Editorial

Die achte Ausgabe von Thewis, der Online-Zeitschrift der Gesellschaft für Theaterwissenschaft (gtw), erscheint zu einem Zeitpunkt, an dem die Macher*innen wie auch die Leser*innen mit digitalen Texten, digitalen Lehrveranstaltungen, digitalen Theaterabenden, digitalen Vorträgen und Diskussionen während eines langen Jahres mehr Erfahrungen gesammelt haben, als sie sich wohl jemals träumen ließen. Eine globale Pandemie und ein Lockdown, der bereits in seiner Light-Version im November 2020 die erneute Schließung aller Theater mit sich brachte und aus dem die Universitäten als Orte der physischen Versammlung auch nach einem Jahr noch nicht erwacht sind, hat neben vielem anderen auch die Art und Weise verändert, wie wir auf Texte zugreifen, wie wir sie lesen und bearbeiten. Eine Online-Zeitschrift im Open Source-Format, zur Zeit der Gründung fast noch ein Experiment, ist zu einer bevorzugten, weil leicht zugänglichen Quelle geworden, die aus den verschiedenen – verschieden großen, verschieden ausgestatteten, verschieden ruhigen – Home Offices problemlos abgerufen werden kann.

Während die Theater nach wie vor geschlossen sind, aber vermehrt mit digitalen Formaten, Zoom- und Telegram-Performances, Live-Übertragungen und Audio Walks experimentieren, hat eine andere theatrale Technik in den letzten Monaten eine besondere Aufmerksamkeit erfahren: die Modellierung von „Szenarien“, die eine berechenbare Zukunft aus Daten destillieren und somit präventives Handeln ermöglichen sollen. So unerlässlich Modelle bei der Risikoabschätzung in einer Pandemie auch sind, so glauben wir doch, dass auch das Theater selbst – als eine der „am ehesten verzichtbaren“ Formen der Zusammenkunft, wie wir oft gehört haben – weiterhin nötig sein wird, wenn es darum geht, unberechenbare Zukünfte zu experimentieren und Lebensweisen zu erproben, die wir uns heute noch gar nicht vorstellen können, die wir aber brauchen werden – „bei den Erdbeben, die kommen werden“.

Entstanden in diversen Home Offices, bringt diese Ausgabe noch einmal Texte zusammen, die auf Vorträgen aus einer anderen Zeit basieren. Es sind die studentischen Beiträge zur internationalen Konferenz Grenzen der Repräsentation – Krise der Demokratie, die die Institute für Theater- und für Medienwissenschaft der Ruhr-Universität in Kooperation mit dem Festival Ruhrtriennale im Juli 2019 in Bochum durchgeführt haben. Wie die vorherigen Ausgaben von Thewis, so ist auch die vorliegende der Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchs gewidmet, dies jedoch in pointierter Weise: Die Redaktion des Schwerpunkts übernahmen die Studentinnen Marie Hewelt, Lioba Magney und Rika Sakalak, unterstützt von Leon Gabriel und Jörn Etzold. Sie haben ihn mit enormem Einsatz und großem fachlichen Interesse betreut und mit Umsicht, Ausdauer und Übersucht an allen Beiträgen inhaltlich und sprachlich gefeilt. Alex Mentzel hat das Korrekturlesen der drei englischsprachigen Beiträge übernommen.

Zusätzlich zu den Texten des Schwerpunkts werfen zwei aus dem Sommersemester 2020 hervorgegangene Miszellen von Katharina Krol und Marie Hewelt/Ruben Luckardt (alle Bochum) einen Blick auf Theater im Zeichen der COVID-19-Pandemie. Inga Bendukats (Frankfurt) Rezension einer aktuellen theaterwissenschaftlichen Publikation beschließt dann die Ausgabe.

Die folgende Ausgabe wird vom Vorstand der Gesellschaft für Theaterwissenschaft herausgegeben und die Beiträge aus dem Forum für Theaterwissenschaftler*innen in der frühen Berufsphase versammeln, die ursprünglich auf dem Treffen der Arbeitsgruppen in Bern 2020 bzw. 2021 hätten vorgestellt werden sollen, ehe jenes endgültig abgesagt werden musste.

Wir wünschen eine anregende Lektüre!

Bochum und Hamburg, im März 2021

Jörn Etzold, Martin Jörg Schäfer

Impressum
Herausgeber und Redaktion Thewis (2021):
Prof. Dr. Jörn Etzold (Bochum)
Prof. Dr. Martin Jörg Schäfer (Hamburg)

Herausgeber*innen und Redaktion des Themenschwerpunktes „Grenzen der Repräsentation“:
Prof. Dr. Jörn Etzold
Dr. Leon Gabriel
Marie Hewelt, BA
Lioba Magney, BA
Rika Sakalak, BA

Verantwortlich i.S.d.P. für die aktuelle Ausgabe:
Prof. Dr. Jörn Etzold
Institut für Theaterwissenschaft
Ruhr-Universität Bochum
Universitätsstraße 150
44780 Bochum

Zu dieser Ausgabe und zu den Beiträgen

Grenzen der Repräsentation – Krise der Demokratie: Unter diesem Titel fand vom 18.-20. Juli 2019 ein Symposium statt, das die Ruhr-Universität Bochum – in Gestalt von Leon Gabriel und mir vom Institut für Theaterwissenschaft und Astrid Deuber-Mankowsky aus der Medienwissenschaft – gemeinsam mit dem Festival Ruhrtriennale organisierte. Jenes war in diesem Jahr zu Gast an unserer Universität: Die Arbeit Nach den letzten Tagen – Ein Spätabend von Christoph Marthaler, Uli Fussenegger, Stefanie Carp, Duri Bischoff, Sarah Schittek und Phoenix (Andreas Hofer) eröffnete das Festival im gigantischen Audimax. Der brutalistische Bau, dessen Inneres ohnehin an ein Bühnenbild von Anna Viebrock erinnert, wurde als Parlament inszeniert, dessen Sitzreihen zu Beginn erst einmal von einer Kolonne von – Marthaler-typisch eher untermotivierten – Putzkräften abgestaubt werden mussten. In einer nicht allzu fernen Zukunft war Europa bzw. „Hohenzollern-Europa“, wie es nun offenbar hieß, zur Unterhaltungsabteilung einer Welt unter asiatischer Hegemonie geworden; die parlamentarische Demokratie galt als merkwürdiges und vollkommen wirkungsloses Relikt vergangener Zeiten. Das Parlament versammelte sich zu einer Feierstunde anlässlich des Endes der Shoah vor 200 Jahren; und dabei wurde gleich auch die Aufnahme des Rassismus als „bedeutende, derzeit nicht aktualisierte europäische Eigenschaft“ in das UNESCO-Weltkulturerbe gefeiert. Ein kleines Ensemble spielte Kompositionen von Opfern oder Überlebenden der Shoah – Viktor Ullmann, Pavel Haas, Erwin Schulhoff, Józef Koffler, Ernest Bloch, Fritz Kreisler, Szymon Laks, Pjotr Leschenko und Alexandre Tansman. Zudem erklang Luigi Nonos Ricorda cosa ti hanno fatto in Auschwitz, während die Darsteller*innen weit verstreut auf den Stühlen des leeren Auditoriums saßen, die Münder aufgerissen zu stummen Schreien. Am Ende zogen sie zu Felix Mendelssohns lang nachhallendem Wer bis an das Ende beharrt, wird selig aus, in die weitläufigen Gänge des Gebäudes.

Als es im Vorfeld der Inszenierung darum ging, einen Kooperationsvertrag zwischen Festival und Universität zu schließen, kontaktierte die dem Theater sehr zugeneigte Kanzlerin Christina Reinhardt uns mit der Frage, ob wir die Arbeit in Lehre und Forschung begleiten könnten. Wir überlegten, Marthaler und sein Musiktheater zu behandeln: So hätten die rhythmischen Räume, die Marthalers Theater eröffnet, mit Adolphe Appia verglichen und mit Émile Benvenistes Denken des Rhythmus als fragiler, vergänglicher Form gelesen werden können.[1] Marthaler zeigt vielleicht dasjenige, was Roland Barthes in seiner Vorlesung Wie zusammen leben? Als Idiorrhythmie bezeichnet hat, als Nebeneinander verschiedener, idiosynkratischer Eigenrhythmen.[2] Nach einigen internen Besprechungen und Interessensabfragen bündelten wir dann aber Lehrveranstaltungen, die sich – enger oder weiter gefasst – mit Fragen der Repräsentation, mit Politiken und Poetiken des Raums und post- und dekolonialen Theorien beschäftigten: ein Seminar von Leon Gabriel zu „Erscheinungsräumen des Politischen“ und eines von Astrid Deuber-Mankowsky und mir zur Aktualität der Psychoanalyse, Veranstaltungen von Ruth Schmidt und Stefan Hölscher, zudem meine Vorlesung mit Begleitseminar „Repräsentation“. Die Konferenz, die die Ruhrtriennale im Rahmen der Kooperation großzügig finanzierte, legten wir auf das erste Wochenende in der vorlesungsfreien Zeit. In intensiver Auseinandersetzung zunächst mit Stefanie Carp und Barbara Mundel, später dann immer stärker mit Julia Naunin, die ins Dramaturgie-Team eingestiegen war, unterstützt von Amelie Lopper, planten wir die Tagung – vor dem Hintergrund des weiterschwelenden Konflikts um die Ein-, Aus und Wieder-Einladung der BDS-affinen Band Young Fathers im vorhergehenden Jahr. Dieser Konflikt flammte 2020, im letzten Jahr der Carp-Intendanz nach der Einladung von Achille Mbembe wieder auf und war wohl nicht ganz unwesentlich bei der ersatzlosen Absage des Festivals aus Gründen des „Infektionsschutzes“. Auch für die Tagung rechneten wir mit allerlei Szenarien – es kamen dann aber ‚nur‘ interessierte Bochumer*innen und Kolleg*innen aus den anderen Fächern.[3]

Das Abend- und Nachmittagsprogramm des Symposiums fand in der Gebläsehalle der Jahrhunderthalle Bochum statt, in einem weiten Raum mit tiefen Fenstern, vor riesigen hellgrünen Turbinen. Diese Turbinen regten auch unser Nachdenken darüber an, was wir bei dieser Tagung tun wollten: Wir wollten keine Repräsentationen gegeneinanderstellen, keine Stellvertreterkriege auf offener Bühne inszenieren, sondern gemeinsam untersuchen, wie Repräsentationen entstehen, wer die Bühne der Repräsentation betreten kann und wer nicht, wer vertreten wird und werden kann und wer nicht: Wir wollten uns also in den Maschinenraum der Repräsentationen begeben.

Am ersten Abend sprach die Anthropologin Rosalind Morris von der Columbia University über „Stages and the Stagism of Representational Democracy: Notes from the Anticolonial South“ und machte die Anwesenden mit Ishmael Reeds The Terrible Twos und Black Sunlight von Dambudzo Marechera bekannt. In einer Podiumsdiskussion mit Friedrich Balke (Bochum), Francesca Raimondi (Düsseldorf) und Cilly Kugelmann vom Jüdischen Museum in Berlin befragten wir „Institutionen in der Krise“. Am nächsten Nachmittag stellte Julia Stenzel (Bonn/Mainz) die antike Figur des Demagogen (als denjenigen, der auf der agora tatsächlich spricht, der kunstreich für die anderen spricht) den zeitgenössischen Herrschenden gegenüber, die im Sinne Foucaults vorgeben, pastoral zu hegen, statt zu herrschen.[4] Astrid Deuber-Mankowsky führte Walter Benjamins Ablehnung der „mythischen Gewalt“ in der „Kritik der Gewalt“ und seine Überlegungen zur „Kultreligion“ Kapitalismus auf Hermann Cohens Kritik des „Machtstaats“ zurück.[5] Bettine Menke wiederum arbeitete minutiös die Aktualität des grundlegenden Kapitels von Hannah Arendt über den „Niedergang des Nationalstaats und das Ende der Menschenrechte“ aus Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft heraus.[6] Am Abend sprach ich mit Stefanie Carp über ihre Auswahl der Texte für „Nach den letzten Tagen“.

An den beiden Vormittagen aber versammelten wir uns in kleinerer Runde in einem nahegelegenen Seminarraum. Dort war es enger, wir saßen an Tischen, Notizblöcke vor uns, und Studierende aus Theater- und der Medienwissenschaft präsentierten kurze Vorträge, die in den genannten Seminaren entstanden waren. Wir hatten die internationalen Gäste gebeten, auch an den Vormittagen in kleiner Runde dabei zu sein, und so wurden die Vorträge der Studierenden intensiv, offen und direkt diskutiert. Einige dieser Beiträge, die weiter ausgearbeitet wurden, präsentieren wir nun in dieser Ausgabe.

Jörn Etzold

Entsprechend dieser ‚Entstehungsgeschichte‘ setzen sich alle Beiträge intensiv mit Repräsentation(sweisen) als Bedingung theatralen und politischen Erscheinens auseinander, aber auch als deren Verhandlungs- und Veränderungsraum.

Den Auftakt macht Lisa Stöcker mit ihren Erörterungen zum Ab-Stand ausgehend von Jean-Luc Nancys Texten und einer künstlerischen Arbeit von Thomas Lehmen. Sie plädiert damit für eine „Gleichheit in Vielheit“ und ein Denken der Alterität, nicht zuletzt in Bezug auf intersektionale Fragen.

Marie Hewelt analysiert detailliert eine zentrale Szene der herausragenden Oper/Performance Sun & Sea von Lina Lapelyte, Vaiva Grainyte and Rugile Barzdziukaite, um sie sowohl mit Dantes Divina Commedia als auch mit Karl Marx‘ Theorie in Resonanz zu setzen. Ihr Augenmerk liegt dabei auf der durch die Arbeit umspielten Individualisierung.

In seinem bewusst als „einer Spirale aus Verweisen und Problemfeldern“ gehaltenen Beitrag untersucht Ruben Luckardt u.a. ebenso mit Marx eine Szene des Films Interstellar. An den dort auftauchenden Trümmermotiven macht er eine Krise der Repräsentation fest, der es sich jedoch umso mehr zu stellen gilt.

Den der Repräsentation innewohnenden Abstand als eine Differenz von Äußerem und Geäußertem entwirft Lioba Magney in ihrer Analyse von Susanne Kennedys Fegefeuer in Ingolstadt, bei der sie vor allem mit Hannah Arendt die der Inszenierung innewohnenden Elemente von „Trennung, Unterbrechung und Spaltung“ herausarbeitet.

Die konstitutive Spaltung wird wiederum von Lukas Wierschowski in einer psychoanalytisch wie medienwissenschaftlich geschulten Diskussion von personalisierten Algorithmen fortgeführt. Konkret zeigt er, wie durch Rückkopplungseffekte und „virtuelle Kontingenz“ ein Spiegelstadium erzeugt wird und welche politischen Folgen dies hat.

Ebenfalls aus psychoanalytischer Sicht hinterfragt Noah Simon die Linearität der Triebzeitlichkeit des Sadismus – genauer: In detaillierter Lektüre fragt er, ob nach und über Laura Mulveys Filmtheorie hinaus tatsächlich dem Sadismus eine lineare Zeit unterstellt werden kann oder ob dies nicht vielmehr nur dessen „Story“ betrifft.

In Lara Marie Gilia Busses Beitragsteht das Verhältnis von Körper und Grenze zur Verhandlung. Sie erläutert u.a. mit Hannah Arendt und im Verweis auf die aufgrund ihrer Repräsentationspraktiken kritisierte Inszenierung All Inclusive von Julian Hetzel, wie die Körper von undokumentierten Geflüchteten selbst zur Grenze werden.

Die Aktionen des Zentrum für politische Schönheit wiederum, insbesondere das Holocaust Mahnmal Bornhagen, werden von Sarah Lena Tzscheppan hinsichtlich der Ansätze Chantal Mouffes debattiert. Sie zeigt, dass das Zentrum durchaus ein „Wir im Sinne von Mouffes populistischem Moment“ entwirft, allerdings aus der Position „einer moralischen Erhabenheit“.

Die Kulturpolitik der VR China wird von Svenja Neumann und Zhaorui Zhang als eine Erfindung und ständige Veränderung von ‚Tradition‘ herausgearbeitet. Dabei setzen sie Positionen der kommunistischen Partei in einen spekulativen Dialog mit der Gouvernementalitätstheorie Michel Foucaults – als „bio-aesthetics“.

Robert Damaschke widmet sich einem Vergleich der Denkweisen von Carl Schmitt und Jean-Luc Nancy, welche beide einen unterschiedlichen Umgang mit Begrifflichkeiten des Politischen vorschlagen. Deren Relevanz (Nancy) bzw. Gefahr (Schmitt) für die Gegenwart wird von ihm mit Verweis auf die Überhöhung der Satire durch die eigentlich zu persiflierende Realität illustriert.

Ergänzt werden diese zehn zu Artikeln ausgearbeiteten Vorträge des Symposiums dann durch den thematisch passenden Essay von Janna Gangolf, die sich mit der Groteske, ihrer politischen Funktion und der Inszenierung No President von Nature Theatre of Oklahoma beschäftigt, um sie schließlich auf die politische Repräsentationsfigur Donald Trumps zu beziehen. Allen Lesenden wünschen wir spannende Auseinandersetzungen und Anregungen!

Leon Gabriel


  1. Benveniste, Émile: „Der Begriff des ‚Rhythmus‘ und sein sprachlicher Ausdruck“, in: Ders.: Probleme der allgemeinen Sprachwissenschaft. Frankfurt am Main 1977, S. 363-374.
  2. Barthes, Roland: Wie zusammen leben. Simulation einiger alltäglicher Räume im Roman. Vorlesung am Collège de France 1976–1977. Frankfurt am Main 2007.
  3. S. dazu auch: Etzold, Jörn: „Grenzen der Repräsentation. BDS und die Ruhrtriennale“, in: Texte zur Kunst, 30. Jg., Heft 119, Sept. 2020, S. 61-73.
  4. Der Text wird in den Working Papers der Universität Bonn erscheinen. https://www.fiw.uni-bonn.de/publikationen/FIWWorkingPaper
  5. Deuber-Mankowsky, Astrid: „Kritik der Staatsgewalt bei Benjamin und Hermann Cohen“, in: Blättler, Christine/Voller, Christian: Staatsverständnisse: Walter Benjamins politisches Denken. Baden-Baden 2017, 159-176.
  6. Menke, Bettine: „Die Rechts-Ausnahme des Flüchtlings, die Symptome der Menschenrechte“, in: Köhler,Sigrid/Schaffrick, Matthias (Hg.): Wie kommen die Rechte des Menschen in die Welt?, Heidelberg, vorauss. 2021. Seit April 2019 online unter:  https://www.uni-erfurt.de/philosophische-fakultaet/seminare-professuren/literaturwissenschaft/professuren/allgemeine-und-vergleichende-literaturwissenschaft/lehrende/prof-dr-bettine-menke (unter Punkt „Vorabveröffentlichungen“).

Grenzen der Repräsentation – zur Einführung

Grenzen der Repräsentation. – Auf den ersten und vielleicht auch auf den zweiten Blick klingt das nach einer recht altmodischen Fragestellung: Gibt es irgendetwas, was zu diesem Gegenstand noch nicht gesagt wurde? Wurde die Repräsentation ebenso wie ihre Kritik nicht lange schon erschöpfend behandelt? Das mag sein – doch möglicherweise hat die Frage nach dem, was Repräsentation ist, ermöglicht und verunmöglicht, neue Aktualität bekommen, ganz so wie die schon überwunden geglaubten Konzepte des Nationalstaats, seiner Grenzen, wie die Fragen nach den Befugnissen der Legislative und der Exekutive.

Das Wort Repräsentation stammt ab vom Lateinischen repraesentatio. In ihren verschiedenen Varianten (représentation, representation, rappresentanza/rappresentazione, representación) bedeuten die Ableitungen aus dieser Wurzel den modernen europäischen Sprachen Darstellung und Vorstellung, Vertretung, aber auch eine gewisse prachtvolle oder würdevolle Form des Auftritts oder des Sich-Zeigens. Anders als vielfach vermutet und auch behauptet, ist die Repräsentation dem Wortsinne nach nicht die (defizitäre) Wiederholung oder Nachstellung einer vorhergehenden ‚Präsentation‘:

Das Verb repraesento (‚wiedergeben‘) begegnet deutlich früher (ab Cicero) als praesento (ab Quintilian), so dass man praesento eher als Rückbildung aus repraesento auffassen muss und repraesento als Bildung aus re- und praesens (‚anwesend‘).[1]

Bei der Verwendung des Präfix „re-“ spielt wahrscheinlich „auch die Idee eine Rolle, dass es etwas schon gegeben hat oder noch gibt, was nun ‚wiedergebracht‘, imitiert wird.“[2] In anderen Wortbildungen hat das Präfix „re-“ jedoch „die Funktion, einen Aspekt des Simplex expressiver hervorzuholen“,[3] auch wenn sich diese intensivierende Wirkung nicht allgemein behaupten lässt. Langenscheidts Wörterbuch verzeichnet als repraesentatio zwar nachklassisch auch „bildliche Darstellung, Abbildung“; vor allem jedoch: „Barzahlung“, „Vorauszahlung“,[4] ebenso wie repraesento nach PONS „vergegenwärtigen“ bedeutet und erst nachklassisch „nachahmen“, vorher aber schon „sofort verwirklichen“, „sofort vollziehen“.[5][R]epraesentare und repraesentatio akzentuieren Wirklichkeit, gegenwärtig sich Ereignendes und augenblickliches Tun – und das naturgemäß immer in einer je bestimmten Perspektive, immer in einer gewissen antithetischen Spannung.“[6] Bei Tertullian wird dann aus jenem gegenwärtigen Ereignis eine Form der Vertretung, die aber zugleich noch immer eine Sammlung und Verstärkung von Gegenwart ist. Er schreibt:

Außerdem werden in den griechischen Ländern an bestimmten Orten jene Versammlungen aus allen Kirchen, die man Konzilien nennt, abgehalten, durch die sowohl alle wichtigeren Dinge gemeinschaftlich verhandelt werden, als auch eine Repräsentation der gesamten Christenheit in ehrfurchtgebietender Weise gefeiert wird [et ipsa repraesentatio totius nominis Christiani magma veneratione celebratur].[7]

Die Repräsentation wird hier gefeiert, und zwar voller Verehrung und Hochachtung, denn sie versammelt die gesamte Christenheit in sich.

Es ist weniger eine solche Repräsentation, deren Grenzen Michel Foucault im ebenso – nämlich: „Grenzen der Repräsentation“ – betitelten Kapitel von Die Ordnung der Dinge von 1966 aufzeigen will. „Repräsentation“ ist dort vielmehr der Name für eine epistemische Ordnung der Klassik, die um 1800 herum abgelöst wird; dann, wenn „der Ort der Analyse nicht mehr die Repräsentation, sondern der Mensch in seiner Endlichkeit ist“.[8] Bekanntlich zeigt Foucault die Mechanismen der Repräsentation an Diego Velásquez‘ Gemälde Las Meninas auf; die Repräsentation steht, wie auch Louis Marin zeigt,[9] in enger Verbindung mit dem Bild oder dem Abbild und vielfach mit seiner perspektivischen Konstitution. In der Theatergeschichte findet der Übergang von der ‚Repräsentation‘ zum ‚Menschen‘ statt, wenn ein Theater, das die vereinigende Funktion des Souveräns als Repräsentanten ausstellt und befragt, die Bühne für neue Formen räumt. Denn nun sollen die Bürger*innen auf neue Weise verbunden und kontrolliert werden. Für Thomas Hobbes ist es 1651 die Repräsentation, die vereinigt, die Repräsentierten aber bleiben viele – eine Mannigfaltigkeit (multitude). Doch obwohl Hobbes erklärt, dass der Begriff der Person – des Repräsentanten als Person – eigentlich „von der Bühne […] auf jeden übertragen wurde, der stellvertretend redet und handelt, im Gerichtssaal wie im Theater“[10], ist gerade die Bühne im 17. Jahrhundert auch der Ort, wo eben ihre Einheit, ihre vereinigende Funktion, infrage gestellt wird. „Der Souverän repräsentiert die Geschichte“,[11] erklärt Walter Benjamin in Ursprung des deutschen Trauerspiels über die Herrscherfiguren des deutschen Barocktheaters – dabei aber ist er von seinen Affekten hin- und hergerissen wir eine Fahne im Wind und vollkommen unfähig, das zu tun, was von ihm in seiner Rolle als Souverän gefordert wird: nämlich eine Entscheidung zu treffen, durch die er den Ausnahmezustand auszuschließen vermag. Er wird mit sich selbst nicht einig, und hinter oder eher neben ihm lauern die Intriganten, jene Choreographen des politischen Geschehens, die mit der Zeit zu kalkulieren verstehen. Nach Juliane Vogel wiederum entfesselt Jean Racine in den „Geheimbereichen der Bühne […] eine depersonalisierte und unkenntlich gewordene Gewalt, die, selber ohne Gestalt, auch dem Erscheinungsbegehren der dramatischen Personen tödliche Grenzen zieht“. Diese profondeur ist dabei „nicht passives Hinterland, sondern ein aktives Kräftefeld, das die gewalttätige Kehrseite der höfischen Repräsentationsformen offenlegt.“[12]

In Gotthold Ephraim Lessings Philotas aber hat man dann das „hohe Personal[s] eines Theaters der Souveränität“ abtreten sehen,[13] da die neue Gesellschaft andere „politische Steuerungstechniken“[14] benötige. Es ist nun, wie Hölderlins Empedokles sagt, „die Zeit der Könige nicht mehr“.[15] Das Theater repräsentiert nicht mehr; es soll zu einer Institution werden, die Gefühle reguliert und ein verbindendes Mitleid hervorruft: jenes pathematon der aristotelischen Poetik, das Gotthold Ephraim Lessing christianisiert und verbürgerlicht, indem er erklärt, dass „wir“ als Zuschauer*innen (aber eher doch als männliche Zuschauer) in den Figuren des bürgerlichen Trauerspiels Menschen erkennen sollen, die „mit uns von gleichem Schrot und Korne“[16] sind. Jenes Mitleid entspricht in vielem der sympathy aus Adam Smiths Theory of Moral Sentiments.[17] Sympathy, gebildet aus sym-patheia – mit-fühlen, mit-erleiden – ist etwas ganz anderes als das griechische éleos, das dem in der Blüte seiner Jahre gefallenen Helden gilt:[18] Es ist ein bürgerliches, ein humanitäres Sentiment. Im Mitleid findet sich die bürgerliche, also kapitalistische Gesellschaft zusammen, nicht erst in der Repräsentation, wie Hobbes es sich dachte, und das Verhalten der Zuschauer im zunehmend abgedunkelten Saal reguliert eine eigene Polizei – die Theaterpolizei.

Zwei Wege führen – im gleichen Jahr, 1758 – zu einem solchen Theater diesseits der Repräsentation: Denis Diderot entwirft in seinen Reden über die dramatische Poesie die Idee einer vierten Wand, hinter der sich die tugendhaften Mädchen unschuldig den Blicken der bürgerlichen Zuschauer hingeben können. Das frontale Spiel vor Zuschauern wird von einem innerszenischen Geschehen abgelöst: „Man stelle sich an dem äußersten Rande der Bühne eine große Mauer vor, durch die das Parterr abgesondert wird. Man spiele, als ob der Vorhang nicht aufgezogen würde“.[19] So kann man als Adressaten des Natürlichen Sohns eine „im wechselseitigen Anblick vergossener Tränen sich selbst bestätigende Öffentlichkeit“[20] vermuten. Nicht mehr in der Person des Leviathans finden die vielen zusammen, die Hobbes als authors bezeichnet: Als reglose Zuschauer des bürgerlichen Trauerspiels verbinden sie sich im gemeinsamen Weinen. Jean-Jacques Rousseau wiederum greift Jean le Rond d’Alemberts Vorschlag, ein Theater in Genf zu gründen, in einem über 200-seitigen „Brief“ massiv an, denn: „Nur zwei Jahre Theater, und alles ist zerrüttet.“[21] Republiken brauchen nach Rousseau keine Spektakel der Repräsentation, die das höfische Paris ausmachen, sondern Feste, viele Feste: Für Genf fordert er Versammlungen am See, um einen Pflock. Diese Feste dienen zum einen einer wechselseitigen polizeilichen Verhaltensüberwachung, die in pandemischen Zeiten ganz neue Aktualität bekommt; doch Rousseau entwirft auch eine Öffnung des Raums, einen Auszug aus den dunklen und muffigen Innenräumen des Theaters, ans Ufer, unter den freien Himmel. Alle exponieren sich einander, in „‚Extimität‘ wie Lacan sagt, im innersten Außer-sich-selbst“.[22]

Die Ablehnung der Repräsentation bei Rousseau ist vor allem eine politische. Er erklärt, dass die „Souveränität […] aus dem gleichen Grund, aus dem sie nicht veräußert werden kann, auch nicht vertreten werden [kann]; sie besteht wesentlich im Gemeinwillen, und der Wille kann nicht vertreten werden [la volonté générale ne se représente point].“[23] Die Feste am See sind keine Zusammenkunft des Souveräns, aber sie erneuern sein Gemeinschaftsgefühl, beleben das, was Rousseau im Contrat Social den „Gesellschaftskörper“[24] nennt, obwohl die Teilnehmenden hier viele sind und viele bleiben.[25] Auf radikalere, aber durchaus ähnliche Weise wurde das Theater als Repräsentation dann von Antonin Artaud herausgefordert. Derrida bemerkt, dass „in der Beschreibung des Festes [bei Rousseau] Sätze“ auftauchen, „die unbedingt im Sinne des Theaters der Grausamkeit Antonin Artauds interpretiert werden können“, auch wenn Rousseau diese Sätze dann „in anderer Weise“ interpretiere“.[26] Für Artaud ist es nicht der Gesellschaftskörper, der durch die Repräsentation seiner Fähigkeit beraubt wird, einen gemeinsamen Willen zu artikulieren: Es ist ein anderer Körper, ein nicht-organischer, organloser Körper, durchzogen von Kräfte und Intensitäten, den die Repräsentation zu stehlen versucht. Wenn die Pest in Marseille wütet – die Pest, die nur scheinbar mit der Grand-Saint-Antoine aus Beirut kommt, denn eigentlich war sie schon da – dann findet Artaud dafür folgende Worte: „Et c’est alors que le théâtre s’installe.“[27] – „Und hier findet nun das Theater statt“. Die Pest aber repräsentiert nichts und niemanden, sie infiziert und ent-setzt.

Artaud ist dann auch so etwas wie die Wasserscheide der french theory um 1968, wenn es um Repräsentation geht. Gilles Deleuze und Félix Guattari erklären in Anti-Ödipus, der „organlose Körper“, den sie als Konzept Artauds späten Schriften entnehmen, sei ein Ei: „Nichts ist dabei repräsentativ, alles aber ist Leben und gelebt […]. Nichts als Intensitätsstreifen, Potentiale, Schwellen und Gradienten.“[28] Fünf lange Jahre zuvor hatte Jacques Derrida in Die Schrift und die Differenz zwar erklärt, das Theater der Grausamkeit kündige eine „Grenze der Repräsentation an“. Und weiter: „Das Theater der Grausamkeit ist keine Repräsentation. Es ist das Leben selbst in dem, was an ihm nicht darstellbar ist. Das Leben ist der nicht darstellbare Ursprung der Repräsentation.“[29] Und doch könne auch Artaud niemals der „Geschlossenheit der Repräsentation“ entkommen, einfach deswegen, weil er wiederholbare Zeichen verwenden müsse, damit das Theater überhaupt wahrnehmbar werde: „Die Präsenz hat immer schon damit begonnen sich zu repräsentieren, um Präsenz und um Selbstpräsenz zu sein, sie ist immer schon angeschnitten.“[30] Irgendwo dazwischen und nahe an den Fragen, die auf der Tagung im Juli 2019 besprochen wurden, verortet sich später Judith Butler, wenn sie über die Figur der Antigone in Sophokles‘ Tragödie schreibt, dass sie „als Figur der Politik in eine ganz andere Richtung weist, nämlich nicht in Richtung Politik als Frage der Repräsentation, sondern in Richtung der politischen Möglichkeit, die sich eröffnet, wenn die Grenzen der Repräsentation und die Grenzen der Repräsentierbarkeit selber zutage treten“.[31] Denn mit Antigone tritt jemand auf die Bühne, die keinen Platz in einer etablierten symbolischen Ordnung einnehmen kann – gezeugt durch Inzest, in Liebe zu ihrem toten Bruder und Onkel. Und doch wird die Repräsentation nicht vollständig überkommen.

Wie können jene die Bühne der Repräsentation betreten, für die auf dieser Bühne kein Auftritt vorgesehen ist? In ihrem Essay Can the Subaltern Speak? attackiert Gayatri Chakravorty Spivak Michel Foucault und vor allem Gilles Deleuze für ihr Gespräch „Die Intellektuellen und die Macht“ und die dort von Deleuze geäußerte Behauptung: „Es gibt keine Repräsentation mehr, es gibt nur noch Aktion“.[32] Deleuze erklärt, „daß nämlich die Theorie forderte, die Betroffenen müssten endlich praktisch für sich selbst reden“.[33] Dagegen konstatiert Spivak: „Repräsentation ist nicht abgestorben.“[34] Ihr zufolge betrachten Foucault und Deleuze das Fortdauern einer auch epistemischen kolonialen Herrschaft aus der privilegierten Position der Pariser Intellektuellen. Denn koloniale Regimes errichten, so Spivak, Bühnen, die nur betreten kann, wer die richtige Sprache spricht: Dies ist die „epistemische Gewalt“[35] dieser Bühnen. Die Subalternen aber können nicht sprechen, weil sie gar nicht die Sprechformen zur Hand haben, um auf jenen Bühnen auftreten zu können. Sie können auch keine Repräsentation finden. Das bedeutet aber nicht, dass jene bereits erledigt sei.

Für eine theaterwissenschaftliche Beschäftigung mit der Repräsentation ist wichtig, dass Spivak auf die Doppelbedeutung des englischen wie auch des französischen Wortes represenation/représentation verweist, die sich besonders im Deutschen aufzeigen lässt: Beide Worte bedeuten Vorstellung oder Darstellung, aber auch Vertretung. Im deutschen Wort „Repräsentation“ hingegen überleben, wie Carl Schmitt und im Anschluss daran auch Hasso Hofmann herausgestellt haben, weiterhin auch klerikale und monarchische Bedeutungen, da die Emanzipation des Bürgertums hier deutlich schwächer war als in Frankreich und England. Hofmann erwähnt „Vorgänge und Probleme sozialer Zurechnung und Gewinnung oder Aktualisierung von Gruppenidentität […], welche mit der juristischen Kategorie der Stellvertretung nicht oder nicht allein zu fassen sind“[36].

Zur Verdeutlichung des Begriffs der Vertretung zitiert Spivak die Passage aus Marx’ Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, in der dieser die Bildung der französischen Nation aus „Parzellenbauern“ als „einfache Addition gleichnamiger Größen“ beschreibt, „wie etwa ein Sack von Kartoffeln einen Kartoffelsack bildet“. Die Parzellenbauern bilden

keine Klasse. Sie sind daher unfähig, ihr Klasseninteresse im eigenen Namen, sei es durch ein Parlament, sei es durch einen Konvent geltend zu machen. Sie können sich nicht vertreten, sie müssen vertreten werden. Ihr Vertreter muß zugleich als ihr Herr, als eine Autorität über ihnen erscheinen, als eine unumschränkte Regierungsgewalt, die sie vor den andern Klassen beschützt und ihnen νοn oben Regen und Sonnenschein schickt.[37]

Die Parzellenbauern müssen vertreten werden, weil sie sich nicht vertreten werden können; und so entfesselt ihre Unterstützung die Exekutivgewalt in Gestalt des Karneval-Souveräns Louis Bonaparte. Vertretung erscheint bei Marx als Ersatz einer Selbstermächtigung des Proletariats, das in der Zukunft – in der „soziale[n] Revolution des neunzehnten Jahrhunderts“ – eine Praxis der Produktion von Wirklichkeit erlernt, die keine Repräsentation mehr braucht und mit dem Theater der Geschichte abschließt. Sie ließe dann, so zitiert Marx aus dem Neuen Testament, „die Toten ihre Toten begraben“.[38] Wenn diese Praxis aber nicht ergriffen wird, tritt der Karnevalssouverän auf, der über einen Sack Kartoffeln herrscht. Aufgeführt wird das Schauspiel der Vertretung als Farce durch einen „Abenteurer […], der die Komödie [und zwar die Komödie der parlamentarischen Repräsentation] platt als Komödie nahm“.[39]

Spivak verbindet die Darstellung mit der „Repräsentation oder Rhetorik als Tropologie“ (Metaphern, Metonymien, Ironie) die Vertretung mit ebendieser als „Überzeugung“ [40] (persuasion). Wer darstellt, sucht nach Darstellungsweisen; wer vertritt, möchte die anderen für seine Position gewinnen. Und obwohl diese Bedeutungen von representation verwandt sind, bezeichnen sie nicht das Gleiche: Jemand oder etwas kann eine „Darstellung“ finden, er, sie oder es kann gesehen werden, auf verschiedene Weise erscheinen, sich ausdrücken; doch diese Darstellung muss nicht gleichzeitig eine Vertretung sein, keine Aktion im Namen und vielleicht auch im Auftrag eines anderen, keine Verkörperung des anderen, in der auch heute noch Tertullians Gebrauch des Wortes anklingt. Die Unterscheidung zwischen beiden Bedeutungen des Wortes muss man im Blick behalten, will man theatrale Auseinandersetzungen mit der – 2019 noch nicht von einer globalen Pandemie vollkommen aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängten – Katastrophe an den Außengrenzen Europas betrachten. In einer Inszenierung wie derjenigen Nicolas Stemanns von Elfriede Jelineks Die Schutzbefohlenen 2014 finden Geflüchtete zwar eine Darstellung:Sie bilden einen Chor, der in der Applausordnung säuberlich von den echten Schauspieler*innen getrennt wird und beim Umzug der Produktion von Mannheim nach Hamburg aufgrund der Residenzpflicht zwar ausgetauscht werden muss, aber auch problemlos ausgetauscht werden kann, weil es ja auf den Einzelnen so streng nicht ankommt. Vertreten, und zwar: rechtlich und politisch vertreten aber werden sie dadurch noch lange nicht. In einigen geglückteren Formen der theatralen Arbeit mit Geflüchteten kann womöglich auch die bloße Darstellung eine Wirkung entfalten, die über die Selbstvergewisserung eines humanistisch oder humanitär gesonnen Publikums hinausgeht. Und doch ist sie nicht mit der Vertretung zu verwechseln. Deleuze und Foucault wirft Spivak jedoch vor, beide Bedeutungen durch einen „Taschenspielertrick“[41] miteinander zu vermischen.

Zwei zentrale Szenen in Tragödien des Aischylos behandeln die Einsetzung einer Vertreters und damit zugleich die Inauguration einer dramatischen Form, innerhalb derer Protagonisten zurechnungsfähig handeln und für ihr Handeln zur Rechenschaft gezogen werden können. In den Schutzflehenden/Hiketiden[42] tritt ein Chor von 50 Jungfrauen auf (wahrscheinlich gespielt von 12 Männern), die über das Meer gereist sind. Es sind die Töchter von Danaos, aus Ägypten geflohen vor der Hochzeit mit ihren Cousins, den Söhnen des Aigyptos, die nach athenischem Recht tatsächlich einen Anspruch auf diese Hochzeit hätten, da Danaos keine männlichen Erben hinterlässt. Sie suchen, nach dem Brauch der Hikesie, Schutz an einem heiligen Ort, dem Hügel vor der Stadt Argos. Zeus selbst ist der Schutzherr der Hiketiden. Nach einem brutalen Wortgefecht mit König Pelasgos, der vor die Stadttore geeilt ist, erklärt jener sich bereit, als proxenos zu agieren; erverlässt die Bühne und legt auf der Agora sein Wort für sie ein, doch diese Szene sehen wird nicht. Dann kehrt er zurück und erklärt, dass die jungen Mädchen in die Stadt aufgenommen werden. Erst durch die Fürsprache von Pelasgos werden diese, die bis dahin Schutz des Zeus genossen haben, auch politische Subjekte, die die Stadt betreten dürfen. Dem Mythos zufolge heiraten sie am Ende dennoch die fünfzig Aigyptier, bringen sie jedoch in der Hochzeitsnacht bis auf eine Ausnahme um.

In den Eumeniden wiederum, am Ende der Orestie,[43] finden wir eine umgekehrte, und doch ähnliche Konstellation vor: Hier ist es der Chor, der den hiketes Orestes jagt, der Chor der Erinnyen, die aus dem Blut geboren wurden, das bei der Kastration des Uranus durch Kronos auf den Boden tropfte. Sie jagen Orestes, weil er seine Mutter Klytaimestra ermordete, die wiederum ihren Mann Agamemnon töte, um dessen Mord an seiner Tochter Iphigenie zu rächen. Im Verfahren aber wird Orestes vertreten, ihm stellt sich ein Anwalt zur Seite, ein syndikes, der zugleich der Auftraggeber des Mordes war: Es ist Apoll.[44]

Beide Stücke zeigen eine Verwandlung: In den Hiketiden verwandelt sich ein Chor aus fremden Jungfrauen, die drohen, durch kollektivem Selbstmord den Altar zu schänden, so dass Zeus die Stadt Argos vernichten werde, in politische Subjekte, indem der König und Protagonist Pelasgos hinter der Bühne für sie spricht. In den Eumeniden tritt Orestes aus der der Logik der bisherigen „Erinyentragödie“[45] (Rüdiger Campe) aus und wird ein zurechnungsfähiges, justiziables Subjekt, eine dramatische Figur, die sich für seine Tat entschieden hat, weil sie sich auch anders hätte entscheiden können, indem Apoll als sein Anwalt agiert: „Ein Orest, der im Verhör durch die Erinyen die Kategorie seiner Täterschaft analysiert bekommen hat, erfährt durch die Fürsprache des Apoll dieses letzte Stück, das ihn zum Täter der Tragödie macht.“[46] So kann er die Szene des Rechts betreten, während die Erinnyen, die für ihr Tun ja ebenfalls gute Gründe angeben können, dies verwehrt bleibt – die Ansiedelung auf Kolonos und die Eingemeindung als Bürger erscheint eher wie eine Geste der Beruhigung und des Trostes. Die Einsetzung des menschlichen Rechts ist hier auch ein Akt epistemischer Gewalt, in diesem Fall gegen die Hüterinnen der Mutterschaft. In beiden Fällen aber findet die Verwandlung statt, weil ein anderer für die Schutzflehenden sein Wort einlegt, für sie spricht, in einem Akt, der noch keine politische Repräsentation im engeren Sinne ist (die kein griechisches Konzept ist), aber eine Form der Vertretung oder der Fürsprache in einer bestehenden oder entstehenden Institution.[47] Die fünfzig Mädchen werden so von fremdartigen Schutzflehenden zu politischen Subjekten mit eingeschränkten Recht (Metökinnen); Orest wird vom ausführenden Organ der Rachelogik zu einem zurechnungsfähigen Handelnden oder: zu einer dramatischen Figur. Denn es ist die Form des Dramas, welche die Möglichkeiten der Vertretbarkeit und der Zurechnungsfähigkeit durchspielt: Eine dramatische Figur ist eine Figur, die sich zu ihrem Handeln entschieden hat und sich auch anders hätte entscheiden können. „Tragisch“ sind jene Verstrickungen, die zeigen, dass die freie Entscheidung das Gegenteil dessen hervorbringt, was sie beabsichtigt hatte.[48] Aber wenn erst die Zurechenbarkeit einer Handlung den Einzelnen justiziabel macht, so ist jene daran geknüpft, dass er oder sie als Person vertretbar ist. Nur wer vertreten werden kann, ist der hier angedeuteten Logik zufolge ein politisches Subjekt; nur wer vertreten werden kann, ist in der Lage, zurechenbare Handlungen auszuführen.

Es ist eben dieses Problem der ‚Vertretbarkeit‘, das Hannah Arendt in ihrem berühmten Kapitel „Der Niedergang des Nationalstaats und das Ende der Menschenrechte“ aus Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft adressiert. Die Geflüchteten aus „Minderheiten“, die Staaten- und somit „Rechtlosen“, deren „Menschenrechte“ kein Souverän durchsetzt, wurden, so Arendt, nach dem Ersten Weltkrieg „aus der alten Dreieinigkeit von Volk-Territorium-Staat, auf der die Nation geruht hatte, herausgeschlagen“.[49] Sie wurden somit auch aus der Menschheit herausgeschlagen. Daher ist vor allem eine besondere Ausprägung der Staatsmacht für sie zuständig: die Exekutive, die Polizei. „Diese“, so Walter Benjamin in Zur Kritik der Gewalt, „ist zwar eine Gewalt zu Rechtszwecken (mit Verfügungsrecht), aber mit der gleichzeitigen Befugnis, diese in weiten Grenzen selbst zu setzen (mit Verordnungsrecht)“.[50] In ihr vermischen sich rechtsetzende und rechtserhaltende Gewalt: Die Polizei kann eingreifen, ohne dass ihr Tun von einem Gericht beauftragt wurde; ein Haftbefehl kann im Fall akuter Notwendigkeit der Festsetzung eines Verdächtigen nachgereicht werden. Weil aber die Staaten- und Rechtlosen keine politischen Subjekte sind, kann die Polizei mit ihnen, wie Arendt aufzeigt, im Wortsinne tun, was sie möchte. In dem Moment jedoch, in dem jemand von ihnen ein kleines Verbrechen begeht, wird sie oder er wieder zu einer Rechtsperson; dann wird sie oder er wie von Zauberhand vertretbar: „Nun gibt es auf einmal Rechtsanwälte für ihn, und wenn er kein Geld hat, muß sogar das Gericht selbst für die gehörige Vertretung seiner Interessen sorgen“.[51] Wie die Jungfrauen in den Hiketiden und Orestes in den Eumeniden findet der Rechtlose plötzlich jemanden, der für ihn oder an seiner Stelle spricht – in den Institutionen und auf den Bühnen des Rechts. Menschenrechte sind Rechte darauf, repräsentiert werden zu können. Die Träger der Menschenrechte sind repräsentierbar. Es geht nicht um Rechte auf Darstellbarkeit oder Sichtbarkeit; wer Rechte innehat, hat damit auch das Recht auf Vertretung inne.[52] Durch die Lektüre Hannah Arendts wird klarer, was Carl Schmitt im Sinne hat, wenn er in seiner Verfassungslehre schreibt: „Etwas Totes, etwas Minderwertiges oder Wertloses, etwas Niedriges kann nicht repräsentiert werden.“[53] Schmitt markiert hier die Grenze, unterhalb derer ein Leben der Repräsentation nicht fähig und nicht würdig erachtet wird. In der Konsequenz einer solchen Grenze entsteht ein Leben als „Auswurf der Menschheit“[54], als „Abschaum der Menschheit“[55], wie Arendt es nachgezeichnet hat: Die „Unbezogenheit“ der rechtlosen Menschen „zur Welt, ihre Weltlosigkeit ist wie eine Aufforderung zum Mord, insofern der Tod von Menschen, die außerhalb aller weltlichen Bezüge rechtlicher, sozialer und politischer Art stehen, ohne jede Konsequenzen für die Überlebenden bleibt“.[56]

Seit 1968 haben vielfältige Bestrebungen einer anti-repräsentativen Politik kraftvolle und wirkungsmächtige Formen angenommen. Manchmal waren sie angeregt und inspiriert von Gilles Deleuze und Félix Guattari, oft aber entsprangen sie auch einfach der bitteren Lebenserfahrung, von den staatlichen Repräsentationen nicht gemeint zu sein, durch sie nicht wirklich vertreten zu werden. So bildeten sich andere Allianzen – diesseits der und ohne die Repräsentation. Sie haben ihre Vorläufer bereits im kommunistischen Konzept der Räte, in die keine Repräsentanten, sondern Vermittler geschickt werden; und in ihnen artikulieren und verbinden sich marginalisierte communities und prekäre Identitäten und erproben Solidaritäten und Bindungen diesseits staatlicher Vertretung. Und dennoch, so scheint mir, ist die Repräsentation nicht erledigt; an jeder Staatsgrenze, in jedem Strafprozess – und vor der Staatsgrenze, die unüberwindbar bleibt und angesichts von Verbrechen, die nie justiziabel werden – ist ihre Macht weiterhin zu spüren. „Wenn die Leute darangehen, in ihrem eignen Namen zu sprechen und zu handeln, so setzen sie nicht der gegebenen Repräsentation eine andere entgegen, sie ersetzen nicht die falsche Representativität der Macht durch eine andere Representativität“, sagt Deleuze im zitierten Gespräch zu Foucault: „So haben Sie zum Beispiel gesagt, daß es gegen die Justiz keine Volksjustiz gib. Es gilt, die Ebene der Justiz zu verlassen.“[57] Solange jedoch ein Großteil der Menschheit diese Ebene nicht verlassen kann, weil sie niemals Zugang zu ihr hatte, tut es not, weiterhin an der Repräsentation und ihren Grenzen zu arbeiten. Theater, als Drama und darüber hinaus, kann eine Kunstform sein, in der Repräsentation in der doppelten Bedeutung von Vertretung und Darstellung – und auch noch in ihren monarchischen und theologischen Bedeutungen – ausgestellt, befragt und dekonstruiert wird. Dem widmen sich auf verschiedene Weise und mit verschiedenen Ansätzen die folgenden Beiträge.

Überarbeitete und ergänzte deutsche Fassung des auf Englisch gehaltenen Einführungsvortrags der Tagung


  1. Schrickx, Josine: „Reflexionen über lateinische re-Komposita“, in: Glotta, Band 91, 2015, S. 264-280, hier S. 271.
  2. Ebd.
  3. Ebd., S. 276.
  4. https://de.langenscheidt.com/latein-deutsch/repraesentatio#sense-1.2.1 (Zugriff am 8. März 2021).
  5. https://de.pons.com/übersetzung/latein-deutsch/repraesento (Zugriff am 8. März 2021).
  6. Hofmann, Hasso: Repräsentation. Berlin 1974, S. 44.
  7. Tertullian: De ieiunio, 13. Kapitel, http://www.tertullian.org/articles/kempten_bkv/bkv24_19_de_ieiunio.htm (Zugriff am 8. März 2012). Siehe dazu auch die Erläuterungen bei Hofmann: Repräsentation.
  8. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Frankfurt am Main 1997, S. 385.
  9. Marin, Louis: Das Porträt des Königs. Berlin 2005.
  10. Hobbes, Thomas: Leviathan oder Stoff, Form und Gewalt eines kirchlichen und bürgerlichen Staates. Frankfurt am Main 2002, S. 123.
  11. Benjamin, Walter: „Ursprung des deutschen Trauerspiels“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Band I, Frankfurt am Main 1997, S. 203-430, hier S. 245.
  12. Vogel, Juliane: Aus dem Grund. Auftrittsprotokolle zwischen Racine und Nietzsche. Paderborn 2018, S. 130.
  13. Vogl, Joseph: Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen. Zürich und Berlin 2008 S. 134.
  14. Ebd., S. 132.
  15. Hölderlin, Friedrich: Empedokles. Sämtliche Werke, Frankfurter Ausgabe, Band 12 u. 13. Basel und Frankfurt am Main 1985, S. 742.
  16. Lessing, Gotthold Ephraim: Hamburgische Dramaturgie. Stuttgart 2013, S. 422.
  17. Smith, Adam: Theorie der ethischen Gefühle. Hamburg 2010.
  18. Vgl. Schadewaldt, Wolfgang: Die griechische Tragödie, Tübinger Vorlesungen, Band 4. Frankfurt am Main 1991, S. 9-34 („Aristoteles“).
  19. Denis Diderot: „Von der dramatischen Dichtkunst“, in: Ders.: Das Theater des Herrn Diderot, aus dem Französischen übersetzt von Gotthold Ephraim Lessing. Stuttgart 1986, S. 283-402, hier S. 340.
  20. Heeg, Günther: Das Phantasma der natürlichen Gestalt. Körper, Sprache und Bild im Theater des 18. Jahrhunderts, Frankfurt am Main und Basel 2000,S. 69.
  21. Rousseau, Jean-Jacques: „Brief an Herrn d’Alembert“, in: Schriften, Band 1. München 1978, S. 333-474, hier: S. 447.
  22. Lacoue-Labarthe, Philippe: Poetik der Geschichte. Berlin 2004, S. 112.
  23. Rousseau, Jean-Jacques: Vom Gesellschaftsvertrag oder Grundsätze des Staatsrechts. Stuttgart 1977, S. 103 (Du contrat social, Verviers 1974, S. 135).
  24. Ebd., S. 33 u. passim.
  25. Vgl. Etzold, Jörn: „Armes Theater“, in: Meyzaud, Maud (Hg.): Arme Gemeinschaft. Die Moderne Rousseaus. Berlin 2015, S. 50-74.
  26. Derrida, Jacques: Grammatologie. Frankfurt am Main 1998, S. 527.
  27. Artaud, Antonin: „Le théâtre et la peste“, in: Ders.: Le théâtre et son double. Paris 1964, S. 21-47, hier S. 34.
  28. Deleuze, Gilles/Guattari, Félix: Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I. Frankfurt am Main 1995, S. 27.
  29. Derrida, Jacques: „Das Theater der Grausamkeit und die Geschlossenheit der Repräsentation“, in: Ders.: Die Schrift und die Differenz. Frankfurt am Main 1997. S. 351-379, hier S. 353.
  30. Ebd., S 377.
  31. Butler, Judith: Antigones Verlangen: Verwandtschaft zwischen Leben und Tod, Frankfurt am Main 2001, S. 13.
  32. Deleuze, Gilles/Foucault, Michel: „Die Intellektuellen und die Macht. Ein Gespräch zwischen Gilles Deleuze und Michel Foucault“, in: Dies.: Der Faden ist gerissen. Berlin 1977, S. 86-100, hier S. 87. Zit. n. Spivak, Gayatri Chakravorty: Can the Subaltern Speak?, Wien und Berlin 2020. S. 17-118, hier S. 28.
  33. Deleuze/Foucault: „Die Intellektuellen und die Macht“, S. 91 (Wortbeitrag von Deleuze).
  34. Spivak: Can the Subaltern Speak?, S. 106.
  35. Ebd., S. 43 u. passim.
  36. Hofmann: Repräsentation, S. 28.
  37. Marx, Karl: „Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte“, in: Marx-Engels-Werke, Band 8. Berlin 2009. S. 111-207, hier S. 198 f.
  38. Ebd., S. 117.
  39. Ebd., S. 161.
  40. Spivak: Can the Subaltern Speak?, S. 31 f.
  41. Ebd.,S. 33.
  42. Aischylos: „Die Schutzflehenden (Hiketiden)“, in: Ders.: Tragödien, übers. v. Oskar Werner, München 1990. S. 97-133.
  43. Aischylos: „Orestie“, in: Ebd. S. 135-266.
  44. Vgl. hierzu den faszinierenden Artikel von Rüdiger Campe: „Flucht und Fürsprache in Aischylos’ Orestie“, in: Menke, Bettine/Vogel, Juliane (Hg.): Flucht und Szene. Perspektiven und Formen eines Theaters der Fliehenden. Berlin 2018, S. 75-97.
  45. Ebd., S. 87.
  46. Ebd., S. 93.
  47. Zum Verhältnis von Fürsprache und Institution siehe vor allem Campe, Rüdiger: „Kafkas Fürsprache“, in: Höcker, Arne/Simons, Oliver (Hg.): Kafkas Institutionen. Bielefeld 2007, S. 189-212.
  48. Vgl. dazu Menke, Christoph: Die Gegenwart der Tragödie. Versuch über Urteil und Spiel. Frankfurt am Main 2005.
  49. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 2006, S. 560.
  50. Benjamin, Walter: „Zur Kritik der Gewalt“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Band II. Frankfurt am Main, S. 179-203, hier S. 189.
  51. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 595.
  52. Vgl. dazu auch ausführlicher: Etzold, Jörn: Flucht. Stimmungsatlas in Einzelbänden, Hamburg 2018.
  53. Schmitt, Carl: Verfassungslehre. Berlin 2017, S. 210.
  54. Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, S. 563.
  55. Ebd., S. 564.
  56. Ebd., S. 624.
  57. Deleuze/Foucault: „Die Intellektuellen und die Macht“, S. 92 f. (Deleuze).

Schwerpunkt | Mind The Gap _ Für ein Denken des Ab-stands im Theater

Raum braucht Abstand.
Zwischen. Ein Zwischen
dung. Theater braucht
über das Theater braucht
schen, des Raumes als Ab-

Abbildung 1: Mind the Gap

Abstand braucht ein
braucht eine Verbin-
Raum. Ein Denken
ein Denken des Zwi-
stand.

Ein runder Tisch. Darum sitzen Menschen. Jede*r von ihnen ist von allen anderen gleich räumlich getrennt und ist doch mit ihnen durch das bloße Sitzen an dem Tisch verbunden. Mit diesem Bild beschreibt Hannah Arendt in Vita activa eine Form der Bezugnahme, die nachfolgend als Ab-stand hinsichtlich einer theatralen Form diskutiert werden soll.[1]

Im Handeln und Sprechen, so Arendt, ist eine Eigentümlichkeit enthalten. Sie schreibt von dem inter-est[2], das „was dazwischen liegt und die Bezüge herstellt, die Menschen miteinander verbinden und zugleich voneinander unterscheiden.“[3] Dadurch, dass Menschen über etwas sprechen, entsteht ein Zwischenraum, der im Gegensatz zu der realen, objektiven Distanz ein völlig anderes Zwischen meint, ein „Bezugssystem nämlich, das aus den Worten und Taten selbst, aus dem lebendig Handeln und Sprechen entsteht, in dem Menschen sich direkt, über die Sachen, welche den jeweiligen Gegenstand bilden, hinweg aneinander richten und sich gegenseitig ansprechen.“[4] Jenes diffuse Zwischen, das laut Arendt beim Handeln und Sprechen gleichermaßen entsteht, soll hier als Ab-stand bezeichnet werden und scheint essenziell für die Interaktion von Menschen zu sein, da es, wie Arendt weiter beschreibt, nicht greifbar ist und in der Welt selbst enthalten ist.[5] Diese Interaktion unterscheidet sich von den bekannten Kommunikationstheorien in dem Punkt, dass jene – wie der Name es bei den bekannten Vertretern wie Paul Watzlawick oder Friedemann Schulz von Thun bereits besagt – Modelle und Schematisierungen sind. In diesen Theorien gibt es immer eine*n Sender*in, einen Kanal, eine*n Empfänger*in, eine Intention und eine Beziehungsebene.[6] Hat dies ohne Zweifel seinen Nutzen, bezieht sich Hannah Arendt auf einen für die hier vorgenommene Betrachtung des Theaters abweichenden Aspekt des Sprechens (und, da ein Sprechakt ein Akt ist, auch des Handelns[7]). Sie denkt über eine Zwischenmenschlichkeit nach, die die Beziehungsebene Schulz von Thuns nur unzureichend bezeichnen würde. Der Bezug zwischen Menschen, welche handeln und sprechen, ist objektiv nicht greifbar. Dennoch ist er für das Theater und seine Darstellungsmechanismen essenziell, wie im weiteren Verlauf dargelegt wird.

Theater als Ab-stand

Zuvor soll jedoch kurz ein Theater beschrieben werden, das auf Darstellungen beruht, die innerhalb der für Kommunikationsmodelle so exemplarischen Sender-Empfänger-Konzepte verbleiben. Sei es bei der Darstellung/Erzählung von Gewaltakten, von persönlichen Erlebnissen oder von Handlungssträngen – die Annahme, etwas so übersetzen zu können, dass das Bild, das der Produktionsebene entspringt, 1:1 an die Zuschauenden übersendet werden kann, muss zwangsläufig eine Darstellung hervorbringen, die auf einer Ebene schematischer Interaktion verbleibt. Sie denkt das tatsächlich ankommende Wirkungsbild nicht mit, nicht die Rezeption eines*einer Zuschauenden. Auf dem Weg von dem*der Sender*in der Bühne zum empfangenden Publikum passiert im Ab-stand etwas mit der Nachricht, das jenseits von Kontext, Machtkonstellationen, Reziprozität und Metakommunikation liegt. Der Bezug zwischen Bühne und Publikum an sich wird im Modell jedoch ausgeklammert. Das Vermittelte konfrontiert sich so scheinbar unmittelbar dem Publikum, die Darstellung und das Dargestellte sind dort augenscheinlich identisch, nicht voneinander unterschieden. Die vermeintliche Eindeutigkeit führt dazu, dass ich als Zuschauende*r nicht mehr teilhabe an dem, was eigentlich übermittelt werden soll. Auf der einen Seite ist die Bühne, auf der anderen Seite sind die Zuschauenden – und dazwischen ist nichts, kein gedachter oder gewährter Raum für Abweichung, Denken, Bezugnahme.

Gesucht werden müsste stattdessen eine Darstellung, die die ästhetische Erfahrung als eine solche in ihrer Unbestimmtheit verweilen lässt, um den Zuschauenden und den Darstellenden Raum zu geben. Jaques Rancière verwendet hierfür im Kapitel Die Paradoxa der Politischen Kunst seines Werkes Der emanzipierte Zuschauer den Begriff des Abstandes, um zu verdeutlichen, dass der Prozess der Produktion und der Rezeption in den Künsten nicht ein und dasselbe sind: „Die ästhetische Wirksamkeit ist die eines Abstandes“[8]. Er plädiert für das Denken eines Abstandes zwischen dem Sinnlichen der Objekte/Körper/Orte der Produktion und Rezeption, einer eingerichteten Raum-Zeit neuer Möglichkeiten, aus dem das Ästhetische sich entfaltet als eine geteilte (räumliche) Erfahrung zwischen Darstellenden, der Bühne und den Zuschauenden. Der von ihm gesetzte Begriff des Abstandes verschiebt in diesem Zwischenraum das, was sag- und sichtbar, was machbar wird, indem zwischen Senden und Empfangen ein Zwischen geschaltet wird.[9] In Anlehnung daran zielt der hier zwischengeschobene Bindestrich beim Ab-stand darauf, eben diese verbundene Trennung zu visualisieren, den Raum einzuräumen, der gerade im Theater durch diesen Bindestrich eingenommen wird.

Es soll an dieser Stelle nicht gefordert werden, jegliche inhaltliche und direkte Darstellung im Theater zu unterlassen. Vielmehr soll darauf hingewiesen werden, dass der Bezug zwischen Bühne und Zuschauerraum selbst von großer Bedeutung ist, so abstrakt und gleichzeitig simpel es klingt. Das Affirmieren und die Akzeptanz des Ab-standes zwischen Zuschauer*innen und Darstellenden der Bühne macht das theatrale Erlebnis aus. Weder einer vierten Wand noch dem anderen Extrem, dem Sitzen auf der Bühne, muss dieser Ab-stand fehlen. Es geht um die Notwendigkeit, andere Menschen denken zu können.[10] Wenn das Publikum gedacht, bedacht wird, kann es die Bühne, die Darstellenden anders denken. Dem*der Anderen eine Existenz, ein eigenes Denken, Wahrnehmen, Fühlen jenseits einer Nachricht zuzugestehen eröffnet ihm*ihr Möglichkeiten, die durch das reine Senden und Empfangen nicht entstehen. Es gesteht ihm*ihr eine Existenz zu, die völlig verschieden ist von dem vorher imaginierten Publikum oder Erwartungen. Emmanuel Lévinas beschreibt die Beziehung zum*zur Anderen durch eine Haltung ohne kategoriale Bestimmungen „deren Bewegung zum Anderen hin sich nicht in der Identifikation wiedergewinnt, eine Bewegung, die nicht zu ihrem Ausgangspunkt zurückkehrt“.[11] Das Aushalten der Unbestimmtheit und Unbestimmbarkeit des*der Anderen und der trotzdem vorhandenen Verbindung ist in der Wahrung des Ab-stands enthalten. Die Frage ist: Was braucht es, sich aneinander zu richten? Wie kann Ab-stand im Theater aussehen?

Bitten

Im Jahr 2012 inszeniert der Künstler Thomas Lehmen in Kooperation mit Zodiak Helsinki und PACT Zollverein seine Arbeit Bitte. Diese Inszenierung eröffnet vielleicht eine Möglichkeit, über den Bezug zwischen Bühne und Zuschauer*innen anders nachzudenken. Es passiert genau das, was der Titel verspricht: Sechs Performer*innen bitten sich gegenseitig um die Verkörperung bestimmter Gegenstände, Situationen, Phänomene. Sie richten sich dabei direkt aneinander. Um nur einige Beispiele zu nennen: „Thomas, can you be a house, breaking down, for me?“, „Vera, could you be an ocean, please?“ und „Eeva, could you be my suitcase, please? And could this suitcase be full of hope?“ Zum Teil benennen die Performer*innen auch einfach das, was sie anschließend darstellen werden: „I am a museum guard.“ Es folgt ein Stehen an unterschiedlichen Plätzen. Ein anderer Performer mimt eine Skulptur. Dann: „Liisa, can you be the house please?“, woraufhin die angesprochene Performerin die Bittende umarmt und anschließend an der Hand durch den Raum zieht. Es entstehen so viele kleine Sequenzen aus Bildern, Bewegungen und Verschränkungen von Körpern. Eine Performerin ist der Ozean, die nächste wird gebeten, ein Fels darin zu sein. Der nächste Performer fügt sich auf eine Bitte als das Meer hinzu, das gegen den Felsen brandet. Immer wieder wird dieses Spiel unterbrochen durch kurze Szenen einer leeren Bühne, während derer die Performer*innen in der ersten Reihe – zwischen Bühne und Publikum – sitzen und mit Instrumenten oder zu Instrumenten umfunktionierten Gegenständen melodielose Klänge erzeugen. Zudem gibt es zwei Momente, in denen die Bühne zum Bild gestaltet wird und die Performer*innen mit den Mikrofonen und den Kabeln Muster auf den weißen Tanzboden der Bühne legen.

Das Besondere an der Inszenierung Lehmens für ein Denken des Ab-stands im Theater ist der Bezug zwischen Bühne und Zuschauerraum und die Art und Weise, wie er gehandhabt wird. Zu jedem Zeitpunkt agieren und sprechen die Agierenden aus einer spezifischen Verortung heraus, die sie zum einen als der Bühne zugehörig kennzeichnet und gleichzeitig schauen sie immer wieder selbst auf die Bühne. Als Performende werden sie zur jeweiligen Umsetzung einer Darstellungsanfrage verleitet. Die Bitten werden gerichtet von einer*m spezifischen Performer*in an eine*n andere*n, sie sprechen sich gegenseitig mit ihren Alltagsnamen an. Man könnte sagen: Sie richten sich aneinander. Im Sprechen werden Eeva, Vera, Hermann oder nur I als sie selbst markiert, sind keine Zuschauenden, aber auch nicht lediglich Darstellende im Sinne des Verkörperns einer Rolle. Vielmehr sprengen sie die Grenzen dessen, was Darstellende und Privatpersonen normalerweise sind. Sie sprechen sich in einem Zwischen an und handeln auch immer wieder innerhalb des Abstands zwischen Bühne und Publikum. Sie sitzen mehrfach im Raum zwischen Bühne und Zuschauern, schauen auf die Bühne, Handeln von dort aus in Klängen, verlassen diesen Zwischenraum wieder, um auf der Bühne darstellend zu handeln. Die Zuschauenden selbst werden nicht direkt angesprochen und betreten den Zwischenraum nicht – leider. Und doch scheint Bezugnahme zu erfolgen. Es gibt keine Erklärungen, keine Kommentare zum Gebetenen oder Verbildlichten. Nur das Richten aneinander über einen Ab-stand hinweg. Die Zuschauenden richten ihre Wahrnehmung über den Ab-stand hinweg und haben Teil durch ihre Imagination des Darzustellenden und Dargestellten.

Letzten Endes geht es in dieser Arbeit Lehmens nur auf einer ersten Ebene um das titelgebende Bitten. Vielmehr, könnte man sagen, wird hier die theatrale Form auf ihre Möglichkeiten hin befragt. Das Konzept, so scheint es, ist ein Experiment mit Ab-ständen, denn es erlaubt, zwischen der Bitte und der Darstellung einen Ab-stand zu denken, der eine Öffnung in Richtung des Publikums zulässt und sozeit-räumlich und reflexiv eine Vielfalt an Zugängen zu den Geräuschen, Bildern, Bewegungen, Worten ermöglicht. Der Ab-stand wird dadurch, dass er betreten wird, visualisiert. Die Performenden nehmen ihn aber nicht einfach ein, sie denken den*die Andere mit, indem sie in dem Moment weder ganz Darstellende noch ganz Zuschauende sind. Sie sind im Zwischen, verbunden und doch getrennt vom Publikum. Dieses Manifest-Werden des Ab-stands beeinflusst die Interaktion und die Wahrnehmung. Die ästhetische Erfahrung des Publikums könnte man sagen, ist die gemeinsame, je eigene Wahrnehmung, die durch den Bezug, die Manifestation des Ab-stands entsteht. Da ist etwas, das von den Performenden durch gegenseitige Ansprache dargestellt werden soll, aber die tatsächliche Darstellung ist nicht dasselbe, was das Publikum denkt, was und wie es gleich dargestellt wird. Die Darstellung wiederum entspricht auch nicht unbedingt dem, um was gebeten wird, sondern es ist etwas Anderes. Doch in seinem Anders-Sein ist es in gewissem Sinne viel eher das, was dem Denken oder der Vorstellung von mir als Zuschauendem*r entspricht. Es lässt Raum, es impliziert andere Perspektiven, eigene Vorstellungen, alternative Bilder als Möglichkeit. Die Darstellung bleibt in der Schwebe, im Zwischen von Bühne, verorteten Darsteller*innen, verorteten Zuschauer*innen, Raum und Zeit. So wird Bitte zu einer Möglichkeit, darzustellen, ohne abzuschließen, weil es eigentlich der Ab-stand selbst ist, der sich darstellt. Ein Ab-stand zwischen Sprechen und Handeln, zwischen Imagination und Bild und der räumliche Ab-stand, der wieder und wieder besetzt, verändert, verlassen wird – und doch bleibt.

Andere(s) Denken

Ab-stand ist, nimmt man Jean-Luc Nancys Auffassung des Zwischen[12] zu den Überlegungen Arendts hinzu, ein Mobilée unterschiedlicher Perspektiven, Bilder und Blickwinkel. Auch Nancy denkt einen Bezug. Und im Theater wird ihm zufolge der Bezug als solcher ausgestellt. Dies geschieht, weil der dargestellte Bezug im Zusammen-Sein ist, dem singulär Pluralen, dem Sein im mit als solchem in der Ab-ständlichkeit des Zwischen. Aber auch Nancy bezeichnet mit als nicht darstellbar (und hier ist die Darstellung im Sinne einer Übersetzung gemeint), weil mit an sich schon ein (Re)-Präsentatives ist, weil das Gesellschaftlich-Sein symbolhaft ist, weil mit selbst Darstellung ist, ein unendlicher Bezug. Deswegen braucht es auch keine Übersetzung, denn es selbst (re)-präsentiert sich in der Teilung, im Bezug.[13]

Die Bühne ist der Raum der Mit-Erscheinung, ohne die es ein reines und schlichtes Sein, das heißt alles und nichts, alles wie nichts nicht gäbe. Das Sein gibt sich singulär plural und verpflichtet sich so selbst als zu seiner eigenen Bühne. Wir präsentieren und ein-ander als ‚ich‘ ebenso, wie ‚ich‘ sich uns jedes Mal ein-ander als ‚uns‘ präsentiert.[14]

Wenn Nancy also das Theater als die Kunst dieses sich manifestierenden Bezugs bezeichnet, dann tut er das, indem er dem Theater im selben Zug eine notwendige Distanz unterstellt, „denn ohne Distanz wäre es kein Bezug“.[15] Er vollzieht eine Bewegung, die ihren Anfang und ihr gleichzeitiges Ende in einer ursprünglichen Pluralität hat, in welcher Ko-Präsenz[16]bedeutet, dass der Bezug und die Bezugspunkte gleichzeitig sind und entstehen, aber es eben doch ein Zwischen der Bezugspunkte geben muss, weil es kein mit ohne ein Außen gibt, ein Außen, das sich in mir selbst eröffnet – eben dies ist der Ab-stand, der zu denken im Theater notwendig ist, um Darstellung offen zu halten. Ein Ab-stand, der Bühne und Zuschauende umfasst. Um diesen Ab-standaber zu bewahren, bedarf es der Gleichzeitigkeit von Trennung und Verbindung, für die Hannah Arendt das eingangs beschriebene Bild eines runden Tisches verwendet – der trennende Ab-stand zu meinem Tisch-Gegenüber bedeutet gleichzeitig auch meine Verbindung zu diesem.[17] Rancière wiederum nennt es die Teilhabe am Gemeinsamen, Der Erscheinungsraum einer möglichen (Re)Präsentation müsste demzufolge ein Gewebe sein, ein geteilter Ab-stand, in dem der Bezug als solcher manifest wird.

Da der Bezug als solcher im Theater ausgestellt wird, als immer schon ein Mehr bloßer Anwesenheit vor Ort, dann ist es „die (Re)Präsentation der einen gegenüber den anderen, derzufolge sie mit-ein-ander sind“[18]. Diese macht den Bezug aus und kann nur existieren, weil es ein Zwischen gibt. Trotz der Unmöglichkeit einer Objektivierung des Bezugs beschreiben Nancy und Arendt das Theater als die Kunst, in der dieses Zwischen, dieser Bezug sich offenbart. Der Grund liegt im hier so bezeichneten Ab-stand. Jener ist der Raum des Offenbarwerdens der Mitwelt des Menschen. Der Ab-stand ist essenziell für das Theater, denn erst so wird dem Handeln und Sprechen der Bühne in dem eigentümlichen Zwischen politisches Potential zuteil.

So ist das Theater die politische Kunst par excellence; nur auf ihm, im lebendigen Verlauf der Vorführung, kann die politische Sphäre menschlichen Lebens überhaupt so weit transfiguriert werden, daß sie sich der Kunst eignet. Zugleich ist das Schauspiel die einzige Kunstgattung, deren alleinigen Gegenstand der Mensch in seinem Bezug zur Mitwelt bildet.[19]

Die Inszenierung Thomas Lehmens stellte durch ihr Konzept eine Möglichkeit dar, sich diesem Bild Arendts anzunähern. Doch auch andere Theaterschaffende beschäftigen sich mit dem Denken des Ab-stands. Mind The Gap ist nicht nur die Ansage, die wir in diversen Metropolen Europas immer wieder in verschiedenen Sprachen hören, wenn wir mit öffentlichen Verkehrsmitteln reisen. 2004 veranstaltete das Zentrum für Kunst und Medientechnologie unter diesem Titel ein Theatersymposion, das den Raumbegriff thematisierte.[20] Der Satz war zudem leitend für die Bemühungen der London Student Feminists, die strukturelle gesellschaftliche Kluft zwischen den beiden binären Geschlechtern herauszustellen und beispielsweise den Gender Pay Gap zu thematisieren.[21] Auch ein europäisches Theaterkollektiv setzt sich unter diesem Namen für die Gleichberechtigung von Künstler*innen mit einer Behinderung ein.[22] Für eine Debatte um die Angleichung der Gehälter zwischen so wahrgenommenen Männern und Frauen oder die Gleichberechtigung von Menschen mit Behinderungen im Kunstbetrieb braucht es zunächst ein Bewusstsein für den Gap, den Ab-stand. Die Angleichung der Gehälter oder die Chancengleichheit bedeutet dabei nicht, den Ab-stand zu eliminieren, sondern ihn umzuwenden und ihn dadurch zu affirmieren. Ab-ständliches Denken ist so als Ausgangspunkt zu nehmen für eine Gleichheit in Vielheit, in dem jede*r zu allen und allem einen Ab-stand hat und braucht, um ihn*sie denken zu können. Die*der Andere ist, so gedacht, nur in Alterität denkbar. Er ist, um es mit Emmanuel Lévinas zu sagen, der*die absolut Andere[23] und insofern nicht ein Gegenstück zu mir. Meine Beziehung zu dem*der Andere ist dabei eine des Ab-stands, der meinem Selbst erst Sinn verleiht. „Die Beziehung zum Anderen stellt mich in Frage, sie leert mich von mir selbst, sie leert mich unaufhörlich, indem sie mir so unaufhörlich neue Quellen entdeckt.“[24] So ist die*der Andere für mich in ihrer*seiner Andersartigkeit immer ab-ständlich und doch für mein Sein unabdinglich mit mir verwoben. In dieser verbundenen Trennung liegt für Lévinas „unser soziales Sein selbst“[25] und aus jenem Ab-stand heraus lässt sich im Adressieren des des*der Anderen als ebendiese*r Gleichheit im Sinne einer Verantwortlichkeit realisieren.[26]

Im Ab-stand, in der verbundenen Trennung zu unserer*m mit bedachten Anderen liegt Hannah Arendt zufolge das politische Potential des Öffentlichen, unseres Erscheinungsraumes. Dessen theatrale Darstellung kann heißen, eine Öffnung anzustreben, die der Bezüglichkeit des Theatralen selbst Raum lässt, im Zwischenraum, im Ab-stand, der immer schon existiert und uns doch erst in Darstellung begegnen muss, damit wir ihn bemerken.

Ein Ab-stand im Theater kann ein Erscheinungsraum durch den Bezug sein. Deshalb: Mind The Gap.


  1. Arendt, Hannah: Vita activa oder Vom tätigen Leben. München 2013, S. 52.
  2. Ebd., S. 224.
  3. Ebd., S. 225.
  4. Ebd., S. 225.
  5. Ebd., S. 225.
  6. Siehe hierzu Khabyuk, Olexiy: Kommunikationsmodelle : Grundlagen – Anwendungsfelder – Grenzen. Stuttgart 2018.
  7. Siehe hierzu den Begriff der Illokution John Austins bei Wirth, Uwe: „Der Performanzbegriff im Spannungsfeld von Illokution, Iteration und Indexikalität“, in: Ders. (Hg.): Performanz. Zwischen Sprachphilosophie und Kulturwissenschaften. Frankfurt a. M.: Suhrkamp 200213, S. 9-63, hier S. 13.
  8. Rancière, Jacques: „Die Paradoxa der politischen Kunst“, in: Ders.: Der emanzipierte Zuschauer. Wien 2008, S. 63-99, hier S. 69.
  9. Rancière, Jacques: Die Aufteilung des Sinnlichen. Berlin 2009, S 9. Um die Öffnung der Darstellung im Ab-stand denken zu können, muss jedoch zunächst der von Rancière verwendete Begriff des Abstandes perspektivisch umgewendet werden. Statt einer „Neutralisierung“ (Rancière: „Die Paradoxa der politischen Kunst“, S.69), der von einem Neutrum ausgeht, soll hier im Sinne Donna Haraways ein situierter Ab-stand gedacht werden. Denn wir sind immer verortet, verankert, perspektivisch eingebunden, wir sind nie ein Neutrum.
  10. Siehe hierzu die gleichnamige Installation Andere Menschen Denken von Alfredo Jaar in Anlehnung an eine Rede John Cages am Maxim Gorki Theater zum 3. Herbstsalon Desintegriert euch! im Jahr 2017. (https://www.berliner-herbstsalon.de/dritter-berliner-herbstsalon/ kuenstlerinnen/alfredo-jaar; Zugriff am 20.02.2020).
  11. Lévinas, Emmanuel: Die Spur des Anderen. Untersuchungen zur Phänomenologie und Sozialphilosophie. Freiburg 20177, S. 215.
  12. Nancy, Jean-Luc: singulär plural sein. Zürich 2004, S. 25. Sofern nicht anders deklariert, beziehen sich die im Folgenden auf Nancy bezogenen kursivierten Begriffe auf die Art und Weise, in der auch Nancy diese begreift und für seine Ausführungen im genannten Werk verwendet.
  13. Vgl. Nancy, Jean-Luc: „Theater als Kunst des Bezugs, 1 und 2“, in: Tatari, Marita (Hg.): Orte des Unermesslichen. Theater nach der Geschichtsteleologie. Zürich 2014, S. 91-108.
  14. Nancy: singulär plural sein, S. 106.
  15. Nancy: Theater als Kunst des Bezugs, 2, S. 108.
  16. Nancy: singulär plural sein, S. 31.
  17. Es soll an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass Hannah Arendt sich im Jahr 1951 gegenüber Schwarzen Menschen und BiPOC zu ihrer Zeit aus heutiger Sicht abwertend, mindestens aber mit einem eurozentrischen Blick geäußert hat (Vgl. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft : Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. München 201720). Das von ihr entworfene Bild eines Tisches, an dem alle Menschen zueinander in Bezug stehen, wird in vorliegendem Artikel in einer alle Menschen einschließenden Weise gedacht und nimmt Arendts Visualisierung zum hilfreichen Ausgang, ohne ihre Haltung zu affirmieren.
  18. Nancy: singulär plural sein, S. 95 ff.
  19. Arendt: Vita activa oder Vom tätigen Leben, S. 233 ff.
  20. Vgl. „Mind the Gap. Theaterräume/Medienräume. Recherchen für eine andere Szenografie“. https://zkm.de/de/event/2004/11/mind-the-gap-theaterraeume-medienraeume (Zugriff am 25.02.2020).
  21. Siehe: https://londonstudentfeminists.blogspot.com (Zugriff am 26.02.2020).
  22. Siehe: http://www.mind-the-gap.org.uk/about/ (Zugriff am 27.02.2020).
  23. Vgl. Lévinas, Emmanuel: Zwischen uns: Versuche über das Denken an den Anderen. München 1995.
  24. Lévinas: Die Spur des Anderen, S. 219 f.
  25. Ebd., S. 219.
  26. Siehe hierzu die Ausführungen von Mayte Zimmermann, die auch Derridas Lektüre von Lévinas aufgreift, der das Antworten, das Sich-Adressieren als Besitzaufgabe beschreibt. Vgl. Zimmermann, Mayte: Von der Darstellbarkeit des Anderen. Szenen eines Theaters der Spur. Bielefeld 2017, S. 64.

Abbildungsverweise:

Abbildung 1: Stöcker, Lisa: Mind The Gap. London 2019.

Schwerpunkt | Individualism on the Beach

© Andrej Vasilenko

Exhausted lava

“Noi siam venuti al loco ov‘ io t‘ ho detto / che tu vedrai le genti dolorose / c‘ hanno perduto il ben dell‘ intelletto.”[1]

Like Dante, we are invited to a place, where we can see “the woeful people, who have lost the good of the understanding”[2]. It is set up by Lina Lapelyte, Vaiva Grainyte and Rugile Barzdziukaite in the opera-performance Sun & Sea, first shown as a durational performance in English at the Lithuanian Pavilion of the 2019 Biennale in Venice. In the following essay, I will analyse the SONG OF EXHAUSTION. WORKAHOLIC’S SONG, one of 14 songs performed in the opera, in a social context, framed by Hannah Arendt and Karl Marx.

The entire Pavilion’s floor serves as a stage and is completely covered with sand. A crowd of people lies on towels or sunlounges, reading, checking their phones, playing badminton or cards. Some are on their own, some grouped as couples or small families, comprised of a man, a woman, and up to two children. They communicate, if they communicate at all, almost exclusively with those they know, their family or partner. They do not interact with the other people present at the beach. I will discuss later in this essay whether this isolation even results in genuine communication taking place.

A middle-aged man holding a Forbes Magazine, apparently unnoticed by anyone else, sings alone:

But suppressed emotions, I noticed, don’t
         disappear so easily,
They get knotted up in your psyche:
Suppressed negativity finds a way out
         unexpectedly,
Like lava.
LIKE LAVA, LIKE LAVA, LIKE LAVA,
         LIKE LAVA…
I feel so bad when I can’t control myself,
And I lose my cool in public.
Then I feel sorry for myself, guilty,
I feel ashamed…[3]

The other people on the beach join him in singing while still concentrating on their playing cards, phones, or books:

LIKE LAVA, LIKE LAVA, LIKE LAVA,
         LIKE LAVA…
EXHAUSTION, EXHAUSTION,
         EXHAUSTION, EXHAUSTION,
IT’S LIKE A MAMMOTH –
A NON-EXISTENT CREATURE
         GONE EXTINCT:
ENCYCLOPEDIAS, THE ANNALS OF
         HISTORY– HAVE IT,
BUT IN LIFE – A THING YOU’LL
         NEVER MEET
YOU’LL NEVER MEET
YOU’LL NEVER MEET…[4]

Everyone on the beach complains about exhaustion, that bursts out of them “LIKE LAVA,” indicating that they all share a common emotion and are in a similar burnt out mental state. Despite all singing the same lines at the same time, they do not behave like a group because they are not connected. There is a dramatic difference between the acoustic and the visual impression the chorus gives. Acoustically, they form a perfect union – with one exception, which I will touch on later. Yet, visually, there is no connection that can be noticed at all. They all appear too preoccupied with themselves to notice anything around them. However, as self-absorbed as they seem, they remain alienated and isolated from themselves just as much as they are isolated and alienated from the world around them.

The WORKAHOLIC’S SONG suggests that the man’s primary relation to his own emotions is characterised by repression. He demands from himself control over, not engagement with, his feelings, and separates himself from them entirely: “I finally learned to stay calm, / Not to take my state of mind home.”[5] 

A reason for this need for control lies in the social pressure exerted by his work environment.

I really don’t feel that I can let myself
         slow down,
Because my colleagues will look down
         on me.
They’ll say I have no strength of will.
And I’ll become a loser in my own eyes.[6]

He adopts his colleagues’ presumed opinion of himself as well as their perspective, observing himself from the outside. The man’s demonstrated disconnection from himself and society derives from the nature of the capitalist mode of production. As Marx points out, wage labour alienates humans from nature, from themselves and from others.

Indem die entfremdete Arbeit dem Menschen 1. die Natur entfremdet, 2. sich selbst, seine eigene Funktion, seine Lebenstätigkeit, so entfremdet sie dem Menschen die Gattung; sie macht ihm das Gattungsleben zum Mittel des individuellen Lebens. Erstens entfremdet sie ihm das Gattungsleben und das individuelle Leben, und zweitens macht sie das letztere in seiner Abstraktion zum Zweck des ersten, ebenfalls in seiner abstrakten und entfremdeten Form.[7]

The same alienation can be seen in the chorus’s singing about their exhaustion. Only their words let the audience know their state of mind, while their body language does not change. There appears to be a significant discrepancy between their verbal and nonverbal expressions. Thus, these ostensible individuals are divided even further. Their thoughts, emotions, words, their vocal expression and body language are all unconnected. Fittingly, the way the chorus sings is reminiscent of a lethargic, muddy river, rather than of lava erupting from a volcano. Their singing performance is no real act, but a deterioration into a lethargic description of, and surrender to, the status quo. During and after the song, everything stays exactly the same.

There are two reasons why the collective speech of the WORKAHOLIC’S SONG does not affect the individuals within the Chorus. Firstly, it is not directed at other people and it is not received in any way. Speech serves a communicative purpose[8], but in this instance there seems to be no communication. As united as the chorus seems auditorily, the more divided they prove to be when you see them scattered across the beach. Secondly, although they only appear to be expressing themselves, when actually they are only talking about a symptom – exhaustion – not about the root of that symptom or their own desires. Those desires are, as the workaholic points out, suppressed and covered by a heavy layer of exhaustion and inertia.

In the absence of awareness of any political concern, the public space they occupy turns into a private space. As Hannah Arendt describes in The Human Condition: “[T]he public […] has become a function of the private and the private […] has become the only common concern left.”[9] Coming from a purely private viewpoint, the people singing in this scene cannot develop a sense of solidarity between themselves. They individualise, and thereby privatise their misery, unable to recognise their problems as structural. So, they are unable to see, that their lives are embedded in a social structure, as well. Instead of launching a movement based on common interests, they remain isolated and helpless:

[M]en have become entirely private, that is, they have been deprived of seeing and hearing others, of being seen and being heard by them. They are all imprisoned in the subjectivity of their own singular experience, which does not cease to be singular if the same experience is multiplied innumerable times.[10]

Arendt is correct that isolation is felt by every individual alone, no matter how many singular individuals experience it collectively. However, it is important to add that this isolation does not happen by chance but is systematically created. The same subjectively singular experience is being produced again and again. The chorus perceptively recognises this fact:

OFFICIALLY, THE CREATURE DOES
         NOT EXIST, BUT ACTUALLY,
IT’S A SPECIES THAT BREEDS AT
         THE HIGHEST RATE.[11]

Exhaustion is a “creature”, “a species that breeds at the highest rate”. Two ideas are expressed in this statement. On the one hand, it shows that exhaustion is not limited to a single incident or a single person. On the other hand, the metaphor of exhaustion as a fast -breeding species demonstrates a misconception. It suggests that the exhaustion is acting on its own and therefore dissociates the symptom from the disease.

The SONG OF EXHAUSTION. WORKAHOLIC’S SONG shows the vacationers are quite self-aware in that they can analyse their mental state. At the same time, it shows that they ignore the reasons for their mental conditions. Truly understanding their own situation or organising for a political objective would require a crucial step: comprehending the system that causes their misery and perceiving themselves as capable to act. Lacking this comprehension, they don’t act on their discontent even though they are aware of it.

Recreating labour-power

Considering that the chorus is imprisoned in an individualised perspective, it is a logical consequence that they all seek individual relief from their seemingly individual misery. It is no less logical that all of these individuals arrive separately at the same ’solution,‘ again experiencing something common in an isolated way: Everyone is going on the same vacation in order to recover just enough to be able to bear the stress of their everyday lives until the next vacation. The negative impact their (working) life has on their mind and body is seemingly lifted for a moment.

VACATION IS WHAT KILLED THE
MAMMOTH –
[…]
AFTER VACATION,
YOUR HAIR SHINES,
YOUR EYES GLITTER,
EVERYTHING IS FINE.[12]

The people portrayed in Sun & Sea handle the problematic conditions of their lives by simply enduring them and distracting themselves through means of consumption. There is a short moment of relief, the exhaustion seems to be overcome, “EVERYTHING IS FINE”. Being “fine” in this instance is defined by superficial criteria alone – you are fine if you look fine. This reprieve allows them to resume pretending that they are not in fact overwhelmed and exhausted.

This “solution” is no solution at all, only a brief respite from a never-ending rat race. Not only is the chorus not contributing to sustainable improvement of their own situation as their suppressed emotions keep boiling just below the surface, always on the verge of spilling over unchecked. They remain within the confines of a capitalist logic, in which vacation is only a means to replenish the commodified labour-power in order to exploit it as efficiently as possible.

Innerhalb der Grenzen des absolut Notwendigen ist daher die individuelle Konsumtion der Arbeiterklasse Rückverwandlung der vom Kapital gegen Arbeitskraft veräußerten Lebensmittel in vom Kapital neu exploitierbare Arbeitskraft. Sie ist Produktion und Reproduktion des dem Kapitalisten unentbehrlichsten Produktionsmittels, des Arbeiters selbst. [13]  

The vacation is therefore not an escape from the system. It is a necessary part of that system, since it is needed to sustain the power of wage-dependents labour. As the workaholic indicates, it is impossible for him to maintain his strength while working:

And at work there are unwritten rules,
we could call them etiquette:
Don’t complain when things get difficult,
When you are lacking sleep,
When you are under the weather.
Even if you run out of gas – just keep
smiling…[14]

The expression “run out of gas” is especially revealing. The man appears to have internalised a view of himself that portrays him not as a human being, but rather a machine that will run smoothly if you fill it with enough fuel.

Since there is not sufficient space for physical or emotional needs during a normal working week, the vacation presents a possibility to tend to these needs – within a predefined time frame. The workaholic works until all his energy is drained and his health affected, then restores a fraction of that energy on vacation, and then resumes working to the point of exhaustion. It is important to note at this point that the man never actually joins the choir in singing that everything is fine. While they sing about the extinction of the ‚mammoth‘, about their shiny hair and glittering eyes, he keeps repeating one word: exhaustion.

It is not sufficient to change one’s individual consumer behaviour or one’s individual working conditions to break out of this seemingly endless cycle. Consumption, in this case going on vacation, is needed as a coping mechanism. Removing this mechanism without first changing the material conditions which prompted it in the first place can only lead to either a different coping strategy that is perhaps even more harmful or to more severe exhaustion and isolation. There is no point in abandoning the illusive wellness consumption creates, without addressing the reality it masks.

Die Forderung, die Illusionen über seinen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. […] Die Kritik hat die imaginären Blumen an der Kette zerpflückt, nicht damit der Mensch die phantasielose, trostlose Kette trage, sondern damit er die Kette abwerfe und die lebendige Blume breche.[15]

It could be argued that a person should adjust their working conditions, that if they are exhausted, maybe they simply have the wrong job or the wrong attitude to it. It might even be true, that in a different line of work the workaholic portrayed in Sun & Sea might be happier and more relaxed. There are however, two main problems with this argumentation. The first problem is that it puts an undue burden on the individual to cope with the unhealthy systematic conditions they are presented with. It ignores the fact that these conditions will wear out the next person just as much as the first one. As we have seen in the opera, the problem arises for every person in the chorus, no matter their position. The second problem is that changing your profession does not provide relief from the necessity of wage labour. For both reasons an individual solution to a systemic problem cannot exist.

Without infamy and without praise

In several instances, the chorus invokes the image of lava. It is an image of a powerful, dangerous substance full of energy, destroying everything in its way. This image is directly contradicted by the hollow way it is presented. Instead of spending their resources trying to avoid negative feelings, they need to embrace the energetic, violent potential of the lava inside them to eradicate the cause of those feelings.

Otherwise, they remain in a state remarkably like limbo in Dante’s inferno: “Questo misero modo tengon l’anime triste di coloro / che visser sanza infamia e sanza lodo.”[16]


  1. Dante Alighieri: La Commedia. Die Göttliche Komödie. I Inferno / Hölle. Italienisch/ Deutsch. In Prosa übersetzt und kommentiert von Hartmut Köhler. Stuttgart 2011, p. 44. See: “We have come to the place where I have told thee that thou shalt see the woeful people, who have lost the good of the understanding.” In: Dante Alighieri: The Divine Comedy. Translated by Charles Eliot Norton. Chicago et al. 1952, p. 4.
  2. Ibid.
  3. Grainytė, Vaiva: “Sun & Sea. (Marina)”, https://www.sunandsea.lt/Sun-and-Sea_libretto.pdf (Accessed 28 February 2021), p. 5.
  4. Ibid.
  5. Ibid.
  6. Ibid., p. 2.
  7. Marx, Karl: Ökonomisch Philosophische Manuskripte aus dem Jahre 1844, in: Marx-Engels-Werke, Band 40. Berlin 2012, p. 516.
  8. “Die Sprache ist so alt wie das Bewußtsein – die Sprache ist das praktische, auch für andere Menschen existierende wirkliche Bewußtsein, und die Sprache entsteht, wie das Bewußtsein, erst aus dem Bedürfnis, der Notdurft des Verkehrs mit anderen Menschen“ Engels, Friedrich/Marx, Karl: Die deutsche Ideologie. Kritik der neuesten deutschen Philosophie in ihren Repräsentanten Feuerbach, b. Bauer und Stirner, und des deutschen Sozialismus in seinen verschiedenen Propheten, in: Marx-Engels-Werke, Band 3. Berlin 1959, p. 30.
  9. Arendt, Hannah: The Human Condition. Chicago 1958, p. 69.
  10. Ibid., p. 58.
  11. Grainytė: “Sun & Sea”, p. 5.
  12. Ibid.
  13. Marx, Karl: Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie, in: Marx-Engels-Werke, Band 23. Berlin 1962, p. 597.
  14. Grainytė: “Sun & Sea”, p.5.
  15. Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx-Engels-Werke, Band 1. Berlin 1981, p. 379.
  16. Dante: La Commedia, p. 46. “The wretched souls of those who lived without infamy and without praise maintain this miserable mode.” Dante: The Divine Comedy, p. 4.

Schwerpunkt | Eine Szene aus Interstellar: Krise der Repräsentation

Der folgende Text breitet einen Flickenteppich aus theoretischen Ansätzen und Gedanken vor dem Publikum und der Leserschaft aus. Seine Form entspricht einer Spirale aus Verweisen und Problemfeldern, die ihrerseits der turbulenten Filmszene entsprechen soll. Aufsatz und Szene sind nicht abgeschlossen, sondern bewegen sich in ihren Widersprüchen auf ein Ende zu, das lediglich das Ende der Szene und des Aufsatzes sein kann, jedoch nicht das Ende der Diskussion oder der Inhalte.

Ich möchte also anhand einer Szene aus dem Kinofilm Interstellar[1] eine kleine Denkfigur präsentieren. Die zu besprechende Szene findet sich im Film von Minute 126 bis 132.[2] Ich werde das Geschehen in der Szene zunächst kurz zusammenfassen, es ist allerdings dringend empfohlen, sich diese Szene selbst anzusehen. Es sei außerdem festgehalten, dass ich die Szene für meine Denkfigur lediglich benutzen werde, um an derselben einige Gedanken zur Repräsentation zu formulieren, die sich so veranschaulichen lassen. Die Denkfigur sollte daher weitestgehend unabhängig von der Intention oder Handlung des Films gedacht werden.

1. Die Szene aus Interstellar

Wir sind im Weltraum. Die beiden Protagonist*innen Cooper und Dr. Brand sind auf der Suche nach einem neuen Planeten, auf dem die Menschheit eine neue Heimat finden kann, da die Erde unbewohnbar geworden ist. Sie sind dafür auf das Mutterschiff Endurance angewiesen, um die großen Entfernungen im Raum überwinden zu können und die verschiedenen Planeten, die in Frage kommen, zu überprüfen. Nur um direkt auf den Planeten landen zu können, nutzen sie die kleineren Shuttleschiffe, die selbständig keine größeren Distanzen überwinden können. Auf dem zuletzt untersuchten Planeten kam es allerdings zu einem Zwischenfall. Dr. Mann, der einen potentiell bewohnbaren Planeten untersuchte, hat die Besatzung des Mutterschiffs, der Endurance, unter falschen Vorwänden zu dem Planeten gelotst und will das Schiff jetzt übernehmen. Während er im Raumanzug versucht, die Schleuse der Endurance zu öffnen, beobachten Cooper und Dr. Brand das Geschehen von ihrem Shuttle aus der Distanz. Sie sprechen Mann zu und versuchen ihn davon abzuhalten, sich gewaltsam Zugang zu verschaffen, doch Mann ignoriert ihre Warnungen und führt durch seinen Versuch des Eindringens eine Explosion herbei, die einen Teil des Schiffes wegsprengt und es in einen rotierenden Zustand versetzt. Unsere beiden Hauptfiguren Cooper und Dr. Brand sind zunächst starr vor Entsetzen. Während Dr. Brand allerdings in ihrer Fassungslosigkeit verharrt, steuert Cooper die Endurance an. Allen Warnungen und pessimistischen Vorhersagen trotzend, schafft er es, an das Schiff anzudocken und es vor dem Absturz auf den Planeten zu bewahren. Bevor das Schiff wieder in eine ruhige Ausgangsposition gebracht wird, sind beide Figuren durch die körperlichen Anstrengungen des Prozesses nah an der Bewusstlosigkeit.

2. Versuch über den Ort und die Mechanismen der Repräsentation

Wenn ich nun von Repräsentation spreche, sollten wir uns dabei die zwei Bedeutungen vor Augen führen, die Gayatri Chakravorty Spivak in ihrem Text Can the Subaltern Speak konstatiert. Sie schreibt: „Two senses of representation are being run together: representation as ‚speaking for,‘ as in politics, and representation as ‘re-presentation,’ as in art or philosophy.“[3] In den beiden Ansätzen von Spivak können wir erkennen, dass dem Begriff der Repräsentation keine Behauptung von Identität, sondern ein nicht-identisches Beziehungsverhältnis inhärent ist. Ergänzend zu Spivak sollten wir uns daher Adornos Satz aus Negative Dialektik ins Gedächtnis rufen: „Identität ist die Urform der Ideologie.“[4] Das, was repräsentiert, sei es eine Bezeichnung oder eine politische Vertretung, kann nicht identisch mit dem gedacht werden, was sie repräsentiert. Es bleibt immer ein überschüssiger Rest, etwas Nicht-Identisches. Dieses Spannungsfeld wird uns den ganzen weiteren Text hindurch begleiten.

Die erste Frage, die wir uns für unsere Filmszene stellen, lautet: wo ist hier die Repräsentation? Wir bekommen für unsere Szene in dieser Denkfigur keinen Anfang und keinen Schöpfungsmythos. Wir gehen in medias res, direkt in diese Szene und mit aller Gewalt eröffnet sich uns die Szenerie und das Geschehen. Der Ort der Repräsentation ist gekoppelt an die beiden Raumschiffe, allerdings nicht identisch mit ihnen. Wir müssen uns mit einem Zusammenhang begnügen, der sich nur im Verhältnis denken lässt, aber eben keine Ursache und keinen Anfang findet. Die Schiffe fungieren als unsere monadischen Inseln in einem Geflecht von Beziehungen, das sich immer neu zu sich verhält und in steter Bewegung ist. Verschaffen wir uns also für unsere Denkfigur etwas Ordnung:

Mit dem Begriffsapparat von Jacques Lacan gesprochen sind wir sind im leeren Weltraum des Realen, der mit dem Symbolischen in Relation steht.[5] Das Symbolische in Form von Sprache und Gesetz markiert dann auch die Orte, an denen Repräsentation entstehen kann und überhaupt denkbar ist. Symbolisches und Repräsentation sind dann sogar unauflöslich miteinander verbunden. Die These lautet an dieser Stelle also: Ohne Sprache und Gesetz keine Repräsentation und somit auch keines unserer Raumschiffe. Die Raumschiffe sind die Schiffe in dem Raum, in welchem Repräsentation stattfindet oder stattfinden kann. Doch worauf läuft diese Feststellung hinaus und welche Rolle nehmen nun die Individuen in diesem Zusammenhang ein?

Gehen wir zurück in die Szene. Wir sehen Dr. Mann, der sich mehr oder weniger gewaltsam und rücksichtslos Zutritt zur Endurance verschaffen möchte.

Dieses Raumschiff ist für uns nun der dominante Ort der Repräsentation, um im Lacanschen Vokabular zu bleiben könnten wir vom Herrensignifikanten sprechen, dessen Diskurs, den Regeln der Dialektik folgend, immer zum Scheitern verurteilt ist.[6] Das Schiff ist kurz gefasst bestimmender Bestandteil von Ideologie und den Diskursen, in denen sich die Menschen bewegen und aus denen sie sich auch nicht einfach ausklinken können.[7] Dieses Schiff verkörpert die großen Projekte der Moderne, die ja wesentlich durch die Aufklärung bestimmt sind, beispielsweise den Gedanken einer Universalgeschichte oder der Menschenrechte, um zwei Beispiele zu nennen, die in der bürgerlichen Gesellschaft bis heute nachwirken und immer noch die prägenden Narrative bilden, egal ob man sich nun positiv oder negativ zu ihnen verhalten mag, ob man sie auf den großen Bühnen der Weltpolitik denkt oder im kleinen Rahmen eines Symposiums an einer Universität.

Und so erklärt Dr. Mann uns ja auch, wie zur Rechtfertigung seines Handelns: „This is not about my life or Coopers life. This is about all mankind.“ Er behauptet hier das Subjekt der Geschichte schlechthin, die Menschheit im Ganzen, zu vertreten und in ihrem Sinne zu handeln, auch wenn dabei Einzelne untergehen. Dass es sich hierbei, unter den bestehenden Verhältnissen, um eine verlogene Ideologie handelt, die die Antagonismen der modernen Gesellschaft mit Begriffen wie Freiheit und Gleichheit verhüllt, haben Marx, Engels und viele Weitere zur Genüge herausgearbeitet. Und Dr. Mann erinnert uns durch sein egoistisches und korruptes Handeln sehr deutlich an eben diese ideologischen Verkleidungen, mit denen sich die Durchsetzung der vermeintlichen Zivilisation und der Aufklärung, als dessen Produkt bei Marx und Engels die Bourgeoisie auf der Weltbühne erscheint, über den Globus vollzogen hat:

Sie zwingt alle Nationen, die Produktionsweise der Bourgeoisie sich anzueignen, wenn sie nicht zugrunde gehen wollen; sie zwingt sie, die sogenannte Zivilisation bei sich selbst einzuführen, d.h. Bourgeois zu werden. Mit einem Wort, sie schafft sich eine Welt nach ihrem eigenen Bilde.[8]

Die bekannten Grausamkeiten dieser neuen Welt sind unablöslicher Bestandteil ihrer Vorstellungen von Fortschritt und Zivilisation. Und auch in unserem Beispiel kommt es nun zur Katastrophe. Bevor Mann seine heuchlerische Rede und seine Argumente zu Ende bringen kann, kommt es zur Explosion. Die Maschine, die als notwendiges Werkzeug der Aufklärung fungiert und dazu dienen sollte, sich von der Natur zu emanzipieren und sich als Menschen zu befreien, explodiert. Das große Projekt gerät ins Strudeln und die Welt „strahlt im Zeichen triumphalen Unheils.“[9] Und diese Explosion führt nun auch die Repräsentation, die Möglichkeit des Denkens, aber auch des Handelns in einem (globalen, größeren) gesellschaftlichen Kontext, in die Krise und bringt sie auf Kurs in Richtung endgültiger Auslöschung.

3. Die Religion und der tätige Mensch

Die beiden Menschen, die Zeugen dieses Szenarios werden, versuchen noch Dr. Mann zuzureden, aber es ist zu spät. Und nachdem die Krise eingetreten ist: Schweigen und Fassungslosigkeit. Dann haben wir es mit zwei Reaktionen zu tun: Zunächst flüstert Dr. Brand lediglich „Oh my god.“ In ihrem kleinen partikularen Raumschiff, das sie hoffnungslos und hilflos erscheinen lässt, ist der Weg in die Religion durchaus nachvollziehbar. Der Wegfall von Möglichkeiten der Repräsentation birgt in sich das Potential, von dieser Welt in eine jenseitige flüchten zu wollen, in der ideologische Konstrukte wie Nation oder religiöse Heilsversprechen ein Gefühl von Sicherheit und Identität geben können. Bei Marx heißt es: „Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Kreatur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist.“[10]. Aber die Flucht in metaphysische Konstrukte kann keine Lösung sein, denn „[…] der Mensch, das ist kein abstraktes, außer der Welt hockendes Wesen. Der Mensch, das ist die Welt des Menschen, Staat, Sozietät“[11]. Diese Welt des Menschen meint in unserem Kontext eben auch die Frage der Repräsentation, die unweigerlich von dieser Welt ist. Sie erwächst aus dem Boden der bestehenden Verhältnisse. Spätestens an dieser Stelle muss ich allerdings einen kleinen Einwurf machen und betonen, dass die Krux in unserem Beispiel unter anderem darin besteht, dass unsere von der großen Maschine ausgeschlossenen Figuren überhaupt die Möglichkeit haben, sich dieser Maschine anzunähern. Die Frage bleibt bestehen, inwiefern Menschen in ihren Verhältnissen Möglichkeiten der Repräsentation haben oder wahrnehmen können.

Doch zurück zu unserer Szene und der zweiten Reaktion, der wir hier begegnen und der Frage, was zu tun sei. Wenden wir uns dafür Cooper zu. Er weiß, dass der Mensch nicht außerhalb der Welt steht, nicht stehen kann. Seine einzige Möglichkeit über seine partikulare Existenz, in unserer Szene das kleine Shuttleschiff, hinauszukommen, ist das Mutterschiff Endurance. Das Handeln, das Tätigsein des Menschen produziert die Repräsentation, erschafft sie notwendigerweise. Lediglich das Verbleiben im Partikularen und Abgekapselten erscheint als scheinbar möglicher Ausweg und Rückzug. Marx und Engels schreiben in Die deutsche Ideologie:

Die Produktion der Ideen, Vorstellungen, des Bewußtseins ist zunächst unmittelbar verflochten in die materielle Tätigkeit und den materiellen Verkehr der Menschen, Sprache des wirklichen Lebens. Das Vorstellen, Denken, der geistige Verkehr der Menschen erscheinen hier noch als direkter Ausfluß ihres materiellen Verhaltens. Von der geistigen Produktion, wie sie in der Sprache der Politik, der Gesetze, der Moral, der Religion, Metaphysik usw. eines Volkes sich darstellt, gilt dasselbe.[12]

Coopers Aktion ist bestimmt durch eben eine solche materielle Tätigkeit, auf welche die Repräsentation lediglich folgen kann, quasi das Handeln. Er flüchtet nach vorne, er fliegt direkt auf das beschädigte und in scheinbar unaufhaltsame Bewegung gebrachte Raumschiff zu. Allen Warnungen zum Trotz stellt er sich der Frage: „What are you doing?“ und antwortet schlicht: „Docking!“. Nun bekommt er darauf gesagt: „It’s not possible!“. Und Cooper erwidert im besten heroischen Hollywoodmodus: „No, it’s necessary.“ Die Repräsentation erscheint als gesellschaftliche Notwendigkeit und ist trotz, oder vielmehr wegen ihres widersprüchlichen Charakters, der sich im Rahmen der materiellen Tätigkeit und des Bewusstseins bewegt, Grundbedingung für eine potentielle Weiterentwicklung. Die Aufhebung der Widersprüche im Kontext von Handlung und Repräsentation erscheint also als unmöglich aufzulösendes Paradoxon. Wenden wir uns diesem Widerspruch von der Notwendigkeit einer unmöglichen Repräsentation zu.

4. Von der Einsicht in die Notwendigkeit

Wenn Repräsentation uns auch als Notwendigkeit in gesellschaftlichen Zusammenhängen erscheint und in Widersprüchen verhaftet bleibt, so eröffnet sich hier auch der Raum der Freiheit. In seinem Anti-Dühring hält Engels zu dem Verhältnis von Freiheit und Notwendigkeit in Anlehnung an Hegel fest:

Nicht in der geträumten Unabhängigkeit von den Naturgesetzen liegt die Freiheit, sondern in der Erkenntnis dieser Gesetze, und in der damit gegebnen Möglichkeit, sie planmäßig zu bestimmten Zwecken wirken zu lassen. Es gilt dies mit Beziehung sowohl auf die Gesetze der äußern Natur, wie auf diejenigen, welche das körperliche und geistige Dasein des Menschen selbst regeln – zwei Klassen von Gesetzen, die wir höchstens in der Vorstellung, nicht aber in der Wirklichkeit voneinander trennen können. Freiheit des Willens heißt daher nichts andres als die Fähigkeit, mit Sachkenntnis entscheiden zu können. Je freier also das Urteil eines Menschen in Beziehung auf einen bestimmten Fragepunkt ist, mit desto größerer Notwendigkeit wird der Inhalt dieses Urteils bestimmt sein; während die auf Unkenntnis beruhende Unsicherheit, die zwischen vielen verschiednen und widersprechenden Entscheidungsmöglichkeiten scheinbar willkürlich wählt, eben dadurch ihre Unfreiheit beweist, ihr Beherrschtsein von dem Gegenstande, den sie grade beherrschen sollte. [Hervorhebungen im Original][13]

In der Repräsentation kommen äußere und innere Gesetzmäßigkeiten zusammen und zur Erscheinung. Repräsentationen markieren Handlungsräume, in denen sich auch die Möglichkeit zur Veränderung und somit zur Hoffnung, zur Utopie und zum Ideal zeigen. Sie sind Ausdruck der Vorstellungen, die sich der gesellschaftliche Mensch von seinem Dasein macht, bleiben aber im Zwischenmenschlichen zwangsläufig unvollendet. Die absolute, abgeschlossene Repräsentation ist somit nicht möglich, aber es geht nun mal auch nicht ohne sie. Wir produzieren sie zwangsläufig und die Frage, die im Raum steht, ist nicht die nach dem Für oder Gegen die Repräsentation, sondern nach dem bewussten Umgang mit ihr und dem Wissen um ihre Herstellung durch menschliches Handeln. Eben darin liegen Freiheit und Möglichkeit. Wir müssen uns also mit den Widersprüchen der Repräsentation auseinandersetzen und uns ihnen bewusst stellen, wie Cooper es tut. Wir können nicht zurück zu einer Ursprünglichkeit oder gar zu verlorenen Ursprüngen. Walter Benjamin hält in seinem Text Über den Begriff der Geschichte fest: „Die Tradition der Unterdrückten belehrt uns, daß der >Ausnahmezustand<, in dem wir leben, die Regel ist.“[14] Der Ausnahmezustand ist kein Ausnahmezustand, sondern vielmehr ein Normalzustand, dem nur die „Herbeiführung des wirklichen Ausnahmezustands“[15] entgegengesetzt werden kann. Cooper passt sich deshalb den Bewegungen des Schiffes an, versucht zu begreifen, was passiert und stellt sich der Unmöglichkeit: eine extreme Belastung. Dass die Auseinandersetzung mit der Repräsentation an die Grenzen und sogar darüber hinausgeht, sehen wir in der Szene, wenn die beiden Hauptfiguren der Ohnmacht nah sind. Kein Mensch kann sich dieser Aufgabe allein entgegenstellen, da die meisten Menschen in der Regel keine fiktiven potenten Hollywoodhelden sind, daher bleibt es gesellschaftliche Aufgabe, die nur im Verbund angegangen werden kann.

Damit kommen natürlich notwendigerweise viele der Themen zurück aufs Tableau, die mit dem Mutterschiff teilexplodiert sind. Da es in unserer Szene um die ganze Menschheit geht, auch wenn wir sie im Film vor allem als eine US-amerikanische Menschheit erleben, drängt sich beispielsweise das bereits angesprochene Problem des Universalismus auf. Der kontrovers diskutierte Ansatz von Vivek Chibber setzt sich mit den Widersprüchen der europäischen und bürgerlichen Tradition um diesen Begriff auseinander und skizziert seinerseits Vorschläge, wie Universalismus heute zu denken sein könnte. In seinem Buch verfolgt Chibber einen Ansatz in der Tradition von Marx und Engels und schreibt im Kontext seiner Kritik der Postkolonialen Theorie, dass wir es mit zwei Universalismen zu tun haben, die global zu denken sind:

[…] the modern epoch is driven by the twin forces of, on the one side, capital’s unrelenting drive to expand, to conquer new markets, and to impose its domination on laboring classes, and, on the other side, the unceasing struggle by these classes to defend themselves, their well-being, against this onslaught. This dual process encompasses both East and West, thereby binding both parts of the world together in the same global process […], the same universal history.[16]

Damit wird der bürgerliche Gedanke des Universalismus und des Fortschritts, den wir bereits im Manifest als Ausdruck der globalen Durchsetzung der kapitalistischen Verhältnisse gesehen haben, nicht einfach verworfen, vielmehr produziert er abseits seiner ideologischen Heilsversprechen an die Menschheit als einer Menschheit erneut Widersprüche, die eben einen weiteren Universalismus hervorbringen, nämlich den Kampf gegen eben diese globalisierten kapitalistischen Verhältnisse. Diese Aufgabe bleibt also bestehen und steht trotz des rotierenden Schiffes immer noch vor uns.

5. Der Engel der Geschichte und die Trümmer

Kommen wir nun abschließend noch einmal auf den vermeintlichen Normalzustand, der dem Ausnahmezustand vorangegangen zu sein scheint, zurück. Im Film setzen wir diesen Zustand mit dem intakten Schiff gleich, das erst durch die Explosion aus der Bahn geworfen wird. Und dass es in einem Hollywoodfilm eine Auflösung dieser Szene gibt und alles wieder in einen ruhigen Zustand zurückkehrt, müssen wir natürlich als eben die Ideologie begreifen, die etwas Reines, Ursprüngliches behauptet. Ein Zurück zu einer vermeintlich vergangenen Ordnung kann nicht funktionieren, da auch die Maschine nichts Ursprüngliches oder Abgeschlossenes ist. Vielmehr müssen wir uns den umherfliegenden Trümmern und der Maschine stellen und uns nicht irgendwann einfach selbstzufrieden zurücklehnen und sagen: „Ok. We are out of Orbit.“

Denn diese Trümmer fliegen auch uns um die Ohren. Es sind eben die Trümmer, die sich vor Walter Benjamins Engel der Geschichte auftun, die Trümmer einer Katastrophe: „Wo eine Kette von Begebenheiten vor uns erscheint, da sieht er eine einzige Katastrophe, die unablässig Trümmer auf Trümmer häuft und sie ihm vor die Füße schleudert.“ [Hervorhebungen im Original][17] Was bleibt, ist die Wahl zwischen einem unmöglichen Rückzug oder der Konfrontation mit der Möglichkeit und der Notwendigkeit, sich dem Denken, der Geschichte und der Krise zu stellen und auf immer neue Weise die Herausforderung anzunehmen, um handeln zu können und dabei beweglich zu bleiben. Das Schlusswort gebe ich somit auch recht parteiisch unserem Helden und ende mit Coopers Worten: „Initiate Spin!“.


  1. Interstellar, Christopher Nolan, USA u. GB, 2014. Warner Bros. Entertainment Inc. and Paramount Pictures Corporation, 2014. Blu-ray.
  2. Die relevante Szene lässt sich auch bei YouTube finden: https://www.youtube.com/watch?v=a3lcGnMhvsA (Zugriff am 22.02.20).
  3. Spivak, Gayatri Chakravorty: „Can the Subaltern Speak?“, in: Cary Nelson, Lawrence Grossberg (Hg.): Marxism and the interpretation of culture. Urbana 1988, S. 271-313, hier S. 275.
  4. Adorno, Theodor W.: Negative Dialektik, in: Ders.: Gesammelte Schriften. Band. 6. Frankfurt a.M. 2003, S. 7-400, hier S. 151.
  5. Der Begriff des Symbolischen steht im Kontext der drei Ordnungen in der Theorie Lacans. Dabei handelt es sich um das Reale, das Imaginäre und das Symbolische. Das Symbolische steht, grob vereinfacht, für die Gesetze und Strukturen, die im Wesentlichen durch Sprache formuliert sind und die das soziale Leben bestimmen. Das Reale meint in etwa den Bereich, der über das Symbolische hinausgeht und sich der Integration durch das Symbolische entzieht. Im Zentrum der Theorie des Imaginären steht wiederum die Bildung des Ich und die Frage der Identifikation. Keine der drei Ordnungen kann unabhängig von den anderen gedacht werden. (Vgl. Evans, Dylan: Wörterbuch der Lacan’schen Psychoanalyse. Wien 1997, S. 133–136; 228–232; 275–277.)
  6. Vgl. ebd., S. 123 f.
  7. Wir sollten uns an dieser Stelle ins Gedächtnis rufen, dass mit Ideologie mitnichten bloß falsches Bewusstsein gemeint ist. Der Begriff von Ideologie muss in seiner Komplexität umfassender begriffen werden und gedacht werden „als Ausdruck der wirklichen historischen Situation und der in ihr enthaltenen Widersprüche, retardierender und progressiver Tendenzen im Bewußtsein […], mithin als Einheit von Momenten historischer Wahrheit und zugleich Unwahrheit“ (Holz, Hans Heinz: Weltentwurf und Reflexion. Versuch einer Grundlegung der Dialektik. Stuttgart 2005, S. 10).
  8. Engels, Friedrich/Marx, Karl: Manifest der Kommunistischen Partei, in: Marx-Engels-Werke, Band 4, S. 459-493, hier S. 466.
  9. Horkheimer, Max/Adorno, Theodor W.: Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente. Frankfurt a.M. 1988, S. 9.
  10. Marx, Karl: Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, in: Marx-Engels-Werke, Band 1. Berlin 1981, S. 378-391, hier S. 378.
  11. Ebd.
  12. Marx, Karl/Engels, Friedrich: Die deutsche Ideologie, in: Marx-Engels-Werke, Band 3. Berlin 1978, S. 9-530, hier S. 26.
  13. Engels, Friedrich: Anti-Dühring. In: Marx-Engels-Werke, Band 20. Berlin 1975, S. 1-303, hier S. 106.
  14. Benjamin, Walter: „Über den Begriff der Geschichte“, in: Ders.: Gesammelte Schriften, Band I, S. 691-704, hier S. 697.
  15. Ebd.
  16. Chibber, Vivek: Postcolonial Theory and the Specter of Capital. London, Brooklyn, S. 208.
  17. Benjamin: „Über den Begriff der Geschichte“, S. 697.

Schwerpunkt | Die Differenz von Äußerem und Geäußertem – Zum gescheiterten Handeln in Susanne Kennedys Fegefeuer in Ingolstadt

„Fegefeuer in Ingolstadtist ein Stück über das Rudelgesetz und über die Ausgestoßenen“, so Marieluise Fleißer über ihr 1923 verfasstes Stück, das am 25. April 1926 in Berlin uraufgeführt wurde.[1]

Die Protagonisten Roelle und Olga sehen sich aufgrund ihrer Andersartigkeit – der eine aufgrund seines deformierten Äußeren, die andere aufgrund einer ungewollten Schwangerschaft – mit ihrem Ausschluss aus einer radikal religiösen Gemeinschaft in Ingolstadt konfrontiert.

Wie tiefgreifend gesellschaftliche Strukturen Macht auf die in ihnen lebenden Individuen ausüben, zeigt sich in Susanne Kennedys Inszenierung von Fegefeuer in Ingolstadt an den Münchner Kammerspielen aus dem Jahr 2012. Hier wird die Ingolstädter Gemeinde als Tableau von Individuen dargestellt, deren „Gemeinschaft“ in der bloßen Anwesenheit von Körpern besteht. Auf der Bühne lässt sich eine Differenz zwischen Körper und Sprache, zwischen Äußerem und Geäußertem ausmachen. Dadurch wird den Figuren innerdiegetisch und im theatralen Raum ihr In-Erscheinung-Treten und schließlich ihr (politisches) Handeln verweigert.

Die Stimmen aus dem Off

Liest sich Fleißers Text quasi als Konversationsstück[2], in dem die Charaktere „aneinander vorbeireden“, so geht Kennedys Inszenierung einen Schritt weiter, indem sie den Dialog von den erscheinenden Körpern spaltet. Die Spielenden sind einander selten zugewandt, sondern meist frontal zu den Zuschauenden auf der Bühne positioniert. Unterstützt wird dieser statische, fast mannequinhafte Effekt durch das Abspielen des gesamten gesprochenen Textes über Playback. Die Schauspielenden auf der Bühne mimen den Dialog lediglich. Während in Fleißers Stück keine Einheit des Ortes besteht, versetzt Kennedy die gesamte Handlung in ein Interieur, einen geschlossenen, meist hell erleuchteten Raum, der sich nach hinten verengt, mit bloß einer sichtbaren Tür versehen. Diese aber bleibt, zumindest soweit für die Zuschauenden sichtbar, geschlossen. Jene panoptisch anmutende Bühnenstruktur begünstigt ein Gefühl der Aussichtslosigkeit und spiegelt die Situation der beiden Hauptcharaktere Roelle und Olga wider, denen es jeweils nicht gelingt, aus ihrer misslichen und beklemmenden Lage auszubrechen.

Sowohl der Text Fleißers als auch Kennedys Inszenierung sind in Bilder unterteilt. Fleißer folgt dabei einer linearen Erzählstruktur, einer Unterteilung in sechs Bilder, die zeitlich aufeinander folgen. Kennedy jedoch unterbricht diese Erzählstruktur, indem sie kurze, zum Teil absurde Zwischenbilder einfügt. Durch diese Einschübe erhält das Stück einen neuen, sprunghaften Rhythmus. Auf- und Abtritte passieren im Black, akustisch begleitet von industriellem White Noise. Die szenischen Versatzstücke erscheinen durch diese audio-visuelle Unterstützung fragmentarisch. Aufgrund des verwendeten Playbacks, dem Gesprochenem aus dem Off, stellt sich die Frage nach der Beziehung zwischen eben jenem und dem „Vor-Ort“ auf der Bühne, dem „On“. Bettine Menke schlägt in ihrem Text „On/Off“ vor, die Relation der beiden durch einen Schrägstrich zu markieren, der die Schwelle zwischen On und Off beschreibt, die gleichzeitig „scheidet, markiert und […] sich auf die Abscheidung [bezieht].“[3] Schauräume, so Menke, benötigen immer auch andere Räume, bzw. sind durch diese bestimmt. Im Theater gibt es sowohl das reale Off des Backstage, das nicht der Diegesis zugehörig ist, darüber hinaus aber auch ein „innerdiegetische[s] Off, aus dem bereits ‚von innen‘ angeeignetem Außenraum“,[4] z.B. in Form von Botenberichten.[5] Auf- und Abtritte sind hierbei als „Praktiken und Figurationen“ zu denken, die durch Abscheidung „im Passieren“[6] der Schwelle in Form eines „physische[n] und symbolische[n] Akt[s]“[7] eine dramatis persona konstituieren. Aus dieser Bewegung ergibt sich ein doppelter Bezug: Zum einen auf die „Scene, die das Zeigen und Zu-Sehen-Geben ermöglicht“ und zum anderen auf das „obscenae, das konstitutiv Nichtsichtbare“.[8] Der Auftritt sei dabei zugleich raumschaffend und „als Ereignis, als Riss“ zu denken, den Menke in Bezug zur Gründungssituation des Theaters, dem Hervortreten eines Sprechers aus dem Chor, setzt. Diese „theatrale Situation von Sehen und Gesehenwerden“ etabliert sich als „ein Vorkommnis, das […] einen […] Sprecher hervorgebracht haben muss, eine Person, die auftritt, sich als sprechende zeigt.“[9] Das On, „im Innern bestimmt durch den suspendierten Bezug aufs Off“[10], da dieses „akustisch (zuweilen) im von Zuschauern und Akteuren geteilten theatralen Zeitraum ‚Vor-Ort‘ vernehmbar werden darf“,[11] bleibt so immer „an eine Exteriorität“ gebunden. Sie „spaltet, was theatral nie zur ‚Präsenz‘ sich mit sich zusammenschließt“.[12] Der Schrägstrich sei deshalb mitzudenken als die (Re-)Markierung eines „Zwischen“, „das das On selbst durchzieht, es […] auf das Off, das [.] anderswo, zurückbezogen und in sich gespalten sein lässt.“[13] Deshalb sind die dramatis personae „never just on the stage but always somewhere else as well”.[14]

Bei Menke ist die Beziehung On/Off stark an die Zusammenkunft der sichtbar auftretenden und gleichzeitig ‚sich sprechend zeigenden‘ Personen gebunden. Gerade die Bewegung, der nicht abgeschlossene Prozess des Auf- und Abtretens, birgt zudem Grund für die unauflösbare Beziehung zwischen dem Vor-Ort der Bühne und dem Nichtsichtbaren und Gestaltlosen des Off. In der Inszenierung Kennedys erscheinen Körper und Sprache jedoch als strikt getrennte Elemente; die Prozesshaftigkeit der Auf- und Abtritte wird indes verschleiert. Trotzdem lässt sich hier das On/Off ausmachen, wird sogar durch Verwendung des Playbacks, der ständigen Anwesenheit eines „anderswo“ und die Nichtsichtbarkeit der Wege auf die Bühne noch verstärkt. Der Moment des Hervortretens ist so nicht gegeben, eher kommt es zu einem abrupten Anwesend-Sein. Die dramatis personae erscheinen zudem nicht als aktiv Sprechende, sondern sind tatsächlich gespalten in das körperliche „Vor-Ort“ der Bühne und das unkörperliche Gesprochene einer digitalen Tonspur.

Die innerliche Spaltung der Hauptcharaktere findet bereits in der Beziehung des On und des Off einen Ausdruck, der noch radikaler erscheint, sobald man den Ausgangspunkt des Theatertextes als Konversationsstück näher beleuchtet. Peter Szondi schreibt in der Theorie des modernen Dramas kritisch über die Dialoge in Konversationsstücken:

Ist der Dialog im echten Drama der gemeinsame Raum, in dem die Innerlichkeit der dramatis personae [Hervorhebung L.M.] sich objektiviert, so wird er hier den Subjekten entfremdet und tritt als ein Selbstständiger auf. [15]

In der Münchner Inszenierung von Fegefeuer wird durch die Trennung von Körper und Sprache dem Dialog in der Tat eine gewisse Selbstständigkeit eingeräumt. Den Subjekten, den auftretenden Figuren, wird so ein Teil ihres Subjektcharakters entzogen. Es bewegen sich Körper auf der Bühne, während der Dialog gestaltlos im Raum verhallt. „Indem die Konversation zwischen den Menschen schwebt, statt sie zu verbinden, wird sie unverbindlich“,[16] so Szondi weiter. Ohne einen – bei Kennedy wörtlich zu nehmenden – „subjektiven Ursprung […] führt [sie] nicht weiter, geht in keine Tat über […], kann sie keine Menschen definieren.“[17] Dies zeigt sich bereits in der ersten Szene: Nach einer vorgeschobenen kurzen Sequenz , in der Roelle aus dem Black heraus auf der Bühne erscheint und sich mit den Worten „Sie haben gesagt, ich stinke!“ vorzustellen versucht, sind die Zuschauenden dem Black und ohrenbetäubendem Lärm ausgesetzt. Das grelle Licht erhellt den Spielraum von Neuem und in ihm befinden sich nun Olga, ihre Schwester Clementine sowie deren Vater Berotter, jeweils einige Meter voneinander entfernt.

Zur Illustration:

Olga: Du nimmst mich auch in kein Lokal mit.
Berotter: Du kannst nicht reden.
Olga: Du hast mich nicht aufwachsen lassen, wie einen Menschen.[18]

Zum einen zeigt sich hier, was Szondi als „positive Möglichkeit“ des Konversationsstück erkennt, nämlich, dass das Sprechen selbst verhandelt wird, das Reden „aus dem rein Formalen ins Thematische gewendet wird.“[19] Schon implizit in Fleißers Dramentext angelegt, geschieht dies in der Inszenierung auf doppelte Weise, da durch Kennedys ästhetischen Eingriff Olga realiter ‚mundtot‘ gemacht wird.

Zum anderen wird durch das Verschleiern der Auf- und Abtritte, der Bewegung, die Menke als maßgeblich für die Konstitution der dramatis personae beschreibt, Sie Subjektwerdung der Figuren erschwert. Das Erscheinen auf der Bühne aus dem Black wird als „Riss“ sichtbar, allerdings geht sein Prozesscharakter in der Inszenierung verloren. Unterstützt durch die Trennung des „Dialogs“ von den erscheinenden Körpern, scheint es den Figuren innerdiegetisch nicht möglich, aufeinander zu reagieren. Theatral bleibt es ihnen verwehrt, sich als Personen definieren zu können.

Das letzte Bild der Inszenierung, in dem alle Charaktere gemeinsam auf der Bühne versammelt eine Abwandlung des Gebets „Anima Christi“[20] immer aufs Neue aufsagen, in stetig ansteigender Tonhöhe, beschreibt dies zusammenfassend: begleitet von einem immer greller werdenden Licht, bis die Betenden in quietschender Stimme sprechen, das Licht in gleißendem weiß den Bühnenraum erfüllt und schließlich mit einem Blitz und akustischer Unterstützung des White Noise ins Black fällt – dem letzten Aufbegehren einer überhitzenden Maschine ähnlich.

In Trümmern liegt alles: der Dialog, das Formganze, die menschliche Existenz. Aussage eignet nur noch […] dem Sinnlos-Automatischen der Rede […]. Es spricht daraus das Negative eines wartenden Daseins, das der Transzendenz zwar bedürftig, aber nicht fähig ist.[21]

Erscheinen und Handeln

Wie aber verhält es sich mit dem Äußeren, dem In-Erscheinung-Tretender Figuren?

„Was sehen kann möchte gesehen werden; was berühren kann, möchte sich berühren lassen“[22], so Hannah Arendt in Vom Leben des Geistes. Arendt sieht die Welt, in der wir als Menschen existieren, als eine Welt der Erscheinungen und setzt in der erscheinungshaften Welt das Erscheinen dem Sein gleich.[23] Den Lebewesen ist zudem das Bewusstsein eigen‚ dass sie sich selbst gewahr sind und sich selbst erscheinen können. Jeder ist für sich selbst schon Wahrnehmende*r und Wahrgenommene*r und somit „für eine welthafte Existenz gerüstet“.[24] Des Weiteren unterscheidet Arendt zwischen dem Erscheinen und dem So-Scheinen. Letzteres bezeichnet die individuelle Wahrnehmung eines Lebewesens: „Das Scheinen gehört zu der Tatsache, daß jede Erscheinung unbeschadet ihrer Identität von vielen Schauenden wahrgenommen wird.“[25] Jedes Lebewesen ist daher auf eine Umwelt angewiesen, die „seine Existenz anerkenn[t] und erkenn[t].“[26] Der Drang zu erscheinen, das Drängen also, als Wahrnehmende*r auch wahrgenommen zu werden, von dem alle Lebewesen bestimmt sind, findet im Selbstdarstellungsdrang des Menschen, so Arendt, seinen „Höhepunkt“.[27]

Das körperliche Erscheinen reicht aber für ein vollwertiges In-Erscheinung-Treten nicht aus, da es lediglich „einer der Grundbedingungen entspricht, unter denen dem Geschlecht der Menschen das Leben auf der Erde gegeben ist“[28] – der Arbeit. In Vita Activa hebt Arendt neben der Arbeit das Herstellen und das Handeln hervor, wobei sie das Letztere für die menschliche Bedingtheit als Höchstes gewichtet. Jene Grundbedingung des Handelns ist es, die nur aufgrund der menschlichen Pluralität existiert und gleichzeitig ihr Fundament bildet. Handeln findet im „Zwischen“ statt und verweist zum einen auf die Gleichheit und zum anderen auf die Verschiedenheit des menschlichen Seins. Es besteht zudem eine besondere Verwandtschaft des Handelns zur Sprache, da der Mensch nicht nur bloße Bedürfnisse in ihr mitteilt, sondern „immer zugleich sich selbst“.[29] „Sprechen und Handeln“, sagt Arendt, „sind die Modi, in denen sich das Menschsein selbst offenbart.“[30]

Jenes Menschsein ist ferner von der Tatsache bedingt, geboren worden zu sein. Geboren werden – das heißt für Arendt, ein initium zu sein, also wortwörtlich ein Anfang, der, in die Welt geworfen, nicht anders kann, als im menschlichen Zwischenraum Neues zu beginnen, sich vermittels seines Körpers und seiner Sprache in die Welt einzuschreiben und sie gleichsam umzuschreiben, also zum Handeln. Erst dieses Handeln macht das Subjekt aus. Im Fegefeuer jedoch ist den Figuren diese Möglichkeit strukturell verwehrt – sie können gar nicht als handelnde Subjekte in Erscheinung treten, was in der Inszenierung durch die maskenhafte Schminke der Figuren verdeutlich wird: sie sind pure Charaktermasken, die sich innerhalb der gegebenen Strukturen zwar bewegen, sie aber nicht verändern können, und noch radikaler, die sich noch nicht einmal emotional zu ihnen verhalten, auf sie, und sei es nur durch eine Gesichtsregung, reagieren zu können.

Ohne die Möglichkeit zu Handeln geht für Arendt auch das Subjekt selbst, oder eher der Subjektcharakter verloren, die ergo auch nicht mehr aktiv erscheinen kann. Kennedy positioniert die Figuren als sprachlose Individuen im Raum. Als Erscheinende ist ihr Äußeres vom Geäußerten getrennt.

Betrachtet man den Auftritt als „figurative Operation“[31] nach Juliane Vogel und Christopher Wild, wird der auftretenden Person im Moment des Erscheinens auf der Bühne, durch ihr äußeres Erscheinungsbild eine ‚vorläufige Identität‘ zugeschrieben. Alles was ihr Anschaulichkeit verschafft, Kleidung, Haut- und Haarfarbe oder Haltung, fügen sich zu einer „persona ficta“[32] zusammen. In der Inszenierung der Münchner Kammerspiele erscheinen die Figuren plötzlich und meist in größerer Anzahl auf der Bühne. Der Moment des Erkennens, bzw. des Zuordnens wird daher für mich als Zuschauende erschwert. Als Hilfsmittel der Zuordnung sollen hier beispielsweise Kleider dienen. Die Vertreter der streng religiösen Gesellschaft sind in schwarz gekleidet, die Ausgesonderten, Olga und Roelle, erscheinen in weißer Kleidung. Die autoritären gesellschaftlichen Strukturen, die den Subtext in Fleißers Werk bestimmen, spiegeln sich folglich auch im äußeren Erscheinungsbild. Fungiert die Kleidung jedoch als erstes Zeichensystem, mit dessen Hilfe Mitglieder einer Gesellschaft auf basaler Ebene miteinander kommunizieren? Jene Konzepte scheinen bei Kennedys Inszenierung nicht zu greifen.

Äußeres versus Geäußertes?

Zwischen dem Erscheinen der Rollenfiguren in jedem Bild wird dem Zuschauer zwar genügend Zeit gelassen, um die äußere Erscheinung aufzunehmen, um das bloße ‚Wer ist da?‘ zu erfassen; jedoch wird dies im nächsten Schritt durch die Trennung von Gesprochenem und erscheinendem Körper gestört. Die Trennung von Sprache und Körper in Kennedys Inszenierung verweist also auf eine tiefergehende Problematik der Erscheinung sowohl im innerdiegetischen als auch im theatralen Kontext. Im Innerdiegetischen verdeutlicht dieses technische Mittel das Grundsatzproblem aller Charaktere. Ein jeder ringt darum, außerhalb seiner Selbstwahrnehmung zu erscheinen, sich den Mitgliedern der anderen gesellschaftlichen Gruppen als Person erkennbar zu machen, oder um mit Arendt zu sprechen, den Selbstdarstellungsdrang zu befriedigen. Dies bleibt ihnen – und den Zuschauenden – in letzter Konsequenz verwehrt. Man kann schließlich in der Inszenierung hinsichtlich Vogels und Wilds Auftrittstheorie nur von einer fragilen figurativen Operation sprechen.

„Eine Person ist erst dann erfolgreich aufgetreten, wenn sie erkannt, gelesen und anerkannt ist“, so Vogel in ihrem Aufsatz „WHO’S THERE – Zur Krisenform des Auftritts in Drama und Theater.[33] Die Auftritte in Fegefeuer in Ingolstadt können mit dieser Theorie, weitet man den Aspekt des Lesens und des Anerkennens auf die Beziehungen im Stück selbst aus, als gescheiterte bezeichnet werden. Zwar werden Olga und Roelle von den sie umgebenden Personen erkannt, gelingt es ihnen nicht, in ihrer Gänze gelesen und noch weniger anerkannt zu werden.

Ist aber das In-Erscheinung-Treten im theatralen Raum auch ohne Sprache möglich? Beziehungsweise: Warum trennt Kennedy die erscheinenden Körper von ihrer unmittelbaren Sprache? Die Körpersprache ist als das Gestische in der Inszenierung, durch die Anwesenheit der Schauspieler und ihre (wenn auch mechanisch anmutenden, oder choreographierten) Körper gegeben. Aber ist die aus dem eigenen Körper hervorkommende verbale Sprache notwendig, um auf der Bühne zu erscheinen? Das evaluierte Scheitern des aktiven In-Erscheinung-Tretens nach Hannah Arendt reflektiert das Scheitern, sich im gesellschaftlichen Kontext zu etablieren; Roelle und Olga können nicht als an-erkannte Personen bezeichnet werden. Die Zugehörigkeit zur Ingolstädter Gemeinschaft wird ihnen verweigert. Auf der Bühne selbst wird ihr Erscheinen möglich, jedoch nur, indem die Stimmlosigkeit der Figuren die Unmöglichkeit eines stimmlosen Auftretens im öffentlichen Raum und in der Welt selbst verdeutlicht und somit ver-handelt. Als theatrale Situation erhält dies durch die von Menke beschriebene und von Kennedy vertiefte unauflösbare Beziehung des On/Off als ein beständiges Changieren zwischen dem ‚Vor-Ort‘ und dem ‚Anderswo‘ noch größere Gewichtung. Körper und Sprache sind in der Inszenierung gekennzeichnet durch Trennung, Unterbrechung und Spaltung. Und doch existieren sie nicht unabhängig voneinander. Das Interessante, die eigentliche „Handlung“ passiert sowohl im Arendtschen „Zwischen“ als auch im „Zwischen“ des On/Off.

Kennedy gelingt ein interessanter Brückenschlag, der – ob intendiert oder nicht – auch politische Implikationen in sich birgt. Zum einen beweist der Abend, dass auch im Privaten bereits gesellschaftliche Machtstrukturen in uns wirken, dass das im „Zwischen“ stattfindende Handeln also nicht notwendiger Weise private oder öffentliche Erscheinungsräume schafft, sondern dass bereits im Wohnzimmer der Berotters Politisches verhandelt werden kann. Zum anderen zeigt das Trennen von Äußerem und Geäußertem, wie Repräsentation im theatralen Raum behandelt werden kann. Zwar erscheinen die Darstellenden auf der Bühne und repräsentieren die zu spielenden Figuren in dieser Hinsicht; aufgrund der geringen Bewegungsfreiheit und Mimik kommen sie dabei allerdings kaum über das Ausstellen der Repräsentation hinaus.


  1. Fleißer, Marieluise: „Anmerkungen zu Fegefeuer in Ingolstadt“, in: Ingolstädter Stücke. Frankfurt 1977, S. 132.
  2. Vgl.: Szondi, Peter: „Konversationsstück“, in: Ders.: Theorie des modernen Dramas (1880-1959). Frankfurt 1973, S. 87-90.
  3. Menke, Bettine: „On/Off“, in: Vogel, Juliane/ Wild, Christopher (Hg.): Auftreten. Wege auf die Bühne. Berlin 2014, S. 180-188, hier S. 180.
  4. Ebd.
  5. Vgl. ebd., S. 183.
  6. Ebd., S. 180.
  7. Ebd., S. 181.
  8. Ebd.
  9. Ebd., S. 182.
  10. Ebd., S. 185.
  11. Ebd., S. 183.
  12. Ebd., S. 185.
  13. Ebd.
  14. Weber, Samuel: The Incontinent Plot (Hamlet), S. 237, zit. n. Menke: „On/Off“, S. 185.
  15. Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 87.
  16. Ebd., S. 88.
  17. Ebd.
  18. Fegefeuer in Ingolstadt; Regie: Susanne Kennedy, Premiere: 8. Februar 2013, Münchner Kammerspiele, Aufzeichnung: 3sat 2014 (51. Theatertreffen Berlin), Min. 08:15 bis 12:00.
  19. Szondi: Theorie des modernen Dramas,S. 89.
  20. Vgl. https://www.vaticannews.va/de/gebete/seele-christi.html (Zugriff am 24. Februar 2021).
  21. Szondi: Theorie des modernen Dramas, S. 90.
  22. Arendt, Hannah: Vom Leben des Geistes, Bd. 1. München 1979, S. 39.
  23. Ebd., S. 29.
  24. Ebd., S.30.
  25. Ebd., S. 31.
  26. Ebd., S. 31 f.
  27. Ebd., S 30.
  28. Arendt, Hannah: Vita Activa. München 1981, S. 14.
  29. Ebd., S. 165.
  30. Ebd.
  31. Vogel, Juliane/ Wild, Christopher: „Auftreten: Wege auf die Bühne“, in: Dies.: Auftreten, S. 6-20, hier S. 9.
  32. Ebd.
  33. Vogel, Juliane: „ ‚WHO’S THERE?‘ – Zur Krisenform des Auftritts im Drama und Theater“, in: Dies./Wild, Christopher (Hg.): Auftreten, S. 22-37, hier S. 28.

Schwerpunkt | Mensch-Maschine Interaktion im Web 2.0: Ein nie-endendes Spiegelstadium? Über die maschinelle Personalisierung des Internets und dessen Folgen

Filterblase, Suchmaschinenoptimierung, Targeted Advertising. All diese Begriffe sind aus dem Diskurs über den Diskurs im Internet nicht mehr wegzudenken. Gemein haben sie, dass sie die Frage danach stellen, welche Mechanismen der Repräsentation im Internet bestimmen, was gesehen wird und was unsichtbar bleibt. Ausschlaggebend hierfür ist die Personalisierung in Form von ihrerseits personalisierten Algorithmen. Wie Personalisierung durch Algorithmen funktioniert und wie sich das äußerst komplexe Verhältnis von Mensch und Maschine im Internet gestaltet, wird in diesem Aufsatz unter Zuhilfenahme der Theorien von Elena Esposito und Friedrich Kittler zu komplexen algorithmischen Maschinen sowie der Konzeption des Spiegelstadiums durch Jacques Lacan dargestellt. Insbesondere die Wechselwirkungen zwischen Menschen und Maschine sollen hierbei unter die Lupe genommen und die Frage gestellt werden, ob die Verfahren der Personalisierung zu einer automatisierten Radikalisierung des Menschen führen können.

Wie kommuniziert der Mensch mit der Maschine? Virtuelle Kontingenz bei Elena Esposito und das lacansche Spiegelstadium

Für Elena Esposito ist es in ihrem Aufsatz „Zwischen Personalisierung und Cloud: Medialität im Web eine der zentralen Fragen, wie es dazu kommen kann, dass zwei Personen an zwei verschiedenen Computern beim gleichen Suchbegriff im Internet unterschiedliche Ergebnisse erhalten. Sie bemerkt, dass entgegen der früheren Massenmedien das Internet nicht nur im Individuellen personalisiert sei, nämlich durch die Art und Weise in der jedes Individuum es nutzt, sondern auch auf öffentlicher Ebene.[1] Während etwa eine gekaufte Zeitung zwar auf unterschiedliche Arten gelesen oder genutzt werden kann, ist ihr Inhalt, ihre Oberfläche und ihre Struktur etc. mit allen anderen Exemplaren derselben Ausgabe identisch. Für das Internet gilt dies nicht, es unterscheidet sich von Person zu Person, es ist in seiner Struktur flexibel. „Das Medium selbst ist etwas anderes“[2], schreibt Esposito und benennt als einen Grund dafür die Mensch-Maschine-Kommunikation, die sich grundlegend von der Kommunikation Mensch-Mensch unterscheide. Den primären Unterschied sieht sie darin, dass der Computer kein eigenes Bewusstsein und auch keine eigene Kontingenz besitze.[3] Während eine vollzogene menschliche Handlung auch in einer komplett anderen Art und Weise hätte vollzogen werden können, also immer prinzipiell offen und ungewiss und somit kontingent ist, fehlt der Maschine eine eigene Kontingenz, weil ihr Handeln durch ihre eigenen Algorithmen und deren Programmierung determiniert ist. Zwar hätten die Maschinen auch ihre eigene Evolution simuliert, durch verschiedenste Operationen eingeständig ihre Programme verändert und somit den Eindruck von Unberechenbarkeit evoziert. Jedoch sei die Unberechenbarkeit selbst der besten selbstlernenden Algorithmen wiederum erwartet und vorgesehen, domestiziert.[4]

Kommunizieren zwei Menschen miteinander, bezeichnet Esposito deren Kommunikation als doppelt kontingent und die Kommunizierenden als Blackboxes. Beide Kommunikationsteilnehmenden seien nämlich insofern als kontingent zu bezeichnen, als dass sie jeweils ein eigenes Bewusstsein besäßen und sich frei verhalten könnten, dabei aber auch wüssten, dass dies ebenso für ihr Gegenüber gilt.[5] Sie beschreibt es wie folgt: „Doppelte Kontingenz bedeutet endlose Unsicherheit in dem Verweis zwischen Beobachtungsperspektiven, die einander ewig widerspiegeln“[6]. Beide denken und handeln also frei, wissen aber, dass dies für ihr Gegenüber ebenso gilt und passen ihr Handeln an ihr Gegenüber an, ohne aber wissen zu können, was es denkt. Sie wissen aber auch, dass ihr Gegenüber sich in der identischen Situation wie sie selbst befindet und ihr eigenes Handeln ebenfalls reflektiert. Daraus ergibt sich dieFormulierung des ewigen Widerspiegelns, aus dem eine endlose Unsicherheit resultiere.

Kommuniziert aber ein Mensch anstatt mit einem Menschen mit einer Maschine, ändere sich die Form der Kommunikation grundlegend. Die Maschine, die also kein Bewusstsein und keine eigene Kontingenz hat, ernährt sich, so Esposito, von der Kontingenz des Menschen und stellt sie ihm in überarbeiteter, nicht vorhersehbarer und überraschender Form wieder dar.[7] Entgegen künstlicher Intelligenzen, deren Vorrat an Informationen endlich seien, sei das Verhalten der Maschine unvorhersehbar, da es die unerschöpfliche Varietät des Verhaltens und der Perspektive des jeweiligen Individuums absorbiere und reflektiere. Die Maschine simuliere also eine doppelte Kontingenz, aber in Wirklichkeit kommuniziere das Individuum in einer nicht erkennbaren und überraschenden Form mit sich selbst. Esposito spricht infolgedessen von einer virtuellen Kontingenz der Maschine, die aber auf eine originäre Kontingenz angewiesen sei, in der sie sich reflektiert. Von daher sei auch die Varietät der virtuell kontingenten Maschine unendlich, weil die Kontingenz des Menschen, die sie verarbeitet und reflektiert, unendlich ist.[8] Die Maschine liest das Individuum und dessen Kontingenz aus, verarbeitet sie, verformt sich und entwickelt sich selbst weiter. Esposito vergleicht die Funktionsweise der Maschine mit der eines Einwegspiegels für das Individuum.[9]

Diese Spiegelmetaphorik ruft Jacques Lacans Konzept des Spiegelstadiums ins Gedächtnis. In seinen Écrits schreibt Lacan über die Subjektwerdung eines sechs Monate alten Kindes, das sich selbst vor dem Spiegel erblickt. Es befindet sich noch in einem Stadium der sich ausbildenden motorischen Entwicklung, steht noch in einem Lauflerngerät vor einem Spiegel, aber als es das eigene Spiegelbild erblickt, erkennt es sich wieder. Es erkennt sich jedoch selbst als eine Urgestalt, ein Ideal-Ich und freut sich über die wahrgenommene Vollkommenheit des Spiegelbilds. Das Kind, das in Wirklichkeit nicht so vollkommen ist, weil es sich körperlich noch in einem frühen Entwicklungsstadium befindet, verkennt sich und identifiziert sich mit der Gestalt im Spiegel. Es erlebt sich in einer Ganzheit und lernt das eigene, noch sehr chaotische Innen von dem Außen, der Umwelt, zu unterscheiden. Lacan skizziert den Weg des Kindes vom zerstückelten Körper zur Vollkommenheit seiner Gestalt, woraus sich eine Struktur ergibt, die die gesamte spätere Entwicklung des Kindes prägen wird.[10] Lacanbeschreibt mit seinem Konzept den ersten Moment der Subjektwerdung. Dieses kann aber auch produktiv auf das Verhältnis von Mensch und Maschine im Internet angewendet werden.

Friedlich Kittler über den Linear Prediction Code und Erfassungsalgorithmen im Internet

Ein Mensch ist online, er sucht in einer Suchmaschine nach Begriffen, besucht verschiedene Websites, kauft in Online-Shops ein usw. Jede Aktion, die er im Internet ausführt, ist gleichzeitig auch eine Selektion und mit jeder Aktion, die er ausführt, generiert er Informationen und Daten. Die so erzeugten Daten werden im Zeitalter von Big Data gespeichert und durch Algorithmen ausgewertet und analysiert. Die Daten der Benutzer*innen werden von den Algorithmen kombiniert sowie multipliziert und gewinnen daraus eine Art Logik, die sie auf das gesamte Netzwerk anwenden. Je zahlreicher die Selektionen sind, so schreibt Esposito, desto raffinierter werde die resultierende Logik.[11]

Diese Feststellung Espositos taucht bereits in Friedrich Kittlers Beschreibung des Linear Prediction Codes in seinem Aufsatz „Fiktion und Simulation“ auf.[12] In diesem Aufsatz beschreibt Kittler die Konzeption des Linear Prediction Codes durch den Mathematiker Norbert Wiener, der gemeinhin als Vater der Kybernetik gilt. Dieser sei anlässlich der im Jahre 1940 befürchteten anstehenden Luftschlacht um England im zweiten Weltkrieg beauftragt worden, eine mathematische Möglichkeit zu entwickeln, mit der die Flakgeschütze automatisch die korrekte Position des feindlichen Flugzeugs anvisieren, um die als zu langsam geltenden Bedienungsmannschaften der Flakgeschütze zu überspielen. Damit eine automatische Zielerfassung gelinge, müssten die Geschütze nicht auf die gegenwärtige, sondern die korrekte zukünftige Position des Flugzeugs zielen und dabei physikalische Gesetze sowie mögliche taktische Manöver der feindlichen Piloten einberechnen. Hier komme der Linear Prediction Code ins Spiel. Er taste vergangene Positionen des Flugzeugs ab und speichere sie zwischen. Diese würden dann mit vorerst willkürlichen Koeffizienten multipliziert und die daraus entstehenden Produkte rekursiv akkumuliert, woraus ein Schätzwert für die zukünftige Position entstehe. Jener sei mit Sicherheit noch fehlerhaft, werde aber mit der nächsten Abtastung im Realen verglichen, woraufhin der Algorithmus das kleinste Fehlerquadrat ermittele und auf dieser Basis die vorherigen Koeffizienten nachstelle.[13] Das bedeutet, dass jede weitere Abtastung den Schätzwert präzisiert. Aufgrund der immensen Rechengeschwindigkeit des Computers geschehe dieser Vorgang in Wiederholung im Mikrosekundentakt.[14] Somit seien die Flugzeuge mit ihrer sehr endlichen Beschleunigung dem „Orakel“[15] Linear Prediction Code ausgeliefert.[16]

Kittlers Darstellung einer algorithmisierten automatischen Zielerfassung anhand des Linear Prediction Codes gleicht strukturell modernen Erfassungsalgorithmen des Internets. Sollte der Linear Prediction Code im Zweiten Weltkrieg noch auf deutsche Flugzeuge zielen, zielen moderne Algorithmen im Internet auf die User*innen. Ähnlich dem Linear Prediction Code tasten die Algorithmen die Nutzer*innen und deren Daten ab und generieren daraus neue Vorhersagen. Dass diese fehlerbehaftet sind, spielt insofern keine Rolle, als bei deren nächster Aktion schon eine neue Abtastung und Berechnung stattfindet und das Ergebnis immer präziser wird.

Der Algorithmus, der den Menschen erfassen will, egal ob in einem deutschen Kampfflugzeug im zweiten Weltkrieg oder als User*in im Netz, wird ihn somit verfehlen. Aber dies ist unbedeutend, denn bereits die Abtastung der nächsten Position des Flugzeugs, der nächsten Aktion der Nutzer*innen im Web, ist präziser als die vorherige. Sie mag wiederum auch fehlerbehaftet sein, doch die nächste Abtastung steht bereits bevor usw. Die Maschine lernt fortwährend aus dem Menschen und präzisiert sich. Es ist ein konstantes Erkennen und Verkennen. Ein nie-endendes Spiegelstadium. Denn der Mensch erscheint der Maschine als das Ideal im Spiegel, das Spiegelbild, das sie versucht zu erreichen, aus dem sie lernen und sich selbst modifizieren soll. Das Ergebnis ist dabei keine Subjektwerdung in dem Sinne, dass der Algorithmus ein eigenes Bewusstsein entwickelt. Die Maschine jubiliert nicht vor dem Spiegel. Auch ist sie kein Doppelgänger der User*innen. In den Worten Espositos ist sie nur virtuell kontingent.[17] Eine raffinierte responsive Verarbeitung der Daten der User*innen. Dadurch wird sie individuell, denn wieEsposito bereits darlegte, speist sich die Varietät der virtuellen Kontingenz aus der Varietät der menschlichen Kontingenz, ist also unendlich.[18]

Zusammengefasst erschafft die unendliche menschliche Kontingenz die unendliche virtuelle Kontingenz. Der personalisierte Algorithmus schmiegt sich an seine User*innen an und entwickelt sich in einem ewigen Erkennen und Verkennen, einer ewigen Aktualisierung der Identifikation weiter. Es ist das konstante maschinelle Spiegelstadium, welches das Internet in seiner Struktur personalisiert. Aus der Individualität des Menschen formt die Maschine die individuelle Nutzungserfahrung und Struktur des World Wide Webs, der sozialen Medien etc.

Folgen der Personalisierung: Targeted Advertising, Suchmaschinenoptimierung, Filterblasen, etc.

Die Folgen dieser Personalisierung sind weitreichend: Targeted Advertising, also der Versuch, Werbung an die Zielperson anzupassen, um zielgerichtet Waren zu verkaufen, ist ein weitbekanntes Beispiel. Der Kauf beispielweise einer Kaffeemaschine in einem Online-Shop kann dazu führen, dass dem/ der Käufer*in in Folge eine Werbung für Kaffeetassen eingeblendet wird.

Komplexer ist das Beispiel der Suchmaschinenoptimierung. Hier sollen mithilfe von Daten von Nutzer*innen einerseits Suchergebnisse für die jeweiligen Nutzer*innen personalisiert gelistet werden, um diesen solche Ergebnisse zu liefern, die sie auf Basis vorheriger Suchen wahrscheinlich interessieren werden. Andererseits versuchen Webseiten und Konzerne ebenfalls mithilfe der Daten der Nutzer*innen in den Page-Rank-Algorithmen der Suchmaschinen höher gelistet und somit sichtbarer zu werden. Das Beispiel der Suchmaschinenoptimierung verdeutlicht, dass die Personalisierung im Internet auf der einen Seite als eine Lösung erscheint, mit der enormen Menge an Daten und Inhalten im Internet umzugehen und aus ihr sogar zu profitieren, da mehr Daten eine präzisere Weiterentwicklung der Algorithmen bedingen. Auf der anderen Seite ist sie aber auch ein Werkzeug inmitten eines kommerziellen und aufmerksamkeitsökonomischen Wettbewerbs.

Die wohl am kontroversesten diskutierte Konsequenz der Personalisierung ist jedoch die Filterblase. Das Konzept wurde von Eli Pariser geprägt und beschreibt das Problem, dass Nutzer*innen durch die Personalisierung des Internets nur noch mit Inhalten konfrontiert würden, die ihren eigenen Ansichten entsprächen. Laut Pariser stellen sich Internet und Suchmaschinen wie Google als objektive und neutrale Vermittler dar, während sie in Wirklichkeit personalisierte Informationen liefern, die die User*innen in ihrer Weltsicht bestätigen. Diese würden aber nicht merken, dass sie mit ihrer eigenen Sicht konfrontiert werden und nehmen diese als eine objektive Information wahr. All die Informationen, die ihren Ansichten widersprechen würden, würden ihnen nicht angezeigt; es finde keine Konfrontation mehr mit opponierendem Gedankengut statt.[19] Pariser schreibt: „The personalized environment is very good at answering the questions we have but not at suggesting questions or problems that are out of our sight altogether“[20]. Das personalisierte Internet kann nur Fragen beantworten, die vorher gestellt wurden, aber keine eigenen Fragen aufbringen. Auf den Punkt gebracht, befinden sich nach Pariser die User*innen intellektuell isoliert in ihrer eigenen Blase, ohne dies zu bemerken.

Hier wird deutlich, dass in der Kommunikation Mensch-Maschine auf beiden Seiten Spiegelungen stattfinden. Wie bereits dargestellt, lernt die Maschine aus dem Menschen, passt sich ihm an und wird dabei selbst zu einer nach spezifischen, z.B. ökonomischen, Maßgaben gefertigten Reflexion des Menschen. Tritt dieser nun in Kommunikation mit der Maschine, kommuniziert er in Wirklichkeit also mit einer veränderten Form seines Selbst, ohne dies zu wissen. Er denkt also, dass die Beiträge und Postings, die ihm zum Beispiel in sozialen Medien angezeigt werden, auch den anderen dort aktiven Nutzer*innen gezeigt werden und somit objektiv sowie repräsentativ und nicht bloß personalisiert sind. War er zuvor beispielsweise auf rechtsextremen Webseiten unterwegs, werden ihm die Algorithmen wahrscheinlicher rechtsextreme Inhalte in seinem Newsfeed anzeigen oder in sozialen Netzwerken Menschen mit einer ähnlichen Weltanschauung als Freunde vorgeschlagen. Opponierende Positionen werden ihm immer weniger angezeigt werden und er sich in seiner Weltsicht immer weiter bestätigt fühlen. Der Mensch prägt somit nicht nur die Maschine, die Maschine prägt auch den Menschen, indem sie seine bereits vorhandenen Ansichten bestätigt und amplifiziert. Er spiegelt sich in der Maschine und ohne es zu merken, sieht er letztlich sich selbst. Da die gegenseitigen Spiegelungen von Mensch und Maschine endlos weiterverlaufen, ergibt sich daraus eine Art Teufelskreis. Der Mensch, der sich zuvor durch die Maschine in seiner Ansicht bestätigt gefühlt hat, wird infolgedessen Daten produzieren, die noch stärker dieser eingeschlagenen Richtung entsprechen. Die Maschine wiederum wird ihm dann Inhalte anzeigen, die ihn noch weiter darin bestätigen usw. Dieses endlose Resonieren der gegenseitigen Spiegelungen sorgt dafür, dass die Menschen die Ansichten, die sie zuvor bereits vertraten, im Internet immer mehr extremer vertreten werden. Algorithmisierte Personalisierung würde somit auch automatisierte Radikalisierung bedeuten.

Doch bleibt es wichtig zu betonen, dass die angezeigten Inhalte, mit dem die Maschinen die Nutzer*innen konfrontieren, letztlich immer auf den Interpretationen der Maschine basieren. Durch die selbstlernenden Algorithmen hat sich die Art und Weise der Interpretation verselbstständigt. Nach welch allen Kriterien beispielweise Google Suchergebnisse auflistet und wie es User*innen analysiert, ist aufgrund dessen selbstlernender Algorithmen im Detail kaum noch nachzuvollziehen. In Anbetracht des zuvor erwähnten Teufelskreises, in dem sich Mensch und Maschine gegenseitig beeinflussen und radikalisieren, muss die Annahme in Frage gestellt werden, dass die Maschine durch ihr fortwährendes Er- und Verkennen ihr Ziel, den Menschen/ das Flugzeug, exakt erfassen kann. Denn das automatisierte Geschütz, welches auf das Flugzeug zielt, manipuliert seine eigenen Berechnungen, weil es das Flugzeug abschießt. In dem Moment, in dem das Flugzeug abstürzt, verlieren die bisherigen Kalkulationen über dessen Flugverlauf ihre Gültigkeit. Trifft der Algorithmus im Internet sein Ziel, stürzt es nicht ab, es wird eine noch extremere Flugbahn einschlagen. Die Maschine, die den Menschen im Internet erfassen will, kann an keinem endgültigen Ziel angelangen, weil sie es selbst immer weiter verschiebt.

Hinzu kommt der Aspekt, dass die Maschinen nicht nur die Daten eines einzelnen, sondern die vieler Menschen prozessieren. Diese schlagen sich ebenfalls in dem Inhalt wieder, der dem/der Einzelnen angezeigt wird. Suchergebnisse, die allgemein populär sind, werden ihm/ihr eher präsentiert werden. Besonders kritisch wird dies in Anbetracht von Gruppierungen, die bewusst versuchen die Sichtbarkeit von Inhalten auf Plattformen zu manipulieren. Ein gut erfasstes Beispiel hierfür ist die konservative bis rechte Gruppierung der Digg Patriots, die Christopher E. Peterson in seiner Arbeit „User-Generated Censorship: Manipulating the Maps of Social Media“ analysiert. Die Patriots agierten in den 2000er Jahren auf dem sozialen Netzwerk Digg und gingen wie folgt vor: „The Patriots evaluated their impact by straightforward metrics: they wanted conservative posts to ‚pop‘ (rise to the front page) and liberal posts to be ‚buried‘ (sunk deep in the rankings)“[21]. Ziel der Digg Patriots war es also, ihnen genehme Inhalte auf die Digg Hauptseite zu befördern und unliebsame Inhalte in den Untiefen der Plattform zu ‚versenken‘. Peterson beschreibt ihr Selbstverständnis so, dass sie ihr Handeln als eine Art Kampf gegenüber einem liberalen und zahlenmäßig überlegenen Feind verstanden haben, den sie aber mit gutem Vorgehen bezwingen könnten, um Digg allgemein konservativer werden zu lassen.[22] Spannenderweise geht Peterson auch auf das Verhältnis der Patriots zu den Algorithmen auf Digg ein. Die Algorithmen seien für sie gleichermaßen Quellen der Faszination als auch der Frustration. Wenn etwa konservative Postings, die sie stark unterstützt hätten, entgegen ihrer Erwartung doch nicht auf der Hauptseite landeten, unterstellten sie dem Algorithmus nicht zu funktionieren oder durch liberale Entwickler manipuliert worden zu sein. Waren sie wiederum erfolgreich, verstanden sie den Algorithmus als ihr Werkzeug, dass sie umfunktioniert hätten.[23] Für die Digg Patriots stellte der Algorithmus, den sie manipulieren und ausnutzen wollten, eine Art konstantes und ambivalentes Mysterium dar. Dies unterstreicht einerseits wieder, wie schwer die genauen Funktionsweisen und Koordinatensysteme der Algorithmen nachzuvollziehen sind. Anderseits verdeutlicht das Beispiel der Digg Patriots als Ganzes, dass das Verhältnis Mensch-Maschine noch durch eine weitere schwer zu fassende Kategorie ergänzt werden müsste, nämlich durch die Mehrheit, bzw. was sich erfolgreich als Mehrheit darstellt. Wären die Digg Patriots erfolgreich gewesen und hätten die Front Page von Digg komplett mit konservativen Inhalten gefüllt, hätten sie tatsächlich suggerieren können, eine Mehrheit zu sein und somit beispielsweise politisch Unentschlossene, die die Front Page besuchen, zu ihren Gunsten beeinflussen können. Besuchen diese dann noch die dortigen konservativen Inhalte, würden die Algorithmen ihnen in Zukunft häufiger solche Inhalte vorschlagen und die zuvor beschriebenen Rückkopplungseffekte zwischen Mensch und Maschine in Kraft treten.

Fazit

Es ist das Dreieck aus Mensch, Maschine und (vermeintlicher) Mehrheit, welches das personalisierte Internet formt und bestimmt, wer welche Inhalte auf welchen Seiten sieht. In konstanten maschinellen Spiegelstadien beeinflussen die Menschen und Maschinen sich gegenseitig. Während die Maschinen durch ihre virtuelle Kontingenz lediglich eine eigene Kontingenz vortäuschen, konfrontieren sie die User*innen mit sich selbst. Doch ist die exakte Arbeitsweise der selbstlernenden Algorithmen kaum noch nachzuvollziehen und somit unklar wie die Einflussverteilung zwischen persönlichem Verhalten und dem Verhalten der Mehrheit auf die persönlichen Ergebnisse aussieht. Die Fragen bleiben offen, wie das persönliche Verhalten und die (vermeintliche) Mehrheit zusammenspielen, welcher Faktor davon dominanter ist, wie es sich von Plattform zu Plattform unterscheidet, wie schwer oder einfach es ist die Algorithmen zu manipulieren etc. Erkennbar hingegen ist, dass die Personalisierung durch Algorithmen eine Radikalisierung der Ansichten der Internetnutzenden befeuert und dass sie insbesondere im Zusammenspiel mit den Daten der (vermeintlichen) Mehrheit den Repräsentationsmechanismus des Internets darstellt, der bestimmt, was sichtbar wird. Und hier gilt: Was unsichtbar ist, wird auch unsichtbar bleiben. Aber was bereits sichtbar ist, wird noch sichtbarer werden, vielleicht sogar ‚viral gehen‘.


  1. Vgl. Esposito, Elena: „Zwischen Personalisierung und Cloud: Medialität im Web“, in: Engell, Lorenz/Voss, Christiane/Hartmann, Frank (Hg.): Körper des Denkens. München 2013, S. 231-253, hier S. 239.
  2. Esposito: „Zwischen Personalisierung und Cloud: Medialität im Web“, S. 239.
  3. Vgl. Ebd., S. 244.
  4. Vgl. Ebd., S. 224 f.
  5. Vgl. Ebd., S. 244.
  6. Ebd., S. 244.
  7. Vgl. Ebd., S. 244 f.
  8. Vgl. Ebd., S. 245-248.
  9. Vgl. Ebd., S. 247.
  10. Vgl. Lacan, Jacques: Schriften 1. Wien/Berlin 2016, S. 109-115.
  11. Vgl. Esposito: „Zwischen Personalisierung und Cloud: Medialität im Web“, S. 248.
  12. Vgl. Kittler, Friedrich: „Fiktion und Simulation“, in: Barck, Karl-Heinz et al. (Hg.): Aisthesis. Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik. Leipzig 1990, S. 196-213, hier S. 206 f.
  13. Vgl. Ebd., S. 206.
  14. Vgl. Ebd., S.206 f.
  15. Vgl. Ebd., S. 207.
  16. Vgl. Ebd., S. 206 f.
  17. Vgl. Esposito: „Zwischen Personalisierung und Cloud: Medialität im Web“, S. 246.
  18. Vgl. Ebd., S. 245-248.
  19. Vgl. Pariser, Eli: The Filter Bubble. How the new personalized Web is changing what we read and how we think. New York 2011, S. 10 und 88-91.
  20. Ebd., S. 91.
  21. Peterson, Christopher E.: User-Generated Censorship: Manipulating The Maps Of Social Media. Massachusetts 2013, S. 22.
  22. Vgl. Ebd. S. 19.
  23. Vgl. Ebd. S. 27.

Schwerpunkt | Et chorus doloris – Überlegungen zur sadistischen Triebzeitlichkeit

Am Anfang einer jeden Überlegung steht ein Problem, das sich aufdrängt, das gelöst werden will. Eine Frage, die nach Antwort strebt. Eine Frage, die, auf der Suche nach ihrer Antwort, weitere Fragen nach sich zieht. Eine Kette von Erotema. Meine Überlegungen kreisen an dieser Stelle um das Verhältnis zwischen Trieb und Zeit bezogen auf das Phänomen des Sadismus. Dieses seltsame Spiel von Lust und Schmerz, das auf den ersten Blick so einfach und eindeutig scheint. Doch dessen Regeln sich bei genauerem Hinsehen als immer komplexer herausstellen.

Wo aber liegt der Moment, der mich aufhorchen lässt? Irgendwo in Freuds Triebtheorien, also zwischen Triebschicksal und Jenseits des Lustprinzips? Oder in Deleuzes Studie zu Leopold von Sacher-Masoch und seinen Frauen aus Marmor und Pelz? Doch nicht etwa im Trieb- und Affektleben für Ärzte und Kriminalogen[1], die auf der stetigen Suche nach der Perversion sind? Nein, ich finde ihn bei Laura Mulvey in der Visuellen Lust am narrativen Kino. Oder besser: ich stolpere über eine Formulierung, während ich durch Mulveys Text hindurch der Entstehung des männlichen Kinoblicks folge und gleichzeitig versuche, der drohenden Kastrationsangst, welcher das narrative Hollywoodkino die Zuschauenden mittels seiner Blickstrukturen aussetzt, durch den sadistischen oder fetischistischen Modus zu entkommen.[2] Über ersteres schreibt Mulvey: „Sadismus benötigt eine Story, ist darauf angewiesen, daß etwas passiert, daß eine Person sich ändert, daß ein Kampf über Willen und Stärke stattfindet, mit Sieg und Niederlage, in einer linearen Zeit, die Anfang und Ende hat“[3]. Hier liegt der Stolperstein, der Anstoß meiner Idee. Es ist nur ein kleiner Einschub, den man allzu schnell überliest, an dem ich aber hängen bleiben muss, der alles in Gang setzt. „[…] [I]n einer linearen Zeit […]“, ist an dieser Stelle der semantische Stolperstein, welcher meinen gewohnten Lesefluss durcheinander geworfen hat, mich innehalten ließ und die hier zugrundeliegenden Fragen ermöglicht: Hat Sadismus auch eine von der Story unabhängige Zeitlichkeit? Und wenn ja: Ist sie wie die Story linear organisiert?

Mulvey gibt mir darauf keine Antwort. Denn ihr geht es um die Analyse von Blickstrukturen und der damit verbundenen Narrationsmodi im Film. Dieser Fokus ermöglicht es, zugrundeliegende Machtverhältnisse zwischen Geschlechtern in visuellen Medien greifbar und somit auch kritisierbar zu machen. Durch die enge Verknüpfung von Sadismus und Story, welche Mulvey für ihre Argumentation vornimmt, definiert sie Sadismus über „die Zuschreibung von Schuld“[4] und der daraus resultierenden Strafe. Hier ist Sadismus vor allem Vehikel, um der Kastrationsdrohung zu entkommen, die durch die Frau auf der Leinwand ausgelöst wird. Die Frau, als Signifikant der „Abwesenheit eines Penis“[5] ist „materielle Evidenz des Kastrationskomplexes“[6], dessen Trauma erneut durchlebt werden muss. Mithilfe sadistischer Artikulationen, wie „Abwertung, Bestrafung [aber auch] Rettung des schuldigen Objekts [der Frau]“[7] wird eine Lusterfahrung gewährleistet. Das Zuschauersubjekt „sichert [sich] die Kontrolle“[8] und muss nicht länger in den Abgrund der „blutenden Wunde“[9] starren. Bei Mulvey ist Sadismus Handlung woraus die feste Verknüpfung mit der Story resultiert. Aber sind Abwertung und Bestrafung nicht eigentlich nur Formen der Repräsentation von Sadismus, Veräußerlichungen eines inneren Bedürfnisses?

Geht es nicht viel mehr um die Freude am Schmerz des Anderen? Um das „Machtgefühl bei der Überwindung des fremden Widerstands“[10]? Ein Mehr, was über die Gewalt hinaus reicht, nach Innen reich?

Der Reigen der Erotema drängt also danach, fortgeführt zu werden, drängt sich mir auf, zu fragen: Was ist denn dann Sadismus, wenn nicht einfach nur gewaltförmige Handlungen, die durch eine linear in der Zeit verlaufende Story organisiert sind?

Mit der Frage nach dem Wesen des Sadismus hat sich auch die Psychopathologie des beginnenden 20. Jahrhunderts beschäftigt und verortet ihn in den Störungen des Trieb- und Affektlebens. Im Zusammenhang mit diesen Phänomenen menschlicher Sexualität erforschte der Psychoanalytiker Wilhelm Stekel anhand von Fallgeschichten die Natur des Sadismus. Zu Beginn seiner Begriffsbestimmung stellt Stekel fest, dass „[e]ine irrtümliche Auffassung des sado-masochistischen Komplexes […] des Schmerz in den Mittelpunkt der Betrachtung [stellte] und […] sich mit dem Phänomen der Schmerzlust [beschäftigte]“[11]. Aber was ist dann der Mittelpunkt des Sadismus, wenn nicht der Schmerz und das Leid des Anderen? Stekel stellt die Bedeutung des Affekts für sein Sadismusverständnis prominent heraus: Es ist nicht die Tatsache des Schmerzes, der die sadistische Handlung ausmacht, sondern ihre affektive Aufladung.[12] Um genau zu sein, ist es die Aufladung durch einen Affekt, der in der persönlichen Vergangenheit zu finden ist und nur aktualisiert wird. „Der Affekt wird an einer veränderten Szene erlebt, aber er gestattet die Identifizierung mit der spezifischen Urszene der Vergangenheit“[13]. Diese Identifizierung ist es, welche sowohl die sadistische als auch die masochistische Lusterfahrung ermöglicht. Durch diese analeptische Konfiguration des sado-masochistischen Komplexes, also die Rückbeziehung auf einen immer schon vergangenen Affekt, lässt sich dieser als Infantilismus identifizieren. „Der Sado-Masochist ist ein Kind, er weicht dem Problem Mann oder Weib durch eine Flucht in die Kindheit aus“[14]. Die sado-masochistische Vorstellung ist also präödipal, noch vor jeder Kastrationsangst anzusiedeln und versucht nicht proaktiv, diese Angst zu überwinden. Im Gegenteil, es wird versucht, Ödipus gänzlich zu vermeiden, indem ein Zustand wiederhergestellt werden soll, der vor der Erkenntnis von Mann und Frau liegt. Der sado-masochistische Komplex ist also im Kern durch und durch regressiv – nur oberflächliche Linearität auf der Handlungsebene. Aber auf psychischer Ebene wird es komplizierter, wenn der Affekt aus der Vergangenheit in die Gegenwart sickert, um in erneuter Aktualisierung Befriedigung für Vorstellungen zu finden, die schon vergangen sind.

Was genau wird jedoch im psychoanalytischen Kontext, unter Affekt und Vorstellung verstanden? Eine weitere Drehung im Reigen der Fragezeichen. Affekt und Vorstellung sind zwei Ebenen auf denen sich Triebe artikulieren können.[15] Dabei ist der Affekt als qualitative Äußerungsform der Quantität an Triebenergie zu verstehen.[16] Die Vorstellung hingegen ermöglicht es dem Trieb eine psychische Repräsentanz zu finden, in dem „sich der  Trieb im Laufe der Geschichte des Subjekts [an Vorstellungen] fixiert und [dadurch][…]in das Psychische niedergeschrieben wird “[17]. Die sadistische Vorstellung, welche ihren Ausdruck in gewaltförmigen Handlungen finden kann, ist selbst also psychische Repräsentation von etwas tiefer Liegendem: dem Trieb.

Hinter der Handlung und dem Affekt befindet sich eine noch tiefere Ebene, die für Mulveys Überlegungen nicht weiter relevant ist – für meine Gedanken jedoch schon, will ich doch die zeitliche Struktur des Sadismus besser verstehen. Ein Blick in ein ideengeschichtliches Früher, hilft mir über den Affekt hinaus zum Trieb vorzustoßen, der dem Sadismus zu Grunde liegt. Hier stoße ich auf Freud und die Ursprünge psychoanalytischer Theoriebildung. Auch schon die frühe Psychoanalyse beschäftigt sich mit dem Problem des Sadismus. So definiert Das Vokabular der Psychoanalyse den Sadismus wie folgt:

[als] [s]exuelle Perversion, bei der die Befriedigung an das dem anderen zugefügte Leiden oder an dessen Demütigung gebunden ist. Die Psychoanalyse erweitert den Begriff des Sadismus über die von den Sexualforschern beschriebene Perversion hinaus, indem sie zahlreiche verhüllte Manifestationen,[…], darin erkennt und eine der grundlegenden Komponenten des Sexuallebens daraus macht.[18]

Auch laut Mulvey erzeugt der Sadismus Lust, jedoch führt die explizite Rückbindung des Sadismus an die Sexualität, welche sowohl die Psychoanalyse als auch Psychopathologen wie Krafft-Ebing[19] oder Havelock Ellis[20] vorgenommen haben, diese Überlegung ein gutes Stück weiter. Denn dem psychoanalytischen Verständnis von Sadismus zufolge, lässt er sich aus der reinen Symptomatik und den Handlungen herauslösen und wie bei Freud als struktureller Teil der grundlegenden Sexualorganisation des Menschen verstehen. Hier finden sich die Überlegungen zu Triebstrukturen wieder, welche laut der Psychoanalyse nicht nur die Sexualität, sondern auch die restliche seelische Organisation des Menschen konstituieren. Wird Sadismus als fester Teil der menschlichen Sexualität verstanden, dann muss auch er diesen Strukturen unterliegen. Das Wesen des Sadismus ist also mehr als nur die, zum Lustgewinn ausgeübte, schmerzerzeugende Handlung am Anderen, oder eine affektiv aufgeladene infantile Vorstellung. Er ist Manifestation einer spezifischen Trieborganisation des Subjekts. Der aggressive Sexualtrieb, welcher den Sadismus augenscheinlich gebiert[21], hat wie alle Triebe ein Objekt und ein Ziel, die durch das Drängen des Triebs miteinander verknüpft sind.[22] Augenscheinlich sind die gewaltförmigen Handlungen der Versuch das dem  Sadismus zugrunde liegende Triebziel am Triebobjekt, welches in diesem Fall der Andere ist, an dem diese Handlungen verübt werden, zu befriedigen. In diesem Verhältnis von Triebobjekt zu Triebziel lässt sich vielleicht die Story wiederfinden: Handlungsimpuls, die Überwindung des Widerstands des Triebobjekts, das Erzeugen von Schmerz, die gleichzeitige Generierung von Lust – die vermeintlich veränderte Situation.

Und vielleicht lässt sich im Drängen des Triebziels nach seiner Befriedigung auch Linearität verorten?

1915 ist das wohl noch das Schicksal der Triebe, wenn Freud schreibt: „Das Ziel eines Triebes ist allemal die Befriedigung, die nur durch Aufhebung des Reizzustandes an der Triebquelle erreicht werden kann“[23].Augenscheinlich gibt es einen Anfang und ein Ende der Triebregung, zumindest unter der Herrschaft des Lustprinzips. 1920 öffnet sich im freudianischen Denken ein transzendentaler Raum, ein Jenseits des Lustprinzips, welches sich nicht mehr zwischen Ich-Trieben und Sexualtrieben aufspannt, sondern dem Lebenstrieb ein antagonistisches Anderes gegenüberstellt: Den Todestrieb als reines, aber immer schon stummes Prinzip.[24] Unter den leeren Augenhöhlen Thanatos’ drängen die Triebe nun nicht mehr nur blind in die Zukünftigkeit ihrer Befriedigung, sondern erinnern sich einer mythischen Vergangenheit. „Ein Trieb wäre also ein dem belebten Organischen innewohnender Drang zur Wiederherstellung eines früheren Zustandes“, definiert Freud in seinem Jenseits und führt weiter aus, dass „[d]iese Auffassung des Triebes […] befremdlich [klinge], denn wir haben uns daran gewöhnt, im Trieb das zur Veränderung und Entwicklung drängende Moment zu sehen, und sollen nun das gerade Gegenteil in ihm erkennen, den Ausdruck der konservativen Natur des Lebenden“[25]. Doch was ist diese mythische Vorzeit auf die alles hindrängt, indem es sich paradoxer Weise von ihr entfernt? Freud schreibt über diesen Triebkonservativismus:

Es muß [sic!] vielmehr ein alter, ein Ausgangszustand sein, den das Lebende einmal verlassen hat, und zu dem es über alle Umwege der Entwicklung zurückstrebt. Wenn wir es als ausnahmslose Erfahrung annehmen dürfen, daß [sic!] alles Lebende aus inneren Gründen stirbt, ins Anorganische zurückkehrt, so können wir nur sagen: Das Ziel des Lebens ist der Tod, und zurückgreifend: Das Leblose war früher da als das Leben.[26]

In der Sehnsucht nach dem Anorganischen offenbaren sich Thanatos und seine „indirekten Repräsentanten“[27]. Indirekt deshalb, weil „Thanatos nie gegeben“[28], immer schon zum Schweigen verdammt ist. Der Lebenstrieb übernimmt das Sprechen in den Mischformen beider Triebe.[29] Was bedeutet das alles für den Sadismus und damit für diese Überlegung? Die neue Triebstruktur begreift den Sadismus als libidinös aufgeladene Todes- und Destruktionstriebe, welche nicht das eigene Ich als Objekt gewählt haben, sondern sich auf ein Äußeres beziehen.[30]  Was ist es, das der Sadismus von seinem Objekt will? Was ist das Triebziel, welches er durch Lust und Schmerz zu erreichen sucht? Es ist eben nicht nur das Zufügen von Schmerz, nein es ist die Zerstörung des Objekts. Eine Befriedigung, die jedoch immer schon versagt sein muss. Denn was auf den ersten Blick als ein linear in der Zeit strukturierter Vorgang begriffen – und in eine Geschichte eingebettet werden könnte, die gewaltförmige Handlung, versucht letztendlich Erfüllung zu finden, indem es nach etwas strebt, was immer schon vergangen sein wird. So mag die in der Handlung wurzelnde sadistische Artikulation eine linear in der Zeit verlaufende Story benötigen, der Sadismus als spezifische Triebrepräsentanz ist selbst jedoch nicht linear. Im Gegenteil, dem Sadismus bleibt nichts übrig, als sich in der Wiederholung zu erschöpfen, auf ewig dazu verdammt, unbefriedigt zu bleiben. Ohne Anfang, ohne Ende. Es entsteht mechanische Monotonie, wie sie in den Texten Sades, dem Namenspaten des Sadismus, wiederfinden ist. Es zeigt sich, dass ähnlich den Libertins des sadeschen Kosmos auch die Trieborganisation des Sadismus nach der absoluten Negation strebt, diese aber nie erreichen kann. Die totale Negation, der Tod, welcher nicht nur Teilungsprozesse nach sich zieht, sondern das radikale Ende allen Seins bedeutet, der Traum der ersten Natur, ist nicht zu erreichen. Denn

[d]er sadistische Held erscheint in diesem Zusammenhang als einer, der sich vornimmt, den Todestrieb (reine Negation) zu denken […] der es aber nicht anders zustande bringt, als durch Vervielfachung und Verdichtung nur partiell negativer Triebregungen und Zerstörungen.[31]

Alles bleibt der zweiten Natur verhaftet, verdammt zum Wiederholungszwang. Die Triebzeitlichkeit des Sadismus scheint einem monotonen Rhythmus der Wiederholung unterworfen zu sein, einem Ende entgegenstrebend, das immer schon gewesen sein wird und somit unerreichbar ist. Wir sehen uns Zeitschleifen und -faltungen gegenüber, die sich nicht durch Linearität beschreiben lassen können. Deleuze denkt diese komplexe Zeitlichkeit der freudschen Triebtheorie, welche ihre Artikulation in der Wiederholung findet, als Zeitsynthese:

Sie ist zugleich Wiederholung des Bevor, des Während und des Nachher. Sie konstituiert in der Zeit Vergangenheit, Gegenwart und selbst Zukunft. Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft konstituieren sich in der Zeit gleichzeitig […].[32]

Sadismus kann sich, wie in Mulveys Überlegungen zu finden ist, durch Bestrafung und das Zufügen von Schmerzen äußern. Die Repräsentationen dieser gewaltförmigen Handlungen verlaufen linear in der Zeit. Aber die gewaltförmige Handlung allein macht nicht den Sadismus aus. Der Gewalt und dem Schmerz gehen Affekt und Vorstellung voraus, welche tief in der präödipalen Zeit des Ichs verwurzelt sind und selbst nur Repräsentationen von indirekten Repräsentanten sind, die in einem infantilen Reigen – ein Schritt vor, zwei zurück und Drehung – versuchen sich durch den konkreten Schmerz zu aktualisieren und das Drängen des Triebs zu befriedigen: Der ganze sado-masochistische Komplex tanzt zum Rhythmus der Trieborganisation. Thanatos gibt den Takt vor, wieder und wieder und wieder. Und von Linearität ist als bald keine Spur mehr gewesen.

Selbst die lineare Story des Kinofilms, welche der Sadismus benötigt, um auf der Leinwand erzählt zu werden, muss am Ende in die Stasis zurückkehren, aus der sie entstanden ist.[33] So will es die Materialität des Filmstreifens, zusammengesetzt aus statischen Frames, welche erst durch den An-Trieb des Projektors beginnen sich vorwärts zu bewegen.[34] Diese Bewegung ist es, welche Film und Narrativ mit einander verbindet und beide dem selben Schicksal unterwirft: „Cinema’s forward movement, the successive order of film, merges easily into the order of narrative. […] But at the end, the aesthetics of stillness return to both narrative and the cinema.“[35]

Auch hier führt Thanatos erneut den Reigen an: „If desire activates a story then that same force means to return, at the end, once more to stasis.“[36]Im Film wird diese Stasis durch den Freezeframe The End erreicht, welcher nicht nur „the silence of death itself“ repräsentiert, sondern auch „[the] total erasure, the nothing that lies beyond it“[37]. Durch die filmische Konvention des Freezeframe offenbart sich der Todestrieb in der Narration.[38] Also unterliegt nicht nur der Sadismus der zirkulären Logik Thanatos, sondern sie findet sich auch in narrativen Strukturen wieder.

Diese Überlegungen begannen mit einer Frage und sie enden mit einer Frage, denn obwohl sich sowohl im Film, als auch im Schreiben strukturelle Momente des Todestriebs wieder finden lassen. So bleibt doch letztlich die Frage: Sind Medien in der Lage das zu kompensieren, zu dem die menschliche Psyche nicht in der Lage ist, nämlich Thanatos in seiner Gesamtheit direkt zu repräsentieren? Oder sind es wieder nur die indirekten Repräsentanten, welche nie die absolute Endlichkeit erreichen?


  1. Hier wird eine Anspielung auf den Titel des Buches von Stekel gemacht, in dem die Bezeichnung Kriminaloge anstelle von Kriminologe genutzt wird. Stekel, Wilhelm: Sadismus und Masochismus. Für Ärzte und Kriminalogen dargestellt (= Störungen des Trieb- und Affektlebens VIII). Berlin/Wien 1925.
  2. Vgl. Mulvey, Laura: „Visuelle Lust und narratives Kino“, in: Liliane Weissberg (Hg.): Weiblichkeit als Maskerade. Frankfurt a. M. 1994, S. 48-65.
  3. Ebd., S. 59.
  4. Ebd., S. 58.
  5. Ebd.
  6. Ebd.
  7. Ebd.
  8. Ebd., S. 59.
  9. Ebd., S. 49.
  10. Stekel: Sadismus und Masochismus, S. 53.
  11. Ebd.
  12. Ebd.
  13. Ebd., S. 86.
  14. Ebd., S. 115.
  15. Laplanche, J. / Pontalis, J.-P.: Das Vokabular der Psychoanalyse. Frankfurt a.M. 2016, S. 73.
  16. Ebd.
  17. Ebd., S. 617.
  18. Ebd., S. 447.
  19. Vgl. Krafft-Ebing, Richard von: Psychopathia Sexualis. München (1984), [Nachdr. 14. verm. Aufl. Stuttgart, 1912].
  20. Vgl. Ellis, Havelock: Die krankhaften Geschlechts-Empfindungen auf dissoziativer Grundlage. Würzburg 1907.
  21. Deleuze, Gilles: „Sacher-Masoch und der Masochismus“, in: Leopold von Sacher-Masoch: Venus im Pelz. Frankfurt a. M. 2013, S. 163-278, hier S. 251.
  22. Freud, Siegmund: Trieb und Triebschicksal, in: Ders.: Gesammelte Werke. Band 10, hg. von Anna Freud et al. Frankfurt a. M. 1949. S. 210-232, hier S. 210.
  23. Ebd.
  24. Deleuze: „Sacher-Masoch und der Masochismus“, S. 257.
  25. Freud, Siegmund: Jenseits des Lustprinzips, in: Ders.: Gesammelte Werke, Band 13, hg. von Anna Freud et al. Frankfurt a. M. 1967, S. 38.
  26. Ebd., S. 40.
  27. Deleuze: „Sacher-Masoch und der Masochismus“, S. 262.
  28. Ebd., S. 263.
  29. Ebd., S. 257.
  30. Ebd., S. 251.
  31. Ebd., S. 185.
  32. Ebd., S. 261.
  33. Mulvey, Laura: Death 24x a Second: Stillness and the Moving Image. London 2006, S.70.
  34. Ebd., S. 67ff.
  35. Ebd., S. 69f.
  36. Ebd., S. 70f.
  37. Ebd., S. 79.
  38. Ebd., S. 81.

Schwerpunkt | Body as Border. Political Affiliations of Undocumented Mi-grants on Stage

At a time when the borders of individual EU states, and beyond, are closed due to the threat of the Covid-19 pandemic, the question of undocumented migrants’ political affiliation takes on new urgency, particularly with regard to Moria and other refugee camps on the external borders of the EU. It is clear that in Germany especially, but also in other affected countries, the question of who may and who may not cross a border is not necessarily being decided on the basis of humanitarian claims or existing asylum law categories, but on the basis of political and socio-economical necessities.

The debate terms such as refugee crisis or wave of refugees has shaped the (political) discourse since 2015 at the earliest and the question of how to address this massive shift on a worldwide scale or in Europe has been raised again and again. However, one thing is certain: “There are almost 20 million refugees, asylum seekers, and internally displaced persons’ in the world”[1] who are mostly on the run or living in camps, mainly under inhuman conditions, lacking access to basic food, water or medical care.

Although recent border closures, including those inside the EU, show that neither the nation-state nor its physical borders belong to the past, borders are no longer exclusively bound to the nation-state and the sovereignty associated with it. For the citizens of Europe, borders have become virtually invisible in recent decades, mainly since the Schengen-Agreement(s) of 1985, 1990 and 1999. Yet, the crossing of borders by undocumented migrants is subject to strict regulations that do not necessarily reflect this legal modification of borders.[2]

The Universal Declaration of Human Rights recognizes a limited right of freedom of movement across boundaries: it recognizes the right to emigrate – that is, the right to leave a country – but not a right to immigrate – the right to enter a country.[3]

It is true that we have also enshrined the right to asylum in the Declaration of Human Rights (Article 14 and 15); it is an ancient right that – somewhat conflated with the costume of hikesia – had already been brought to trial in Aeschylus’s The Suppliants. However, this right is also bound to the (local) conditions of the respective nation-state.

As a result,

The Universal Declaration is silent on states’ obligations to grant entry to immigrants, to uphold the right of asylum, and to permit citizenship to alien residents and denizens. These rights have no specific addressees and do not appear to anchor specific obligations of compliance on the part of second and third parties. Despite the cross-border character of these rights, the Declaration upholds the sovereignty of individual states.[4]

This situation leads to a constant renegotiation of undocumented migrants’ respective rights and political affiliations, a process during which they find themselves in a permanent state of limbo: on the threshold between legality and illegality.

Jean-Luc Nancy explores this threshold in his book The Intruder, describing the intrusion of the foreign as a spatial phenomenon, a moment of transition from one state to another. According to this assumption, this threshold is a place that one occupies only temporarily – a place of passage. The temporal limitation of transition is prolonged by the unresolved legal status of undocumented migrants. The threshold transforms into a temporarily unlimited space of in-between.[5]

Using Hannah Arendt’s description of the stateless in the 20th century from her book Origins of Totalitarianism as an argumentative starting point, this text will examine the connection between the body and the border in the 21st century.[6] Additionally, referencing the theory of Julia Wessel, which understands contemporary borders as representative of personalised places of permanence, I will show the extent to which the political affiliation of undocumented migrants in Europe is curtailed.[7] Finally, I will use a current theatrical example to illustrate how undocumented migrants are represented on stage and how the permanent state of the in-between can be negotiated in theatre.

The Appearance of Borders

When speaking about the function of borders one thinks of a specific line on a map or of a certain place that symbolizes separation: a constitution of insides and outsides, citizens and strangers, the legal and illegal. Borders show a clear and stable separation of territories and legal communities. However, coupled with advancing globalisation, these territorial allocations are losing their clarity. When becoming almost invisible for one person, borders are almost connected to the appearance of the body for another in return.

In Hannah Arendt’s work we encounter an understanding of nation-state borders that ultimately lead to vast numbers of minorities being excluded from their respective states at the beginning of the 20th century, and thus, falling innocently into a status of statelessness. Trapped in this state, they could no longer access their rights and lost their political affiliation. This resulted in a total exclusion of minorities from the national legal systems that persecuted them and from the international legal communities that might have saved them from the horrors of extermination camps like Auschwitz. The Jews could not rely on any nation-state to guarantee their supposed fundamental human rights.[8]

Seventy-five years later, borders are less easy to define. In particular, European borders are constituted through various forms of control aimed at migrants whose legal and political affiliation itself is already ambiguous, whereas European citizens experience the EU as a global transitory space with complete freedom of movement: they are no longer necessarily territorial, they are no longer a fixed line on a map. If borders remain invisible to EU citizens, they become visible in diverse forms to undocumented migrants. They can appear as border posts, a fence, or a wall. They can also appear in the form of entities of control, such as Frontex or the coastguard of a particular country, for example Libya. Consequently, borders are created where controlling bodies meet undocumented migrants. This creates a dependent, dynamic interaction between the appearance of undocumented migrants and authoritative organs of the state. Borders become fluid and can no longer be clearly located.[9]

It is this dichotomy that defines today’s borders: selective appearances through seemingly invisible means of control. Thus, borders are becoming mobile. In fact, they only ever manifest during the encounter between the undocumented migrant and mobile means of control: borders are no longer bound to places, but to persons and their bodies.

Julia Schulze-Wessel, a scholar of political theory, has studied the figure of undocumented migrants and defined them as constitutive and active figures of the border. If one examines borders as instances that appear in connection to undocumented migrants and, simultaneously, consider them to be always in motion, they manifest as a form of caesura or interruption, as an instance of control and appearance. If migrants do not possess documents giving them an entry route, they develop routes which can often be very dangerous and which, in a best-case scenario, avoid all control authorities. They might form networks (potentially through social media) in which they organise themselves and pass on routes. Concurrently, complete protection or closure of a border is impossible. Also, completely closing a border does not reduce the number of people who want to enter the EU, it only influences their tactics and routes.

Undocumented migrants therefore violate borders not only by trying to cross them, but also by constantly shifting their routes, thus helping to reshape borders. As a result, previously invisible national borders or places that have never been considered borders before, such as the Mediterranean Sea, are evolving into highly secured border areas through the increased use as routes by undocumented migrants.[10]

Schulze-Wessel also decisively shows that undocumented migrants are also inhabitants of borders. If the border is understood to be constituted by the appearance of certain persons, a penetration of this border is no longer possible, it no longer refers to an unambiguous interior and exterior. Instead, a space in between is opened, the border space, which, through the interaction between bodies of control and migrant, becomes a space capable of negotiating political affiliation and is specifically assigned to the undocumented migrant.[11]

The resulting border area is not to be understood as a homogeneous space, but rather as one of confrontation and conflict between the desire to migrate further to reach a destination country and the sovereign right to block access to national territory. Accordingly, the border area is a heterogeneous space of conflict between different actors.[12] This observation leads to the assumption that both systems of border control and undocumented migrants are given an active position within the border area.

This state of negotiation or suspension of negotiation represents what Schulze-Wessel calls the permanence of the border.[13] The border is a constant companion of undocumented migrants because they are themselves actors of border creation.[14]

Undocumented migrants who are coming to Europe today differ from Arendt’s stateless in various ways, especially in that they are no longer inevitably minorities outside a system of textbook nation-states, but rather citizens of countries who have made the decision to leave due to war, political violence, persecution, or simply inhuman conditions. They are not necessarily excluded but denied political affiliation, captured in a permanent status of in-betweenness in which they depend on the largesse of European migration policies, otherwise doomed to remain forever in transit.

A vivid recent example are the lifeboats carrying undocumented migrants rescued from drowning in the Mediterranean that were not allowed to enter European ports. This in-between status manifests in many ways, but (the) deportation to (refugee) camps as Arendt describes it can still be considered the final consequence today, even if the goals of an extermination camp do not apply to the present conditions. These camps, such as those in Libya, serve as a mobile interim solution, again, of permanence brought to an intrinsically non-permanent transit.

Another point that needs to be mentioned here is the inherent timelessness within the border area. The journey of an undocumented migrant to their destination if they ever arrive, may take weeks, months, or even years. Usually prolonged stays in refugee camps are often extended indefinitely, to the point that today we can find camps where the houses are built of stone.

Furthermore, the border region can also be experienced within a nation-state. It is bound to a person, and especially to a person’s racialised body, which is why it exists as long as the political affiliation of the respective person has not been clarified. This effects the status of residence of a migrant, their work permit, their apartment, their hope of being able to bring their family to their new home. It is simply not possible to build an existence in a new country within this unresolved status of the border area. The threat of deportation or rejection determines the everyday life of everyone afflicted:

The condition of undocumented aliens as well as of refugees and asylum seekers, however, remains in that murky domain between legality and illegality. […] Undocumented migrants […] are cut off from rights and benefits and mostly live and work in clandestine ways.[15]

However, questions remain: what consequences can be drawn from the migrant’s condition? What does a permanent stay in the border region mean for an individual’s political affiliation? According to Seyla Benhabib, political affiliation mirrors the possibilities of free entry and exit, social access, and the possibility of having a voice. This form of belonging represents a human right from which no one should be permanently excluded by any political community. As a result, according to Benhabib, the borders of a nation-state no longer represent an adequate basis for belonging today.[16]

Political Affiliation on Stage – All Inclusive by Julian Hetzel

It would be interesting to examine to what extent the shift in the perspective of the border from national to personal is mediated by the representation of undocumented migrants on stage. How are migrant bodies negotiated in performance?

Theatre as a public space is linked thematically to a long tradition of flight and migration. Still today, it is difficult to find large city theatres or smaller, local institutions that do not address these themes in their productions. Since at least 2015, the number of productions with or about refugees or undocumented migrants has risen significantly.[17] Yet, even in ancient times, the themes of flight, arrival and appearance were a constitutive element of theatre-in-society What mechanisms and structures of the stage allow for the presentation and narration of flight and migration? The theatre – and with it the stage – is a changeable space that offers a place to enter, to stay, and to leave again.[18]  Conflicts and relations between people are constantly negotiated. Particularly concerning the topic of flight and migration, it is no longer only a question of purely artistic presentation on stage, but also one of negotiating the corresponding political context. Putting these theoretical concerns into more concrete terms, one recent example stands out: All Inclusive, directed by Julian Hetzel.[19]

The main concept of All Inclusive is aimed at displaying the hypothesis that suffering can be turned into art and art can be turned into money, a supposedly satirical approach to the dominant art market. But what is the audience confronted with on stage? The entire production takes place inside a white cube, an exhibition space in which new exhibition objects and live performances are presented from scene to scene, all of which exhibit a form of aestheticised violence. The exhibition is guided by a curator who accompanies a group of visitors, with the performance ensemble consisting of amateur actors from different migration backgrounds. On display, one encounters realistic depictions of violence alongside abstractions, objects that become art only through the violent acts of the visitors (e.g. smashing of porcelain dogs), as well as remnants of lived-in violence (e.g. rubble from Syrian ruins that has been assembled into bombs). Thus, All Inclusive’s idea is to confront people who may have lived through the violence of war with aestheticised forms of violence further transformed into capital by the Western art market.

While attempting to criticise the prevailing art market, which capitalises on war and the suffering of others, Julian Hetzel places (ostensible) refugees on stage. It is precisely this confrontation between the migrants and the aestheticisation of violence that the performance wanted to mock. However, in doing so, it created a discrepancy between reflecting on a seemingly cynical art market and its own unquestioned mode(s) of representation. The scene mentioned above functions as a particularly striking example as it broaches the issue of art that recreated bombs from the original ruins of a Syrian city. The curator, presenting this aesthetic aspect, asks the fugitives for their opinion. But instead of hearing them out, she continues her monologue, and thus, everything that is mentioned becomes obsolete. They were not given a voice on stage. Not even their names were remembered by the curator, evoking the idea of them as ‚(in)-human material’ on stage. They are props used to reinforce apparent criticisms and cynicisms. Unfortunately, there was no meta-level reflection to be found as the ostensible reactions of the undocumented migrant – scenes like these are not isolated cases in All Inclusive – became irrelevant to the plot of the play. To state it clearly, they represent the status of the undocumented migrant itself and were instrumentalised human material used only for the purpose of confrontation with aestheticised violence. However, the discourse itself that is opened remains in abeyance by this form of representation because the dramatic emphasis lies upon the presentation of the refugees and does not reflect on the eligible criticisms concerning the Western art market.

Conclusion
The danger inherent in narratives such as those displayed by Julian Hetzel in All Inclusive lies in the retelling of a status quo that easily results in an unreflective, cynical processing of exhibition and subsequent heroising.[20] Or, undocumented migrants display the status of their flight only. If, as proposed here, the body is understood as the limit of political affiliation, the necessity of using these figures to negotiate the emerging aporia of lawlessness and exclusion from political affiliation on stage becomes clear. The border region demonstrates that the potential of political representation is impossible, or at least very fragile. But if we understand theatre as such an in-between space itself, and if we negotiate the border space through means of theatre, a necessary level of reflection could emerge. A reflection that not only dedicates itself to the status quo of the depicted figure but contextualises and negotiates this in regard to the question of how such a political, legal, and ultimately social issue could, and should, be dealt with macroscopically. In Hetzel’s case, this meta-level was missing. The actors remained one-dimensionally trapped in the personage of an archetypal refugee arbitrarily placed on stage, who was not questioned, but exhibited. In this context, the aspiration of theatre can, and must, be reformulated: the representation of compassion, the heroisation of individuals, and cynical exhibition could give way to a theatrical discourse that brings attention to those aporias of rights and belonging while simultaneously negotiating them on stage. The result would provide a theatrical space of representation for border spaces, this persevering in a permanent, uncertain in-between. The stage could become a place that invites a discourse with the perspectives of people who must actually experience border spaces and where those who want to represent it on stage can be heard. Their representations, their stories, must be given the opportunity to leave the space of the border, which is not accessible to the general public, in order to bright forth and open a new kind of discourse.


  1. Benhabib, Seyla: „Borders, Boundaries, and Citizenship“, in: Political Science and Politics, Vol. 38, No. 4 (Oct., 2005), pp. 673-677, here p. 673.
  2. Cf. Balibar, Etienne: „Europe as Borderland“, gpm.ruhosting.nl/avh/Europe %20as %20Borderland.pdf (Accessed 28.02.2020), p. 5 f.
  3. Benhabib: „Borders, Boundaries, and Citizenship“, p. 674.
  4. Ibid.
  5. See: Nancy, Jean-Luc: Der Eindringling. Das Fremde Herz. Berlin 2000.
  6. Cf. Arendt, Hannah: „Statelessness“ (1955(, www.hannaharendt.net/index.php/han/article/view/155/275 (Accessed 28.02.2020).
  7. Cf. Schulze Wessel, Julia: Zur politischen Theorie des Flüchtlings. Bielefeld 2017, p. 125.
  8. Cf. Arendt, Hannah: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft. Berlin 2017, p. 601 f.
  9. Balibar, Etienne: Der Schauplatz der Anderen. Formen der Gewalt und Grenzen der Zivilität. Hamburg 2006, p. 248.
  10. Cf. Schulze Wessel: Zur politischen Theorie des Flüchtlings, p. 105 f.
  11. Cf. ibid., p. 119 f.
  12. Ibid.
  13. Ibid., p. 125.
  14. Cf. ibid., p. 125 f.
  15. Benhabib: “Borders, Boundaries, and Citizenship”, p. 675.
  16. Benhabib, Seyla: The Rights of Others. Aliens, Residents, and Citizens. Cambridge 2004, p.13.
  17. Cf. Etzold, Jörn: „Flucht“, in: Gustav Mecklenburg/Nora Sdun (Ed.): Kleiner Stimmungs-Atlas in Einzelbänden (Bd. 20), Hamburg 2018, p. 12.
  18. Cf. Etzold: „Flucht“, p. 13 f.
  19. All Inclusive, Regie: Julian Hetzel, Premiere 20. April. 2018, Amsterdam.
  20. What is meant here is the highlighting of individual (heroic) fates, which represent a thoroughly one-sided narrative of the undocumented migrant on stage.

Schwerpunkt | Das Zentrum für Politische Schönheit – Für einen linken Populismus?

Wir brauchen DICH für die Zukunft des politischen Widerstandes im 21. Jh. – Widerstand ist eine Kunst, die reizen schmerzen und verstören muss. Ob Höcke – Mahnmal oder SOKO Chemnitz, unsere Aktionen vereinen Komplizen im gemeinsamen Kampf für die Menschlichkeit und gegen die Grenzen der Kunst. Wir drängen in die Leerstelle, die öffentliche Intellektuelle provozieren – das moralische Gewissen. Du erhältst nirgendwo so viel Aufruhr und Dissens für jeden gespendeten Euro wie bei uns. Sei jetzt dabei.[1]

Mit diesem Aufruf lädt das Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) auf den digitalen Plattformen Instagram und Facebook zu einer politischen Komplizenschaft ein. Eine Einladung zur Teilhabe in Form von finanzieller, aber durchaus auch aktiver Unterstützung. In einem Video zur Aktion Holocaust Mahnmal Bornhagen (2017) wird beispielweise nach Kompliz*innen mit bestimmten Expertisen zur direkten Aktion vor Ort gesucht.[2]

Das seit 2009 in Erscheinung tretende Künstler*innen-Kollektiv polarisiert mit seinen Aktionen. Provokation scheint Teil einer Strategie und einer Darstellungsweise zu sein, mit der möglichst große mediale Aufmerksamkeit generiert werden soll. Das Kollektiv bezeichnet sich selbst als „Sturmtruppe zur Errichtung moralischer Schönheit, politischer Poesie und menschlicher Großgesinntheit“.[3] Mit einem „aggressiven Humanismus“ soll dagegen vorgegangen werden, dass „die Lehren des Holocaust durch die Wiederholung politischer Teilnahmslosigkeit […] annulliert werden“.[4] Deutschland solle „aus der Geschichte nicht nur lernen, sondern auch handeln“.[5] Diese Selbstdefinition ist interessant. Der Begriff Sturmtruppe könnte durchaus auch in anderen politischen Kontexten Verwendung finden. Die Selbstbeschreibung kommt nahezu pathetisch daher und wartet mit Begriffen auf, die erst einmal inhaltlich gefüllt und definiert werden wollen. Was soll mit „politischer Schönheit“ überhaupt gemeint sein? Das Kollektiv selbst definiert das folgendermaßen:

Politische Schönheit ist das Streben nach dem, was sein könnte. Keine Frage macht die Humanität der Menschheit so sichtbar wie die, wer gegen Massenmord und Verbrechen an der Menschheit aufbegehrt – notfalls gegen die eigene Karriere, Freunde und Gefühle.[6]

Schon bei genauerer Betrachtung dieser Selbstdefinition wird deutlich, dass sich die Gruppe mittels einer Spaltung definiert. Sie versammelt ein Wir gegen ein Sie. Wir – das Zentrum und die Kompliz*innen – gegen Björn Höcke, gegen die AfD, gegen die vom Zentrum wahrgenommene Politikverdrossenheit, gegen den deutschen Staat etc. Die Liste der potentiellen Antagonisten*innen ließe sich beliebig fortführen, je nachdem welche Aktion des ZPS man als Referenz heranzieht. Die Provokation funktioniert hierbei über die Drastik, mit der das Kollektiv, das Wir vom Sie abgrenzt. Doch wer entscheidet über das Richtig und das Falsch? Obliegt das nur den Künstler*innen, die ihre Ansichten über die Vielzahl der anderen stellen? „Viele Arbeiten, die mit Konfrontation oder gar Antagonismus spielen, sind zugleich Arbeiten tiefer Fürsorge, fast ein Schrei um Aufmerksamkeit für die Miseren und ethischen Verbrechen dieser Welt.“[7] Das ZPS versucht Aufmerksamkeit für politisch oder gesellschaftlich Benachteiligte wie Geflüchtete zu schaffen und die Politik zum Handeln zu bewegen, wie bei den Aktionen Flüchtlinge fressen (2016) oder Die Toten kommen (2015). Flüchtlinge fressen richtete sich beispielsweise dezidiert an den Deutschen Bundestag und rief zu einer Abschaffung des Paragrafen § 63 Abs. 3 AufenthG zum Beförderungsverbot für Flüchtlinge auf, der es Menschen auf der Flucht untersagt, ohne Einreiseerlaubnis mit dem Flugzeug nach Deutschland zu kommen, und so den lebensgefährlichen Weg über das Mittelmeer für viele zur einzigen Möglichkeit macht.

Das ZPS generiert mit solchen Aktionen ein breites Medienecho und durchaus gespaltene Reaktionen, was ich im Folgenden am Beispiel der Aktion Holocaust Mahnmal Bornhagen (2017) aufzeigen möchte. Bei diesem Beispiel liegt es nahe über die politischen Möglichkeiten von Aktionskunst sowie über die Idee eines linken Populismus nach Chantal Mouffe und die scharfe Spaltung in Wir und Sie nachdenken.

Für einen linken Populismus

In ihrem Buch Für einen linken Populismus verfolgt Chantal Mouffe die These, dass

[i]m Laufe der nächsten Jahre, […] die zentrale Achse der politischen Auseinandersetzung zwischen einem rechtsgerichteten und einem linksgerichteten Populismus verlaufen [wird]. Und deshalb ist es die Konstruktion eines „Volkes“, eines kollektiven Willens, der der Mobilisierung gemeinsamer Affekte zur Verteidigung der Gleichheit und sozialen Gerechtigkeit entspringt, die es ermöglichen wird, die vom Rechtspopulismus propagierte fremdenfeindliche Politik zu bekämpfen.[8]

Mouffe geht davon aus, dass wir uns gegenwärtig in einem „populistischen Moment“ befinden. Ihr Verständnis von Populismus schließt dabei an die Definition von Ernesto Laclau an. Demnach ist Populismus „eine Diskusstrategie, die eine politische Frontlinie aufbaut, indem sie die Gesellschaft in zwei Lager aufteilt und zu einer Mobilisierung der ‚Benachteiligten‘ gegen ‚die an der Macht‘ aufruft“[9]. Genau das reklamieren auch rechtskonservative Parteien wie die AfD für sich. Mouffe schließt daraus: „Von einem ‚populistischen Moment‘ kann man sprechen, wenn die vorherrschende Hegemonie unter dem Druck politischer und sozioökonomischer Umwälzungen durch eine Vervielfachung unerfüllter Forderungen destabilisiert wird.“[10]

Ein weiterer interessanter Punkt ist die Konstruktion eines Volkes, von der Mouffe spricht. Die Definition von Volk ist zentral, gerade in Abgrenzung zum Volksbegriff, der in rechten Theorien verwendet wird. Das Volk ist für Mouffe eine „diskursive politische Konstruktion. Es existiert nicht, ehe es performativ artikuliert wird, und lässt sich nicht mit soziologischen Kategorien erfassen.“[11] Eng damit verbunden ist der Begriff der Äquivalenzkette, den Mouffe dazu nutzt, begreifbar zu machen, dass es innerhalb des als Einheit konstruierten Volkes immer noch Differenzierungen gibt.

Würden die Unterschiede eingeebnet, hätten wir es nicht mit Äquivalenz, sondern schlichter Gleichsetzung (simple identity) zu tun. Nur insofern, als demokratische Differenzen in Opposition zu Kräften oder Diskursen stehen, die sie allesamt negieren, sind diese Differenzen untereinander substituierbar. Eben deshalb erfordert die Konstruktion eines kollektiven Willens die Bestimmung eines Kontrahenten.[12]

Mouffe beschreibt also keine Negation von Pluralität innerhalb des Volkes. Durch die Form der Äquivalenzkette können heterogene Forderungen innerhalb einer linkspopulistischen Strategie artikuliert werden.[13]

Schauen wir auf Deutschland, so lässt sich spätestens seit dem Aufstieg der AfD in den letzten Jahren beobachten, dass stark konservatives, rechtes bis rechtsextremes Gedankengut vermehrt öffentlich in Erscheinung tritt. Diese politische Entwicklung ist entscheidend für die inhaltliche Arbeit des Zentrums für Politische Schönheit. So erweist sich das eingangs angeführte Zitat des ZPS im Sinne Mouffes als eine klare Mobilisierung und Teil einer Strategie, „um die für eine demokratische Politik konstitutiven Ideale der Gleichheit und Volkssouveränität wiederherzustellen und zu vertiefen“.[14]

Bevor es konkret um die Anwendung von Mouffes Idee eines linken Populismus auf die Aktion Holocaust Mahnmal Bornhagen geht, muss noch ein kurzer Blick auf den agonistischen öffentlichen Raum geworfen werden, der die Bühne für die Arbeiten des ZPS bereitet.

Der agonistische öffentliche Raum

Alle Inhalte der Kunstaktionen des Zentrums für Politische Schönheit sind dezidiert gegen rechtskonservative Politiker*innen und Menschen gerichtet oder beziehen sich auf die aktuelle deutsche Tagespolitik. Die Aktionen finden immer im öffentlichen Raum statt, häufig in der Nähe zu politisch oder historisch bedeutsamen Orten. Chantal Mouffe geht in Bezug auf Kunst in öffentlichen Räumen von einem agonistischen Ansatz aus. Nach diesem „ist der öffentliche Raum der Ort, an dem konfligierende Sichtweisen aufeinandertreffen, ohne dass die geringste Chance bestünde, sie ein für alle Mal miteinander zu versöhnen“.[15] Was bedeutet das für eine kritische, künstlerische Praxis?

Aus Sicht des agonistischen Ansatzes wird kritische Kunst von einer Vielzahl künstlerischer Praktiken konstituiert, die ein Schlaglicht darauf werfen, dass es Alternativen zur gegenwärtigen postpolitischen Ordnung gibt. Ihre kritische Dimension besteht darin, sichtbar zu machen, was der vorherrschende Konsens oft verschleiert und überdeckt […].[16]

Es sei aber nicht das Ziel, mit diesen Praktiken „eine eigentliche Wirklichkeit“[17] sichtbar zu machen. Man kann Mouffe also so verstehen, dass es ihr darum geht, mit künstlerischen Strategien etwas zutage zu befördern, was vorher nicht klar sichtbar war. Es geht nicht um eine reine Dekonstruktion von etwas, sondern vielmehr um Prozesse, die über diesen Schritt hinausgehen. Als Beispiel nennt Mouffe Arbeiten des Künstlers Alfredo Jaar. Jaars künstlerische Vorgehensweise sei die „beste Strategie, Menschen zum Handeln zu veranlassen“, denn sie „[weckt in ihnen] ein Bewusstsein für das, was in ihrem Leben fehlt, und [vermittelt] ihnen das Gefühl, dass alles anders sein könnte“.[18] Jaar gelinge es, „kleine Risse im System zu schaffen“[19] und den „allgemein herrschenden Common Sense zu destabilisieren“.[20] Kritische und politische Kunst sei nicht dazu da, den Menschen „Lektionen über den Zustand der Welt zu erteilen“[21].

Diese Idee auf das Zentrum für Politische Schönheit zu übertragen erscheint sinnvoll, da es dem Kollektiv laut eigener Aussage um eine Erweckung aus einer vermeintlichen politischen Teilnahmslosigkeit und eine Aufforderung zum aktiven politischen Handeln geht.

Das Holocaust Mahnmal Bornhagen

Eine Herangehensweise des ZPS ist eine „Kunst, die reizen, schmerzen und verstören muss“.[22] Am 22. November 2017 sorgte das Zentrum für Aufruhr, als es auf dem Nachbargrundstück des Hauses von AfD-Politiker Björn Höcke einen Nachbau des Berliner Denkmals für die ermordeten Juden Europas errichtete. 24 Betonstelen auf 18 x 13 Metern, in guter Sichtweite von Höckes Haus. Die Aktion reagierte unmittelbar auf eine Aussage Höckes, der am 17. Januar 2017 in Dresden auf einer Veranstaltung der AfD-Jugendorganisation Junge Alternative (JA) eine Wende der deutschen Erinnerungspolitik forderte und sagte: „Wir Deutschen, also unser Volk, sind das einzige Volk der Welt, das sich ein Denkmal der Schande in das Herz seiner Hauptstadt gepflanzt hat“[23].

Daraufhin erwarb das ZPS das Nachbargrundstück von Höcke und plante ab Februar 2017 die Mahnmalaktion und führte zudem laut eigener Aussage über Monate Observierungen von Björn Höcke und seiner Familie durch. Im November 2017 wurde der Aufbau des Mahnmals innerhalb von fünf Tagen durchgeführt. Höcke bezeichnete die Künstler*innen daraufhin als terroristische Vereinigung, es kam zu Sachbeschädigungen am Mahnmal und zu Protesten von Einwohner*innen des Dorfes, die sich hinter Höcke stellten und die Künstler*innen sowie die Presse vor Ort bedrohten.[24]

Milosz Matuschek schrieb am 08.12.2017 in der NZZ:

Politische Aktionskunst stört vor allem die Ressortaufteilung in den Köpfen: Politik mischt sich nicht in Kunst, Kunst bitte nicht in Politik. Das letzte Mittel der selbsternannten Kampfmittelräumkommandos: Je mehr Aufmerksamkeit etwas bekommt, desto schlechter muss es sein.[25]

Gibt es wirklich eine Ressortaufteilung in den Köpfen, die Kunst und Politik klar voneinander trennt? Ist politische Positionierung in der Kunst und im Theater nicht nahezu selbstverständlich und permanenter Diskurs, egal ob es um eine Theaterbühne oder das Nachbargrundstück von Björn Höcke geht? Mouffe schreibt dazu: „Ich möchte Kunst und Politik nicht als zwei voneinander unabhängig konstituierte Bereiche betrachten […]. Das Politische hat eine ästhetische Dimension und die Kunst eine politische“[26]. Interessanter scheint daher die Frage, inwiefern man durch künstlerische Aktionen aus einer Komfortzone gerissen wird. Das ZPS verfolgt dieses Ziel, indem es sich häufig an den Grenzen des guten Geschmacks bewegt, wie beispielsweise mit der Drohung, Geflüchtete Tigern zum Fraß vorzuwerfen (Flüchtlinge fressen).

Die Aktionen sind übergriffig, […] sie verkünden dröhnend, anmaßend und zuweilen mit beißender Ironie die Abwesenheit von „politischer Schönheit“, aber auch die Möglichkeit politischer Alternativen.[27]

Darüber hinaus fordert das Kollektiv gerade durch die eingesetzten Mittel eine Positionierung zu den Aktionen ein.

Das Zentrum für Politische Schönheit befindet sich mit seinen Arbeiten an einer Schnittstelle zwischen Aktion und Kunst. Entscheidend für diese Arbeit ist daher ein Nachdenken über die Gewichtung dieser beiden Komponenten. Daran schließt sich die Frage an, wie und wo genau sich das Zentrum überhaupt selbst politisch und künstlerisch positioniert, auch in Abgrenzung zu der Positionierung, die das ZPS zu ihren Aktionen einfordert. Besonders die Aktionen Holocaust Mahnmal Bornhagen und SOKO Chemnitz sind zeitnahe Reaktionen auf tagespolitische Geschehen. Sie stellen eine Art von Protest und Empörung dar. Damit füllt das ZPS eine Leerstelle. Denn verbreiteter als diese Form des radikalen Protests scheint die Ansicht, man dürfe dem rechten Gedankengut nicht zu viel Raum in der Öffentlichkeit einräumen. Weltweit erfahren rechte Kräfte Zulauf. Das ZPS reagiert und positioniert sich mit einer Aktion wie Holocaust Mahnmal Bornhagen so entschieden, wie nur wenige es tun. Sie machen gesellschaftlich relevante Themen sichtbar und das auf eine Weise, die über die mediale Resonanz nicht nur eine bestimmte Zielgruppe erreicht. Zu hinterfragen sind aber die gewählten Mittel und ihre Legitimität. Sind das Eindringen in einen privaten Raum, wie bei der Observierung der Familie Höcke, oder die öffentliche Hetze und Jagd auf Neo-Nazis wirklich legitime Mittel? Oder bedient sich das Zentrum für Politische Schönheit dabei nicht auch Strategien, die man eher im Rahmen rechter Aktionen vermutet?

Betrachtet man die Aktionen der letzten Jahre, ist zu beobachten, dass sie an Vielschichtigkeit und künstlerischem Wert eingebüßt haben. Ein großes Medienspektakel begleitete das ZPS bei nahezu allen Aktionen. Aber funktionierte eine Aktion wie Flüchtlinge fressen noch über performative Momente und auf verschiedenen inhaltlichen Ebenen, verknüpft auch mit öffentlichen Diskussionsrunden, bleibt bei der Mahnmal-Aktion nur noch der große medialen Effekt. Die Aufmerksamkeit ist da, aber die fundierte und nachhaltige Auseinandersetzung bleibt aus. Der Diskurs verknappt sich damit klar zugunsten einer Eindeutigkeit. So überzeugt man nur die Menschen, die ohnehin schon auf der gleichen Seite stehen. Mouffe beschreibt diese Haltung als „bequem“.

Gerade für die Mitte-links-Kräfte ist es natürlich bequem, die rechtspopulistischen Parteien als „rechtsextrem“ und „neofaschistisch“ einzustufen und ihre Attraktivität auf einen Mangel an Bildung zurückzuführen. Auf diese Weise kann man sie leicht abqualifizieren, ohne die Verantwortung einzugestehen, die Mitte-links-Parteien selbst an ihren Aufstieg tragen.[28]

Der linke Populismus und das Zentrum für Politische Schönheit

Hat die Kunst, die Aktion, die Aktionskunst des Zentrums für Politische Schönheit also wirklich ihr Potenzial darin mit einer klaren Frontlinie ihren politischen Ausdruck zu verorten? Im öffentlichen Raum stört das Kollektiv, durch die Wahl seiner künstlerischen Mittel durchaus den Common Sense und sorgt auf radikale Art und Weise für eine Öffentlichkeit politischer Themen und für Diskussionen. Aber regen die Aktionen auch wirklich zum Handeln an oder zeigen sie lediglich etwas auf, dem man nur zustimmen oder widersprechen kann? Die Kunstaktionen des ZPS lassen sich im Sinne eines linken Populismus nach Mouffes Definition durchaus einordnen, die konkrete Umsetzung führt aber dazu, dass das Kollektiv lediglich für viel Furor sorgt und letztendlich nur sich selbst und „Gleichgesinnte“ mit seinen Aktionen erreicht. Damit entsprechen sie nicht der Kunst, die für Mouffe beispielhaft Strategien des linken Populismus einsetzt.

Für wen spricht das ZPS? Spricht es für die „Benachteiligten“, Geflüchtete etwa? Spricht es stellvertretend für die Opfer des Holocaust oder deren Nachfahren? Die Künstler*innen stellen ihre Meinung, ihre eigene politische Sichtweise über andere. Damit stößt das Zentrum an die Grenzen der Repräsentation. Einerseits sorgt es für eine Spaltung von Wir gegen Sie und lädt zur Teilhabe ein, andererseits passiert das in Verbindung mit einer moralischen Erhabenheit. Im Falle der Aktion Sucht nach uns im Dezember 2019, bei der in einer Säule des Widerstands vermeintlich die Asche von Holocaust-Opfern gesammelt wurde, sprach das Zentrum für diese Opfer. Gedacht als Protest gegen die Aneignung der Opfer durch die deutsche Mehrheitsgesellschaft reproduzierte diese Aktion genau das: eine Aneignung für die eigene Sache. Und das ist im Endeffekt das einzige, was von dieser Aktion in Erinnerung blieb – nicht die politische Motivation dahinter, sondern vielmehr der Protest und der Abbruch der Aktion. Das Zentrum für Politische Schönheit generiert ein Wir im Sinne von Mouffes populistischem Moment. Doch das und die massive Erzeugung von Aufmerksamkeit mittels populistischer Strategien reicht nicht aus, um einen wirklichen Widerstand gegen den Rechtspopulismus zu bilden. Vielmehr erteilt das Zentrum für Politische Schönheit lediglich vermeintlich eine Lektion in Aufklärung, Handlungsmöglichkeit und Wir-Gefühl, was nicht im Mouffeschen Sinne ist. All das ist nicht nachhaltig, es konfrontiert für den Moment, vermittelt aber keinen Inhalt, zerlegt kein Argument, leistet keine Überzeugungsarbeit, führt nicht zu einer Erweckung aus der Teilnahmslosigkeit. Die Wirkung der Aktion bleibt auf die Zeit der Aktion beschränkt.


  1. Gesponserter Werbeaufruf des ZPS auf Instagram und Facebook (Zugriff am 12. Juli 2019).
  2. Vgl. https://www.youtube.com/watch?time_continue=182&v=nZaCmu-cc3Q (Zugriff am 12. Juli 2019).
  3. https://politicalbeauty.de/index.html (Zugriff am 18. Dezember 2020).
  4. Ebd.
  5. Ebd.
  6. Ebd.
  7. Malzacher, Florian: „Aktivismus als Aufführung“ in: Rummel, Miriam/Stange, Raimar/Waldvogel, Florian (Hg.): Handlung als Haltung. Das Zentrum für politische Schönheit. Berlin, München 2018, S. 321-330, hier S. 328.
  8. Mouffe, Chantal: Für einen linken Populismus. Berlin 2018, S. 17.
  9. Ebd., S. 20 f.
  10. Ebd.
  11. Ebd., S. 74.
  12. Ebd., S. 75.
  13. Vgl. ebd., S. 76.
  14. Ebd., S. 19.
  15. Mouffe, Chantal: Agonistik. Die Welt politisch denken. Berlin 2016, S. 142.
  16. Ebd., S. 143.
  17. Ebd.
  18. Ebd., S.147.
  19. Ebd., S. 146.
  20. Ebd.
  21. Ebd.
  22. https://politicalbeauty.de/index.html (18. Dezember 2020).
  23. https://www.zeit.de/politik/deutschland/2017-01/afd-bjoern-hoecke-rede-holocaust-mahnmal-berlin/seite-2?utm_referrer=https%3A%2F%2Fwww.google.com (Zugriff am 20. Dezember 2020).
  24. https://www.youtube.com/watch?v=14zqjBOcczU#action=share (Zugriff  am 20. Dezember 2020).
  25. https://www.nzz.ch/meinung/kolumnen/lob-der-grenzueberschreitung-ld.1337308 (Zugriff am 12. Juli 2019).
  26. Mouffe: Agonistik, S. 140.
  27. Van den Berg, Karen: „Riskante Manöver“, in: Rummel/Stange/Waldvogel (Hg.): Handlung als Haltung, S. 305-320, hier S. 320.
  28. Mouffe: Für einen linken Populismus, S. 32.

Schwerpunkt | Tradition as governmental instrument for a “safer” China. Xi Qu As A Starting Point

Tradition plays an important part in China’s daily life and is the representative mark of the Chinese nation. As tradition has emerged more and more artistically in Chinese society, its political purposes seem to be tacitly omitted. Tradition, according to its appearance, presents itself sub-structurally as a political instrument, or rather, a governmental one. The issue of “governmental technology” or “the art of government” concerning modern western civil society addressed by Michel Foucault, along with his concept of biopolitics, is considered a post-1970s new paradigm for analyzing modern political governmental art, which puts its focus on the population as a whole, according a normalized biological process to achieve a sort of “governementability” based on a rationally optimized mechanism. We take this paradigm as a worthwhile approach to address the issue of “tradition” in contemporary China, particularly its function as a social surveillance mechanism with potential resemblance to governmental technology in Western society. We will primarily focus on the role of traditional Chinese aesthetics in Chinese society and then try to demonstrate a tradition-based mechanism that helps maintain the sovereign power in China.

After the Chinese Cultural Revolution (1966-1976), the Chinese government sought to break with the traits of this violent period. Compared to the brutality imposed upon traditional culture during the Cultural Revolution[1], contemporary China has entirely reversed the social character of tradition over the last four decades: Confucius has returned as a great teacher[2] and the revival of traditional traits has become an authorized part of city planning projects[3]. According to Rana Mitter’s comment on modern China since the 1980s, “the Party and the people alike seek to rediscover their own heritage”[4]. However, this rediscovery by Chinese government requires new ways of presentation rather than a new discourse. Qing Cao notes on the discourse of the post-Mao era that “the iconoclastic cultural vandalism on traditions, however, altered the ideologies, tenets, identities and subjectivities, but not politics and poetics of the established discursive regime.”[5] It is a reasonable realization that Chinese tradition as a phenomenon cannot be solely attributed to ostensible governmental decisions, but something more substantial and inherent beneath the social and political nomos, which fundamentally regulates Chinese people and society. The question is, what renders tradition an indissoluble part of Chinese politics? Or more plainly, what is tradition in the context of contemporary China.

1. Rules and Punishment within the circle of Peking Opera

To answer the aforementioned question, it is helpful to first introduce a traditional Chinese theater form, Peking Opera, which we prefer to call a “safe” theater. Though this traditional industry might, due to its folkloric particularity, run anachronistically against contemporary Chinese society, it still provides a basic angle to elucidate how the surveillance mechanism sub-structurally functions. As a kind of Xi Qu[6], it has particular rules on and off stage, which fit into its regional sub-social-structure. Remarkably, the industrial rules of Peking Opera emphasize beyond even its performance aesthetics its potential as a surveillance mechanism. Of the hundreds of taboos and conventions that regulate the practitioners of Peking Opera, the off-stage taboos (后台禁忌) are especially illuminating. This kind of taboo regulates the social behaviors of the practitioners—describing forbidden conducts like “theft”, “embezzlement”, “forming cliques within the troupe” or “holding a gambling party”. Namely, “everything forbidden by the law is also forbidden by the theater troupes”[7]. On this aspect, instead of observing the state’s law, the practitioners of Peking Opera formed more a private ruling system.

The difference lies in a rulebreaker’s punishment: if a troupe member commits theft, they will probably not be turned in to the police, but instead receive corporal punishment from their master or, in severe cases, be banished from the troupe—the later might possibly deprive them of their livelihood[8]. The punishment does not come from some certain individuals, for example, the master of the troupe, but comes from the very tradition, even sometimes the master personally does not want to punish their loving apprentice. The tradition of the industry becomes the only valid law that ought to execute the punishment, while the actual law from the state ceases to be active here.

There is a ghost-like tradition handed down through generations that requires the master of the troupe punish the rulebreaker and forces the rulebreaker to accept the punishment, believing it is deserved. In this case, the rules of the industry substitute the rules of the actual state’s law to punish the potential or actual lawbreaker. However, the practitioners rule themselves in most cases willingly according to the taboos, so that they in this way naturally keep themselves inside the state’s law even before they have to face it. Accordingly, beyond the forbidden zone of taboos, the theater troupes and their members can stay clean in- and outside the industry, which ensures the legitimacy of their business and on the social aspect presents their very activities as pure aesthetic products without political relevance.

We see from above a tight relation between the rules of industry and the state’s law. This relation incubates a ruling model of theater that serves as an automatism to maintain the “state safety” with its subordination to the state’s law. Therefore, the “managing activities” of sovereign power on the state has been distributed into sub-structural ruling systems. This tradition can be traced back to a more classical Chinese political model based on consanguinity and regional rural cultural tradition. The Chinese anthropologist Fei Xiaotong discovered in the Chinese local politics that

[i]n a traditional agrarian society, although government rule may be dictatorial at the top, the force of that power does not penetrate rural areas to any great extent. In rural areas, government is very inactive, is really very weak. The relative absence of government in rural areas, however, does not then mean that local society becomes a place full of „citizens“ possessing equal rights and jointly participating in their governance.[9]

Fei keenly senses that local Chinese politics generates confusion. When the highest governmental power is disconnected from the local-level, the individuals do not possess democracy. Some power between them rules the people sub-structurally, which is why the government can calmly remain inaccessible to them but keep its sovereignty. “Rule by elders (长老统治)” is the name he gives to this power in between, which is based on an “educational power” executed by the elders of a society: “every older person possesses the power to teach, and thereby to impose a culture upon, every younger person”[10]. The elders represent conventionally the social rules of a local society and their existence is the very secure mechanism of social and cultural stability. What the government should do accordingly is nothing more than assigning the power to the local elders and the elders will fulfill the function of local management. And naturally, the tradition represented by the elders will not transgress the state’s law[11]. This ensures a politically reciprocal system between sovereignty and local sub-structures. In this classical Chinese model, we can find commonality with Foucault’s awareness of a modern shift of governmental technology in The Birth of Biopolitics. Foucault’s focus on the rationality of government shows a similar logic: “the rationality of the governed must serve as the regulating principle for the rationality of government”[12]. But instead of pursuing an economic interest, in the Chinese model rationality becomes the pursuit of the glory that comes with fulfilling one’s given duty (“本分”) based on tradition[13]. As we see earlier in the industry of Peking Opera, this model can certainly not merely apply to the management of local societies but also becomes an indispensable part of the government for holistic social stability.

This model discloses the basic mechanism of tradition regarding governementability. Nonetheless, due to its applicability to a relatively conventional social division of labor and its equivocal concept of interest (it is hard to define exactly whether the fulfillment of one’s duty in every case is a pleasant thing), it is still not applicable enough for an account of the role of tradition in contemporary China. In contemporary China, the classical tradition has become more and more aesthetics/entertainment-oriented, and together with it, new traditions are generated. While we ascribe the root of tradition-based governmental regulation to the classical model, or rather, a rural model, we will next concentrate our discussion on the appearance of tradition in contemporary Chinese cities.

2. New tradition and tradition as novelty

Urbanity is the most important identifying characteristic of contemporary China. The new situation set by the city culture of the post-Mao age urges a reconfiguration of tradition’s distribution. The ruling mechanism originated in the old tradition has converted to a new tradition according the transformation of the society. In other words, tradition has mutated.

In education we can notice the bud of a new tradition in this era and how it unfolds its mechanism. The school-age children (6~15 years old) are supposed to get educated in school, which is legally called Nine-year Compulsory Education and “formalization and legitimization of education”. However, though people find this rule in the law, the first motive of schooling is never to follow the law, but more because of the slogan “knowledge changes the life[14] that prevailed first in the 1980s after the Cultural Revolution in China. Deng Xiaoping’s government tried to distinguish themselves from Mao’s. The importance of science has been brought to the front and declared that “science and technology is part of productive force” and the position of scientists should be reversed[15]. Therefore, the modernized education system has been highly legitimated for its purpose as a productive force in society. Accordingly, those young people gained higher positions (normally vocations with higher pay) in the society because of this new division of labor, which further stimulates mass desire for education. However, the growing mass interest made it at the same time possible for the ideological education to enter the field of knowledge as appendant. Patriotism, collectivism and socialism etc.[16], like undertones of the institution, tacitly infiltrated and reformed the category of education. The new generation of Chinese population after 80s has thus gone through an “ideological turn” with a newly generated politico-educational tradition that shifts from compulsory politicized inculcation to interior spontaneous naturalization.

According to a statistic from the Chinese census in 2010,120 million people over the age 15, apart from 50 million people who are illiterate, have completed the Nine-year Compulsory Education[17]: the majority of China’s population have been through the political education discussed in the paragraph above. This new political tradition presents itself on every individual, as Carl J. Friedrich writes in Tradition and Authority: “A political tradition is, to repeat, a tradition concerning the political community, its values and beliefs. It includes habits and customs concerning the conduct of men as political persons”[18]. Once the people were turned into “political persons”, the population self-regulates in the manner required by the government, freeing the government from the need to exert active control. This new tradition provides a new circle for the individuals to realize their value positively but restrictedly, like another “Rule by elders”.

Except for these newly formalized and legitimized traditions, convention presents itself more and more as an aesthetics-oriented spectacle within urban life. Chinese calligraphy, Hanfu, Peking Opera, and costume dramas are incarnations of tradition in the city. However, the suburban society based on consanguinity is now seemingly alien to the urban life, but the forms that remain are at least in the daily life fully aesthetic. But when the real tradition loses its value in the life of the urban population, how do the aesthetic forms survive? If the aesthetics forms haven’t died out, can we believe that the tradition itself never leaves the cities, but stays in another way?

We must notice that there are not only new traditions like ideologized education, but also conventional traditions that have been brought to the present with entirely different meanings from those of the past. These novel traditions place themselves always in a blur but not concrete tradition, which is a kind of tradition that identifies itself with the Chinese tradition but actually does not come from any specific historical period. With the impact of pop culture in urban life, it becomes the images that reflect what Chinese tradition should be nowadays, though they are not them. Hanfu is the most well-known example of this kind:

as a part of the so-called Chinese new traditionalism from the beginning of 2000s on, this “traditional Chinese costume style” cannot be dated back to any period of Chinese history and it is a contemporary nostalgic style adopted by the participants of Hanfu Movement[20] to designate the costume style of Chinese tradition, which is still named as and identified with the Chinese tradition as a pseudo-tradition with imagined resemblance.

If “tradition” terminologically refers only to itself, the concept of tradition ceases to equal itself. A “tradition” like Hanfu can cut itself apart from history and appear in a temporal interval. The “tradition” comes into being only because it corresponds to the sovereign ideology, so that anything that suits the ideologically surveilling purposes may be taken to form a “tradition”. The “tradition” is somehow “tradition-ed”. Along with its configuration, its functions and purposes seem to be more classic: the people who wear Hanfu convert themselves to the belief in the novel tradition, while living within a multi-layer/performative/malposed traditional context.

Both aforementioned traditions try to aestheticize (or at least positivize) the new purposeful parts in order to tacitly fit it into the stable former ideology. Through aestheticization, the role of tradition in contemporary China becomes the pursuit of interest and not entirely principles and glories upon the people, which technically demarcates itself from the classical concept of tradition. But the governmental logic and mechanism based on it have actually never left the whole institution, and in this contemporary version of government it shows even more traits of “the art of government”, which refers to a modernized “rationality”.

With a supporting policy for a “resurrection of the traditional arts” in the art market and the Chinese government spares no efforts to propagate the beauty of the traditional arts. Accordingly, the Chinese people sustain somehow a “tradition of tradition” that in our opinion shares the same characteristics as the “panopticism” that Foucault coins in his Discipline and Punish, which forges a spontaneous subjection that “is born mechanically from a fictitious relation[21] and at the same time abolishes the conspicuousness of sovereignty through the “faceless gaze”[22] behind the beauty—where surveillance softly takes place. Thus, the subjects of tradition undergo a cultural anosognosia, which blurs the fine line between what they can have and what they are permitted to have. At this point, aesthetics and a “genetical” acceptability based on a cultural genealogy inevitably become one. This characteristic means the spectacles and the products of tradition can serve as a natural political instrument to surveil the civilian populace.

3. Traditional aesthetics under surveillance—Bio-aesthetics?

The surveillance tradition therefore becomes the sovereign tradition. In fact, the sovereign tradition here is not identified with a sovereign government but represented by it. By representing the tradition, the sovereign government of China has itself become a part of the Chinese tradition. Two kinds of sovereignties emerge within this misplaced identity. On the one hand, the people themselves follow the beautiful sovereign tradition as a custom or an aesthetic concept. On the other hand, when following the tradition, they behave as the state needs them to, meaning they have already acquiesced their identification to the state ideology, even though they do not realize it. This might explain the confusion in Western countries between the Chinese government and China itself: for the Chinese people, the Chinese government, namely the Chinese Communist Party, is China, and represents all images of China. Up to this point, the aestheticized tradition potentially acquires its full power to reopen the gate to the old ruled-by-elders society. A virtual aestheticized “kinship” has thus been built among the citizens, who get obsessed with their roles in a “theater of society”. And now as these “practitioners of theater” keep away from the taboos of their “troupe” like their predecessors, the state is undisturbed — a safer China.

Michel Foucault asserts with the concept of “police” that man “has an activity that must characterize his perfection and thus make possible the perfection of the state.”[23] That is exactly how tradition atomizes the population. Under the concept of tradition, the population is replaced by thousands of self-satisfying sub-structures overlapping and interwinding with each other. The wide range of tradition as a more natural mechanism vis-à-vis the sovereign government, in Foucault’s sense, substitutes for the “population as a collection of subjects”. Compared to this art of government, which Foucault subsumes under his biopolitics, we can imagine a “bio-aesthetics”, which keeps its taste as aesthetics, but is swallowed as power.

This leads to the ultimate dilemma concerning aesthetics for those aligned with tradition: if traditional art can only keep its original, unique sense of aesthetics in the context of power, its aestheticization is inevitably politicized. On the other hand, if the traditional arts are depoliticized, can it still be aesthetic? Or, perhaps, the depoliticization is right a de-aestheticization. The ultimate question this dilemma leaves is, is the resurrection of tradition for the Chinese people possible in a purely aesthetic sense? The traditional panorama for the Chinese is entirely different from that for persons outside of the Chinese cultural context. What Brecht saw as Verfremdung in traditional Chinese theatre has not been seen by Chinese theater practitioners for hundreds of years. If, under the critique of its political contents, the traditional Chinese aesthetic becomes unbearable, how is it possible for the Chinese to build a new concept of aesthetics outside of surveillance?


  1. See: 横扫一切牛鬼蛇神 (Sweep Away All Monsters and Demons). People’s Daily, 1st June 1966.
  2. Cf. Mitter, Rana: A Bitter Revolution: China’s Struggle with the Modern World. Oxford 2005, p. 295-296.
  3. Ibid., p. 136.
  4. Ibid.
  5. Cao, Qing: “Legitimisation, resistance and discursive struggles in contemporary China”, in: Cao, Qing/Tian, Hailong /Paul Chilton (Ed.): Discourse, Politics and Media in Contemporary China. Philadelphia 2014, p. 7.
  6. Xi Qu: “戏曲”, traditional Chinese theater. Xi Qu is the term that refers to all kinds of traditional Chinese theater forms.
  7. Yu, Jiangang: 中国京剧习俗研究 (Research on the Customs of Peking Opera), doctoral dissertation. Beijing 2008, p. 73.
  8. Cf. Ibid., p. 173-174.
  9. Xiaotong, Fei: From the Soil, the foundations of Chinese society. California 1992, p. 114.
  10. Ibid., p. 118.
  11. Cf. Ibid., p. 117.
  12. Foucault, Michel: The Birth of Biopolitics. New York 2008, p. 312.
  13. An extra example here we can give is the existence of chastity archway(贞洁牌坊) in China, which is a sort of memorial archway built for the widowed women who did not remarry so as to keep their chastity in local societies.
  14. A buzzword that appeared around 1980s.
  15. See: Deng Xiaoping’s speech at the opening ceremony of the National Conference on Science, in: Deng, Xiaoping: Selected Works of Deng Xiaoping, vol. II (1975-1982). Beijing 2006.
  16. The education law of the Peoples Republic of China: Article 6: The State conducts education among educates in patriotism, collectivism, socialism as well as in the importance of ideals, ethics, discipline, the legal system, national defense and national unity.
  17. Census of population in China 2010, data from: National Bureau of Statistics of China.
  18. Friedrich, Carl. J.: Tradition and Authority. London 1972, p. 114.
  19. “What is a Modern Hanfu? 2020 China’s Fashion Guide, https://medium.com/@newhanfu/what-is-a-modern-hanfu-2020-chinas-fashion-guide-b8b28f93d742 (Accessed 25.02.2021).
  20. The Hanfu movement (汉服运动) is a social movement seeking to revitalize traditional Chinese fashion that developed in China at the beginning of the 21st century.
  21. Foucault, Michel: Discipline and Punish. The Birth of the Prison. New York 1995, p. 202.
  22. Ibid., p. 214.
  23. Foucault, Michel: Security, Territory, Population, Lectures at the College de France 1977-78. London 2009, p. 322.

Schwerpunkt | Von Carl Schmitts Staatsbegriff zum Ende des Staats bei Jean-Luc Nancy: Ein Vergleich

Wieso sieht sich eine Politsatire wie South Park in der Position, den Start einer neuen Staffel mit dessen Ende anzukündigen? Ihrer Ästhetik entsprechend bildet sie politische Zusammenhänge ab und überformt diese. Doch die politische Entwicklung in den USA hat es diesem Format kaum noch möglich gemacht, wie gehabt polemisch-polarisierend eine Welt zu spiegeln, sie ins Absurde zu führen und auf mögliche, katastrophale Zukünfte hinzuweisen. Eine Katastrophe begann sich zu entwickeln. Der Abstand zwischen politischem Geschehen und artifiziell Gestaltetem nicht mehr groß genug. Welchen Sinn hat eine Satire, wenn sie die Wirklichkeit scheinbar gar nicht mehr überspitzen kann, um sie vorzuführen? Zeigt diese Haltung nicht zugleich eine Wahrnehmung von ‚Wirklichkeit‘, die bereits gänzlich auf fixierte Vorstellungen reduziert ist? Dieser Beitrag untersucht anhand zweier exemplarischer Positionen den Umgang mit wirklichkeitsbildenden Begrifflichkeiten: der Fixierung von Sinnhaftigkeit und der Beweglichkeit von Sinn. Den Text abschließend wird deshalb das Beispiel South Park erneut auftauchen.

Fragen nach übergeordneten Begriffen wie Menschheit, Moral oder Zugehörigkeit tauchen als Problemstellung vielleicht immer dann auf, wenn deren vormaliger Sinn schwindet, eine stabile Bestimmung von Sinn nicht mehr möglich ist. Eine solche Beobachtung und den Versuch einer Lösung unternimmt bereits Carl Schmitt in den 1920er und 1930er Jahren mit Blick auf Staat, Demokratie und Politik. Für ihn ist die Aushandlung von Bestimmungen im Politischen zu suchen. Um stabile Bestimmungen des Sinns zu ermitteln, möchte Schmitt von klar differenzierten Gegensatzpaaren ausgehen, die sich in seinem Verständnis als Dualismen verhalten.

Jean-Luc Nancy bemerkt in den 1990er Jahren ein ähnliches Phänomen des Verschwimmens von vormals festen Sinnstrukturen, was er zwar ebenfalls universal beschreibt, dabei allerdings für die Durchmischung und Fluidität von Sinn plädiert, damit dieser sich nicht unentwegt im Zustand der Stagnation befindet. Der Umstand des stagnierten Sinns wird von Nancy als „Sinn haben“[1] bezeichnet. Ich möchte zeigen, wie Schmitts Ansätze einer festumreißenden, nicht-ableitbaren Definition von Sinn lediglich ein solches ‚Sinn haben‘ beschreiben.[2] Ferner möchte ich darlegen, wie sich zugleich die Möglichkeit der Aufhebung der Stagnation von Sinn ereignen kann.

Schmitt begegnet der Stagnation mit seiner Freund-Feind-These, die er in seiner Arbeit Der Begriff des Politischen (1932) als notwendige Voraussetzung für den Staat erörtert. Letztlich möchte Schmitt einen Stillstand verhindern, indem er die ständige Möglichkeit kriegerischer Auseinandersetzungen postuliert. Unter Hinzunahme von Nancys Überlegungen aus Der Sinn der Welt (im Original: Le sens du monde von 1993) soll nicht nur ein Gegenmodell zu Schmitts These dargestellt, sondern auch eine Erörterung dieser geboten werden, die aufzeigt, dass Schmitts Philosophie auf vorher gesetzten sowie willkürlichen Normierungen beruht, die sich allerdings auch gegen seine Argumentation lesen lassen.

1. Sinn haben

Über den Staat schreibt Schmitt 1932: „Der Begriff des Staates setzt den Begriff des Politischen voraus. Staat ist nach dem heutigen Sprachgebrauch der politische Status eines in territorialer Geschlossenheit organisierten Volkes.“[3] Staat ist demnach verbunden mit dem Politischen und einer sich von anderen, abgrenzenden Gruppe, die Schmitt als Volk bezeichnet. Francesca Raimondi weist in ihrer Arbeit Die Zeit der Demokratie darauf hin, dass Schmitt das Politische vom Juristischen oder Parlamentarischen, also einem Raum von Aushandlungen, abgrenzt und diese als Gegensatzpaar behandelt.[4] Für Schmitt nehmen zu oft andere Interessensgruppen, wie „Religion, Kultur, Bildung [oder] Wirtschaft“[5] Einfluss auf den Staat. Daher komme es zu einer Vermischung von Staat und Gesellschaft. Hieraus ergibt sich für Schmitt: Das Politische benötige ein notwendiges Unterscheidungsmerkmal, um als Voraussetzung für den Begriff Staat dienen zu können.[6]

Schmitt geht es darum, grundlegende Begriffe zu definieren, die ihrerseits nicht ableitbar, sondern eben grundlegend sind. Um das Politische vom Moralischen oder Ästhetischen abzugrenzen, bestimmt er: „Die spezifische politische Unterscheidung, auf welche sich die politischen Handlungen und Motive zurückführen lassen, ist die Unterscheidung von Freund und Feind.“[7] Der Andere, der der Freund-Gruppe (was bei Schmitt auch das Volk ist) gegenübersteht ist hier der Feind. Dieser wird gleichzeitig zum notwendigen Kriterium, das dem Staat gegenüberstehen muss. Der Dualismus Freund-und-Feind bildet für ihn zwei Pole eines äußersten Intensitätsgrads, nach dem Verbundenheit oder Trennung bestimmt werden soll.[8] Weiter sei dieses Kriterium vom Politischen, in seiner Dualität, nicht auf ein anderes zurückzuführen. In diesem Zusammenhang sträubt sich Schmitt gegen jede Möglichkeit der Vermischung, wie ein Begriff der Kulturpolitik oder Religionspolitik. In einer Begriffshierarchie sollen das Politische und der Staat bei Schmitt Höheres sein.[9] Daraus ergibt sich eine Unschärfe der Begriffe von Staat, Volk, Freund und Feind. Während Freund nicht näher definiert wird, ist der Feind „der Fremde, und es genügt zu seinem Wesen, daß er in einem besonders intensiven Sinne existenziell etwas anderes und Fremdes ist […]“[10]. Maßgeblich für den Fremden ist dabei, dass dieser im Extremfall bekämpft werden kann – ohne eine vorherige Normierung oder Urteil einer dritten Partei.[11]

An diesem Punkt – des Extremfalls – wird das Erkennen des Fremden zu einer akuten Entscheidung, zwischen den Polen von Freund-und-Feind. Wichtig ist zu unterstreichen, dass „[d]ie Begriffe Freund und Feind […] in ihrem konkreten, existenziellen Sinn zu nehmen [sind], nicht als Metaphern oder Symbole, nicht vermischt oder abgeschwächt […]“[12]. Es müsste demnach eine Normierung bestehen, damit die Bekämpfung des Fremden ohne vorherige Aushandlung, also dem Extremfall entsprechend akut, bestimmt werden kann. Diesem entgegnet Schmitt damit, dass die Norm vom Moralischen und Ethischen bestimmt wird und der liberale Austausch lediglich den Begriff der Konkurrenz einführt, die schlicht auf den dualen Zustand von Freund-und-Feind zurück geht.[13]

Wenn das Potential bestehen muss, jederzeit in eine kämpferische Auseinandersetzung mit dem Fremden zu treten, schwankt der Wert dessen, was den Fremden ausmacht und er kann nicht länger als un-ableitbar von anderen Kriterien und ohne äußere Bedingung bestehen. Verändert sich nämlich das Sein des Feind-Fremden, muss sich auch sein Wert im Dualismus zum Freund verändern. Hier setzt also ein markanter Widerspruch ein, wodurch sich entgegen Schmitts Annahmen seine notwendige Bedingung verschieben lässt. Die notwendige Voraussetzung des Politischen, nämlich das Volk, das er zu Beginn als Legitimation für den Staat angeführt hat, weicht, und der Staat wird zum Höchsten, also zur maßgebenden Einheit des Politischen. Dadurch kehrt Schmitt seine erste These um, möchte sie aber gleichzeitig belegen;[14] insofern argumentiert er hier syllogistisch, dass der Staat durch das Politische und das Politische durch den Staat begründet sei. Das Sein bewegt sich nur noch auf einer begrifflichen Ebene, die Schmitt austauschbar macht, wodurch er den Sinn des Seins abkoppelt. Schmitt generiert aus dem vermeintlich unabweisbaren, existenziellen Sinn von Freund und Feind das, was den Sinn des Politischen konstituiert.

Raimondi verweist in ihrer oben angeführten Arbeitdarauf, dass mit Schmitts Trennung vom juristischen Aushandeln und dem Politischen auch das Souveränitätskonzept des Staates aufweicht und jede „souveräne Setzungsgewalt mit der radikalen Freiheit des Volkes […] gleichsetzt“[15]. Dabei soll jede Entscheidung bei Schmitt eine souverän-politische sein, was er darauf zurückführt, dass auch die Gerichtsbarkeit in ihrer Aushandlung dem jeweiligen Gesetz entsprechend entscheiden muss. In jedem bloßen Diskurs um die Gesetze entferne sich Entscheidungsfindung immer weiter von den konstituierenden Gesetzen, deshalb muss der Raum der Entscheidung auch der des Politischen und nicht des juristischen sein, so Schmitt nach Raimondis Analyse.[16] Anders ausgedrückt verliert nach Schmitt die Entscheidung in der Aushandlung ihren Bezug zum Sinn der Gesetze bzw. zum Sinn des Politischen. Wie allerdings gezeigt, nimmt Schmitt eine Setzung von Begriffen und damit von deren Sinnhaftigkeit vor, so, als wäre deren Sinn (z.B. des Politischen, der Welt oder von Freund-und-Feind)[17] etwas, was fixier- und habbar zu machen wäre. Einmal mehr erscheint Schmitts ex negativo Bestimmung von Freund-und-Feind auf der einen Seite als willkürlich, weil er sie selbst von den moralisch-ethisch bestimmten Normen trennt, und auf der anderen Seite als streng an eine Normierung gebunden, weil er die Setzung der Entscheidung von für ihn nicht auslegbaren Gesetzen ableitet.[18]

2. Sinn sein

Rund 60 Jahre nach Schmitts Vorhaben, den Begriff des Politischen zu bestimmen, untersucht Jean-Luc Nancy die Fixierung von Begriffen und Sinn, in dem diese in eine Form des stetig Möglichen, also einem immerwährend Veränderbaren bringt. Er stellt in den 1990er Jahren – einer Zeit direkt nach Auflösung der zweigeteilten Welt im Zeichen des Eisernen Vorhangs – fest, dass es keinerlei „zuweisbare Bedeutung von Welt mehr gibt.“[19] Was bedeutet, dass Welt, an sich eine bloße Begrifflichkeit, wie auch „Geschichte, Philosophie, Politik [oder] Kunst“[20] nicht mehr eine fixierte Wirklichkeit bildet. Diese Begriffe bilden lediglich den Namen eines Sinns ab, zu dem wir aber keinerlei Zugang mehr haben. Es ist ein Klammern an Worte, ohne zuweisbare Bedeutung.[21] Oder anders ausgedrückt, der jeweilige Sinn hat keinen Bezug mehr zu einem Sein. Eine entscheidende Aussage hierbei lautet: „es täuscht und blendet sich, wer ihnen noch einen bestimmbaren Sinn zuweist […] in dessen Namen Streitgespräche geführt werden, denen es nicht nur an Stringenz, sondern auch an Gehalt fehlt.“[22] Dies kann als impliziter Verweis auf Schmitt gelesen werden. Jener versucht in seiner Arbeit schließlich eine Rückführung vom Sinn des Politischen/des Staats zu dessen Sein, was er in dem erörterten Dualismus von Freund-und-Feind erfüllt sieht.

Ähnlich wie Schmitt, schreibt Nancy: Es gebe Sinn nur in Bezug auf ein Äußeres oder Anderes, womit das ‚Sinn Haben‘ gemeint ist. Sinn darf nach Nancy aber als nichts Festes verstanden werden, sondern auf die Möglichkeit der Durchmischung und Veränderung angewiesen. Ebenso ist das genannte Äußere immer gleichzeitig und in einem sich-mischenden Zustand zu dem zu begreifen, zu dem es sich bezieht. In diesem Zustand, dass ein ständiger Bezug besteht und dieser immer ist, kann niemals von einem gänzlich Äußeren ausgegangen werden, das einen zentralen Sinn stiftet (wie etwa ‚Gott‘). Mit diesem Verständnis ruft Nancy dazu auf, die vermeintlich klare und festumrissene eigene Welt nicht mehr bloß zu interpretieren, sondern als veränderbar zu verstehen.[23] Der hier zu betrachtende Punkt ist, vom Haben eines Begriffs und der bloßen Verwendung in Sprache zum Sein überzugehen, also uns selbst im Prozess des Bezugs zu verstehen. Und das findet sich bei Nancy im Handeln – einer Praxis vom Sinn,[24] was dem Repräsentieren von Begriffen gegenübersteht.

Nancys ontologische Überlegung des Sinn-Seins kann, wie gezeigt, als Gegenentwurf zu Schmitts Freund-Feind-These gelesen werden. Bzw. mit Nancy kann eine dekonstruktive Lektüre zeigen, dass Schmitts Definition des Staates weniger fixiert ist als von ihm selbst gedacht. Schmitt setzt den Staat zwar als ein gegebenes Sein fest, relativiert dies aber direkt, indem er ihn in einen scheinbar unauflösbaren Bezug zum Politischen setzen möchte. Dieses führt er in die Einteilung von Freund-und-Feind über, was dazu führt, dass der Feind bestimmt, was der Staat ist und letztlich was das Volk ist. In Schmitts Insistieren auf das, was Staat grundlegend sei, möchte er sich von allen vermeintlich ‚abgeleiteten‘ Zuschreibungen und allen Bezügen, die zum Begriff Staat entstehen, befreien. Dies funktioniere nach Schmitt über ein akutes Handeln, indem sich der Staat immer wieder neu zusammensetzt, weil der Feind auch immer wieder neu bestimmt werden muss. Diese Bestimmung geschieht wiederum durch das Entscheiden – vor allem Entscheiden darüber, wer Freund und Feind ist, wobei unklar bleibt, wer entscheidet und außer, dass es akut geschieht, wie entschieden wird. Doch der Begriff Staat, von dem Schmitt ausgeht, steht im Verlauf seiner Erörterung in keinem Zusammenhang mehr mit dem, was dieser ursprünglich sein soll: Ein abgegrenzter Fleck Erde, auf dem sich eine Gruppe von Menschen befindet. Schmitts Logik ernst genommen, müsste auch diese Gruppe Menschen schließlich in der stetigen Befragung dessen stehen, was sie selbst eigentlich sind: Freund oder Feind. Schmitt möchte eine bestimmte zugewiesene Vorstellung von Sein präsentieren, doch die Präsentation widerlegt sich selbst.

Mit Nancy gelesen zeigt sich, dass das unentwegte Präsentieren eines fixierten Sinns (bei Schmitt die Befragung von Freund und Feind) dazu führt, dass Sinnzuschreibungen oder das Haben von Sinn überhaupt nicht möglich sind. Freund und Feind werden nicht zu den Polen vom Äußersten, weil sie selbst im stetigen Pulverisieren ihrer selbst sind, weil es kein Äußeres mehr gibt, von dem sie sich abgrenzen könnten. Schmitts Prämisse für Freund-und-Feind ist die Unmöglichkeit einer äußeren bzw. inneren Ableitung dieser beiden in Abhängigkeit stehenden Begriffe. Gleichzeitig wird die Aufteilung der äußersten Pole dadurch sehr instabil, weil sie situativ, im Moment des Entscheidens angepasst werden – ein fester Zustand vom Sinn Freund und Feind also nicht behauptet werden kann, lediglich, dass sie sich in der Zweiteilung Freund-und-Feind ausschließend gegenüberstehen sollen. Dennoch behauptet er diesen festen Zustand Staat/Feind und Fremdes, auf den sich bezogen werden könnte.

Indem Schmitt also sagt, es gäbe diesen Feind, diesen absoluten Fremden, der dem Staat entgegensteht, ohne einen wirklichen Bezug dazu zu haben, weil er ihn überhaupt nicht zu fassen weiß, außer ihn in andere Begriffe zu überführen, stellt er nach Nancy einen Begriff als fixierten Sinn in den Raum. Dieser Sinn des Feindes ist in letzter Instanz dann die bloße Legitimation für die Ausgrenzung von Minderheiten, Rassismus oder Populismus.

Ein Letztes

Diese verbindende Gegenüberstellung von Schmitt und Nancy sowie der offenkundige Drang danach, Sinn zu sein, anstatt sich auf ihn zu beziehen, birgt Ähnlichkeit mit dem 2018 auf Twitter geteilten Hashtag „#cancelsouthpark“[25]. Mit diesem Apell haben die Macher der Fernsehsendung South Park den Start ihrer neuen Staffel angekündigt und gleichzeitig auf ihr Ende verwiesen. Sie sehen sich in der Situation, in der sie in der Fiktion des makabre-satirischen Cartoons nicht mehr fähig sind, politische Wirklichkeit zu überhöhen, da diese zunehmend selbst bereits der Satire gleicht.

Mit diesem Beispiel und der Zuspitzung im cartoonesquen, politischen USA ist das Zukünftige bereits in der Gegenwart präsent oder ist dort zumindest spürbar. Der nach Extremen greifende politische Sinn inszeniert sich für die, die diesem nicht folgen als katastrophales, stagniertes Sein. Eva Horn legt in Zukunft als Katastrophe dar, dass die Popularität solcher Szenarien in Metaphern, Bildern und Zuschreibungen deshalb so groß ist, weil mögliches Zukünftiges somit bestimmbar und formbar wird.[26] Interessant dabei ist Horns Beobachtung, dass es Inszenierungen sind „in denen nicht nur ausgemalt, sondern auch ausgehandelt wird, wie man sich zu diesen möglichen Zukünften in der Gegenwart zu verhalten hat“[27]. Mit Blick auf zukünftige Katastrophen verändere sich nach Horn gleichsam die Gegenwart, da Unvorstellbares vorstellbar und damit vermeidbar wird. Wobei es ihr weniger um einen didaktischen Kunstbegriff geht als um mögliche plurale Welten, in denen ein Einfühlen vorstellbar wird. Weniger die Vermeidung als aufmerksamer Konsum von Gegenwärtigkeiten.[28]

Schriftliche Narration, Bewegtbild oder das Theater erschließen Räume von ästhetischer Erfahrung. Katastrophen, wie ein schmitt’scher, unausweichlicher Krieg, die sich durch dichotome Unterscheidungen definieren und scheinbar real sind, können in der Kunst in die Sphäre der Fiktion gezogen werden. Sie werden somit Fiktion selbst und als solche verhandelbar. Die entscheidende und nicht-aushandelnde Figur von Schmitt tritt nicht auf, weil auch der Krieg selbst sowie dessen Ende ausgehandelt werden können. Nancys Ruf danach, Sinn nicht nur begrifflich zu haben, ihn hingegen zu präsentieren, also Sinn zu sein, wirkt mit der Qualität von stetigem Zerfall und kontinuierlicher Veränderung beinahe unerreichbar. Im direkten Erleben von möglichen Zuständen szenischer Künste oder auch den veranschaulichten Fiktionen, die ein Cartoon wie South Park hervorruft, kann für achtsames Erleben innegehalten werden. Es sind Formen in Räumen, die Diverses, sich stetig In-Bezug-Setzendes und Vermischendes ermöglichen. Das Präsentieren von Sinn sollte nicht sich selbst überzeichnenden, populistischen Figuren einer realen Politik überlassen werden, die auf Begriffen verharren, diese leeren Nicht-Begriffe dennoch zur Wirklichkeit überformen.


  1. Nancy, Jean-Luc: Der Sinn der Welt. Berlin 2014, S. 16.
  2. Vgl. ebd.
  3. Schmitt, Carl: Der Begriff des Politischen. Text von 1932 mit einem Vorwort und drei Corrolarien. Berlin 1987, S. 20.
  4. Vgl. Raimondi, Francesca: Die Zeit der Demokratie. Konstanz 2014, S. 37 f.
  5. Schmitt: Der Begriff des Politischen, S. 24.
  6. Vgl. ebd.
  7. Ebd., S. 26.
  8. Vgl. ebd., S. 26 f.
  9. Vgl. ebd., S. 27.
  10. Ebd., S. 26.
  11. Vgl. ebd., S. 27 f.
  12. Ebd., S. 28.
  13. Vgl. ebd., S. 28 f.
  14. Vgl. ebd., S. 46.
  15. Raimondi: Die Zeit der Demokratie, S. 21.
  16. Vgl. ebd., S. 37 f.
  17. Vgl. Nancy, Jean-Luc: Der Sinn der Welt. Berlin 2014, S. 16.
  18. Vgl. ebd., S. 23f.
  19. Nancy, Jean-Luc: Der Sinn der Welt. Berlin 2014, S. 12.
  20. Ebd., S. 12.
  21. Vgl. ebd.
  22. Ebd., S. 13.
  23. Vgl. ebd., S. 15 f.
  24. Vgl. ebd. S. 16.
  25. https://twitter.com/SouthPark/status/1039884267130511360, 12.09.2018 (Zugriff am 05. Februar 2020). Anmerkung: Die Staffel wurde ausgestrahlt und die Serie wird weiterhin produziert. Ob dies nun eine Entscheidung der Creative Partners war oder der Produktionsfirma Comedy Central bzw. VIACOMCBS sei dahingestellt.
  26. Vgl. Horn, Eva: Die Zukunft als Katastrophe. Frankfurt a. Main 2014, S. 22 f.
  27. Ebd., S. 23.
  28. Vgl. ebd., S. 26 f.

Schwerpunkt | Ubueske Groteske. Nature Theater of Oklahoma: No President

Einleitung

Mein Essay beschäftigt sich mit der Inszenierung des Theaterstücks No President. A story ballet of enlightenment in two immoral acts des Nature Theaters of Oklahoma[1].

Es soll der Frage nachgegangen werden, wie sich die Begriffe ubuesk und grotesk auf die Inszenierung, die Hauptfigur und den Inhalt des Stücks beziehen lassen. Handelt es sich bei der Inszenierung von No President um eine ubueske Groteske? Dieses Essay kann jedoch nur einen kleinen Ausschnitt der Ergebnisse darstellen, die ich im Rahmen meiner Bachelorarbeit erforscht habe.

Betrachtet man die aktuellen politischen Geschehnisse unter dem Aspekt des Grotesken und Ubuesken, fallen besonders die vielen Präsidenten und führenden politischen Persönlichkeiten auf, die auf konservative Werte pochen und versuchen, die Zeit zurück zu drehen. Ob Trumps „Make America great again“[2] oder Johnson, der für den Brexit, den Austritt Großbritanniens aus der EU, steht, ob Bolsonaro oder Erdogan, Putin oder Salvini, die populistische, groteske Politik dieser ‚Herrscher‘ ähnelt sich auf bemerkenswerte Weise.

Das Nature Theater of Oklahoma [Im Folgenden: NToO] knüpft an eben diese Ereignisse an, indem es eine weitere Präsidentenfigur schafft, die eine Künstlervergangenheit als Performer hat und mit ihrem Auftreten und Handeln groteske Komik erzeugt. Auf die Ähnlichkeiten zu der grotesken Witzfigur Ubu, aus Alfred Jarrys König Ubu[3] und der real existierenden Machtfigur Trump werde ich in diesem Beitrag näher eingehen.

Nature Theater of Oklahoma: No President

No President. A story ballet of enlightenment in two immoral acts handelt von den beiden Freunden Mikey (Ilan Bachrach) und Georgie (Bence Mezei). Beide sind ehemalige, enttäuschte Künstler, „former thespians, […] actor-singer-dancers“[4], die nun als „security guards“[5] für eine Sicherheitsfirma arbeiten. Ihre Arbeit besteht darin, einen roten, samtenen Vorhang zu bewachen. Da das Bewachen des Vorhangs langweilig und ereignislos ist, weil kaum jemand versucht, sich dem Vorhang zu nähern und deshalb kaum Gefahr droht, dass er geöffnet wird, haben die beiden angefangen, eine Tanz-Choreografie zu ihrer Erheiterung zu entwickeln. Im weiteren Verlauf der absurden, komplexen und grotesken Handlung zerstreiten sich Mikey und Georgie, da sie in dieselbe Frau – die Aufseherin und Ehefrau des Chefs – verliebt sind. Dies führt dazu, dass Mikey seinen Chef aufisst und sich am nächsten Morgen unter dem Vorbehalt, „[…] that his official title be President.“[6], dazu bereit erklärt, den Chefposten zu übernehmen.

Nach einer positiven Anfangszeit spürt er bald, dass die anderen Wächter hinter seinem Rücken schlecht über ihn reden. Nachdem er von seinen persönlichen Dämonen und dem Teufel verfolgt wird, erfährt Mikey, dass seine Erzfeinde, der Hausmeister und die Aufseherin, die Macht der Firma an sich gerissen haben. Er willigt daraufhin ein, an der Seite von Georgie und den Ballett Banditen, die Mitglieder einer konkurrierenden Sicherheitsfirma sind, gegen seine ehemalige Firma zu kämpfen. Georgie und er essen im folgenden Kampf alle anderen auf und vertragen sich. Sie öffnen den Vorhang und tanzen auf der nun offengelegten Hinterbühne ihre gemeinsame Choreografie in einem Pas de deux zu Adeles Song Someone Like You[7].

Neben diesem Popsong aus dem Jahr 2011, der jeweils den ersten und zweiten Akt beschließt, wird das Stück die restliche Zeit von klassischer Musik untermalt. Die Musik stammt aus dem Ballettstück Der Nussknacker, komponiert von Pjotr IljitschTschaikowski. Der ballettartige Tanz und die klassische Musik bilden einen grotesken Gegensatz zum absurden Inhalt des Stücks.

Neben der Musik werden zwischendurch slapstickhafte Sounds überlaut eingespielt. Der Balletttanz ist vermischt mit teils ungewöhnlichen Posen und Bewegungen. Parallel zur Tanz- und Pantomimenebene der Performance führt der Erzähler mit seiner monumentalen Erzählung inhaltlich durch die Performance. Der englische Text, den er spricht, wird sowohl in Englisch als auch in Deutsch über dem auf alt getrimmten hölzernen Bühnenportal, das den Vorhang einrahmt, übertitelt. Tanz- und Textebene ergeben so ein inszenatorisches Ganzes.

Die Absurdität des komplexen Inhalts wird auch anhand der Länge des ersten Akts deutlich. Erst nach fast anderthalb Stunden ruft der Erzähler den zweiten Akt aus, der jedoch nur halb so lang dauert wie der erste Akt.

No President spielt zusätzlich auf die aktuelle politische Lage der USA an. So entsteht aus einer grotesken politischen Situation eine Groteske auf der Bühne. Die Komik wird nicht durch Ironisierung, sondern durch das Ernstnehmen, Übernehmen und Darstellen von gesellschaftlichen Prozessen auf eine absurde, überhöhte Weise erzeugt. Die grotesken gesellschaftlichen Prozesse werden dabei Teil des Inhalts und der Form der Inszenierung.

Das NToO spielt auf inhaltlicher Ebene, aber auch im Inszenierungsprozess immer wieder mit Gegensätzlichem.

Die Herausforderung als Inszenierungsmittel des NToO

Die Kunst- und Performancegruppe NToOwurde 1996 von Kelly Copper und Pavol Liska gegründet[8].

Die Mitglieder des NToO haben nach einiger Zeit der Beschäftigung mit konventioneller Theaterpraxis eine ganz eigene Art entwickelt, mit dem Medium Theater umzugehen und andere Stücke zu konzipieren[9], sie haben eine eigene Theater- und Schauspieltheorie geschaffen. Ihnen ist nicht wichtig, ob es sich bei ihren Performer*innen[10] um Laien oder Profis handelt.

‚Die Herausforderung‘ ist ein vorherrschender Begriff in der Theaterarbeit des NToO. So fordern Liska und Copper nicht nur ihre Performer individuell heraus, sondern auch das Publikum, ebenso wie sich als Theatermacher selbst. Dies geschieht sowohl im Probenprozess als auch während der Aufführung. Sie testen Grenzen aus und ermöglichen die Überschreitung von eingefahrenen Mustern und Komfortzonen, um Unvorhergesehenes und Neues zu entwickeln. Sie hinterfragen vorherrschende Sehgewohnheiten und denken die Rolle des Performers neu. Ihre Arbeitsweise wirkt oft absurd und grotesk, weil sie den gängigen Inszenierungsmustern konträr gegenübersteht.

Durch den Prozess der Herausforderung der Performer entsteht eine Überforderung, die NToO auch „Krisensituation“[11] nennt. Die Performer sollen nicht das machen, worin sie sich sicher fühlen, sondern genau das Gegenteil. Sie sollen über sich hinauswachsen. Liska und Copper geben dabei alles vor, „[j]ede einzelne Bewegung“[12], um die Performer in Bedrängnis zu bringen. Der besondere Umgang mit dem Schauspieler zeigt sich auch in der Beziehung, die er zur Rolle einnehmen soll. Die Darsteller sollen die Rolle nicht verkörpern, indem sie sich in sie einfühlen und erleben, was die Figur erlebt, sondern eine Distanz zu ihr aufbauen.

Der Schauspieler soll über die Rolle hinausgehen, sogar über das eigene Selbst. So formuliert Nikolaus Müller-Scholl zusammenfassend: „Tatsächlich oder real ist also das, was sich zeigt, wenn das Subjekt nicht länger der Souverän seiner Handlungen ist.“[13] Das Performer „am Performen […] hindern“[14] dient Liska und Copper dazu, eine besondere Form von Realität auf der Bühne und im Austausch mit dem Publikum zu schaffen. Dieser Realismus auf der performativen Ebene wird dem inszenierten, märchenhaften Stoff entgegengesetzt.

Durch die etablierte Krise, die ein Scheitern ermöglicht und eine ständige Weiterentwicklung und Konzentration erfordert, wird die Performance zu etwas im Moment Verhandelbaren. Die einzelnen Performer werden in jeder Vorstellung immer wieder aufs Neue über- und herausgefordert.

Das Durchbrechen der vierten Wand mit dem Blick des Performers und die Provokation durch direkte Darstellung von tabuisierten Themen wie Masturbation und Kannibalismus sollen das Publikum herausfordern. Aber auch die Komplexität der absurden, vielschichtigen Handlung, die sich über zwei Stunden und fünfzehn Minuten erstreckt, beansprucht die Zuschauer stark.

Coppers und Liskas Interesse liegt nicht in der Ironie. Sie interessiert die gegensätzliche Seite, die „Ernsthaftigkeit (Sincerity)“[15]. Auch die Schauspieler sollen nicht ironisch kommentieren. Diese ernsthafte Haltung gegenüber dem Gezeigten erzeugt eine komische Distanz zu dem absurd überhöhten und grotesken Inhalt des Stücks. Dadurch fordert das NToO seine Zuschauer heraus, sich eigene Gedanken zu machen, für sich zu entscheiden, wie sie zum Wahrgenommenen stehen und wie sie sich dazu verhalten wollen.

Es ist ein Ziel von Liska und Copper, das Gegenteil von Erwartbarem in ihre Stücke zu integrieren. Sie spielen mit der Erwartungshaltung des Publikums und fordern so nicht nur die Zuschauer, sondern auch sich selbst heraus. Sie setzten sich unter Druck, um die Grenzen des Theaters auszutesten.

Im Folgenden sollen nun die Begriffe grotesk und ubuesk anhand der Inszenierung und dem Drama König Ubu untersucht werden. Inwieweit lassen sich ubueske und groteske Verhaltensmuster bei Mikey erkennen und welche Aspekte des Genres der Groteske lassen sich in No President und König Ubu finden?

Das Ubueske

Ubu roi (König Ubu)[16] ist ein von Alfred Jarry verfasstes Theaterstück, das ursprünglich als Marionettentheaterinszenierung entstand und 1896 mit Schauspielern in Paris uraufgeführt wurde.

Aufgrund der im Stück verwendeten vulgären Fäkalsprache und der Neuartig- und Andersartigkeit des Theaterwerks löste König Ubu einen Skandal aus und gilt als Beginn des modernen, avantgardistischen Theaters in Frankreich.[17] König Ubu wird zur sinnbildlichen Figur eines grotesken, autoritären, tyrannischen, grausamen, habgierigen, von niederen Trieben und Instinkten geleiteten Herrschers.[18] Aus den Zuschreibungen des Figurentypus König Ubu bildet sich der Begriff des Ubuesken.

Mikeys Charaktereigenschaften erinnern inhaltlich sehr an die Figur des Ubu. Die Absicht von Jarry, das Publikum gleichzeitig zu erschüttern und zum eigenständigen Denken anzuregen, ähnelt der Zielrichtung des NToO.

Ubuesk ist jemand, der „auf überspitze Weise, komisch grausam, zynisch und feige“[19] ist. Es gibt ubueske Figuren, Charakterzüge und Zustände.[20] Vater Ubu wird auf diese Weise zu etwas allgemeingültig Benennbarem, zu einem zeitlosen Figurentypus. Die fiktive Figur wird zu einem realen Begriff außerhalb der Fiktion des Dramas, der Menschen und Situationen beschreibbar macht. Dies beweist die Parabelhaftigkeit der Figur Ubus und des Dramas. Im speziellen und nicht parabelhaften Sinn beschreibt Jarry in König Ubu einen Herrscher, der durch verräterische, unlautere Mittel den König stürzt, töten lässt und so selbst an die königliche Macht gelangt. Als Machthaber verhält er sich inkompetent, brutal und feige. Der ubueske Herrscher ist unberechenbar, denn er hält sich nicht an moralische Kriterien, verhält sich nicht empathisch oder regelkonform.

Auch Mikey aus No President ist solch eine ubueske Kreatur. Er handelt ebenso lustgetrieben, egozentrisch und hemmungslos als Präsident wie Ubu als König.

Mikey hingegen ist nicht so offensichtlich vulgär, obszön und ekelerregend wie Ubu. Jedoch mischt sich sein brutales Verhalten mit seiner Gefräßigkeit zu tierhaften Kannibalismus-Attacken.

Da Mikey in seiner grotesk-sadistischen Art nicht vor menschlichem Fleisch zurückschreckt, verschlingt und verleibt er sich seinen Chef ein, seine „politischen Gegner“ und sogar seine ehemals große Liebe im wortwörtlichen Sinne. Beide Figuren, Ubu und Mikey, kommen in ihren Verhaltensweisen wilden Tieren, Karnivoren, sehr nahe.

Das Groteske

Neben dem Ubuesken spielt das Groteske und das Genre der Groteske eine bedeutende Rolle in der No President-Inszenierung und dem Theaterstück König Ubu. Die theatrale Groteske wird in Brauneck und Schneilins Theaterlexikon beschrieben als:

Komischer Mischeffekt der Verzerrung des Realen bis zur Skurrilität, zum Albtraumhaften, zur Deformation, durch dessen Ambivalenz beim Zuschauer zugleich Lachen und Grauen erzielt werden.[21]  

Das Groteske als Mischung aus Lächerlichem und Grauenvollen fasst einen Zustand, „dem bloße Satire nicht mehr beikommt.“[22]

Ein gleichzeitig grotesker Aspekt, als auch Aspekt einer Groteske, ist die Darstellung und Darstellungsweise von Mikeys Beziehungen in No President. Der Aspekt des Kannibalismus beispielsweise ist ebenso grausam wie komisch. Zudem wird er auf skurrile und absonderliche Weise künstlerisch verfremdet dargestellt.

Seine animalische Gefräßigkeit und Habsucht stehen bei Mikey in direktem Zusammenhang mit Wut. Diese Wut scheint zu entstehen, sobald er das Gefühl hat, zurückgewiesen zu werden und nicht die Aufmerksamkeit bekommt, die ihm seiner Meinung nach zusteht. Für Mikey, der sich immer noch als Performer wahrnimmt, sind mangelnde Aufmerksamkeit und fehlende Wertschätzung die Schwachstellen, die ihn zur Raserei bringen. Der Vorgang der Einverleibung ist in Mikeys Wahrnehmung fast die einzige Möglichkeit, wie er eine ‚Verbindung‘ mit Menschen eingehen kann und wird zu einem monströsen Sinnbild für seine grotesken Beziehungen.

Trotz ihrer Vulgarität und ihrem unmoralischen Verhalten erlangen Ubu und Mikey im Verlauf der jeweiligen Dramenhandlung Macht und Ansehen, beide auf betrügerische und barbarische Weise, da sie inkompetente Herrscher sind. Später im Drama verlieren sie ihre Macht wieder und werden zu feigen, schwachen Witzfiguren.

Anspielungen auf Präsident Trump lassen sich häufig in der Figur Mikeys erkennen, der im Laufe des Stücks ebenfalls Präsident seiner Sicherheitsfirma wird. Mikey verwendet dieselbe Wortwahl wie Trump. Diese Anspielungen erinnern das Publikum immer wieder an die ‚reale Welt‘ außerhalb des Theaters. Bei Jarrys König Ubu und NToOs No President entsteht keine Welt, in die man sich einfühlen kann. Der Aspekt, dass es sich um ein inszeniertes Theaterstück handelt, wird immer wieder sichtbar gemacht. Die gespielte Welt ist zu grotesk, um als real angenommen zu werden.

Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte und Foucault: Die Anormalen

Karl Marx hat sich in seinem Text Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte[23], ebenso wie Michel Foucault in Die Anormalen[24] mit realen Machtfiguren auseinandergesetzt. Beide zeigen das Ubueske und Groteske dieser mächtigen Figuren, die real existierten, auf.

Louis Bonaparte spielt den Präsidenten und Kaiser auf der Bühne, auf die Marx metaphorisch das politische Treiben verlegt[25]. Er übernimmt als ‚Performer‘ von seinem Onkel die Rolle des Kaiser Napoleon I. Für Marx ereignet sich die Weltgeschichte nicht nur angelehnt an Hegel zweimal, sondern sie verändert auch ihre Darstellungsweise. Sie zeigt sich „das eine Mal als Tragödie, das andere Mal als Farce.“[26] Deshalb verhält sich Louis Bonaparte als eine groteske, politische Witzfigur.

Für Foucault gehört „[d]ie Groteske […] zu den entscheidenden Verfahren der willkürlichen Herrschaft.“[27] Durch sie wird das Paradox erkennbar, dass der Souverän gleichzeitig mächtig ist, während er „disqualifiziert wird“[28]. Diese „infame[..] Souveränität“[29] ist eine Form „unwürdige[r] Macht“[30]. Sie lässt sich erkennen durch die absurde, witzfigurenhafte Außenwirkung des despotischen Herrschers.  Durch ein Übermaß an Macht, wird er „zu einer gemeinen, grotesken und lächerlichen Person“[31].

Fazit

Alle behandelten Texte und Inszenierungen stellen den despotischen ‚Herrscher‘ als eine lächerliche, absurde, ubueske, triebgesteuerte, autoritäre Figur dar, die auf unterschiedlichste Art an die Macht gelangt, obwohl sie nach außen ungeeignet und lachhaft erscheint. Ihre Art zu handeln vereint sowohl Grausamkeit als auch Komik und wird dadurch zu etwas Groteskem. Deshalb ist das Genre ihrer ‚Performance‘, sei es auf der wirklichen Bühne oder der ‚politischen Weltbühne‘, eine Groteske oder auch groteske Farce.

In der No PresidentGroteske wird keine Wahrheit, keine Realität erzeugt und jede aufkommende Illusion wird in ihrem Ansatz vereitelt. Auch die populistischen politischen Performer schaffen keine Wahrheit, vielmehr lügen sie und versuchen, eine Illusion zu erzeugen, die mit ihrem politischen Programm übereinstimmt. Dies führt zu einer grotesken Art von Politik, zu einer Art Groteske auf der Weltbühne. Die populistischen Politiker werden zu ubuesken Karikaturen ihrer selbst, die Macht durch Aufmerksamkeit gewinnen. Sie ähneln damit Mikey in seiner Sucht nach Aufmerksamkeit.

Eine weitere real existierende populistische Machtfigur ist Donald J. Trump.

Trump handelt in seiner populistischen, politischen ‚Präsidenten-Performance‘ nicht wie ein typischer, vertrauenswürdiger Präsident. Er verändert die Wahrheit, weil seine Lügen, die er als ‚alternative Fakten‘ tarnt, besser in sein Weltbild passen und ihn vorteilhafter wirken lassen. Er erscheint unmoralisch und wird von seinen Gegnern als lächerliche Witzfigur wahrgenommen. In seinen Verhandlungen kehrt er zu seinen unternehmerischen Strategien zurück, bei denen sich seine politischen Feinde zu Freunden entwickeln können und umgekehrt.

„Beispiele für Aufstieg und Fall ubuesker Kreaturen und für die Korrumpierbarkeit der Massen durch sie hat die Geschichte hinreichend geliefert und liefert sie bis heute“[32], heißt es im Nachwort zu König Ubu. Trump, so scheint es, ist nur ein neues Beispiel in der Geschichte.


  1. No President. A story ballet of enlightenment in two immoral acts. Nature Theater of Oklahoma. Regie: Copper, Kelly/Liska, Pavol. Premiere am 14. September 2018 in der Maschinenhalle der Zeche Zweckel, Gladbeck.
  2. Nader, Ralph: „What Does Trump Mean By ‘Make America Great Again’?”, https://www.huffpost.com/entry/what-does-trump-mean-by-makeamericagreatagain_b_5a341e29e4b02bd1c8c6066bguccounter=1&guce_referrer=aHR0cHM6Ly93d3cuZWNvc2lhLm9yZy8&guce_referrer_sig=AQAAAMe7UVPXjhFqX0JXTstHA4oMhtAHtvpMqGKJdh8Ubgi-oUXeU-qZ-57UkRmFFlvRd6UNjOcESgZMJt2pilRfQDgFG3KB_6PWBMO5wwrTVCUHjtShQVMpode5aGoBbZLwlL9GQk_bmUSjHYJt3fqNlFKUAj-5_DzeH0Bk8MWbH (Zugriff am 09. September 2019)
  3. Jarry, Alfred: König Ubu. Stuttgart 2017.
  4. Copper, Kelly/Liska, Pavol: NO PRESIDENT. A Story Ballet of Enlightenment in Two Immoral Acts. Last edited by Sarah Clemens. Stage directions script. Gladbeck Oktober 2018, S. 13.
  5. Copper/Liska: NO PRESIDENT. S. 6.
  6. Copper/Liska: NO PRESIDENT. S. 143.
  7. Ebd., S. 132.
  8. Vgl. https://www.dhaus.de/programm/a-z/no-president/kelly-copper/ (Zugriff am 09. September 2019).
  9. Vgl. Müller-Schöll, Nikolaus/Schallenberg, André: „Prinzip Krise. Pavol Liska und Kelly Copper (Nature Theater of Oklahoma) im Gespräch mit Nikolaus Müller-Schöll und André Schallenberg“, in: Müller-Schöll, Nikolaus/Schallenberg, André/Zimmermann, Mayte (Hg.): Performing Politics. Politisch Kunst machen nach dem 20. Jahrhundert. Berlin 2012, S. 10.
  10. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wird im Folgenden die männliche Form verwendet, die weibliche Form ist dabei jeweils mit eingeschlossen.
  11. Ebd., S. 13.
  12. Ebd., S. 14.
  13. Ebd., S. 14 f.
  14. Ebd., S. 14.
  15. Ebd., S. 19.
  16. Jarry: König Ubu.
  17. Vgl. ebd., S. 73.
  18. Vgl. ebd., S. 72-75.
  19. https://gr.bvdep.com/robert.asp (Zugriff am 11. September 2019).
  20. Vgl. ebd.
  21. Schneilin, Gérard: „Groteske“, in: Brauneck, Manfred/Schneilin, Gérard (Hg.): Theaterlexikon I. Begriffe und Epochen, Bühnen und Ensembles. 5. Aufl. Reinbek bei Hamburg 2007, S. 427.
  22. Heidsieck, Arnold: Das Groteske und Absurde im modernen Drama. Stuttgart 1969, S. 25.
  23. Marx, Karl: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. Holzinger, Michael (Hg.). 4. Aufl. Berlin 2016.
  24. Foucault, Michel: Die Anormalen. Vorlesungen am Collège de France (1974-1975). Frankfurt am Main 2003.
  25. Vgl. Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. S. 20.
  26. Marx: Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte. S. 7.
  27. Foucault: Die Anormalen. S. 29.
  28. Ebd., S. 30.
  29. Ebd., S. 29.
  30. Ebd.
  31. Ebd., S. 28.
  32. Jarry: König Ubu. S. 79.

Miszelle | Theater und Pandemie. Über die Auswirkungen der COVID-19 Pandemie auf das Theater

Als Ort der Versammlung lebt das Theater in erster Linie von der Zusammenkunft verschiedener Menschen, von der gemeinsamen Anwesenheit von Körpern im Raum. Es geht nicht nur um das, was auf der Bühne stattfindet, sondern auch um Gemeinschaft, Zusammenkommen und Austausch. Während der COVID-19 Pandemie wird genau dieser Umstand zum Problem: Das Theater gilt als potentieller Ansteckungsherd. Daher wird es mit Maßnahmen des geltenden Infektionsschutzgesetzes belegt, aus denen sich wiederum Schwierigkeiten für den Arbeitsalltag der Theaterschaffenden ergeben. Diese Zusammenhänge sollen im Folgenden näher untersucht werden, um darüber nachzudenken, was weiter gefasste Hintergründe des Umstandes sein können, dass viele Theater während der Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie in Deutschland (in der strengsten Phase im März und April 2020 sowie danach) über das Streaming von vergangenen Aufführungen hinaus kaum Alternativen angeboten haben. Abschließend soll eine Arbeit vorgestellt werden, die einen gelungenen Versuch darstellt, mit der Situation auf eine alternative Art und Weise umzugehen. Der Text ist mit einigem zeitlichen Abstand zu der Phase der strengeren kontaktbeschränkenden Maßnahmen im Juli 2020 entstanden und beleuchtet diese Zeit rückblickend in einer Phase, in der der Spiel- und Probenbetrieb an den Theatern und für Theaterschaffende unter Auflagen aktuell zunächst wieder möglich war. Es bleibt abzuwarten, welche Lehren für die erneute Unterbrechung des Proben- und Spielalltags an den Theatern aus dieser Zeit gezogen werden.

Der Ansteckungsdiskurs

Das Theater zeichnet sich durch eine eigensinnige Doppelseitigkeit aus. Geht es auf der einen Seite um Reinigung im Sinne der Katharsis, so kann es auf der anderen Seite als Ansteckungsherd verstanden werden. Eigentlich ein Begriff aus der Medizin, wird in der Theaterforschung seit einigen Jahren die Ansteckung als ästhetisches Phänomen diskutiert: Es geht um die rezeptionsästhetische Wirkung, die das Bühnengeschehen auf die Betrachtenden hat, nicht so sehr im Sinne „des lateinischen Verbums inficere (adql), das ‚vergiften‘, ‚verpesten‘ und ‚beflecken‘, kurz die ‚Entweihung durch Berührung‘ meint“, als vielmehr im Sinne „eines funkenschlagenden, sich rasch von Körper zu Körper übertragenden Kontakts; das, was sich im lateinischen afficere ankündigt und so viel wie ‚anrühren‘, ‚anstecken‘ und ‚berühren‘ bedeutet“.[1] In diesen Diskurs lässt sich auch Antonin Artauds Text Das Theater und die Pest einordnen, in dem dieser die Pest-Epidemie als Metapher für die Wirksamkeit des Theaters benutzt: „Wie die Pest ist das Theater eine Krise, die mit dem Tod oder der Heilung endet.“[2] Diese Einordnung Artauds in den Ansteckungsdiskurs nimmt auch Matthias Warstat vor, der vor allem darauf hinweist, dass bei Artaud „die Krise, die das Theater sein soll, […] sich – wie eine Epidemie – auf dem Wege der Ansteckung [verbreitet]“ und dass Artaud diese Ansteckung als unberechenbar und vor allem „nicht an materielle oder unmittelbare Kontakte gebunden“ beschreibt.[3] Bei Artaud heißt es:

Ich glaube, man kann sich einig werden über die Vorstellung einer Krankheit, die eine Art psychische Wesenheit wäre und nicht verursacht durch einen Virus. Wenn man alle Fälle von Pestansteckungen […] einer genauen Untersuchung unterziehen wollte, würde man schwerlich einen einzigen wirklich erwiesenen Fall von Ansteckung durch Berührung feststellen können.[4]

Würden wir nun Artauds Behauptung einfach folgen und die Analogie von Pest und Theater auf eine Analogie von Theater und jegliche Ansteckungen erweitern, so bestünde wohl kein Grund dazu, die Theater zu schließen oder sie mit strengen Auflagen zu belegen, denn die Krankheit verbreitet sich nach Artaud eben nicht über Nähe und Berührung, sondern auf eine willkürliche Art, die sich der analytischen Nachvollziehbarkeit entzieht: „Niemand kann sagen, warum die Pest den Feigling erwischt, der sich aus dem Staube macht, und den Wüstling verschont, der sich an Leichen befriedigt. Warum Evakuierung, Keuschheit und Einsamkeit machtlos sind wider das Befallenwerden von der Geißel.“[5]

Über die Maßnahme

Nun steht es außer Frage, dass Artauds Behauptung medizinisch nicht haltbar ist, jedoch stellt das aktuelle Pandemie-Geschehen die Wissenschaft vor einige Fragen, in denen Artauds Ausführungen widerhallen: Warum gibt es sog. Superspreader, die eine große Anzahl von Menschen anstecken, aber ebenso Menschen, die das Virus in sich haben, aber nicht weitertragen? Welche Rolle spielen dabei die Viruslast, die die Art der Aussprache oder der Zeitpunkt der Infektion? Trotz dieser Unklarheiten bleibt eine ganz einfache Deutung des Theaters als Ansteckungsherd bestehen, in medizinisch-wissenschaftlichem Widerspruch zu Artaud: eben doch jene, die auf ganz physische Art und Weise die Verbreitung von Bakterien und Viren ermöglicht. Dies hängt vor allem mit der örtlichen Gebundenheit der Theaterformen zusammen, bei denen sich zu einer bestimmten Zeit für eine gewisse Dauer viele Menschen an einem Ort versammeln. Durch diese Eigenschaft der Ortsgebundenheit ist auch das Theater von den im Infektionsschutzgesetz festgelegten Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie betroffen, die in den vergangenen Wochen den gängigen Spiel- und Probenbetrieb der Theaterstätten und -schaffenden auf unbestimmte Zeit unterbrachen bzw. diesen seit den Lockerungen der Maßnahmen zur Eindämmung des Virus weiterhin einschränken. Der Erlass des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen vom 13. März 2020 zur Durchführung von Veranstaltungen unter Bezugnahme auf §28 in Verbindung mit §16 des Infektionsschutzgesetzes lautet wie folgt:

Aufgrund aktueller Entwicklungen und Erkenntnislagen, insbesondere der stark zunehmenden Ausbreitung von SARS-CoV-2, ist grundsätzlich auch in den Fällen von Veranstaltungen unter 1.000 erwarteten Besuchern/Teilnehmern davon auszugehen, dass keine Schutzmaßnahmen getroffen werden können, die gleich effektiv aber weniger eingriffsintensiv sind, als die Veranstaltung nicht durchzuführen. Das Auswahlermessen der zuständigen Behörden reduziert sich damit regelmäßig dahingehend, dass nur die Absage oder zeitliche Verschiebung bis zur Änderung der Gefährdungslage und Aufhebung der angeordneten Maßnahmen in Betracht kommt. Ausgenommen hiervon sind notwendige Veranstaltungen, insbesondere solche, die der Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung […] zu dienen bestimmt sind.[6]

Mit Blick auf den Erlass fällt auf, wie häufig der Begriff der Maßnahme hier sowie im Infektionsschutzgesetz, das die Maßnahmen zur Eindämmung einer weiteren und schwerwiegenden Ausbreitung von Infektionskrankheiten festlegt, auftaucht. Der Begriff der Maßnahme war besonders in der Zeit zwischen den Weltkriegen in der Weimarer Republik prominent. So besagte der Artikel 48 der Weimarer Verfassung, dass „der Reichspräsident […] wenn im Deutschen Reiche die öffentliche Sicherheit und Ordnung erheblich gestört oder gefährdet wird, die zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung nötigen Maßnahmen treffen [kann].“[7] Hier, aber auch durch die Tatsache, dass Maßnahmen nach wie vor von den jeweiligen (Landes-)Regierungen beschlossen werden und Verstöße Folgen nach sich ziehen, wird deutlich, dass Maßnahmen in unmittelbarem Zusammenhang mit staatlicher Macht stehen.

Dies wird im Zuge des aktuellen Pandemie-Geschehens in eigentümlicher und überraschender Weise sichtbar. Mit Foucault ging man bisher doch eigentlich davon aus, dass die nationalstaatliche Macht an Bedeutung verloren habe, wie er anhand dreier Denkmodelle, „mit denen das Regieren angesichts einer ‚Seuche‘ besser verstanden werden kann“, herausgearbeitet hat.[8] Bei diesen drei Modellen handelt es sich um das Pest-, das Lepra- und das Pockenmodell, die die jeweiligen Maßnahmen einer Regierung im Umgang mit den verschiedenen Infektionskrankheiten und damit verschiedene Formen des Regierens verdeutlichen sollen. In der 1961 publizierten Schrift Wahnsinn und Gesellschaft[9] erläutert Foucault den räumlichen Ausschluss von (Lepra-)Kranken aus der Stadt gegen Ende des Mittelalters als Maßnahme der Regierung zur Bekämpfung dieser Infektionskrankheit. In Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses[10] von 1975 beschreibt Foucault dann, wie sich in der frühen Neuzeit, als sich die Angst vor der Pest verbreitete, die Disziplinarmacht als Regierungsmodell herausbildet, die sich durch Maßnahmen der lückenlosen Überwachung und Kontrolle auszeichnet und „für die ‚die Pest (jedenfalls die zu erwartende) die Probe auf die ideale Ausübung […]‘ ist“ [11]. In den unter dem Titel Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung[12] erschienenen Vorlesungen am Collège de France von 1977–78 arbeitet Foucault dann heraus, dass die moderne Gouvernementalität den Traum der Macht durch Kontrolle und Überwachen aufgegeben und Wege gesucht hat, die „Seuchen“ in die Gesellschaft zu integrieren, ihrer mit Studien habhaft zu werden und sie mit Mitteln wie der Impfung einzudämmen. Es geht hierbei also nicht mehr darum, durch drastische Maßnahmen Souveränität zu demonstrieren, wie etwa noch im Pestmodell, sondern um die Steuerung des Verhaltens der Einzelnen.

In einem kürzlich erschienenen Aufsatz erörtert Philipp Sarasin, wie Foucaults Ansatz unreflektiert dazu führen kann, kritische Positionen gegenüber den COVID-19 Maßnahmen der Regierung(en) zu schüren, wie sie bei den sich immer wieder formierenden ‚Hygiene-Demonstrationen‘ zur Äußerung gebracht werden. Die Teilnehmer*innen dieser Veranstaltungen klagen die Einschränkung einiger in den Grundrechten verankerter Gesetze zugunsten der Gesundheit aller an und verwechseln, auf Foucault bezogen, hier ganz einfach die mit dem Pestmodell drohende Überwachung und Kontrolle mit dem liberalen Pockenmodell, dem die derzeitigen Maßnahmen entsprechen. Nicht ohne zu bemerken, dass die Maßnahmen des Pestmodells sowie auch das Lepramodell immer drohen und auch Übergänge zwischen den einzelnen Modellen möglich sind, weist Sarasin auf das Folgende hin:

Überhaupt gehört die Aufforderung, die Regeln etwa des ‚social distancing‘ einzuhalten, zweifellos in den Bereich der liberalen Regierungstechniken, die grundsätzlich auf der Freiheit der Individuen beruhen und von dieser Freiheit auszugehen haben. Für sich selbst zu sorgen, sich zu schützen, aber auch, wie gegenwärtig vielfach zu beobachten, sich nachbarschaftlich oder sonst solidarisch zu organisieren, sind Selbsttechniken, die die liberale Kontur des Pockenmodells mit dem konkreten Stoff gesellschaftlicher Selbstorganisation füllen.[13]

Der vorliegende Text möchte aber nicht die angesichts der COVID-19 Pandemie getroffenen Maßnahmen, sondern deren Effekt für und die Reaktion auf selbige durch die Theater erörtern. Deshalb lohnt ein Blick auf eine weitere Eigenschaft der Maßnahme an sich, die schon Carl Schmitt bemerkte und die heute noch Gültigkeit hat: „Die Eigenart der Maßnahme aber besteht in ihrer Zweckabhängigkeit von der konkreten Sachlage. […] Ihr Maß, d.h. Inhalt, Verfahren und Wirkung bestimmen sich von Fall zu Fall nach Lage der Sache.“[14] Diese Aussage lässt sich dahingehend erweitern, dass sich daraus auch eine zeitliche Unbeschränktheit der Maßnahme in solchen Fällen ergibt, in denen unklar ist, wie lange die Lage der Sache andauern wird, wie etwa im Falle einer Pandemie. Dies zeigt sich auch im obigen Auszug aus dem Erlass des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes Nordrhein-Westfalen, wenn es heißt, „dass nur die Absage oder zeitliche Verschiebung bis zur Änderung der Gefährdungslage und Aufhebung der angeordneten Maßnahmen in Betracht kommt“[15]. Im Falle einer Pandemie ist es schwer absehbar, wann sich diese Änderung der Gefährdungslage einstellt.

Aus dieser zeitlichen Unbestimmtheit haben sich nun, in der Zeit, in der die Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie umgesetzt wurden, mehrere Probleme für das Theater ergeben: Es stellt sich zum einen die Frage, wie mit der Unterbrechung des üblichen Spiel- und Probenbetriebs umgehen, wenn die Planungssicherheit fehlt? Konkreter: Warum aufwendige Konzepte zum Umgang mit der Situation entwerfen, wenn die Theater im günstigsten Falle schon morgen den Betrieb wieder aufnehmen könnten bzw. wenn die Lage unbeständig und nicht absehbar ist? Und: Wie kann das Theater auf die pandemiebedingten Umstände inhaltlich reagieren, wenn das Tagesaktuelle schon morgen wieder obsolet sein kann? Vielleicht liegt genau hier der Grund dafür, dass viele Theater während ihrer vorübergehenden Schließung im Zuge der Maßnahmen zur Eindämmung der COVID-19 Pandemie auf die Situation lediglich mit einem Angebot zum Streaming vergangener Aufführungen reagiert und die Situation nicht dazu genutzt haben, die vielfältigen digitalen Möglichkeiten zu nutzen und zu erproben.

Wie handeln? – Forced Entertainments End Meeting for All

Eine Arbeit, die auf diese Schwierigkeiten in herausstechender Weise reagiert hat, ist das von Forced Entertainment entwickelte Stück End Meeting for All, das nicht nur inhaltlich Bezug auf die Situation der Pandemie nimmt, sondern ebenso die Online-Meeting-Plattform Zoom als andere Bühne erprobt. EMfA wurde im April 2020 in Koproduktion mit den drei Produktionshäusern HAU Hebbel am Ufer Berlin, PACT Zollverein Essen und Mousonturm Frankfurt entwickelt.[16] Eigentlich steckte die Gruppe mitten in den Proben zu dem Projekt Under the Bright Light, das am 23. April 2020 auf PACT Zollverein Premiere haben sollte. Die physischen Proben wurden aufgrund der Maßnahmen zur Einschränkung der COVID-19 Pandemie unterbrochen und die Premiere vorerst auf das Jahr 2021 verschoben. Die sechs Mitglieder Robin Arthur, Tim Etchells, Richard Lowdon, Claire Marshall, Cathy Naden und Terry O´Connor befanden sich zur Zeit der Kontaktbeschränkungen alle in ihrem jeweiligen Zuhause in Berlin, London und Sheffield in der Selbstisolation und trafen sich auf der Online-Meeting-Plattform Zoom zum regelmäßigen Austausch. Wie Tim Etchells, der bei EMfA Regie führte, in dem Begleittext Falling Into Place – A note by Tim Etchells erklärt, erkannten die FE-Mitglieder das Zoom-Gitter der angeordneten Teilnehmer*innen-Fenster als eine Bühne.[17] Sie entwickelten EMfA daraufhin als ein fragmentarisches Online-Projekt, das aus drei kurzen Episoden besteht, in denen die sechs FE-Mitglieder aus ihren Wohnungen auf Zoom zu einem Meeting zusammengeschaltet sind.

EMfA reagiert auf das Jetzt seiner Zeit. So verdeutlicht das Stück zum einen die Bedingungen derjenigen, die sich in die Selbstisolation begeben haben und aus ihr heraus arbeiten oder versuchen, den Kontakt zu anderen Menschen aufrecht zu erhalten. Es werden der Verlust des Zeitgefühls thematisiert, sowie Veränderungen im (Trink-)Verhalten; es geht um den Tod, Krankheit und Einsamkeit und um die Frage „What you think you gonna do when this is all over?“[18] Das Meeting erweist sich schnell als durcheinander und dysfunktional. Die Gespräche, das Acting und die Handlungen werden immer unterbrochen und kommen nie so richtig zustande. Es gibt Mikrofonprobleme, eine*r ist immer mit etwas anderem beschäftigt, das Acting wird nicht als solches erkannt, es gibt Bild- und Tonstörungen, Geräusche aus dem Off, Missverständnisse, divergierende Befindlichkeiten und Intentionen. Tim Etchells dazu: „We were drawn to content that came directly from the context – from the experience […] of lockdown, concerns about health and family, the very particular problems of communicating online and the collision of theatrical ambition and cluttered domestic situations.“[19]

Darüber hinaus verdeutlicht EMfA auch die Unmöglichkeit des Theaters in der unbestimmten Zeit einer Pandemie, zumindest in dem Sinne, in dem wir es bisher kennen. Pessimistisch gesehen, sind der Ort des Theaters und seine Bühne mit der COVID-19 Pandemie temporär obsolet geworden, insofern, dass sie in der Erinnerung und in der Hoffnung auf eine Wiedereröffnung zwar weiterhin nachwirken, aber letztlich nicht mehr zugänglich und verwaist sind. Bilder aus besseren Tagen zu streamen, wertet diesen Befund nicht auf.

FE hingegen entwerfen eine konkrete Erweiterung des Bühnen- und Theaterbegriffs, indem sie ihn von seiner örtlichen Gebundenheit lösen und das Zoom-Gitter im digitalen Raum als eine Bühne verstehen, deren Möglichkeiten sie erproben. Dazu arbeiten sie mit theatralen Mitteln wie Text, Dialog/Monolog, Kostüm, Make-Up, Soufflage, Wiederholung, Auf- und Abgängen, Blacks sowie Ritualen, wodurch ganz unterschiedlich gefärbte Collagen entstehen. Und dieses Collagenhafte entspricht der Eigenschaft von Zoom, das sich durch das gleichzeitig Verbunden- und Nicht-Verbundensein der Protagonist*innen auszeichnet:

I realised we were slowly starting to understand the Zoom grid as a kind of stage – a space we shared but in which we were nonetheless both connected and disconnected. As theatre makers who’ve long had an interest in collage as a methodology, something chimed with this, and with the way that the grid of screens brought together different partially connected realities in different cities, the screen a kind of membrane or imperfect portal between worlds.[20]

Damit reagiert FE vor allem auf den Medienwechsel, der in der Zeit der COVID-19 Pandemie in allen Bereichen der Gesellschaft, wie z.B. in Unternehmen oder Bildungseinrichtungen, stattfindet, und bei dem sich das Programm Zoom weitestgehend durchgesetzt hat. Die technischen Mittel, mit denen FE an EMfA gearbeitet haben, erlaubten ihnen eine schnelle Arbeitsweise von der Konzeption über die Erprobung und die Aufnahme. So ist es FE gelungen, eine digitale Bühnen- und Theaterform zu schaffen, die in all ihrer Imperfektion sehr zeitnah Bezug auf die aktuelle Lage nimmt. Durch diese Imperfektion, die zu einem großen Teil in dem wenig erfolgreichen Versuch, theatrale Mittel in den digitalen Raum zu übertragen und in den immer wieder unterbrochenen und misslingenden Kommunikationsversuchen bestehen, kann vor allem ein Umstand nicht verdeckt werden: der Mangel bzw. die Abwesenheit des physischen Orts Theater in der aktuellen Pandemiesituation. In dieser Abwesenheit werden einmal mehr wichtige Eigenschaften des Theaters sichtbar. Es geht um die politische und gesellschaftliche Funktion des Theaters, und um das Theater als Ort der physischen Koexistenz verschiedener Akteur*innen, des Zusammenkommens, des Austauschs, des Begegnens und des Diskurses. Diese Eigenschaften lassen sich, wie EMfA zeigt, nicht einfach ins Internet übersetzen, übertragen oder dort in gleicher Weise erzeugen. So stellt das Theater also nicht bloß ein infektiologisches Risiko dar. Es geht im Theater, jenseits der rein medizinischen Ansteckungsgefahr, auch immer um eine andere Form der Ansteckung, die sich über die (auch körperliche) Wahrnehmung vollzieht und die im besten Fall zur Katharsis, zur Reinigung und Heilung von pathemata, von Affekten im Übermaß, führen kann, wie es auch bei Artaud anklingt. Vielleicht steckt die Komik von FE’s scheiternden Versuchen, einen Umgang mit der derzeitigen Lage und dem Theatermachen in dieser Zeit zu finden, zum Lachen an. Vielleicht ist es heilsam für diejenigen, die unter durch die Pandemie verursachter Abgeschiedenheit und Einsamkeit leiden, zu sehen, wie auch andere mit der Situation hadern. Vielmehr aber zeigt FE’s EMfA die Bedeutung des Orts Theater für die Gesellschaft. Es zeigt die Schwierigkeit auf, in Zeiten der Abwesenheit des Theaters und der Unmöglichkeit des physischen Anwesend- und Beisammenseins von Menschen, Theater zu machen. Dinge, die das reine Streaming von Aufführungsaufzeichnungen vertuscht.


  1. Schaub, Mirjam: „Einleitung“, in: Dies (Hg.): Ansteckung: Zur Körperlichkeit eines ästhetischen Prinzips. Paderborn/München 2005, S. 9-21, hier S. 13.
  2. Artaud, Antonin: Das Theater und sein Double. München 1996, S. 34.
  3. Warstat, Matthias: Krise und Heilung. Wirkungsästhetiken des Theaters. Paderborn 2011, S. 52.
  4. Artaud, Das Theater und sein Double, S. 21.
  5. Ebd., S. 24.
  6. „Erlass des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales zur Durchführung von Veranstaltungen ab dem 14. März 2020“, https://www.land.nrw/sites/default/files/asset/document/200313_erlass_veranstaltungen_unter_1000_tn.pdf, (Zugriff am 26.07.2020).
  7. „Die Verfassung des Deutschen Reiches“, http://www.verfassungen.de/de19-33/verf19-i.htm (Zugriff am 29.07.2020). Für eine detaillierte Erörterung des Artikel 48 der Weimarer Verfassung und der darin enthaltenen Befugnis des Reichspräsidenten, Maßnahmen zu erlassen, siehe: Schmitt, Carl: „Anhang: Die Diktatur des Reichspräsidenten nach Artikel 48 der Weimarer Verfassung“, in: Ders.: Die Diktatur. Von den Anfängen des modernen Souveränitätsgedankens bis zum proletarischen Klassenkampf. Berlin 1964, S. 213-259.
  8. Sarasin, Philipp: „Mit Foucault die Pandemie verstehen?“, https://geschichtedergegenwart.ch/mit-foucault-die-pandemie-verstehen/ , 25.03.2020 (Zugriff am 24.04.2020).
  9. Siehe: Foucault, Michel: Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft. Frankfurt am Main 1973.
  10. Siehe: Foucault, Michel: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses. Frankfurt am Main 1976.
  11. Foucault, Michel: Überwachen und Strafen, S. 255, zit. n. Sarasin: „Mit Foucault die Pandemie verstehen?“.
  12. Siehe: Foucault, Michel: Geschichte der Gouvernementalität I. Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Frankfurt am Main 2004.
  13. Ebd.
  14. Schmitt: Die Diktatur, S. 248.
  15. „Erlass des Ministeriums für Arbeit, Gesundheit und Soziales zur Durchführung von Veranstaltungen ab dem 14. März 2020“.
  16. End Meeting for All; Konzept/Entwicklung: Forced Entertainment, Regie: Tim Etchells. Performance: R. Arthur, T. Etchells, R. Lowdon, C. Marshall, C. Naden, Terry O´Connor, Premiere: 28.04.2020. Die Aufzeichnung von EMfA war bis zum 30. Juni 2020 u.a. unter https://www.youtube.com/watch?v=PVDgqloH420&feature=youtu.be&fbclid=IwAR070YLUyo_N-setk05KAxm1JyOUgttlsRV1M6I9LkLcywQCaygadcmTbLY verfügbar.
  17. Etchells, Tim: „Falling Into Place – A note by Tim Etchells. On ›End Meeting for All‹“, in: HP PACT Zollverein Essen; https://www.pact-zollverein.de/journal/falling-place-note-tim-etchells (Zugriff am 02.08.2020).
  18. End Meeting for All; Konzept/Entwicklung: Forced Entertainment, Regie: Tim Etchells, Teil 3.
  19. Etchells: „Falling Into Place“.
  20. Ebd.