abwesendes, bereits Vergangenes. Durch sie, aber auch durch die Dinge in den vormals belebten und im Rahmen der Performance aufgesuchten Orten wird laut Heeg eine zitierende Wiederholung, eine Art Nachleben, ermöglicht. Auf diese Weise wird ein Raum eröffnet, der rückwärts in die Vergangenheit und vorwärts in die Zukunft weist und die Gegenwart spaltet, jedoch keine Repräsentation des Vergangenen behauptet.
Die Praxis der Versetzung, Entsetzung und Aussetzung macht das Transkulturelle Theater zu einem Ort der zeitlichen und örtlichen Dys-Position. Heeg bedient sich hier einer Metaphorik der Flucht und des Lebens im Transits sowie des Floßes und des sich auf dem offenen Meer Befindens: Kein Land in Sicht. Mit einem Hinweis auf Schiller schreibt er: „Das Theater kann das Schiff selbst sein.“ (86)
Wie jedoch diesen Ort der Nichtverortung und der Zeitlosigkeit sowie die Geste, die Heeg in Anlehnung an Arendt als den „Migrant(en) par excellence“ bezeichnet, als Aktionsform der Unterbrechung und Wiederholung, innerhalb dieses Hiatus formulieren? (150) Wie eine Praxis des Denkens und Handelns eines Theaters denken, dass sich bewegt, ohne Halt und in freier Fahrt?Durch die Schaffung des Begriffs Das Transkulturelle Theater, der nicht nur durch die Singularform, sondern auch durch seinen Artikel markiert ist, schreibt Heeg eben das begrifflich fest, wogegen er in seiner Theorie anzuschreiben versucht. Auch die Aufteilung der Kapitel scheint das Schiff in seiner freien Fahrt verankern zu wollen, um die Theorie fassbar zu machen. Gleichzeitig wehrt sich der Text selbst gegen diese Einordnung. Heeg kommt immer wieder auf bereits formulierte Motive zurück, unterbricht sich in seiner Theorie und hält in der Beschreibung von Beispielen aus dem Theater-Bereich, aber auch aus der bildenden Kunst und der Literatur inne. Insbesondere durch die Interdisziplinarität der Beispiele zeigt er, dass sich das Transkulturelle Theater weder auf eine bestimmte Epoche, noch auf eine Disziplin oder eine spezifische Ästhetik festschreiben lässt. Das Transkulturelle Theater ist somit keine Praxis, sondern in erster Linie eine Forschungsperspektive, entsprungen als kritische Position in Anbetracht einer gesellschaftlich unerträglichen Situation. Die Metaphorik des Schiffes ohne Halt auf freier Fahrt und des Floßes, der Rückgriff auf die Realität von Leben im Transit und der Versuch, diese zu verwandeln in „die Erfahrung einer möglichen anderen Transit-Existenz als künftiger Lebensform“, arbeiten gegen das Denken eines Ursprungs und der Linearität von Geschichte, aber sie machen auch stutzig. (59)
Wie lässt sich eine Metaphorik des Floßes, des Schiffes ohne Land in Sicht und die Vorstellung einer migrantischen Transit-Existenz als künftige, erstrebenswerte Lebensform denken, wenn zugleich das Bild von auf dem Mittelmeer ertrinkenden Geflüchteter die tägliche Berichterstattung prägt. Lässt sich der Ruf „Endlich leben!“, der sich auf dem Floß der Medusa Befindenden, im Sinne Heegs, als ein Ausruf der Befreiung vom Pathos des Unterganges und als eine Gegenantwort auf Denkweisen der kulturellen Einheit, der Tradition und des Ursprung deuten? (59)
Heeg ist diese Problematik seiner Setzung nicht verborgen geblieben. Er reagiert auf sie, indem er deutlich macht, dass nur ein Konzept von Theater, das sinnstiftend wäre, Gefahr liefe, Leid zu ästhetisieren oder zu repräsentieren. Das Transkulturelle Theater hingegen zielt nicht darauf ab, Informationen der täglichen Nachrichten zu vermitteln, sondern verweigert sich jeglicher Form von Realismus. Vielmehr wiederholt es nur, was anderswo schon vonstatten ging, und stellt so neben dem Zitieren des Vergangenen immer seine prinzipielle Abwesenheit heraus.
Auch wenn das Transkulturelle Theater seiner Theorie nach einer Instrumentalisierung des Leids entgegen läuft, bleibt die Frage nach den Darstellungsweisen des Transkulturellen Theaters und nach den Möglichkeiten des Erscheinens seiner migrantischen Transit-Existenz bestehen. Wer ist Teil dieser transkulturellen Gemeinschaft und wie zeigt sie sich? Wer hat die Möglichkeit den Ruf „Endlich leben“, der sich von allen Ursprungsgewalten wie Nation, Religion, Kultur und Identität lossagt, zu rufen? (59) Eine Antwort auf diese Fragen gibt Heeg nicht. Vielleicht kann er sie, seiner Theorie der Abwesenheit folgend, nicht geben. So hat er Recht, wenn er die Dringlichkeit seiner Theorie betont. Das Transkulturelle Theater ist an der Zeit. Ja. Aber es ist an der Zeit in einer Zeit, in der der Ruf nicht hoffnungsvoll „Endlich leben“ heißen kann, sondern vorerst „Wie überhaupt leben?“ heißen müsste.

Günther Heeg: Das Transkulturelle Theater. Berlin: Theater der Zeit 2017.

Rezension | Eine Archäologie der NS-Ästhetik

Evelyn Annuß untersucht Formen des Massenspiels im Nationalsozialismus

Wie lässt sich das Theater des Nationalsozialismus nicht nur politisch, sondern auch ästhetisch aufarbeiten? Diese Frage verfolgt Evelyn Annuß in ihrer Monographie Volksschule des Theaters. Nationalsozialistische Massenspiele und erweitert damit die methodologisch vorrangig theaterhistoriographische Auseinandersetzung mit den Theatern des Dritten Reiches innerhalb des Fachs der Theaterwissenschaft. Volksschule des Theaters offeriert somit eine bisher fehlende Form- und Mediengeschichte der nationalsozialistischen Massenspiele, die aufzeigt, wie die Mittel von Theater und Politik ineinandergreifen und wie Massenkultur sich gleichzeitig performativ formiert. Annuß‘ Studie setzt an einem blinden Fleck in der bisherigen wissenschaftlichen Auseinandersetzung an. Statt sich lediglich mit dem Hinweis auf die Gleichschaltung von Ästhetik und politischer Propaganda des Dritten Reiches zu begnügen, zeigt sie durch die dezidierte Analyse einer Fülle verschiedener Arten von Massenspielen im Detail, wie die einzelnen Versuche einer Ästhetisierung von Politik vor sich gegangen sind. Der Titel des Bandes, Volksschule des Theaters, greift dabei zurück auf ein Zitat von Otto Laubinger, Mitglied der Theaterabteilung des Propagandaministeriums, dessen Ideen zur Rolle der Freilichtbühnen und vor allem zu einem chorisch geprägten Festspiel einen Ausgangspunkt für die verschiedenen Experimente mit dem Massenspiel darstellten. Der Titel spielt aber auch auf die Doppelbedeutung an, die diesem Massentheater „als Instrument nationalsozialistischer Volksbildung“ zukam. Es ging dabei um „Erziehen und Vergemeinschaften“ (15). Doch gerade dieses „und“ zwischen Erziehung und Vergemeinschaftung erweist sich als komplexes Spannungsfeld innerhalb der Propagandastrategien der NS-Diktatur. Denn einerseits ist das Gemeinschaftsprimat Teil der revolutionären Rhetorik innerhalb der Machtübernahme, andererseits benötigt die Machtkonsolidierung der folgenden Jahre eine Erziehung, die jegliche Art der Vergemeinschaftung kontrolliert. Aus der Erziehung zur Gemeinschaft wird immer mehr eine Disziplinierung der Gemeinschaft.

Über acht Kapitel hinweg entwirft Annuß das Bild eines komplexen Netzwerkes des nationalsozialistischen Massenspiels, das sich als zunächst offener und widersprüchlicher Findungsprozess gestaltet und in dem sich liturgische, avantgardistische, wie sportliche Formate verbinden: christliches Laienspiel, Bauern- bzw. antikes Chortheater und Turnerbewegung. Zentral ist hier, wie Annuß etablierte Deutungsansätze – etwa Rainer Stommers Verbindung der Thingspielästhetik mit den militärischen Aufmarsch- und Kundgebungspraktiken des Nationalsozialismus (25) – umkehrt. Sie geht nicht davon aus, dass die politische Ästhetik des Nationalsozialismus sich in den theatralen Formen widerspiegelt, sondern dass die verschiedenen Formen, wie etwa Thingspiel oder Landschaftstheater, als offene ästhetische Versuchslabore zu begreifen sind, aus denen Goebbels und das Propagandaministerium zu schöpfen wussten. Indem Annuß skizziert, wie „die nationalsozialistische Kulturpolitik…vielen als El Dorado [erscheint]“ (59), hebt sie die Verantwortung der oft auch eingeschränkt politisch motivierten Kunstschaffenden und Theaterwissenschaftler hervor, deren Expertise zur Schaffung des Propaganda-Apparates beitrug. Dabei kommen gerade auch den ästhetischen Sackgassen, wie dem 1935 ausgesprochenen Thingspielverbot, eine besondere Bedeutung zu, lässt sich an ihnen doch herausstellen, dass das von der NS-Ideologie postulierte Abhängigkeitsverhältnis von Volkskörper und Führerfigur repräsentationstechnisch eine Herausforderung darstellt. Gerade das Thingspiel zeigt eher die ästhetische Leerstelle als die unbedingte Notwendigkeit einer Verbindung zwischen Chören und Führerfigur auf. Verbunden mit dieser Lesart des Verhältnisses von Ästhetik und Politik ist eine intensive intermediale und medientheoretische Analyse, die sich durch das Buch zieht und die Formen des Massentheaters in direkte Beziehung zu den anderen aufkommenden Massenmedien, d.h. zu Radio und Film, setzt.

Jedes Kapitel zirkuliert dabei um mehrere Inszenierungsbeispiele der verschiedenen Massenspielformen. An diesem induktiven Ansatz lässt sich eine der wichtigsten wissenschaftlichen Stärken dieser Monographie festmachen: die detaillierte und umfassende Recherche- und Archivarbeit. Der Anhang allein umfasst 140 Seiten des fast 600-seitigen Buches und berücksichtigt Materialien aus fünfzig verschiedenen Archiven sowie einer Vielzahl von Nachlässen, die in einer Fülle von Zitaten zugänglich gemacht werden. Ähnlich umfangreich gestaltet sich das Bildmaterial mit fast 150 Inszenierungsfotografien, architektonischen Skizzen, Plakaten und gemalten Impressionen der Massenspiele. Inhaltlich fokussiert Annuß Wahrnehmungsdispositive und bewegt sich hierbei über die Analyse der Akustik zu Raumkonstellationen und schließlich dem zunehmenden Primat von Visualisierungsstrategien, die sich mit dem Aufstieg des Filmmediums verbinden lassen. Das zweite Kapitel „Medien“ beginnt Annuß mit Goebbels‘ notorischer Evokation eines „Theater[s] der Hunderttausend“ (73) und identifiziert die Akustik als das zunächst dominante Mittel für eine Zusammenführung der Massen. In der Untersuchung von Hitlers Ansprachen im Radio und auf Kundgebungen und insbesondere des Hörstücks Symphonie der Arbeit (1934) von Hans-Jürgen Nierentz zeigt Annuß das Spannungsverhältnis zwischen dem Sprechchor als Ausgangspunkt einer theatralen Vorstellung des Volkes einerseits und der entkörperten, akusmatischen Stimme des Führers andererseits. Gerade das chorische Element in Symphonie der Arbeit zeigt die Fortschreibung und auch Abhängigkeit von den ästhetischen Mitteln der Avantgarde und deren Experimenten mit dem Chor (120). Dabei führt das akustische Dispositiv letzten Endes nicht zu einer Gleichsetzung der verschiedenen Stimmen auf chorisch horizontaler Ebene. Stattdessen wird durch die technologisch verstärkte, akusmatische Führerstimme „der Sound des Kollektiven…gebändigt“ und formal die Vertikale akzentuiert, die sich insgesamt als Ausdruck einer „medienübergreifende[n] Mobilisierung der Vogelperspektive“ verstehen lässt (124). Es ist das Nachzeichnen dieser Vertikalisierung im Massenspiel, das Annuß sowohl auf architektonischer, akustischer wie visueller Ebene anhand verschiedener Inszenierungen immer wieder unternimmt, wobei sie hervorhebt, wie ambivalent die Verbindung zwischen den verschiedenen Spielebenen und dadurch auch zwischen „Führerpersona und Volksfigur“ bleibt (247).

Desweiteren hervorheben lässt sich das Kapitel „Landschaftsbühne“ mit dem Beispiel des plattdeutschen Bauernstückes De Stedinge, das 1935 auf einer vom ideologischen Beauftragten Alfred Rosenberg entwickelten Landschaftsbühne mit Spieldorf zur Inszenierung kam. Die Panorama- und Immersionsästhetik von De Stedinge bildet bei Annuß einen wichtigen Kontrast zu den zuvor behandelten auditiv und chorisch geprägten Festspielarten und läutet eine verstärkte Nutzung visueller Strategien im Massenspiel ein, die 1936 in den Olympischen Spiele einen Höhepunkt finden (344). Auch stellt dieses Kapitel anschaulich den beeindruckenden Horizont von Annuß‘ Überlegungen dar, wenn sie mit der Analyse von De Stedinge auch eine kleine Kunstgeschichte des Panoramabildes aufrollt und so die medienexperimentelle Seite des NS-Massentheaters ins Zentrum der Argumentation stellt. Das Buch endet mit einer Kulmination der Vogelperspektive, ausformuliert in den lebenden Ornamenten aus Menschen, die als Masse auf dem Olympischen Spielfeld in Berlin zusammenkommen, um den Reichsadler mit Hakenkreuz im Kollektiv darzustellen. Hier entsteht eine Volksfigur, die ihre Stimme und damit auch ihre Kritikfähigkeit verloren hat, um ausschließlich als Einheitsbild für das Auge des Führers zu existieren.

Volkschule des Theaters arbeitet die Ästhetisierung des Politischen anhand von Wahrnehmungsprozessen im Theater heraus und unterstreicht die ästhetischen Kontinuitäten, die sich von der Avantgarde bis in die Gegenwart ziehen lassen. Was diesen Band dabei von anderen theatergeschichtlichen Arbeiten zum Nationalsozialismus unterscheidet (beispielsweise Stommer 1982; Berghaus 1996; Eicher, Panse u. Rischbieter 2000; Fischer-Lichte 2004) ist der umfassende interdisziplinäre Blick auf diese Inszenierungsprozesse, die in einem Netzwerk von oft rivalisierenden Kulturtechniken intermedial verortet werden und so eine alternative Entwicklungsgeschichte erhalten. Damit untersucht Annuß in diesem Band nicht nur kontroverses und unterbelichtetes Theatermaterial, sie stellt auch die Frage, auf welche Art und Weise ästhetische Form politisch wird bzw. wie diese Form auch immer wieder kontextgebunden umfunktioniert werden kann. Ihr Buch ist nicht so sehr ein Geschichtsabriss zur Kunst des Nationalsozialismus als vielmehr eine Archäologie des NS-Theaters und seiner ästhetischen Mittel. In diesem Prozess der Ausgrabung theatraler Formen, die sich weit ins politische Abseits bewegt haben, zeigt sie auf, dass der Weg von der Kunst zur Propaganda bis heute ein keineswegs klar ausgeloteter ist und stattdessen weiterer Untersuchung bedarf.

Evelyn Annuß: Volksschule des Theaters. Nationalsozialistische Massenspiele. Paderborn: Wilhelm Fink 2019.

Literatur:

Berghaus, Günter (Hg.), Fascism and Theatre. Comparative Studies on the Aesthetics and Politics of Performance in Europe, Oxford u. New York 1996.

Eicher, Thomas, Barbara Panse, u. Henning Rischbieter, Theater im „Dritten Reich“: Theaterpolitik, Spielplanstruktur, NS-Dramatik, Seelze 2000.

Fischer-Lichte, Erika, Theatre, Sacrifice, Ritual, London u. New York 2004.

Stommer, Rainer, Die inszenierte Volksgemeinschaft. Die ‘Thing-Bewegung’ im Dritten Reich, Marburg 1982.